Das Auftauchen Freuds in den postmodernen Überlegungen zur Kultur signalisiert schwere Zeiten für die Ursprungsländer der modernen Zivilisation. Lange Zeit war es üblich, seine späten Schriften zur heute so genannten Kulturtheorie als Abfallprodukte zu betrachten. Sie verwandeln psychoanalytische Konzepte in hauptsächlich für Freud-Adepten interessante neo-mosaische Gleichnisse. Es fällt auf, dass seine Grübeleien zum Thema Kultur aus aktuellen Anlässen ins Spiel gebracht werden, so etwa von Philipe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy in einem 1989 in Kassel unter dem Titel Panik und Politik erschienenen Aufsatz. Dieses seltsame Dokument verdient als Rehabilitationsversuch Aufmerksamkeit. Es darf als eine Art Sedativ gelten, das die zur Zeit der Wende aufkommende Panik lindern sollte. Lacoue-Labarthe und Nancy geben sich darin als Kassandren der durch das Schauspiel des kollabierenden Kommunismus aus der Fassung geratenen fortschrittlichen Intelligenzija. Ihr Rückgang auf Freuds Stand der Reflexion über Kultur lässt sich als Schock-Effekt deuten, der die unheimliche Macht aufdeckt, die Freud über unser soziales wie psychologisches Imaginarium besitzt.
Panik und Politik bekräftigt diese Ausrichtung und versucht, Freud weiterzudenken. »Das Problem der Kultur«, schreiben die Autoren, »ist für Freud nie ein anderes als das Problem des Anderen, oder, um es banal auszudrücken (auf der Skala der offensichtlich konstanten Banalität von Das Unbehagen in der Kultur), es ist das Problem der Koexistenz, und zwar der friedlichen Koexistenz mit dem Anderen.« Die großzügige Lesart verspricht einen neuen Zugang zu dem Aufsatz von 1930, in dem Freuds Kultur-Konzeption greifbare Züge annimmt. Seine Banalität mag so sprichwörtlich sein wie seine Sentenzen banal: was bleibt, ist die Funktion eines Prüfsteins. Lacoue-Labarthe und Nancy fesselt der Widerstreit zwischen Freuds Kulturhörigkeit und seiner der hoffnungsvollen Schlusswendung zum Trotz zutagetretenden Verzweiflung, den Zustand der Gesellschaft durch Analyse bessern zu können: eine gemischte Botschaft, offenbar wie geschaffen für das Jahr 1989 und das, was aus den Hoffnungen und Ängsten wurde, die es zeitigte. Wenn ich mich im weiteren über die Folgen der Banalität der Freudschen Kulturkonzeption auslasse (welche eins mit der seines Positivismus ist), dann betrachte ich sie eher als typisch denn als tiefsinnig – ohne die Hochachtung, die französische Intellektuelle der Autorität des Meisters entgegenbringen. Denn im Grunde ist es die mosaische Autorität Freuds, die fasziniert – auch diejenigen, welche, wie Lacoue-Labarthe und Nancy, offen die Komplexitäten dieses Falls ansprechen.
Was meinen wir, wenn wir über Kultur sprechen? Praktisch umreißt diese Frage das Problem der Modernität. Freud hat die Bedeutung, die ›Kultur‹ in deutscher Alltagsrede besitzt, zusammengefaßt: »das Wort ›Kultur‹ [bezeichnet] die ganze Summe der Leistungen und Einrichtungen, in denen sich unser Leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt, und die zwei Zwecken dienen: dem Schutz des Menschen gegen die Natur und der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander.« Auf eben diese Weise rekapituliert Freud in Das Unbehagen in der Kultur die Wissenschaft von der Kultur. Der Mensch ist eine Spezies, die sich vom Affen durch den Faktor Kultur unterscheidet. Für Freud wie für die Anthropologen, die sich mit ihr abgeben, ist die Funktion von Kultur – der modernen Konzeption von Kultur – differentiell. Unsere gängige Auffassung von Kultur wird kategorisch vom Begriff der Differenz bestimmt. Am Anfang ist der Andere das Tier, an dessen primitiven Verhaltensweisen wir uns als distinkt erfahren.
Die interkulturelle Differenz gerät beim nächsten Schritt in Freuds Blickfeld: »Um mehr zu verstehen, werden wir die Züge der Kultur im einzelnen zusammensuchen, wie sie sich in menschlichen Gemeinschaften zeigen.« Sobald die Identität von Kultur als dem spezifisch Menschlichen feststeht, fächert sie sich in die Regenbogenwelt der Differenzen auf, als die wir unsere Umwelt begreifen. Die Kultur hört auf, eine zu sein, sobald wir die Grenze zur Erfahrung überschreiten. Nicht eine abstrakte Idee von Kultur charakterisiert menschliche Gemeinschaften, sondern die gefühlsmäßig wahrgenommenen (und eingebildeten) Differenzen untereinander. Man könnte Kultur schlicht als die gesellschaftliche Produktion von Differenz definieren, mit allem, was dazugehört. Die Kultursoziologie Pierre Bourdieus geht von einer derartigen Hypothese aus.
Die neuzeitliche Anthropologie wurde durch ihren naturwissenschaftlichen Ehrgeiz zu der Annahme verleitet, dass die Kultur eine sei, da ihr Gegenstand, der Mensch, singulär sei. Freuds Umgang mit dem Kulturbegriff zeigt, wie eine Welt menschlicher sozialer Arrangements aus einem eingeschobenen Ideal hergeleitet wurde; allenfalls bildeten »die Züge der Kultur im einzelnen« Fußnoten zu diesem einen prägenden Modell. Die moderne Anthropologie hat sich mit einer Reihe nicht-westlicher Gesellschaften befasst, ohne diese Perspektive zu verlassen: von Malinowski bis Lévi-Strauss behandelte sie kulturelle Differenz sub specie eines wissenschaftlichen Ideals. Auch wenn es oft so aussah, als priesen ihre Vertreter die Differenz der Kulturen, geschah dies unter Auspizien, die zuverlässig ihre Fähigkeit, den Anderen außerhalb des kolonialen Bezugssystems wahrzunehmen, begrenzten. Oft waren ihre Empfindungen großzügig, gelegentlich machten sie sich zu Anwälten der Völker, die sie beschrieben, aber ihre Kulturwissenschaft folgte einer Idee vom Menschen, die alles andere als unvoreingenommen war.
In den Arbeiten des US-amerikanischen Anthropologen James Clifford findet man eine Kritik der anthropologischen Vernunft, wie sie in der Zunft seit längerem gärt. Clifford hat sich mit der Rolle des Beobachters in der Anthropologie beschäftigt, der seinen Kulturbegriff fertig bezieht und seinen Forschungsobjekten überstülpt. Aus Cliffords kritischer Sicht rührt das »Dilemma der Ethnologie aus der Tatsache, dass sie stets der Erfindung von Kulturen den Vorrang vor ihrer Wiedergabe eingeräumt hat.« Unter der Ägide der szientistischen Kulturtheorie enthalten anthropologische Darstellungen alles andere als Wahrnehmungen authentischer kultureller Differenz. Das anthropologische Schrifttum verrät uns mehr über Erfahrungen, wie sie Anthropologen während ihrer Feldstudien sammeln, als darüber, wie andere Leute leben. Das subjektive Geschäft der Ethnologie (wie Clifford das nennt) lässt eine Form von Erzählungen sich allgemeiner Wertschätzung erfreuen, die man eher dem Bildungsroman zurechnen sollte. Clifford vergleicht Malinowskis Südsee-Studien mit den fiktionalen Erzählungen seines polnischen Landsmanns Joseph Conrad aus der Glanzzeit des Kolonialismus. Die Selbstbeweihräucherung der Ethnologen (wie Clifford das nennt), die in den Schriften des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Stephen Greenblatt ihr Gegenstück findet, dreht sich um bloße Identität – persönliche ebenso wie kulturelle. Für die Autoren, die wir Kulturanthropologen nennen, ist Differenz nur ein Anlass zur Selbsterkundung.
Ein kleiner Erfahrungsposten könnte den Gedanken nahelegen, dass ›Kultur‹ uns deshalb in eine Welt der Differenzen verstrickt, weil der Mensch selbst – anthropos – nicht einer ist, sondern viele. Was geht morgens auf vier, mittags auf zwei und abends auf drei Beinen? Das Rätsel der Sphinx verrät bereits den Sinn für Differenz innerhalb der präsumptiven Identität des Menschen. Die Sphinx selbst hingegen war ein Monster mit dem Kopf und den Brüsten einer Frau, dem Rumpf eines Hundes, dem Schwanz einer Schlange, den Flügeln eines Vogels, den Pranken eines Löwen und einer menschlichen Stimme. Ihr synkretistisches Äußeres läßt an den unenwickelten Naturzustand denken. Das Rätsel, das sie Oedipus vorlegt, soll ihn das Menschliche benennen lassen. Doch die unterstellte Identität ist bereits gespalten. Sie verfügt über ein Profil am Morgen, ein anderes am Mittag, und wiederum ein anderes am Abend. Nach der Logik des Rätsels wird der Mensch, Anthropos (die Antwort auf das Rätsel der Sphinx), als in sich selbst different charakterisiert. Streng genommen war der Mensch immer mehrere, eher eine Denksportaufgabe als ein Inhaltsverzeichnis.
Von diesem uralten Gedankengang ausgehend gelangen wir zu einer Auffassung, der zufolge Kultur irreduzibel plural erscheint, weil der Mensch selbst nicht ein Ding ist. Die Kategorie, mit der wir das spezifisch Menschliche bestimmen, steht von Haus aus im Plural: Kulturen. Wer, wie Freud, sie im Singular verwendet, zitiert eine erschöpfte episteme, die auf einem der Mensch genannten transzendentalen Modell beruht. Das war die Welt der Anthropologie, die mit Kant beginnt und bis in die Moderne reicht. Wir leben in einer Welt der Differenzen, in der wir unsere Differenz nicht bloß an den Tieren ermessen, sondern – und dies vor allem – an uns selbst. Wer mit letzterer beginnt, wählt den postmodernen Zugang zum Phänomen der Kultur. Der Tod des anthropologischen Kuriosums Mensch ist der Horizont aller postmodernen Erkundung.
Kulturelle Differenz beginnt zu Hause. Wir nehmen sie mit auf die Reise und wie die Anthropologen bilden wir uns ein, dass es die anderen sind, die anders sind. Tatsächlich sind wir anders in dem Moment, in dem wir diese Beobachtung machen. Wohlgemerkt, das Problem, das die reisende Aufklärung aufwirft, ist das Beharren auf einer stabilen Subjektposition, auf der Perspektive des Beobachters. Letztere sind ihrer eigenen Definition nach in den meisten Fällen Außenseiter. Was veranlasst uns, diese Position als normativ zu erachten? Aus gebührender Entfernung betrachtet ist Kants transzendentales Subjekt in seiner supponierten Universalität nicht mehr als ein Professor aus Königsberg. Als Reisender aus einer fernen Vergangenheit ist er ein befremdlicheres Tier als jene, die seiner Charakterisierung zufolge sich wenig von letzteren unterschieden.
Die Codes, die Freud für das Innenleben dieses transzendentalen
Subjekts bereitstellt, verzeichnen eine Bürgerlichkeit, die bereits
abgelegen anmutet. Wenn wir heute die 1938 entstandenen Fotografien
von Edmund Engelman betrachten, so kommt uns Berggasse 19
umso fremdartiger vor, je länger wir in die leeren Räume
hineinblicken. Sie sind so etwas wie ein Kenotaph; der abwesende
Freud hat uns diese Hülle hinterlassen, damit wir seiner mit ihrer
Hilfe gedenken. Besonders seine Sammlung ägyptischer Kunst
vermittelt den Eindruck einer völligen Ruhe vor dem Sturm.
Engelmans leise Fotos sind Sinnbilder einer Kultur, die uns zwar
zeitlich benachbart ist, aber im Geiste schon weit abliegt. Sie
sind Denkmäler eines Freud, der sich wegzugehen anschickt, und sie
gewinnen eine nachträgliche Pointe aus der Zerbrechlichkeit dieses
Kartenhauses, das so solide aussieht und sich als so verletzlich
erwies. »›Das ist eine sehr gute Wohngegend‹«, sagt eine
Vermieterin aus derselben Berggasse in einem hellsichtigen
Thriller, der im Nachkriegswien spielt. »An der Wohnungstür senkte
sie ihre Stimme. ›Und völlig judenrein... vor dem Anschluss gab es
hier zwar ein paar. Sogar in diesem Haus. Doch bis der Krieg kam,
waren die meisten von ihnen weggegangen.‹« Ein Hauch von Freud
liegt über diesen Stätten, doch selbst sein Name ist
verschwunden.
Wenn einem andere fremd vorkommen, wie dies Freud widerfuhr, dann nur deshalb, weil man sich vorher selbst als fremd empfindet. Hat man das einmal begriffen (so wie Freud das Innenleben seiner Zeit im Leben seiner Patienten begriff), dann ist das Vertraute exotischer als jedes Andere, auf das man sich einlassen könnte. Im Auffinden der substantiellen Fremdheit – gewissermaßen der Selbst-Alterität – des Eigenen bestand die Art von innerer Arbeit, mit deren Hilfe Nietzsche seine Zeitgenossen und ihre kollektiven Selbstdarstellungen durchschauen lernte. Die grässliche Erfahrung des deutsch-französischen Krieges wurde zum Trauma, das ihn erst die verstörenden Faktoren zuhause registrieren ließ. Deren kollektiver Niederschlag ist sein Thema. Freud widersetzt sich dieser Sicht aufs Eigene. »Wir lassen uns dabei ohne Bedenken«, schreibt er im Zusammenhang seiner Definition von Kultur, »vom Sprachgebrauch, oder wie man auch sagt, vom Sprachgefühl, leiten im Vertrauen darauf, dass wir so inneren Einsichten gerecht werden, die sich dem Ausdruck in abstrakten Worten noch widersetzen.« Mit anderen Worten: Kultur ist, was uns das Gefühl sagt. Ihre Vertrautheit ist axiomatisch, weil wir so leben. Kultur ist ›Heimat‹, und es bleibt uns nicht sonderlich mehr zu sagen, wenn wir uns nicht über ihren Einfluss betrügen wollen.
Es gibt Gründe, sich über Freuds Kulturvorstellung von 1930 zu
wundern. Das Vertraute stellte sich als Falle heraus. Freud sah
sich 1938 gezwungen, die Wohnung Berggasse 19 aufzugeben. Er starb,
wie Karl Marx, in Hampstead, exiliert aus einer Heimat, deren
Vertrautheit er nur zu gut honoriert hatte. Fixiert auf den
natürlichen Aspekt der Kultur, wie er ihn verstand, fehlte ihm ein
wirkliches Stück ›Unbehagen in der Kultur‹. Wie konnte sich ein
skeptischer Moralist wie Freud für eine unkritische
Beweihräucherung der Kultur hergeben? Denn letztere ist in der
grandiosen Selbstbestätigung seines Essays von 1930 inbegriffen.
Wie konnte ein Gelehrter einfach hinnehmen, dass Kultur per se
gerechtfertigt war? (Von einem Kollegen, einem bekannten
Epidemiologen, erfahre ich, dass Freuds medizinisches Werk über den
Schlaganfall noch immer in der medizinischen Literatur zitiert
wird. Freud war kein Scharlatan und seine späteren Arbeiten sind
keine Verirrungen.)
Die Antwort ist, kurz und bündig, dass für ihn als einen medizinischen Praktiker das szientifische Konzept der Kultur das Natürliche war. Der Mensch im Singular, wie ihn die Ärzte konstruierten, besaß eine Reihe kultureller Merkmale: »Die Kulturentwicklung erscheint uns als ein eigenartiger Prozeß, der über die Menschheit abläuft, an dem uns manches wie vertraut anmutet.« Dieser Entwicklungsprozess mündete in ein festes Repertoire dessen, was er als kulturgegeben ansah: »Nun haben wir gefunden, daß Ordnung und Reinlichkeit wesentliche Kulturansprüche sind, obgleich ihre Lebensnotwendigkeit nicht gerade einleuchtet...« Man beachte die Nebenbedeutung des Wörtchens ›einleuchtet‹. Wie auch immer, es bleibt etwas Befremdliches um diese ›Ordnung und Reinlichkeit‹. Doch darum geht es Freud an dieser Stelle nicht.
Stattdessen halten der universale Mensch und seine universale Kultur Ordnung in einer Welt, die durch keinerlei Differenz getrübt wird. Etwa durch so Elementares wie die Geschlechterdifferenz im Fall des Menschen oder die Differenz der Nationen im Fall der Kultur. Solche Differenzen sind nicht trivial. Sie sind so authentisch wie der Kampf der Geschlechter und so real wie der Krieg.
Nichtsdestoweniger hängen wir weiter einer undifferenzierten Idee vom Menschen an, sehr zu unser aller Schaden. Die Mediziner fahren fort, den männlichen Körper zu denken und zu lehren, mit schlimmen Auswirkungen auf die Mehrheit der Menschen, deren Organismus anders funktioniert. Wo in Freuds Kulturkonzeption findet sich der Andere? Es gibt keinen lebendigen Umgang mit ihm in Freuds Überlegungen, ungeachtet des defensiven Lavierens von Lacoue-Labarthe und Nancy. Der Andere bleibt auf dem animalischen Niveau, auf dem er keine Bedrohung für die triumphierende Kultur darstellt.
Ich möchte etwas bei der Freudschen Vorstellung von der Kultur
als dem, was ›verwandt‹ ist, verweilen. Besser gesagt, ich möchte
es mit den Schriften von Walter Abish konfrontieren, der einen
ähnlichen Hintergrund wie Freud besitzt, obwohl er nach Amerika
emigrierte, weil er sich in New York heimisch fühlte. Wie Paul
Celan schreibt Abish an den Rändern des Holocaust, mit so etwas wie
einer angenommenen Identität. Er schreibt nicht auf deutsch,
sondern in einer Art transatlantischem Englisch. Wiederum wie Celan
– dies ist für meine Absicht wichtig – ist er niemand, den man
einen Holocaust-Schreiber nennen könnte. Er lebt nicht vom
Holocaust wie einige US-Schriftsteller – neuerdings nachzulesen bei
Eva Hoffman, die selbst in den fünfziger Jahren vor Gomulkas
antisemitischen Säuberungen aus Polen floh. Die deutsche
Psychologin Alice Miller hat gezeigt, dass die tiefsten Quellen der
Celanschen Verzweiflung in seiner frühen familiären Situation –
d.h. der Brutalität des Vaters – zu suchen sind und nicht im
Schicksal der Eltern, wie beklagenswert es auch war. Der Holocaust
spielt eine bezeichnende Rolle in seiner Dichtung, aber die
Hauptsache ist die Trauer, und worum er am meisten trauert, das ist
er selbst.
Abish ist eine postmoderner Hybride, ein Erforscher der Kultur mit einem Fuß in Mitteleuropa und dem anderen außerhalb. Wie er diese Position konstruiert, steht im Mittelpunkt eines großen Teils seiner publizierten Arbeiten. Was bedeutet es, nach Auschwitz über ›Kultur‹ zu schreiben? Wie charakterisiert man das Verhaftetsein in einer Kultur für den native speaker, diejenigen eingeschlossen, die, wie Freud selbst, es nicht als Verhaftetsein, sondern nur als Vertrautheit empfinden können? Wie erzählt man die Geschichte der persönlichen Entfremdung von weitgehend befolgten kulturellen Normen? Celan ging diesen Fragen nach und sein kryptisches, minimalistisches poetisches Idiom bietet eine Lösung, die Abish in andere Richtungen ausweitet. Seine Geschichten sind in kompakten Einheiten konstruiert, die gelegentlich aus einer einzigen Phrase bestehen, typografisch getrennt durch Gesprächsfetzen oder freie indirekte Rede. Er verzichtet auf Anführungszeichen, so dass die Rede weniger seinen Charakteren zu entspringen scheint als vielmehr ihrem sprachlichen Habitus. Die Wirkung ist unpersönlich. Diese Namen sind nichts weiter als Mundstücke. Ihre Stimmen konfrontieren uns mit einer Bandaufnahme von Leben in dem Element, das er als ›Kultur‹ identifiziert.
Im Zentrum von How German Is It? – einer 1982 entstandenen, aber auf die späten siebziger Jahre, in denen ihre Handlung spielt, zurückgehenden Erzählung – ist die Phrase ›What else was familiar?‹ kursiv gesetzt, ein Mittel, das Abish oft verwendet, um bestimmte Wirkungen zu erzielen. How the familiar is perceived enthält die Geschichte in der Geschichte. In meiner kritischen Lesart ist Abish der Anti-Freud; er ist nicht von der Vertrautheit der Kultur überzeugt. Insbesondere hegt er einen Verdacht gegen jene ›Ordnung und Reinlichkeit‹, die von Freud als grundlegende Eigenschaften der Kultur herausgestellt wurden. Sein eigener Kulturbegriff folgt einer Hermeneutik des Verdachts. Nichts am modernen Deutschland erscheint seinem skeptischen Blick völlig authentisch. ›Kultur‹ ist hier lediglich Tapete. Aber die Fliege an der Wand hätte manches zu erzählen.
In How German Is It? tauchen die Namen Bichsel, Handke
und Kempowski auf, ein Umstand, der deshalb erwähnenswert ist, weil
ich versuche, Abishs Welt aufzuzeigen. Wie Kempowski ist Abish ein
Sammler von faits divers. Er interessiert sich für den
Gemütswert moderner Interieurs sowie für den Kitsch, der so
trefflich die Schalheit moderner Erfahrung zum Ausdruck bringt.
A little more on the subject of German painting erzählt von
einem Malauftrag im Rathaus der neuen Stadt Brumholdstein. Der
Maler entpuppt sich als der Vater der Bürgermeistersgattin, den es
kränkt, unter ihrem Dach zu arbeiten. Das ist ›the subject of
German painting‹, wie Abish hoch ironisch demonstriert – die Art
von Konflikt, die Kultur zukleistert, recht verschieden von den
Legenden der Kunstgeschichtler. Der Maler stirbt, als er von der
Leiter fällt, während das Paar oben im Bett liegt. Seine undankbare
Tochter verfügt über die sterblichen Überreste, während sie sich
eine Geschichte für die Zeitung ausdenkt. Es handelt sich um ein
häusliches Lehrstück über die Zurichtung der Geschichte im Dienst
legitimer Erzähler-Interessen.
Die Verbindung zur Nachkriegserfahrung wird in Brumholdstein explizit. Denn beiläufig hat der Erzähler die Vergangenheit des Bürgermeisters im vertraulichen Gespräch mit dem alten Maler eingefügt:
»Hermann Glich sah auf die Bücher, dann an die Decke, schließlich auf den Fußboden. Ein schöner Teppich.
Das ist ein altes Stück. Mein Vater erwarb ihn vor dem Krieg. Vor dem Krieg waren viele Dinge möglich, hat man mir erzählt. Es gab so viele Leute, die sich plötzlich entschlossen, das Land zu verlassen.
Ich wollt's nicht wissen, sagte Hermann Glich launisch. Wir hatten nie Geld, um drüber zu reden.
Ich hab mich oft gefragt, was mit diesen Leuten passiert ist, sinnierte der Bürgermeister. Es waren Nachbarn. Gut, nicht richtig Nachbarn. Mein Vater war Blockwart... Man muss sich das vorstellen, plötzlich konnte man Möbel erwerben, Geschirr...
Blockwart? Dein Vater war Blockwart? Hermann Glich musterte den Bürgermeister mit plötzlichem Interesse. Das wusste ich nicht.
Wir kauften alles, was die zu verkaufen hatten. Ich meine all das Zeug, das sie nicht in ihre Koffer packen konnten. Ich vermute, was mein Vater ihnen bot, war besser als nichts. Aber ich war noch zu jung, um mich daran zu erinnern. Immerhin bekam ich die Spielzeugeisenbahn ab, die seinem Sohn gehört hatte. Er lachte.«
Ihre Plauderei rückt die irritierende Gegenwart der Vergangenheit in der Neustadt von Brumholdstein ins Bild. Unter der herrischen Gebaren der Bürgermeistersgattin schlägt das Herz der Tochter von Hermann Glich, die ihre einfache Herkunft verleugnet. Unter dem architektonischen Modernismus Brumholdsteins liegt ein Lager.
Abishs Erzähler fungiert wie eine Art Periskop, er registriert seltsame Details, bemerkt die wechselnde Schminke auf den Gesichtern seiner Figuren sowie ihre nervösen Anstrengungen, den Gesprächsfluss von der Vergangenheit wegzulenken, die sie zu beerdigen versucht haben.
Man hat How German Is It? als eine albtraumhafte Detektivgeschichte charakterisiert und vordergründig evoziert sie den für diese literarische Gattung, die sich unter angloamerikanischen Lesern allgemeiner Beliebtheit erfreut, typischen hermeneutischen Code. Abish stimmt seine Erzählung auf diesen Ton, um die Schwierigkeiten experimentellen Erzählens zu vermeiden, das mit den Konventionen bricht, nur um auf diese Weise Leser zu verlieren, für die solche Konventionen der Grund sind, aus dem sie überhaupt fiction lesen. Abishs Erzähler ist kein Detektiv, aber er ist hinter etwas her – so etwas wie der Antwort auf die Frage, die der Titel des Buches stellt. In der deutschen Ausgabe steht Wie deutsch ist es? auf dem Umschlag neben dem englischen Originaltitel, so als wäre der eine die Übersetzung des anderen. Man kann die ganze Geschichte lesen als ein Inventar von Hinweisen und Anhaltspunkten, von Lösungen zu Geheimnissen und Geheimnissen zu Lösungen. Hinter jeder Ecke lauern Verdächte. Aber in Wirklichkeit ist How German Is It? ein Künstlerroman mit einer postmodernen Pointe. Wie kann der alerte Schreiber sich mit seiner eigenen Kultur kritisch ins Benehmen setzen? Wie kann er die Wahrheit über die Komplexitäten schreiben, die auf jedem Niveau soziale Arrangements bestimmen? Wie kann er in einer solchen Welt überhaupt leben?
Ulrich von Hargenau ist ein erfolgreicher Schriftsteller, der ein halbes Jahr in Paris gelebt hat. Die Hargenaus sind »anständige, aufrechte Deutsche«, deren Familie bis auf Albrecht Dürer zurückgeht: ein Bezug, der durch die Geschichte hindurchläuft und die über lange Zyklen zurückreichende Gegenwart der Vergangenheit in diesem Lande hervorhebt. Ulrichs Vater, »der 1942 das Hakenkreuz vom Revers seiner Jacke entfernte«, wurde 1944 wegen Verrats erschossen. Ulrichs Bruder ist ein reicher, männlicher, erfolgreicher Architekt im neuen Deutschland. Ulrichs Leben im Ausland, seine gescheiterte Ehe und seine über Paula laufenden Beziehungen zum politischen Extremismus der siebziger Jahre lassen ihn im Vergleich dazu als schwarzes Schaf dastehen. Er ist kein richtiger Aussteiger, aber seine soziale Stellung ist nach gängiger Künstler- und Schriftstellerart randständig. Aus dem Abstand von zwanzig Jahren betrachtet, gleicht sie aufs Haar dem Los derer, für die der Geist von achtundsechzig mehr als eine Redensart war.
Ulrichs Identität als deutscher Schriftsteller wurzelt hier. Als er 1977 von Paris zurückfliegt, registriert er jeden vertrauten Ausdruck, kontrolliert jeden vertrauten Anblick. Aber er sieht mit neuen Augen, so wie Mme de Staël, »die Goethe und Schiller mit ihren Fragen während ihres Aufenthalts in Deutschland durcheinanderbrachte«. Auf ihren Spuren wandelnd wird er zu einer Art expatriierten Kommentators der eigenen kulturellen Voraussetzungen. Sein Charakter bündelt Abishs Befragung der deutschen Nachkriegssitten. Ulrichs lange Abwesenheit hat un léger décalage erzeugt, ein kulturelles Gleiten, das ihn seinen Lebensgewohnheiten entfremdet. Jede Begegnung wirft für ihn neue Fragen auf. »Was sind die ersten Worte, die ein Besucher aus Frankreich bei seiner Ankunft auf einem deutschen Flughafen erwarten kann? Bonjour? Oder: Guten Tag? Oder: Ihren Pass bitte?« Solcherart exponieren die ersten Worte von How German Is It? die rhetorische Frage als die wiederkehrende Trope in Abishs Geschichte. Die Beständigkeit des Fragens charakterisiert den Detektiv-Erzähler. Die Fragen selbst, denke ich, passen eher zum Bild des Erzählers als eines Auto-Anthropologen.
Man kann die anthropologische Schreibform erzähllogisch als eine Spielart fiktionalen Erzählens erachten, dessen realer Gegenstand die Identität ist. Aber auch das Gegenteil lässt sich behaupten. Postmodernes Erzählen ist seiner Intention nach weitgehend ethnographisch. Das trifft mit Sicherheit auf den Fall Kempowski zu; das endlose Stochern in den Abfällen des modernen Lebens lässt sich nur als das verstehen, was die Anthropologen dichte Beschreibung nennen. Dass die von uns gelesenen Schriftsteller von der Aufgabe besessen sind, das Problem der Kultur – oder das Unbehagen in der Kultur – herauszuarbeiten, indem sie sich ihm auf eine fast klinische Weise nähern, sagt etwas über den postmodernen Impuls aus. Natürlich sind ihre Beschreibungen subjektiv beschränkt, aber dafür stellen sie auch nicht wie ehedem die Anthropologen den Anspruch, Wissenschaft zu treiben. Es wäre die Aufgabe einer kritischen Lektüre herauszuarbeiten, worum es in diesen Texten geht, um den Zugewinn sichtbar zu machen.
Was gehört zur Rolle des Auto-Anthropologen? Was bedeutet es, den eigenen Habitus mit den Augen eines Außenseiters zu beobachten? Die übliche Rede von Entfremdung trifft den Sachverhalt nicht ganz, obwohl das Gefühl der Emotionslosigkeit, das man damit verbindet, in beiden Fällen vorhanden ist. Ulrichs Leben gerät in dem Moment aus den Fugen, in dem er das Flugzeug verlässt und in seine deutsche Haut zurückschlüpft. Dieser Effekt wird durch un léger décalage zwischen Fakt und Fiktion erzielt. Wir treffen den Erzähler zu einer Zeit und an einem Ort, die uns geläufig sind. Ulrich lebt in einer berühmten Universitätsstadt namens »Würtenberg«, in der eine neue Brücke anstelle der alten, im Krieg zerstörten Jägerbrücke den Neckar überspannt. An der ›Uni‹ »lehrte der alte Brumhold noch immer Philosophie – nach einer erzwungenen Ruheperiode, dem Ergebnis allzuvieler unbedachter Reden in den Dreißigern und frühen Vierzigern, die von den Pflichten der Bürger gegenüber der Neuen Ordnung gehandelt hatten«. Nach diesem ›armen Brumhold‹ wurde Brumholdstein benannt, die fiktive neue Stadt an der Stelle des alten Lagers.
Brumholds Ideen klingen auf befremdliche Weise vertraut. Sie atmen lokalen Geist: »Noch immer, ungeachtet der zweifelhaften fremden Elemente in der heutigen Sprache, bleibt das Deutsche das Mittel und der Schlüssel für Brumholds metaphysische Suche; es ist die Sprache, die es ihm, dem führenden deutschen Philosophen, ermöglichte, die Fragen und die Lösungen zu formulieren, die sich den französisch und englisch sprechenden Metaphysikern weiterhin entziehen. Wie deutsch ist das, könnte Brumhold angesichts seiner metaphysischen Suche fragen, die im fruchtbaren dunklen Boden des Schwarzwaldes wurzelt, in der düster-einsamen Existenz, die ihre Leidenschaften, ihre Energie, ihr Streben nach Exaktheit aus den wogenden Hügeln, den Fichtenwäldern und der reglos aufgerichteten Figur des Jagdpächters in seiner grünen Uniform zieht.«
Offenkundig handelt es sich um eine ätzende Satire auf Heideggers nationalistischen ›Grund‹ – ein Wort, das Abish später mit »einem deutschen Sinn für Gründlichkeit« zusammenspannen wird. Der verblüffende Mix von Fakten und Fiktionen zeigt die ethnographische Intention genauso an wie das Bewusstsein der Tatsache, dass jede Beschreibung von Sachverhalten fiktiver Natur ist. Die Seherpose hochphilosophischer Rede wird durch die Uniform des Jagdpächters konterkariert, die an eine ältere, durchmilitarisierte Kultur erinnert. Brumhold ist ein Fossil, ganz wie der ›Mensch‹ der Anthropologen, aber er zieht weiterhin eine studentische Klientel an und bleibt eine gefeierte Größe.
Der Verfremdungseffekt, der hier am Werk ist, reproduziert Ulrichs eigene Verfremdung, die einsetzt, als er aus dem Flugzeug steigt und in seine ältere Haut zurückschlüpft. Denn er präsentiert das völlig Vertraute als befremdlich vertraut und schließlich geradezu als das Fremde. Aus diesem ungewohnten Blickwinkel wirkt der große deutsche Philosoph wie eine Kultfigur. Gleichwohl befinden wir uns auf vertrautem Terrain, in einer Stadt, die wir wiedererkennen, obwohl es sich nicht ganz um Heidelberg handelt und gewiss nicht um Tübingen. Gerade so erscheint sie auch Ulrich. Sie ist Heimat, doch der Schuh passt nicht ganz, weil sich die Züge nicht zu dem Ort verbinden, von dem er ausging.
Wie Brumhold waren »die Hargenaus nicht für ihren Humor bekannt«. Für Ulrich bedeutet es harte Arbeit, als er lernt, die Heimat zu ironisieren. Als erfolgreicher Schriftsteller, dessen Bücher »man jetzt in beinahe jedem Haushalt Würtenbergs finden konnte«, ist er ein Bestandteil der Kultur, in die er nicht mehr zurückkehren kann. Dies ist eine gefühlsmäßige, nicht bloß rationale Erfahrung. Sie verändert sein Hören. »Was sagte sein Bruder da? ... Manchmal fühlte er sich, als sei sein Gehirn auf Wiederholungen angewiesen, als müsse er alles erst einmal, dann zweimal wiederholt bekommen, um sicher zu gehen, dass die Aussage nicht falsch oder missverständlich war.« Er ist heimgekommen, um einen neuen Roman zu schreiben, »um unter Leuten zu sein, die dieselbe Sprache sprechen wie ich. Unter Leuten, die davon ausgehen, dass ich ihre kulturellen Überzeugungen teile, ihre Abneigungen, ihre Feindseligkeiten.« Aber gerade die Wiedereingliederung in Brumholds sprachliche und kulturelle Welt ist ihm verwehrt. Stattdessen treibt es ihn um, nach Genf, um von Hotelzimmern aus zu erkunden, wie deutsch es ist, in Brumholdsteinsche Absteigen, ins Nordsee-Versteck der politischen Weggefährten seiner Frau. Wie Mme de Staël reist er umher, zwar ist seine Detektivgeschichte nicht sonderlich pikaresk, aber sie gibt ihm genügend Raum, um sich dem Nichtvergessen anheimzugeben, seinem wirklichen Ziel.
Auf ingeniöse Weise wird dieses Heideggersche Motiv gegen das kulturelle Erbe der Brumholdschen Welt gekehrt. Am Ende kann Ulrich zu seinem verständnislosen Bruder sagen: »Ich kehre vom Rand des Vergessens zurück.« Nicht das Sein hatte er vergessen, sondern das Wissen darum, was es heißt, Deutscher zu sein. Vergessen ist das, was das Leben dir zufügt. »Ich vergesse die Zeit... vergesse alles«, sagt ein Busfahrer beiläufig auf dem Weg zur Bibliothek. In Abishs Büchern figurieren die Institutionen des kollektiven Gedächtnisses, Bibliothek und Museum, nicht als Orte der Erinnerung, sondern des absichtlichen Vergessens. Sie sind »Verwahrungsorte der Kultur« – hier erscheint das ›K‹-Wort, nachdrücklich in diesem Kontext herbeizitiert – aber die gemeinte Kultur ist versetzt mit den kleinen Verschwiegenheiten Nachkriegsdeutschlands. Das meint Kultur als zivilisatorische Tünche.
Die Bücherei, die Franz, ein ältliches Faktotum in einem besseren Restaurant am Ort, aufsucht, zeigt »ein vertrautes und damit beruhigendes Bild: Leute an Tischen, die sich in Zeitungen und Magazine vertiefen, ein oder zwei alte Knacker, die mit sich selbst reden«. Hier versucht Franz an Baupläne für das Lager Durst heranzukommen, das im neuen Brumholdstein längst aus dem Blick, aber nicht aus den Köpfen verschwunden ist. Sein Beitrag zur Erinnerungskultur ist ein maßstabgetreues Modell des Lagers aus Streichhölzern. Man könne ihm nicht helfen, lautet die Auskunft des von einer unverständlichen Nervosität getriebenen Bibliothekars. So versagen die Institutionen des Gedächtnisses gegenüber denen, die sich dem Erinnern verschrieben haben. Denn sie dienen »unserer Gesellschaft und unserer Kultur – unserem Dasein – [...] unseren Eisenbahnen oder unserer Genauigkeit oder der obsessiven Ordnung oder der Liebe zur Schönheit, zur Klarheit, zur Reinlichkeit und, gewiss, unserer Literatur und Geschichte«. So tönt es aus dem Munde von Ulrichs wohlhabendem Bruder, der ihm gegenüber den winner herauskehrt. Helmuths Verbeugung gegenüber den alten Wahrheiten ruft die kulturspezifische Qualität des Erinnerns ins Gedächtnis. In diesem Kontext ist Kultur ein Medium des Vergessens und der Feind der Wahrheit. »Was die Wahrheit an den Tag bringt«, ist unerträglich für die kulturelle Gemeinschaft. Besser, man vergisst.
Nicht jeder wird durch die Scharade der Kultur geblendet. Da gibt es die Lehrerin Anna Heller, die »in Blockbuchstaben das Wort ›verwandt‹ an die Tafel schrieb und sich dann an die Klasse wandte. Was verstehen wir unter diesem Wort, fragte sie. Was bedeutet ›Verwandtschaft‹?« Sie beantwortet ihre Fragen selbst, indem sie ihrer Klasse erzählt: »Verwandtschaft ist Rückhalt«, nicht ohne hinzuzusetzen, dass wir auch gern »die Verwandtschaft fliehen«. Die kleinen Alltagsrituale charakterisiert sie als die »Wiederkehr der Geschichte von Verwandtem«. Eine solche Geschichte wird zur gleichen Zeit von einer anderen Protagonistin, die die Welt durch ihre Leica wahrnimmt, bewusst konstruiert: »Rita Tropf-Ulmwehrt photographiert das Hotelzimmer vor dem Verlassen. Sie photographiert das ungemachte Bett, in dem sie die Nacht verbracht haben, den Tisch, auf dem die Spuren ihres unlängst eingenommenen Frühstücks noch nicht beseitigt sind, das Bad, das WC, aber sie vermeidet es strikt, Egons finster argwöhnisches Gesicht zu photographieren. Er hingegen vermeidet es mit einem großen Aufwand an Selbstbeherrschung, die Frage an sie zu richten, was sie ihrer Ansicht nach tue.«
Das Gewicht der Verwandtschaft lastet schwer auf Abishs
Charakteren, selbst auf so unbedarften Typen wie Egon. Wie sie mit
ihr zurechtkommen, das erzählt von Kultur, so wie er sie versteht.
Denn wie sein dokumentarisches Unterfangen anzeigt, ist Kultur eine
Folge narrativer Konstruktionen. Es steckt so manches von Ritas
Konzept in seinen deutschen Momentaufnahmen aus den siebziger
Jahren. Dies ist sein Beitrag zur postmodernen Ethnographie, zur
Erzählung der Kultur, wie sie heute, mit und ohne Illusionen,
gelebt wird.
Was heißt ›der Verwandtschaft entfliehen‹? Für Abish, der die
Grenzen von Kultur kartiert, ist Differenz schwierig. Gibt es
wirklich eine Position außerhalb des kulturellen Umfeldes? Auf
höchst persönliche Weise kratzen der Schriftsteller Ulrich, der
Kellner Franz und die Lehrerin Anna Heller an der zivilisatorischen
Tünche, mit welcher die Kultur selbst diejenigen versieht, die ihr
eigenes Leben führen. Die Stimme des Erzählers zeichnet sie auf
fast ethnographische Weise: »Wenn man von Deutschland spricht (kein
ungewöhnlicher Gesprächsgegenstand), seiner Geschichte, seinen
Leistungen, seiner Literatur, seinem erstaunlichen wirtschaftlichen
Wiederaufstieg, scheint es kaum möglich zu sein, nicht in allem
Deutschen den inneren Standpunkt wahrzunehmen, den ›deutschen point
of view‹, die besondere deutsche Weise, einen Gegenstand zu sehen
und aufzufassen: ein Haus, einen kahlen Hügel, einen blühenden Baum
oder etwas so flüchtiges wie eine ziehende Wolke – so wie es sich
nicht übersehen lässt, dass diese Auffassung, diese bloße Sicht der
Dinge so gut wie die Erkenntnis der wahren Eigenart oder Qualität
des Gesehenen eine Gesellschaft, eine Kultur, ein einzelnes Volk
widerspiegelt.«
In der Sprache dieser Kultur bedeutet ›Standpunkt‹ eine stabile, kollektive Sicht der Dinge. Diese Sehweise möchten Abishs Figuren durchbrechen. »Unsere Gesellschaft und unsere Kultur – unser Dasein« werden in How German Is It? mit ironischer Aufmerksamkeit und einem lebhaften Gespür für die Last der Vergangenheit in der Gegenwart aufgelistet. Kultur ist ein Problem, kein stabiler Standpunkt, und das heutige kulturelle Geschehen schließt den desillusionierten Autor ein, der sie problematisiert.
Schließlich gerät Ulrich bei dem Versuch, seinen Schwierigkeiten mit der Heimat auf den Grund zu gehen, unter Hypnose. Etwas Befremdliches ist geschehen, die Erzählung deutet auf etwas voraus, ohne es auf die übliche Weise bürgerlichen Erzählens zu antizipieren. In der Subkultur, die unter der Oberfläche von Ulrichs Leben lauert, läuft ein Brückenwärter Amok. Er erschießt zwei Polizisten und flieht. Sein Motiv ist unklar; seine Opfer waren ehemalige Mitschüler, seine örtlichen Kontakte schienen in Ordnung zu sein. »Ich kann es nicht verstehen, sagte der Mann neben Ulrich. Kann man sich denn auf absolut nichts mehr verlassen?« Der Ausbruch im vertrauten Umfeld gibt ein Maß für die Spannungen innerhalb der kollektiven Aufführung, die man Kultur nennt. Am Rande des Wirtschaftswunders lauern unaufgelöste Antagonismen. Ulrich antwortet auf die Herausforderung der Tiefe, indem er in sich geht – ein Besuch bei Dr. Freud soll die Konstruktion der eigenen Geschichte ermöglichen: eine gute Möglichkeit, die Geschichte zu ihrem Ausgangspunkt zurückzubringen. Ulrichs Rückzug in sich selbst deutet auf eine ferne Vergangenheit, nicht nach vorn auf eine andere Art von Gesellschaft. In dieser Hinsicht gehört er der deutschen Welt an, wie Abish sie repräsentiert: festgefahren in einer wiedergängerischen Vergangenheit, die keine Zukunft besitzt.
Dem Psychologen vertraut er eine Gegenerzählung an, welche die höflichen Wahrheiten seines Lebens in Frage stellt und seine Überlegenheit im Buch dadurch relativiert, dass sie den ganz besonderen Standpunkt klärt, aus dem vieles darin berichtet wird. Denn Ulrich ist, wie sich herausstellt, kein Hargenau, er ist nicht der Sohn seines Vaters. Das erklärt ein Stückweit sein Anderssein und ebenso die Feindschaft seines Bruders. »Ich gab mich einer gewissen Selbsttäuschung hin«, gibt er zu, und meint damit eine im Ansatz falsche Identität. Das Gefühl der Verbundenheit ist ein für allemal gerissen. Er ist von Fremden umgeben, ohne es überhaupt zu realisieren. Von seinem Bruder wie von seinen Genossen aus der Subkultur erwartet ihn nur Feindseligkeit. Wie so viele postmoderne Erzählungen streift auch diese den Bereich der Paranoia. Sie enthüllt die Gefahren des gesellschaftlichen Lebens und den Missbrauch kultureller Verwandtschaft zu Verhüllungszwecken. Wirklich lebt Ulrich am falschen Ort, deshalb erscheint Deutschland ihm fremd. Und er lebt zur falschen Zeit, der gemiedene Renegat einer politischen Kohorte, die ihre kleinen Racheakte zum Pfahl im Fleisch der öffentlichen Ordnung machen. Er findet keine gemeinsame Basis mit den Einverstandenen und keine mit den Terroristen.
Unter Hypnose allerdings lernt er, dass er nicht aufhört, deutsch zu sein: »Er wusste, er war überzeugt, er war sich sicher, kein gutes Hypnoseobjekt zu sein, als er die Augen öffnete, die rechte Hand steif zum Gruß erhoben«. Die bildliche Wendung gibt dem Schluss eine hässliche Note. Denn sie bekräftigt die kulturelle Verhaftung selbst derer, für die das Vaterland kein Zuhause bedeutet. Wäre es möglich, dass Ulrich genauso blind wie Freud ist? Nichts in der Erzählung deutet darauf hin. Sicher ist Ulrich ›verloren‹, aber kaum blind gegenüber den Widersprüchen seiner Stellung, und seine Confessio am Ende beweist seine Hellsicht in Bezug auf die Quellen seiner Entfremdung. Dieser Schluss hat etwas Verzweifeltes, etwas Unaufgelöstes wie die von der Waffe des Brückenwärters zugefügte Verletzung.
So konzipiert, ist die Kultur ein huis clos, eine existenzielle Mausefalle. Es gibt keinen ›Grund‹ außerhalb des Standpunkts, von dem aus sie als das Verwandte erscheint. Anders als Mme de Staël kann Ulrich nicht nach Paris zurückkehren. Die Auto-Anthropologie, die er praktiziert, lässt ihn allein mit einem Psychologen zurück. Andere Personen in Abishs Erzählung stehen vor ähnlichen Problemen. Doch wie die Lehrerin Anna Heller oder der Kellner Franz haben sie die notwendigen Anpassungen vollzogen. Ulrichs Entdeckung, dass er außerhalb der Familie steht, zutiefst entbehrlich und sogar ein Ärgernis für seine Ex-Frau und seinen Bruder, enthält den Beginn einer solchen Anpassung. Abish hat dazu nichts zu sagen, da ihn der Charakter des Schriftstellers weniger interessiert als die spezielle Sichtweise, die er in Bezug auf die kulturellen Arrangements einer Gesellschaft zum Tragen bringt, welche in befremdlicher Weise auf Verwandtschaft gründet. Sobald Deutschland demaskiert ist, hat Ulrich seine Schuldigkeit getan und seine Zukunft interessiert nicht weiter. Das ist das Ende vom Lied.
Was Ulrichs Erwachen aus der Hypnose lehrt, ist mehr die Hartnäckigkeit von Kultur als ihre krassen Fehldarstellungen und kleinen Verschwiegenheiten. Das bringt uns auf Freud zurück, mit dem ich begann. Wenn uns sein Fall zum Nachdenken darüber bringt, ob wir Kultur selbst dort noch in Schutz nehmen sollen, wo sie uns persönliches Leid zufügt, dann sollte uns Abish fragen lassen, was jenseits oder außerhalb der Grenzen von Kultur liegt. Diese eher theoretische Frage führt zu einer heute unausweichlichen Reihe von Überlegungen. Die sogenannte Globalisierung eröffnet einen Ausweg aus der Falle, einen Weg ins Freie aus dem huis clos lokaler und nationaler Arrangements. Wenigstens sollte man über eine solche Möglichkeit nachdenken, wenn schon Leute sich online verlieben. Das Gefühl ist weit verbreitet, dass das globale Dorf Alternativen zum Leben in der Gesellschaft mit seinen bekannten Abhängigkeiten bietet. Vielleicht liegt Ulrichs Zukunft im Internethandel.
Der anhaltende Widerstand gegen die Globalisierung seitens der neuen Autonomen ebenso wie lokaler Gemeinschaften, die entschlossen dem anhängen, was sie wissen und als ihr Eigentum ansehen, zeigt, wie mächtig der Einfluss der Kultur bleibt. Die politischen Schwierigkeiten, auf welche die rechtliche Kontrolle des Internets stößt, verweisen auf etwas anderes: Kultur hat Grenzen. Aber Globalisierung ist nicht eine Art Anti-Kultur, auch wenn sie die Unzulänglichkeiten bloß lokaler Ideale einebnet. Etwas wie eine globale Kultur ist seit langem im Entstehen, und sie weist Züge einer wirklichen Kultur auf. Sie spricht eine Art Englisch. Ihre politischen Ideale sind liberal, mit einem unzerstörbaren Nachdruck auf der persönlichen Freiheit sich auszudrücken. Der chat-room bezeichnet ihren modus operandi. Und natürlich ist sie merkantil geprägt, entsprechend der Nation, deren Werte sie propagiert. Die prägende Macht kultureller Vorherrschaft ist vielleicht unsere heutige Erfahrung schlechthin. Darin Freud ähnlicher als wir möglicherweise erkennen können, sind wir dieser kulturellen Vorherrschaft und den ihr inhärenten Werten ausgeliefert. Unser Widerstand gegen sie ist im voraus gerechtfertigt durch das Bekenntnis zu öffentlicher Transparenz und privater Freiheit.
Die Geschichte vom Schicksal nationaler Kultur im Zeitalter
globaler Annäherung wird täglich erzählt – im web und auf
den Straßen. Die alten Gewissheiten und die sie tragenden
Literaturen sind gefährdete Arten, aber sie sind auf befremdliche
Weise präsent. Je gleicher wir werden, desto verbissener kämpfen
wir um den Erhalt distinkter Identitäten. Es fällt schwer, die
neuen Nationalismen auf andere Weise zu erklären. Sie antworten auf
die drohende Globalisierung – mit Monokultur. Doch diese Drohung,
real wie sie einfachen Leuten erscheinen muss, hält eine Fülle
literarischer Möglichkeiten für diejenigen bereit, die wie Abish
ihre eigenen Mittel gefunden haben, sich von den bloß nationalen
kulturellen Idealen abzuwenden. Schriftsteller sein heißt
heutzutage für das internationale Publikum schreiben, das Abish im
Blick hat, denn diese Leserschaft reist und kennt ein wenig die
Welt. Es ist ein Publikum, das sich keine Illusionen über den Wert
der alten Sprachen macht, Oxford English eingeschlossen. Wenn der
Cyberspace einen Ausweg aus der Tyrannei lokal begrenzter
kultureller Ideale bietet, wie es sich zum Beispiel in China
gezeigt hat, dann bleibt es eine Frage der Zukunft, ob die neue
Ordnung, die er verkörpert, sich als weniger katastrophal erweisen
wird als die Kultur im Falle Freuds und Ulrichs von Hargenau. Die
Zukunft der Differenz – der Kultur selbst – erschien nie so prekär
wie heute.
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Ulrich Schödlbauer