Sergio Givone
Brief aus Italien

Wie soll man erzählen, was zur Zeit in Italien unter Berlusconi geschieht? Wieder einmal hat die Wirklichkeit, wie es so schön heißt, die Fantasie übertroffen. Weder die Komödie noch die Tragödie, weder die Tragikomödie noch das heroisch-komische Gedicht sind geeignete Darstellungsmittel. Lassen wir lieber die Fakten reden, auch wenn die der Komödie, der Tragödie etc. ziemlich nahe kommen.

Zuerst jedoch eine Warnung! Die internationale öffentliche Meinung scheint vor allem vor den ›Verlautbarungen‹ des Cavaliere zu erschrecken. So geschehen, als er von der Überlegenheit der westlichen Zivilisation über den Islam schwadronierte. Und so geschehen, als er die notorisch kommunistenfreundliche Verschwörung der Weltpresse gegen seine eigene Person aufdeckte. Eseleien mit schlimmen Folgen, aber immerhin bloß Eseleien. Denn so nebenbei hat das italienische Parlament eine Reihe von Gesetzen verabschiedet, über die man außerhalb Italiens viel zu wenig weiß. Diese Gesetze sind derart skandalös, dass sich der Verdacht aufdrängt, der Cavaliere habe mit seinen ›Verlautbarungen‹ auf internationaler Ebene vernebeln wollen, was sich in Italien tatsächlich abspielt.

Unter den wichtigsten Gesetzen, die hier in den letzten Wochen approbiert wurden, sind die folgenden hervorzuheben: das Gesetz über Bilanzfälschung, das Gesetz über Nachforschungspflichten (rogatorie), die sich auf den Gebrauch von Dokumenten ausländischer Justizbehörden von seiten italienischer Gerichte beziehen, dann das Gesetz über den Re-Import illegaler Geldmengen aus dem Ausland und das Gesetz über die Erbschaft großer Vermögenswerte. Doch das wichtigste Gesetz, das zwar noch nicht verabschiedet wurde, aber höchste Priorität besitzt, ist das über die Regelung von Interessenkonflikten. Schauen wir uns diese Gesetze an, um besser verstehen zu können, was sich in Berluskonien – pardon – in Italien tut.

1. Als einziges ziviles (sic) Land schützt Italien die Bilanzfälschung per Gesetz vor Strafe. Genauer: Der Gesetzgeber hat dekretiert, dass ein Unternehmen alles in seinen Bilanzen verschleiern darf, wenn es nur dem Eigeninteresse dient und die Aktionäre nicht schädigt. Das ist genial, denn alles, was den Aktionären nützt, nützt auch dem Unternehmen, und die Bilanzfälschung erscheint so beinahe wie ein rechtskräftiger und barmherziger Akt. Welch ein Zufall, dass ausgerechnet der größte Entrepreneur Italiens, Herr Berlusconi, wegen Bilanzfälschung unter Verdacht stand. Wohlan, jetzt ist's vorbei mit der gerichtlichen Verfolgung – Freispruch ohne Federlesens.
2. Während die ganze Welt die Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsbehörden aller Länder zu verbessern sucht, um dem Terrorismus die Stirn bieten zu können, macht man in Italien ein Gesetz, das diese Zusammenarbeit von Anfang an enorm erschwert. Was heißt das konkret? Nehmen wir ein Beispiel: Gesetzt den Fall, die Justizbehörden der Schweiz meldeten den Verdacht eines illegalen Geldtransfers, so kann die italienische Justiz diesen Verdacht wegen eines Formfehlers anfechten; es genügt eine Abweichung von der in Italien vorgeschriebenen Fassung oder das Fehlen eines Amtsstempels und ähnliches mehr. Soll das etwa heißen, Berlusconi habe als Sympathisant der Terroristen gehandelt, als er dieses Gesetz verabschieden ließ? Um Gottes willen... Wurde gegen Berlusconi nicht wegen illegaler Kapitalausfuhr und Korruption ermittelt? Also merke: Das neue Gesetz will nicht, dass man dort herumschnüffelt, wo es stinkt.
3. Wer vorhat, illegal ausgeführte Kapitalien wieder zurück zu holen, wird in Italien durch ein neues Gesetz aufs beste belohnt. Er braucht nur eine Steuer von gut 2% zu berappen, und schon werden die ›schmutzigen‹ Gelder ›sauber‹. Ein toller Streich, bedenkt man dass die allgemeinen Steuern hierzulande durchschnittlich bei 40% liegen und bis auf 75% steigen können. Man kann sich gut vorstellen, wie wohltuend es auf den ehrlichen Bürger wirken muss, der seine 40% an den Staat abführt, wenn er hört, der Ehrlose kommt mit 2% davon. Und was ist das – ein Geschenk, das Herr Berlusconi sich und seinen Freunden gemacht hat? Honni soit qui mal y pense. Ein noch größeres Geschenk für die Drogenhändler, Mafiosi & Co? Klar doch! Aber auch ein Geschenk für alle die Italiener, die offenbar aus guten Gründen Berlusconi ihre Stimme gegeben haben.
4. Aber der große Staatsmann denkt nicht allein ans Ungefähre und an das, was vor Augen liegt. Er denkt an die Zukunft – was sage ich – ans Ewige. Soviel ist jedenfalls sicher, Berlusconi hat ein Gesetz durchgebracht, das die Erbschaftssteuer aufhebt. Der Fiskus erhält nichts, vor allem wenn es um ein so großes Vermögen geht, wie es der Cavaliere eines Tages seinen Nachkommen vermachen wird.
5. Und endlich landen wir bei jenem Schattengesetz, das sein sollte, aber noch nicht ist; bei dem Gesetz über Interessenkonflikte, genauer: über den Konflikt zwischen dem Eigeninteresse und privaten Wohl auf der einen und dem Interesse des Gemeinwohls auf der anderen Seite. Sind die approbierten Gesetze von der Machart der obigen, ist es dann vielleicht ein Wunder, wenn dieser Interessenkonfliktbeilegungsgesetzentwurf nur als Plan existiert? Und entpuppt sich dieser Plan etwa nicht als Farce, vergegenwärtigt man sich die Beilegung der Interessenkonflikte durch eine Kommission, die das Parlament und ergo derselbe Berlusconi nominieren würde?

Viel mehr ist dazu wohl nicht zu sagen. Es scheint, die einzig aufrechte Protestform besteht aus einer Empfindung der Schande und Scham. Scham darüber, in einem Lande wie diesem zu leben. Wäre auch nicht das erste Mal. Unterm Faschismus hat sich mancher aus eben diesem Grund das Leben genommen. Natürlich wünsche ich niemandem einen solchen Entschluss. Aber ich kann in solchen Zeiten sehr wohl das ganze Gewicht jenes Spruchs nachvollziehen, der manchmal nur so dahingesagt wird: »An diesem Punkt der Geschichte kann man sich nur noch eine Kugel in den Kopf schießen.«

Sind das die Fakten, so drängt sich die Frage nach den Gründen für den ›aufhaltsamen‹ Aufstieg des Cavaliere auf. Warum hat es keinen wirksamen Widerstand gegeben? Wie ist die Impotenz der Linken zu erklären, woher kommt ihre innere Zerrissenheit, diese Lähmung des Handlungswillens?

Eine mögliche Antwort, sicher nicht die einzige, liegt bei den Wahlen vom Mai 2001. Gewiss, die Geschichte konnte im Mai gar nicht anders ausgehen, da die Rechte es in ihrem großen Zynismus verstand, unter dem Zeichen der Macht eine heterogene – von den post-facisti zu den neo-democristiani reichende – Koalition zu schmieden, während die Mitte-Links-Parteien von selber ihre Flügel (Di Pietro und Bertinotti) abwarfen. Bekannt ist auch, dass sich die Rechte erfolgreich als Repräsentanten eines neuen Italien – eine reine Erfindung – verkaufte, während die Linke sich in allen Punkten zerstritt (bis hin zur Arbeit der Justiz, die ganz wesentlich zur Auflösung der ersten Republik beigetragen hatte). Und dennoch, all das erklärt noch nicht den Erfolg Berlusconis. Wir müssen weiter zurück gehen.

Während der Regierungszeit von Prodi und D'Alema wurde bald deutlich, dass Berlusconi nicht nur als Antagonist, als politischer Gegner, einzuschätzen war, sondern ein Problem für die Demokratie darstellte. Vor diesem Problem ist die Linke zerfallen, ein Riss hat sie gespalten, der sich immer weiter auftat und heute desaströse Folgen zeigt. Auf der einen Seite (die D'Alema anführte) hielten einige daran fest, und sie tun das noch immer, dass der Volkswille, also die Gefolgschaft von Millionen von Wählern schon per se eine demokratische Legitimation bilde. Daher komme es darauf an, sich mit Berlusconi zu arrangieren. Das sollte mit Hilfe des sog. Zweikammersystems (Bicamerale) gelingen, ein Reformversuch am Wahlrecht, der die Regeln des politischen Spiels festschreiben sollte, aber kläglich gescheitert ist. Auf der anderen Seite (hier treffen wir auf Prodis Erben) gab es und gibt es Leute, die es als ihre vornehmste Aufgabe ansehen, die verschiedenen getrennten Bestandteile der Mitte-Links-Gruppierungen wieder zusammen zu führen, um vor allem die Hegemoniebestrebungen der einen über die andern Parteien zu überwinden. Dahinter stand die schlecht durchdachte und noch schlechter realisierte Idee, die ›Ulivo‹ genannte Partei könne die Einheitsfront repräsentieren und biete zugleich die alleinige Chance, den Berlusconismo in seine Schranken zu weisen.

Niemand aber unter den politischen Köpfen der Linken hat die Grundsatzfrage gestellt, ob Berlusconi, selbst wenn er auf demokratische Weise gewählt wurde, das Recht habe, die Regierung zu übernehmen. Niemanden haben irgendwelche Zweifel gequält, ob das Abenteuer Berlusconi nicht doch als Angriff auf die Demokratie zu interpretieren sei. Niemand hat sich offenbar Gedanken über den Unterschied zwischen populistischer Investitur und demokratischer Legitimierung gemacht.

Kein Zweifel, den Rang eines Oppositionsführers wie den des Regierungschefs verdankt Berlusconi seinem Populismus. Die Akklamation der Masse machte ihn zum Oppositionsführer, die Wahl zum Regierungschef. So weit so gut. Aber macht das die populistisch erwirkte Investitur und die demokratische Legitimation zu ein und demselben Ding? Darf man ein Wahlergebnis als legitim bezeichnen, das auf die Macht eines Medienmonopols zurückgeht, das einen einzigen Kandidaten favorisiert? Und selbst wenn man diese Fragen bejahen würde, ist ein Geschäftsmann, der zwischen privaten und öffentlichen Interessen nicht unterscheiden kann, berechtigt, das Amt des Regierungschefs zu übernehmen?

Schon sind wir wieder bei den oben erwähnten Fakten, die für sich selbst sprechen. Wollte man noch Beweise, sie sind längst da. Denn da schalten und walten Leute in unserer Regierung, die ohne Skrupel das öffentliche Gemeinwohl mit ihren Privatgeschäften ineinssetzen, und da ist eine Partei, will sagen: eine Parteienkoalition, die das einfach billigt. Der Rest ist Schweigen. Nicht alle, aber viele Italiener stimmen dieser Schändlichkeit zu. Ob sie Opfer einer echten Medienplage sind oder nur befangen in der Illusion eines irgendwie beschaffenen italienischen Traums, darüber könnte man sehr lange diskutieren. Eines aber ist gewiss: Das Wählerpotential, in dem die Rechte nach Stimmen angelt, ist mit Sicherheit nicht das Italien der Gewerbe, der Kleinunternehmer und überhaupt der Beschäftigten. Es ist vielmehr das Italien der Stubenhocker, Rentner und Arbeitslosen – das mit Mediaset gleichgeschaltete Italien. Umso trister ist der Anblick der Linken. Anstatt selbständige Handlungsalternativen zu entwickeln, lässt sie sich von den Erfolgen des Cavaliere blenden und ist geneigt, sich vom Sieger ins Schlepptau nehmen zu lassen.


Florenz, im Oktober 2001

Aus dem Italienischen übersetzt von Dietrich Harth