Dietrich Harth
Von Heidelberg nach Athen und zurück
Die philosophischen Reisewege des Panajotis Kondylis

1.

Glaubt man der Legendenbildung und dem Augenschein, so bestehen zahlreiche Ähnlichkeiten oder, sollte man eher sagen, enge Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den europäischen Metropolen Athen und Berlin. Es sind nicht zuletzt die freien Nachahmungen antiker Baukunst durch die klassizistischen Architekten Carl Gotthard Langhans und Karl Friedrich Schinkel, die der Stadt im 19. Jahrhundert den Beinamen Spree-Athen verschafft haben. Erinnert man darüber hinaus an die Bemerkung des Philosophen Hegel, in Berlin würde die Aufklärung praktisch durchgesetzt, ihre Bücher aber würden woanders geschrieben, so liegt es vielleicht nahe, auch hier eine Verwandtschaftsbeziehung zwischen dem Sitz der ersten Aufklärung, Athen, und der Hauptstadt der zweiten Aufklärung, Berlin, zu vermuten.

So simpel es erscheint, Berlin und Athen sofort unter vergleichenden Gesichtspunkten einander näher zu bringen, so gewagt wirkt es auf den ersten Blick, das Städtchen Heidelberg in dieses Vergleichsspiel einzubeziehen. Dort gibt es keine architektonischen Propyläen-Variationen, und die Antikensammlungen im Archäologischen Institut der Universität prangen so schneeweiß wie tausend andere Abgüsse aus Gips. Auch hat die Neckarstadt bekanntlich bis heute nichts mit der Aufklärung am Hut, sondern pflegt hingebungsvoll den Mythos der Romantik. Dass der Philosoph Hegel in Heidelberg und Berlin dozierte und an beiden Orten manche seiner wichtigsten Werke schrieb, hilft dem Vergleich nicht weiter, weil er uns keinen Weg nach Athen ebnet.

Nun hat aber einer, dessen Name mit Heidelberg eng verbunden ist, vor langer Zeit der Neckarstadt und den Ruinen Athens sprachlich sehr eindrucksvolle Bild-Erfindungen gewidmet. »Wie ein Schiffbruch«, so schreibt er in der Rolle eines Romanhelden, »wenn die Orkane verstummt sind und die Schiffer entflohn, und der Leichnam der zerschmetterten Flotte unkenntlich auf der Sandbank liegt, so lag vor uns Athen, und die verwaisten Säulen standen vor uns, wie die nackten Stämme eines Walds, der am Abend noch grünte, und des Nachts darauf im Feuer aufging.« (Hölderlin 1961, 568) Ein beschreibendes Bild kann man das nicht nennen, eher eine – Sturm und Feuer deuten es an – nach-apokalyptische Vision. Kühn ist der Vergleich der Stadt mit einer gestrandeten Schiffsflotte, erscheint uns doch nichts erratischer als eine Ansammlung steinerner Monumente.

Die Bild-Erfindung, die unser Poet, der selber – obwohl er ständig unterwegs war – Athen nie gesehen hat, dem Städtchen am Neckar – und in Heidelberg war er tatsächlich – gewidmet hat, liest sich auszugsweise so: »...es bebte aus den Wellen ihr lieblich Bild. Aber schwer in das Tal hing die gigantische, schicksalskundige Burg nieder bis auf den Grund von den Wettern zerrissen; doch die ewige Sonne goß ihr verjüngendes Licht über das alternde Riesenbild, und umher grünte lebendiger Efeu; freundliche Wälder rauschten über die Burg herab.« (Hölderlin 1961, 240)

Auch dieses Bild ist wie das der Ruinen Athens gleichsam von außen gesehen, von einem der vorbei und hindurch geht, ein Wanderer, ein Reisender. Hier im Falle Heidelbergs steht dieser Reisende gleichsam auf der Schwelle, woran sich die Kenner des Gedichts erinnern werden, nämlich auf der Brücke, von der es heißt, dass sie – auch das ist ein Bewegungs- und Reisebild – »von Wagen und Menschen tönt«. Hölderlin, der kunstfertige Poet dieser Bilder, sah das Gemeinsame zwischen Athen und dem Heidelberger Schloß (»Burg«) in der Zerstörung der alten Monumente: »zerschmettert« heißt es von dem einen, »zerrissen« von dem andern. Das verwundert zunächst, sind doch beide, wenn auch noch so verschiedene Städte, weithin berühmt nicht nur wegen ihrer Trümmer, sondern vor allem wegen einer Art mythischer Überlegenheit, die ihnen – man gestatte die Personifizierung – von der Geschichte zugeteilt worden ist. Aber hinter Hölderlins Bild-Erfindungen steht ein philosophischer Sinn, der seinerseits an dieser Art mythischer Überlegenheit mitgewirkt hat und den ich später mit Kondylis noch einmal in den Blick nehmen möchte.

Geht man dem Ruhm Athens auf den Grund, so stößt man bald auf ein anderes Bild, auf das Bild von der ›Wiege der Philosophie‹. Während ich noch darüber nachdachte, wie ich mich den geistigen Reisewegen des Panajotis Kondylis auf eine eher indirekte Weise nähern könnte, war mir dieser Bild-Fund sofort willkommen, auch wenn ihm ein bisschen Stallgeruch anhaftet. Athen, die ›Wiege der Philosophie‹: Das rief sofort die großen Gründerfiguren vors Auge: Sokrates, Platon, Aristoteles usw.

Aber wie ist das, wenn wir das Wiegenbild auf Heidelberg beziehen? Welche Wissensform, welche Wissenschaft ist – um im Bilde zu bleiben – diesem Städtchen in den Schoß gelegt worden, die bedeutend genug wäre, um in einer wenn auch noch so kleinen Frage des Seins oder des Daseins mit den griechischen Urhebern des europäischen Denkens in Konkurrenz treten zu können? Welche bis heute immer wieder zu Rat gezogene, immer wieder zu Deutungen herausfordernde Denkart und nüchterne Stimme, die den modernen Geräuschen des großen Verschleißens standhalten würde? – Wir müssen hier nun nicht umständlich dies und das versuchsweise in die Wiege am Neckar legen, denn für meinen Essay habe ich entschieden, Heidelberg habe als die ›Wiege der modernen Soziologie‹ zu gelten. Freilich, das Wiegenfest ist nicht antik, liegt es doch kaum hundert Jahre zurück; wenn es aber einer Vaterfigur bedürfte, so kann sie nur Max Weber heißen.

2.

Wer zwischen Athen und Heidelberg hin und her reist, der sucht, so lässt sich vermuten, aus den noch ungehobenen Einsichten und Gedanken Nutzen zu ziehen, die sich zwischen der klassischen Philosophie und der modernen Soziologie verbergen. Gewiss, das akademische Denken hat längst den Bindestrich gezogen und die Sozialphilosophie ins institutionelle Gitter der Disziplinen eingefügt. ›Philosophie‹ bedeutete, wenn wir den frühesten Gebrauch des altgriechischen Wortes wörtlich nehmen, etwas, das mit Gesellschaft wenig, mit den Empfindungen des Glücks und der Gelassenheit aber allerlei zu tun hatte, heißt das Wort doch soviel wie Freundschaft zur Weisheit, so wie man damals einen Pferdefreund einen ›Phil(h)ippos‹ nannte.

›Soziologie‹ hingegen – schlicht gesagt, die Lehre von der Gesellschaft – ist eigentlich eine Nachgeburt der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts, auch wenn der Name erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts aufkam, als die bürgerliche Gesellschaft Europas sich auch theoretisch und begrifflich ihrer eigenen welthistorischen Bedeutung versichern wollte. Diese Lehre – nota bene: das Gewicht liegt auf dem Doktrinären der Denkart, nicht auf der Freundschaft zu etwas – diese Lehre beharrt auf der Distanz zu dem, wovon sie lehrt und worüber sie Theorien schmiedet, oder steht gar – wenn sie nicht gerade den Zweck des Social Engineering verfolgt – in Opposition zu ihrem Gegenstand, zur bürgerlichen, zur spätbürgerlichen, zur postindustriellen Gesellschaft. Ohne die kritische Gesellschaftstheorie von Karl Marx hätte die Begründung der modernen Gesellschaftslehre durch Max Weber wohl ein anderes Aussehen oder hätte vielleicht nie stattgefunden, und der symbolische Interpret vergangener Lebensspuren wäre immer noch auf der Suche nach den wissenschaftlichen Gründen, die den Griechen Panajotis Kondylis immer wieder nach Heidelberg gezogen haben.

»Vergangene Lebensspuren«, die Metapher wäre genauer zu bestimmen. Denn Kondylis ist im Sommer 1998 in einer Athener Klinik gestorben, wenige Wochen vor seinem 55. Geburtstag und wenige Tage nur vor dem um diese Jahreszeit üblichen Aufbruch nach Heidelberg. Seine Schriften sind noch zu jung, um sie der Vergangenheit zu überantworten, was ja in der Regel Vergessen heißt, auch wenn dieses Vergessen – wie die Geschichte der Wiederentdeckungen zeigt – nur ein temporäres bliebe. Sein letztes Buch, der erste einer auf drei Bände geplanten Sozialontologie mit dem Titel Das Politische und der Mensch, den Falk Horst ein Jahr nach dem Tod des Autors aus dem Nachlaß herausgegeben hat (erschienen im Berliner Akademie Verlag), will überhaupt erst noch entdeckt werden. Wenn die Schrift eine Lebensspur hinterläßt, dann verfängt sich die Rede von ihrem Vergangensein im Widerspruch. Denn die Spur führt, und das ist in diesem Fall mit Sicherheit vorauszusehen, über das Schreiben und Drucken hinaus in die Zukunft zahlloser, vielfältiger Lektüren.

In längst vergangenen Zeiten – der typische Universitäts-Stil bewahrt manches davon bis heute auf – nannte man einen, der sich in Bibliotheken auskannte und selber Bücher schrieb, einen ›homme de lettre‹, um ihn vom ›homme d'action‹ und ›du monde‹ zu unterscheiden. Auf Kondylis, der nie einer Universität angehört hat, trifft das preziöse Etikett, mit dem wir in der Regel die Beherrschung eines eleganten Schreibstils verbinden, überhaupt nicht zu. Wenn er schrieb, und er schrieb alle Texte mit der Hand, so jagte er die Sache und domestizierte die Erregung, die ihn dabei hier und da innerlich mitreißen mochte, unter der Hülle einer nüchtern-kalten Begrifflichkeit: »Moralisten und Normativisten«, ist in einem kleinen Büchlein mit dem Titel Der Philosoph und die Lust (1991) zu lesen, »Moralisten und Normativisten haben recht, wenn sie behaupten, ›geistige‹ Lust sei höher und stärker als die sinnliche – dem ist aber nur deshalb so, weil ›Geist‹ in seinen tiefsten Tiefen Macht und Machtstreben ist. Die Ethik muß freilich diese These bestreiten, wenn sie in ihrem Nominalwert genommen werden und ihre soziale Funktion erfüllen soll, und daher pflegt sie Macht- und Luststreben in einen Topf zu werfen.« (33) Ich habe diese Stelle nicht zuletzt deshalb zitiert, weil sie ein Thema berührt, das – ich werde das später wieder aufgreifen müssen – nach und nach immer kräftiger in Kondylis' Argumentation hervortreten wird: das Verhältnis von Geist und Macht, von Geist und Wissen.

Wenn – wie ein bekannter politischer Slogan der Arbeiterbewegung behauptet – Wissen Macht ist, so war Kondylis, selbst im Kreis der wegen ihres Wissens zur akademischen Macht Gekommenen, ein Auserwählter. Er demonstrierte das nie, weder durch öffentliche Auftritte noch in der Funktion eines Amtsinhabers. Im Gespräch trat der Abstand nicht selten in der Figur der Ironie hervor; gewiss nicht als sokratische, sondern als Ironie des Wissenden. Wenn man etwas über ihn als Person herausfinden wollte und ihn nach dieser oder jener Lebenserfahrung fragte, so erhielt man – das bestätigte einer seiner griechischen Freunde – stets die gleiche Antwort: »Das hat alles überhaupt keine Bedeutung.« Die Aufteilung seines Lebens zwischen Athen und Heidelberg hat die Kenntnis seiner Freunde über das, was er in der jeweils anderen Hälfte seiner zweigeteilten und dennoch ein Ganzes bildenden Welt unternahm, zweifellos verdunkelt. Immerhin, gelegentlich erzählte er in der Heidelberger Weinstube von seinem Studium der Klassischen Philologie und von Verfolgung und Folter durch die griechische Militärjunta.

In Griechenland entfaltete Kondylis eine intensive übersetzerische und wissenschaftspublizistische Aktivität. Nicht nur, dass er seine auf Deutsch geschriebenen Bücher in die Muttersprache rückübersetzte (auch das Umgekehrte gilt), in den 70ern begann er mit der Veröffentlichung einer langen Reihe wichtiger Texte der politischen Philosophie, der Erkenntnistheorie und der Kunstsoziologie, Bücher, die in verschiedenen europäischen Sprachen geschrieben worden waren, die er nun ins Griechische übersetzte und mit Einleitungen versah: darunter Schriften von Machiavelli, Marx, Cassirer, Arnold Hauser, Carl Schmitt und Max Horkheimer.

Zu Beginn der 90er Jahre hat er diese kulturvermittelnde Tätigkeit wieder aufgenommen und mehrere Auswahlbände mit Texten von Chamfort, Lichtenberg, Rivarol und Pavese in eigener Übersetzung ediert. Damit nicht genug: In den 80er Jahren gründete er in Zusammenarbeit mit dem Athener Gnosis-Verlag die ›Philosophische und Politische Bibliothek‹, die bis zu seinem Tod fünfzig Hauptwerke der europäischen Ideen- und Geistesgeschichte zählen sollte; ergänzt durch eine auf zwölf Bände geplante Reihe ›Neuere Europäische Kultur‹, die im Nepheli-Verlag angesiedelt ist und traditionsbildende Werke von Autoren wie Jacob Burckhardt und Norbert Elias umfaßt. Kondylis hat die Übersetzungen aller in diesen Reihen veröffentlichten Bücher revidiert, einen Teil der Originale selber übersetzt und eingeleitet. Die Motive, die dieser gewaltigen Übersetzungsarbeit des neuzeitlichen ins zeitgenössische griechische Denken zugrunde lagen, waren wohl kaum materieller Natur noch sollten sie ihm, der die Unabhängigkeit über alles stellte, einen gesicherten Platz an der Universität verschaffen. »Völker«, so schrieb er in seinem im Heidelberger Manutius-Verlag veröffentlichten Buch Marx und die griechische Antike, »Völker, die die Alten als unüberwindliche Vorbilder verstehen und zu imitieren versuchen, [sind] selbst Kinder geblieben. Das beweist übrigens die Geschichte des modernen Griechenlands zur Genüge.« (75)

Da ich nun einmal beim Aufzählen seiner Leistungen bin, so möchte ich dieses etwas bürokratische Geschäft mit einigen weiteren Angaben beenden: Kondylis' deutschsprachige Veröffentlichungen umfassen allein elf selbständige Bücher, deren Themen von der Entstehung der Dialektik sowie die Rekonstruktion des neuzeitlichen Rationalismus über die Theorie des Krieges bis zum Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensformen und zur epistemologischen Grundlegung einer Theorie der sozialen Beziehungen reichen. Dazu kommen zahlreiche und umfangreiche Handbuchartikel, einige Anthologien und Aufsätze für Zeitungen und Zeitschriften.

»Die Entstehung der Dialektik. Eine Analyse der geistigen Entwicklung von Hölderlin, Schelling und Hegel bis 1802« – mit diesem Thema erwarb Kondylis 1977 in Heidelberg den Titel eines Doktors der Philosophie. Das ging nicht ohne Schwierigkeiten, da die Argumentation dieser Arbeit nicht nur eigensinnige, den damals etablierten Heidelberger Idealismusinterpreten suspekte Wege einschlägt, sondern auch jede Erwartung an einen in rascher Lektüre zu bewältigenden Umfang über den Haufen wirft. Das Volumen der Arbeit ist aber eine Folge sowohl der unbescheidenen Ausgangsfrage nach der Entstehung der Dialektik als auch der philologischen Präzision, der sich der Verfasser freiwillig unterworfen hat, da er die Texte seiner philosophischen Autoritäten als ganze, also nicht nur auszugsweise zu verstehen sucht. Hier, in diesem Rekonstruktionsversuch des philosophischen Vereinigungsdenkens um 1800, findet sich unter anderm eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Zerstörungsbilder, die Hölderlin den Städten Athen und Heidelberg zugeordnet hat (Kondylis 1979, 375). Kondylis zitiert aus dem Gedicht Die Muße: »der geheime / Geist der Unruh, der in der Brust der Erd und der Menschen / Zürnet und gärt, der Unbezwungne, der alte Erobrer, / Der die Städte, wie Lämmer zerreißt, der einst den Olympus / Stürmte, der in den Bergen sich regt, und Flammen herauswirft, / Der die Wälder entwurzelt und durch den Ozean hinfährt / Und die Schiffe zerschlägt und doch in der ewigen Ordnung / Niemals irre dich macht, auf der Tafel deiner Gesetze / Keine Silbe verwischt, der auch dein Sohn, o Natur, ist, / Mit dem Geiste der Ruh aus Einem Schoße geboren.-« (Hölderlin 1961, 182)

Der negative Geist, der Geist der Unruhe, der Unordnung und Zerstörung ist demnach gleichursprünglich mit dem der Ruhe und der Ordnungssetzung. In Kondylis' philosophischer Diktion heißt das: beide sind ontologisch homogen, in Hölderlins poetischer Sprache: »aus Einem Schoß geboren«. Wenn wir's begreifen wollen, so können wir uns wieder zurückwenden zu den Bildern der zerschmetterten Stadt und der zerrissenen Burg. Denn als apokalyptische Zeichen verweisen sie auf die Kämpfe, die aus der Schale der alten eine neue, an Fülle der Gestalten reichere Ordnung freisetzen, ohne dadurch die jede Ordnungsstiftung herausfordernde Verneinung – d. i. die Neigung zur Unordnung – aus der Welt schaffen zu können. »Die Geschichte liebt es, die gordischen Knoten eher zu zerhauen als sie zu lösen«, bemerkt Kondylis in einem ganz anderen, 20 Jahre später diskutierten, dennoch auch hier schon relevanten Zusammenhang (Das Politische 1999, 638). Denn wie der Geist nicht nur an der Versöhnung der Gegensätze arbeitet, sondern sich auch lustvoll in Machtspiele einmischt, so stößt das Studium seiner historischen Gestalten, auf eine schier unübersehbare Vielfalt konkurrierender Ideen, die sich indessen nur über das begreifen lässt, was ihren gemeinsamen Grund bildet. Das Studium der – um es noch einmal in dieser altmodischen Weise auszudrücken – historischen Gestalten des modernen Geistes in ihrer sozialen Verstrickung, das ist das Forschungsprogramm, das Kondylis sich bereits während der Arbeit an seiner Dissertation vorgenommen hat. Hier schon finden sich Hinweise auf die großen Monographien über die europäische Aufklärung von 1981 und die Verfallsgeschichte des Konservativismus von 1986. Hier schon wird erfolgreich die Methode einer Verstehensbemühung erprobt, in der die Vielfalt der Denkbewegungen erhalten bleibt, ein Verfahren, das er in den späteren philosophiegeschichtlichen Analysen unter Hinweis auf die irreduzible Multidimensionalität der Ideenproduktion rechtfertigen wird.

3.

Der Titel meines Essays, mit dem ich ja nur annäherungsweise für eine große und anspruchsvolle ideengeschichtliche und sozialtheoretische Denkbemühung werben kann, spielt an auf die alte Allegorie der Reise. Das Leben: ein ständiges Unterwegssein, das ist ein bekannter christlicher Allgemeinplatz, wonach die wahre Heimat freilich nicht hinieden zu finden sei. Wenn wir Kondylis' zahlreiche Bücher so aufstellen wollten, dass sie die jeweilige Nähe und Ferne zu den Ursprungsorten der klassischen Philosophie einerseits und der modernen Soziologie anderseits – dort Athen, hie Heidelberg – anzeigten, so käme wohl eine sehr seltsam verformte Windrose zustande, deren Vektoren weit ins Soziale hineinragen. Die klassische Philosophie ist wohl da, bleibt aber ein Anspielungshintergrund, da sich Kondylis von Anfang an ausführlich mit jenen neuzeitlichen Denkmustern auseinandersetzt, die sei es zum Energiepotential, sei es zum Ballast der Moderne gehören. Aus der Perspektive des nach seinem Tod erschienen Buches Das Politische und der Mensch wirken die früheren Arbeiten wie die Vorbereitung aufs Opus Magnum, so dass man den Eindruck gewinnen kann, der Aufbruch von 1977 habe schon dem bestimmten Reiseziel der Sozialontologie von 1998/99 gegolten. Natürlich verdankt sich eine solche Hypothese letztenendlich dem Deutungsprivileg des retrospektiven Blicks. Und dennoch, eine Konsequenz liegt ganz offen vor den Augen des Lesers, die es, wie mir scheint, erlaubt, von einem roten Faden zu reden. Dieser imaginäre Faden hat die Substanz und die dehnbare Qualität eines praxeologischen Diskurses, der sich in handlungstheoretischen Begriffen ausbuchstabieren lässt.

Schon die Konjunktion zwischen Geist und Macht läuft darauf hinaus, dem Denken – wie reflexiv auch immer es über sich selber hinauszugehen sucht – die Qualität eines Handlungsentwurfs zu konzedieren. Die Ursache für das Heraustreten des animal rationale aus der Hülle der bloßen Tiernatur, wird es in Das Politische und der Mensch später heißen, ist der Aufschub der sofortigen Befriedigung und die Überbrückung des daraus entstandenen Abstands zwischen Stimulus und Response durch Handlungsentwürfe, in denen z. B. Voraussicht, Kalkül und Zweck-Mittel-Korrelationen über die Art und Weise des hinausgeschobenen Handlungsvollzugs bestimmen. In Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, einem Buch, das die gesamteuropäische Aufklärungsbewegung bis in ihre dunkelsten Winkel verfolgt und ältere Standardwerke verdrängt hat (auch das ein Effekt geistiger Machtausübung), steht der polemische Charakter der Ideenproduktion ganz im Mittelpunkt. Als Signatur dieser Epoche verweist die »Rehabilitierung der Sinnlichkeit« nach Kondylis auf den Kampf der Aufklärer gegen den vertrockneten Rationalismus des mechanizistischen, von scholastischen Abstraktionen geprägten Denkens, eine Kampflinie, zu der jedoch rasch andere hinzukommen. Gilt doch die Polemik nicht nur dem Alten, sondern entbrennt alsbald auch zwischen den Repräsentanten des Neuen, da sie die Rationalitätsansprüche, von denen sie schließlich einen Fortschritt in praxi erwarten, mit jeweils unterschiedlichen Interpretationen des Politischen und mit divergierenden ethischen Sollensanforderungen verbinden.

Kondylis selbst ist in der Rolle des Ideenhistorikers um Neutralität bemüht, möchte sich – wie es in einer kleinen Rechtfertigungs- und Programmschrift von 1984 heißt – »vom Sollen und von allen normativen Aussagen radikal« loslösen, um keine »Anhänger in sozial nennenswertem Umfang für sich zu gewinnen« (Macht 127). Das ist ihm wohl gelungen, auch wenn zu beklagen ist, dass die vermeintliche Neutralität ihm zumindest in einem bestimmten Fall den Applaus, ja vielleicht sogar die Anhängerschaft reaktionärer Biedermänner eingebracht hat. Dieser bestimmte Fall hat mit einer Abhandlung zu tun, die schon im Titel eine Sache philosophisch zu nobilitieren scheint, die notwendigerweise alle Bedingungen gesellschaftlicher Normalität und damit zugleich den in Friedenszeiten geltenden Codex ethischen Handelns außer Kraft setzen muß. Ich spreche von dem Buch Theorie des Krieges (1988), in dem Kondylis keine Schwierigkeiten hat, den Typus strategischen Denkens aus jenem obskuren Stoff der Machtgier zu konstruieren, der in Kriegszeiten für gewöhnlich als nackte Gewalt in Erscheinung tritt. Hier lassen sich die Gedanken von Marx, Engels, Lenin über den Krieg nachlesen. Das Hauptgewicht aber liegt bei Clausewitz als dem Urheber eines konflikttheoretischen, von philosophischen Traditionen unbelasteten Handlungsmodells, dessen praxeologische Konsequenzen Kondylis an den kriegerischen Auseinandersetzungen und militärischen Abschreckungsstrategien der zweiten Nachkriegsepoche zu überprüfen sucht.

Das Interesse für den Krieg als einer Spielart der kollektiven, mithin sozialen Aktion, die in einem formellen und zugleich instrumentellen Sinn alle Merkmale des rationalen, sagen wir ruhig des instrumentellen Handelns zu erkennen gibt, hat seinen Grund in dem Bestreben, das ganze, zwischen den negativen und den positiven Extremen ausgespannte Feld sozialen Handelns auszumessen. Kondylis stößt bei dieser Arbeit, die in Das Politische und der Mensch die Gestalt einer phänomenologischen Rekonstruktion des gesamten Spektrums der sozialen Beziehungen annimmt, auf das dialektische Ineinanderspiegeln jener Werte, die für gewöhnlich in einem ausschließlichen und deshalb allein in einer dritten Instanz zu versöhnenden Verhältnis gesehen werden. Und er bemüht nicht die Logik, um eine begrifflich astreine Beweisführung vorzutragen, sondern zitiert unter anderm die Erfahrungsmaximen der Alten: Cicero, Ovid, Augustin. »Pax tamen interdum est, pacis fiducia numquam« (Ovid, Trist. V.2, Vers 71): Friede zwar ist zuweilen, doch niemals Verlaß auf den Frieden. Kondylis kommentiert das mit einem stoischen Unterton: »Im Bewußtsein sozial lebender Menschen ist trotz ständiger Beschwörungen des Gegenteils die Gewißheit verankert, dass Freundschaft und Frieden nicht ewig dauern, dass sie zerbrechlich und immer neu zu erkämpfen sind; selbst das Vorhandensein von Frieden kann das Vertrauen in den Frieden nicht über jeden Zweifel festigen, und jene Beschwörungen klingen um so pathetischer oder gar intoleranter, je tiefer Zweifel an der Unumstößlichkeit der Freundschaft und des Friedens nagen.« (Das Politische 282) Wir sind ja – so möchte ich hinzufügen – durch Hölderlin gewarnt: der »Geist der Unruh« wie der »Geist der Ruh«, beide sind aus »Einem Schoß« hervorgegangen.

Es ist – wohlgemerkt – das gewöhnliche Bewußtsein (das »Bewußtsein sozial lebender Menschen«), dem Kondylis die Fähigkeit zugesteht, die grundsätzliche Ambivalenz und normative Instabilität allen wertorientierten Handelns auf sich zu nehmen. Ich glaube darin einen Nietzscheanischen Zug seines Denkens zu erkennen. Nicht dass er als ein folgsamer Jünger des Zertrümmerers anzusehen wäre; dazu passte nicht, was er über Nietzsches Irrtümer in Die neuzeitliche Metaphysikkritik (1990) zu sagen weiß, ein großartiges Buch, das übrigens ›so nebenbei‹ in einem Athener Winter entstanden ist. Das Nietzscheanische findet sich zum einen dort, wo Kondylis theoretische Erfahrungen und »kognitive Fiktionen« unter dem Titel des Machtstrebens zusammenschmiedet (Kondylis 1999, 543). Bei Nietzsche heißt es, ich zitiere aus Menschliches, Allzumenschliches: »Insofern [...] alle Metaphysik sich vornehmlich mit Substanz und Freiheit des Willens abgegeben hat, so darf man sie als die Wissenschaft bezeichnen, welche von den Grundirrtümern der Menschen handelt – doch so, als wären es Grundwahrheiten.« (Nietzsche 1958, 461) Darin sehe ich eine Parallele zu Kondylis' Auffassung, dass sich das Denken, und keineswegs nur das des Metaphysikers, mit überempirischen Aussagen wappnet, um mit den Mitteln eines fingierten theoretischen Ganzen im Kampf um ›ideelle Machtansprüche‹ bestehen zu können (Metaphysikkritik 560f.). Solche ideellen Machtansprüche bleiben nicht folgenlos. Dort, wo die theoretischen Fiktionen in normative Sätze übergehen, und das ist nach Kondylis die Regel, entfalten sie ihre sozialhistorische Wirkung im Kampf um ideologische Positionen und um Identitäten.

Ein zweites Nietzscheanisches Moment erkenne ich in Kondylis' Glauben an die zerstörerische Macht des häretischen Diskurses. Er selber hat wie ein siegessicherer Feldherrr den Entwurf seiner Sozialontologie mit einem Rammbock verglichen, dem es gelingen soll, Brechen in die verkrusteten Bastionen wissenschaftlicher Theoriekonventionen zu schlagen. Es mag vielleicht wie eine Übertreibung klingen, wenn ich, von diesem Bild ausgehend, auf eine häretische Qualität schließe, zumal die Rede von Häresie angesichts des verbreiteten pluralistischen Laissez-faire in der wissenschaftlichen Theoriebildung ziemlich altbacken klingt. Und dennoch, es war schon immer ein Privileg des Häretikers, die von ihm selber als dogmatisch verworfenen Denkmuster mit einem Diskurs zu kontern, der Welthaltigkeit und logische Deregulierung gegen die Abstraktionen und erkenntnistheoretischen Imperative der etablierten Schulen aufbieten will. Die von Kondylis häufig bemühte Kampfmetaphorik zeigt sozusagen nur die Außenseite der Häresie. Die Innenseite aber ist mit jenen Potentialen des Widerstands identisch, die in der anthropologischen Konsequenz des Nein-sagen-Könnens verankert sind.

Und genau dies ist nach meinem Dafürhalten das dritte für Kondylis charakteristische Moment, ein Moment, das auch, aber nicht allein mit dem Namen Nietzsches in Verbindung steht. Denn das Nein-sagen-Können ist seit der Entdeckung der Anthropologie im 18. Jahrhundert immer wieder als ein spezifisches Kennzeichen des animal rationale hervorgehoben worden. Läßt man vor diesem Hintergrund Kondylis' große, nach der Dissertation entstandene Monographien Revue passieren, so drängt sich die Einsicht auf, hier habe einer die Negation als Schlüssel zur Ideengeschichte benutzt. Denn diese Monographien zeigen die Ideen sowohl in ihrem erfolgreichen Kampf gegen Konventionen als auch in ihrem erfolglosen Kampf um Selbsterhaltung angesichts weitreichender soziopolitischer Veränderungen: polemische Durchsetzung des neuzeitlichen Rationalismus gegen theologische Ontologie und Moral; »Zusammenbruch« der Transzendenzmetaphysik im Zeitalter wissenschaftlicher Weltbilder; »Untergang« des mit der Adelsgesellschaft eng verknüpften konservativen Denkens im vergeblichen Kampf gegen das Auseinandertreten von modernem Staat und bürgerlicher Gesellschaft; und schließlich »Niedergang« der bürgerlich-liberalen Ideen und Lebensformen in der Auseinandersetzung mit der »analytisch-kombinatorischen Denkfigur der Massendemokratie« (Niedergang 290).

4.

Tritt Kondylis – die Frage drängt sich angesichts so massiver Verfalls-Szenarien auf – in seinen Schriften als ein Buchhalter des Untergangs in Erscheinung? Seine Selbstinterpretationen verneinen eine so einseitige kulturpessimistische Optik. Die Wirklichkeit des Zusammenlebens ist für ihn niemals identisch mit den Ideen, Theorien, Begriffen, die wir uns über sie zurechtlegen und die in den überkommenen Systemen des Denkens zu vergänglichen Welt- und Menschenbildern zusammenschießen. Insofern kann der Geschichtsprozess auch keine linear konstruierte Konsequenz, etwa im Sinne einer unaufhaltsamen Verfallsgeschichte aufweisen, und die wohlfeilen Sprüche vom Ende der Geschichte und des Menschen erscheinen als das, was die Sprachkritik einen Galimathias nennt: das Krähen des Hahns auf dem Mist.

Mit Kondylis' Worten: Die »Rede vom Ende ›des‹ Menschen kann weder die physische noch die geschichtliche Eliminierung des Menschen, sondern nur den Niedergang jener Kultur und jener Weltanschauung bedeuten, die anthropologische Überlegungen oder humanistische Sorgen an die erste Stelle ihrer Prioritäten setzten. Sowohl diese Kultur und diese Weltanschauung als auch jene, die der Rede vom Menschen nicht diesen privilegierten Platz einräumen wollen, werden gleichermaßen von Menschen gemacht, die polemisch denken und auf Grund der konkreten polemischen Konstellation den Inhalt ihrer weltanschaulichen Entscheidungen gestalten. [...] Nicht der Mensch stirbt ab, sondern der Anthropozentrismus, genauso wie vorher der Theozentrismus abstarb. Nichts deutet darauf hin, dass sich die Menschen nach dem Tode des Anthropozentrismus wesentlich anders verhalten werden, als vorher, genau so wie die Ablösung des Theozentrismus durch den Anthropozentrismus keine dramatische Änderung mit sich brachte – keine jedenfalls, die uns grundsätzlich hindern würde, Motivation und Denkweise der Menschen in der Vergangenheit im großen ganzen zu verstehen.« (Niedergang 290f.)

Die Ideen, Theorien, Weltanschauungen und Menschenbilder, so muss man diese Aussage wohl auffassen, sind wandelbar und vergänglich wie die Geschichte selbst, während es für das Verstehen einen Grund geben muss, der nicht von der Zeit verschlissen wird. Diesen Grund bezeichnet Kondylis in Das Politische und der Mensch mit dem Begriff des Sozialen, so dass man versucht sein könnte, den Autor als den Parteigänger eines neben Theozentrismus und Anthropozentrismus existierenden dritten Weltanschauungstypus, nämlich des Soziozentrismus anzusehen. Und in der Tat: Der posthum erschienene theoretische Entwurf geht vom »sozialontologischen Primat des Seins der Gesellschaft« aus, wie es umständlich in der einleitenden Grundlegung heißt. Will sagen: Es gibt kein Jenseits des Sozialen, kein Individuum, das sich davon ausschließen könnte, kein noch so grauenhaftes Verbrechen, das nicht innerhalb des Sozialen begangen würde, keine Theorie, die nicht an dem Kampf um Positionen innerhalb des gesellschaftlichen Spektrums beteiligt wäre.

Kondylis' Rede von »Feld« und »Rahmen« der sozialen Beziehung deutet den theoretischen Status seines Entwurfs an, der nicht auf die Inhalte und historisch konkreten Erscheinungsformen bestimmter Gesellschaftsbilder zielt, sondern die Formalkategorien für die Erfassung des Gesellschaftlichen an und für sich zu entwickeln sucht. Die Geltung dieser von ihm so genannten »wissenschaftlichen Fiktion« (195) soll ubiquitär sein, sich also über alle historischen und kulturellen Unterschiede hinwegsetzen. Entsprechend allgemein und umfassend fällt die Bestimmung jener Faktoren aus, die zum Spektrum des gesellschaftlichen Seins gehören, und zwar, so ist in der Grundlegung zu lesen, »seit den bezeugten Anfängen der Menschheitsgeschichte« (Das Politische 194). Eine universalistische Perspektive.

Die Theorie konstruiert nun in dieser Perspektive als den Grund aller möglichen empirischen Existenz- und Erscheinungsweisen die ontischen Dimensionen des Sozialen in Form eines triadischen Musters gleichursprünglicher, ineinander greifender Komponenten: Erstens die Komponente der sozialen Beziehung im Sinne eines unbegrenzten, zwischen Zentrum und Peripherie beweglichen interpersonalen bzw. interaktionistischen Handelns. Zweitens das Politische als die zwischen den Extremen der Feindschaft und der Freundschaft sich entfaltende, ordnungskonstitutive Dimension des Zusammenlebens; und schließlich drittens das Anthropologische, in dessen Licht die Natur des Menschen als ein kulturelles Faktum erscheint, das im Kampf gegen die äußere Natur die größtmögliche Unabhängigkeit von deren Zwängen anstrebt.

Dieser dreidimensionale Aufbau der theoretischen Konstruktion bzw. Fiktion gilt allein den notwendigen, nicht den zureichenden Bedingungen des Sozialen, ist also begrifflich noch diesseits der von Kondylis immer wieder betonten historisch-soziologischen Vielfalt, Widersprüchlichkeit, Zerbrechlichkeit, Offenheit und Plastizität der gelebten Erfahrung verankert (191), mit deren konkreten Erscheinungsformen sich die Einzelwissenschaften der Geschichte, der Psychologie, der Soziologie, der Ethnologie usw. befassen. Die Sozialontologie ersetzt diese empirischen Einzelforschungen nicht und erhebt auch keine normativen oder gar ethischen Ansprüche. Und doch will sie etwas, nämlich den Handlungswissenschaften ein theoretisches Fundament anbieten, das diese davor bewahren kann, ihre partikularen Erkenntnisse vorschnell zu verallgemeinern und unkritisch in den Dienst ideologischer Glaubenskämpfe zu stellen. Umgekehrt lässt die allgemeine Theorie den empirischen Wissenschaften den Vortritt, wenn es darum geht, die Reichweite der theoretischen Konstruktionen in der Gegenüberstellung mit jenen Anschauungsdaten zu korrigieren, deren Begriffe der soziohistorische Wandel bis zur Unkenntlichkeit entstellen kann. Nicht die Widerlegung der allgemeinen Theorie zählt, sondern allein die Falsifikation ihrer Grundbegriffe durch Erfahrung.

Es ist immer wieder erstaunlich, wie eng Kondylis die symbiotische Beziehung zwischen theoretischer Grundlegung und Common Sense in der Bedeutung eines auf Lebenserfahrung beruhenden Wissens faßt. »Der Common Sense«, so begründet er den Wahrheitswert dieser jedermann zugänglichen Erfahrung, »entwirft [...] nicht zwei unterschiedliche Bilder von der sozialen Welt, eines für Schön- und eines für Schlechtwetterlagen, sondern ein einziges relativ nuancenreiches. Im Mittelpunkt dieses Bildes steht eine ebenfalls nuancenreiche bzw. ambivalente Auffassung vom Menschen als Gegenstand oder Grund von Vertrauen und zugleich Mißtrauen, Hoffnung und zugleich Furcht – als berechenbares und ›rationales‹, zugleich aber als unberechenbares und ›affektives‹ Wesen.« (321)

In den Kapiteln, in denen Kondylis im Gegenzug zur Phänomenologie der Feindschaft eine Phänomenologie der Freundschaft entwickelt, um an beiden Formen die Dialektik gesellschaftlicher Handlungsorientierungen darzustellen, greift er z. B. weit zurück bis auf die Freundschaftsvorstellungen Homers und die Ethik des Aristoteles – um nur zwei Namen aus einer langen, von ihm zitierten Überlieferungskette auszuwählen (288ff.). Doch nicht allein die kanonischen Texte der europäischen Kultur–, Ideen- und Wissenschaftsgeschichte, auch die Spruchweisheiten der außereuropäischen Kulturen – seien es die der Yoruba oder die der Ashanti – enthalten Einsichten in das Umgreifende des Sozialen, die Kondylis gern den sozialontologischen Grundwahrheiten avant la lettre zuschlägt.

Zu diesen Grundwahrheiten gehören darüber hinaus zwei Komponenten des sozialen Seins, die er als universalistisch gültige Bedingungen des Verstehens, übrigens auch im Sinne des methodisch disziplinierten Verstehens der Sozialwissenschaften, betrachtet: Erstens die Tatsache, dass jedem sinnhaften Handeln vom Alltagshandeln bis hin zum kultischen Ritual rationale Entscheidungen zugrunde liegen, und zweitens die allseits geltende Erfahrung von der Undurchdringlichkeit, der Unberechenbarkeit und Unkontrollierbarkeit des Ich. Die Paradoxie besteht nun darin, dass die einzelnen Subjekte, wie fremd oder vertraut sie einander auch immer sein mögen, im Grundverhältnis der sozialen Beziehung die Gewissheit von der Unverfügbarkeit über den Anderen teilen. Dieses Wissen, das nach Kondylis in den Zeugnissen der Lebensweisheit aller Epochen und Kulturen als ein Gemeinplatz sozialer Erfahrung aufbewahrt wird, ist beiden, dem Ich wie dem Anderen gemeinsam und ermöglicht ihnen, sich über alle individuellen Differenzen hinweg zu verständigen, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Gruppen, politischen Systemen, Weltanschauungen und Sprachgemeinschaften. Die vom Ich selbst erfahrene, dem Anderen unterstellte und so als das Gemeinsame anerkannte Unberechenbarkeit kommt in der bereits unter anthropologischen Aspekten erwähnten Fähigkeit des Nein-sagen-Könnens zur Geltung.

Erinnern wir uns: Die Verneinung der unmittelbaren Befriedigung bewirkt den Aufschub zwischen Stimulus und Response, um jene Denkbewegung auszulösen, als deren Resultat der rationale, Ökonomie, Kalkül, Konsistenz und Zweck-Mittel-Korrelation einschließende Handlungsentwurf anzusehen ist. »Nein zu sagen,« so resümiert Kondylis das komplexe Geschehen, »bezeugt die Handlungsfähigkeit« der Subjekte (319). Es sind also die unter dem Begriff der Subjektivität zusammengefassten Potentiale des Widerstands, die darüber entscheiden, wie frei oder wie zwanghaft sich die Kommunikation im Netz der sozialen Beziehung gestalten wird. Diese Theorie verwirft das Konsensmodell und steht der von Wilhelm von Humboldt formulierten Maxime sehr nahe: »Alles Verstehen ist [...] immer zugleich ein Nicht-Verstehen, alle Übereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen.« (Humboldt 1963 ,439) Verstehen, so gedeutet, nivelliert die Differenz nicht, sie schließt aber auch die Übersetzung fremden Sinns in die eigene Begriffswelt nicht aus.

5.

Natürlich liegt es nahe, diese Doppelbewegung von Verstehen und Nichtverstehen auf die eigenen Verstehensbemühungen zu beziehen. Was aber ist es, das den Bestimmungsgrund für meine eigenen hier vorgetragenen Verstehensbemühungen ausmacht? Die Antwort kann nur lauten: Es ist der Versuch, einen theoretischen Entwurf in der Perspektive einer an der Sache orientierten »Entdeckungsreise« zu erkunden. Die Metapher der Entdeckungsreise stammt von Kondylis selber, der sie dort benutzt, wo es darum geht, das Fremdverstehen über die Gemeinsamkeiten des Nein-sagen-Könnens und der rationalen Handlungsplanung hinaus bis zur reflexiven Erfassung der Individualität des Andern zu steigern. Das Bild der Entdeckungsreise läßt offen, wie weit man mit dieser Verstehensbemühung kommen kann. Aber es schließt die Tatsache ein, dass Fremdverstehen niemals ein bloßes Nachvollziehen der Gedanken oder Gefühle des Anderen ist, sondern – wie der Begriff der Entdeckung andeutet – mit einer Bereicherung des Selbstverstehens auf Seiten des Interpreten Hand in Hand geht. Ausgehend von diesem Gesichtspunkt der Bereicherung oder – wie man auch sagen könnte – des Hinzulernens, hat mich die unerschrockene Intensität überzeugt, mit der Kondylis die Geltung ältester und anscheinend entlegenster Denkfiguren gegen die wissenschaftliche Theorien- und Ideenproduktion der Spät- und Postmoderne ›ins Feld führt‹. Ich benutze bewusst dieses militärische Bild, denn die Polemik, die Kondylis in den Ideenkämpfen aller Epochen am Werk sieht, leitet ganz unverhohlen seine eigenen, im übrigen scharfsinnigen Angriffe auf die zeitgenössische sozialphilosophische und sozialwissenschaftliche Literatur.

Der große Gewinn aber, den der Entdeckungsreisende aus der Lektüre ziehen kann, hängt – das ist meine persönliche Überzeugung – mit einer Tendenz zusammen, die Kondylis selber ausdrücklich aus seinen theoretischen Intentionen ausschließt: Die prinzipielle Unverfügbarkeit gilt auch in der Beziehung des Ich zum Selbst. Denn in der Offenheit seines theoretischen Entwurfs spiegeln sich die Versatilität und das Offenhalten eines Modells gesellschaftlicher Erfahrung, dessen ethische Implikationen sich jeder Reduktion, sei es auf funktionalistische, auf biologische oder ökonomische Faktoren widersetzen.

Das Offenhalten hat hier aber noch einen anderen, einen ungewollten oder kontingenten Sinn. Der plötzliche Tod, der den Autor zum Verstummen brachte, hat das ehrgeizige Projekt der Sozialontologie zerbrochen. Wenn das Bücherschreiben, wie es irgendwo bei Kafka heißt, eine ›Expedition in die Wahrheit‹ ist, so ist der Reisende Panajotis Kondylis auf dieser Expedition verloren gegangen, und es liegt nun an seinen Lesern, die Reise mit Hilfe der von ihm hinterlassenen Fragmente fortzusetzen.

 

Vortrag, gehalten am 8. Mai 2001 in der Griechischen Kulturstiftung zu Berlin; eine griechische Fassung erscheint demnächst in der in Athen erscheinenden Zeitschrift »Nea Hestia«.