Dietrich Harth
Dialog zwischen den Kulturen
Ein Nachruf

Vom Dialog, jener als Zwie-Sprache geadelten Form der gewaltlosen Wahrheitssuche, heißt es manchmal, er berge ein Geheimnis. Vielleicht liegt dieses Geheimnis im dunklen Raum zwischen den Sprachen. Jedenfalls bringt das Nachschlagen in den Wörterbüchern, Enzyklopädien und Inter-Netz-Werken allein der euro-amerikanischen Idiome je eigentümliche Bedeutungskommentare zutage: Hier ist es das schlichte Gespräch und eine literarische oder didaktische Form, dort die erhitzte Eristik oder das Drama der Wechselrede, woanders wiederum steht das Wort ganz im Schatten der vermeintlichen Urheber Sophron und Platon und neuerdings bezeichnet es eine »Technik des Deep-Dialogue«, die der Ego-Logik im Namen einer kommenden Weltethik den Kampf ansagt. Gewiss, das sind keine dramatischen Abweichungen vom kleinsten gemeinsamen Nenner, und dennoch schon Zeugnisse einer Vielfalt, die sich im globalen Sprachenvergleich multiplizieren würde.

Im November 1998 beschloss die General Assembly der Vereinten Nationen, das Jahr 2001 dem ›Dialog zwischen Zivilisationen und Kulturen‹ zu widmen. Die entsprechende UN-Resolution 53 wendet sich, ohne das explizit sagen zu müssen, gegen jenes finstere Bild eines globalen Kulturkampf-Szenarios, das fünf Jahre zuvor der amerikanische Politikberater Samuel Huntington in der Sommer-Ausgabe von Foreign Affairs veröffentlicht hatte und dessen Titel Clash of Civilizations längst zum wohlfeilen Schlagwort geworden ist. Huntingtons Prognose verschleiert nicht die politisch-ideologischen Eigeninteressen der USA, sondern rechnet mit dem Erstarken der Entwicklungsländer und Schwellengesellschaften nach dem Zusammenbruch der Blöcke und fürchtet den dadurch ausgelösten globalen Kampf um Ressourcen und Machtsphären. Seine Empfehlung an die Westgesellschaften ist unzweideutig: Schutz der Eigeninteressen durch Stärkung der militärisch-wirtschaftlichen Kartelle und gleichzeitiges Bemühen um ein besseres Verständnis der anderen Kulturen, da sich auf diesem Weg deren Interessenlage erschließen lasse.

Um 400 unserer Zeitrechnung wurde die Vajracchedika-Sutra, die sogenannte Diamant-Sutra aus dem Sanskrit ins Chinesische übersetzt, ein Dialog zwischen Buddha und einem seiner Schüler und ein Klassiker des Mahayana-Buddhismus. »Wie in den Sphären des Äthers«, heißt es dort, »Sterne und Finsternis, Licht und Luftspiegelungen, Tau, Gischt, Blitze und Wolken sich bilden, sichtbar und wieder unsichtbar werden wie Traumgestalten, so ist all das zu begreifen, was von individueller Gestalt ist.«

Vergleicht man Huntingtons Clash-Szenario mit der UN-Resolution 53, so wirkt diese relativ harmlos, und zwar nicht nur deshalb, weil sie dem ›Clash‹ mit dem ›Dialogue‹ vorbeugen will, sondern weil sie – zwangsläufig – die Realisierung des interkulturellen Austauschs auf Bildung, Wissenschaft und Kultur beschränkt und zugleich an die dafür zuständige Suborganisation, an die UNESCO, verweist, deren Absichten bewundernswert, deren finanzielle Möglichkeiten aber erbärmlich sind. Diese Organisation und ihre nationalen Ableger boten im Jahr 2001 verschiedene Veranstaltungen über Chancen und Formen des Kulturendialogs an, die unter anderm auch die lokalen Regenbogenprojekte des Kulturaustauschs und der transnational ausgreifenden musisch-didaktischen Initiativen zusammenbrachten, worüber zum Beispiel die Zeitschrift UNESCO heute in ihrer vierten Ausgabe des Jahres 2001 berichtet. Der Auftrag der UN für die UNESCO knüpfte an frühere, an die Regierungen in aller Welt adressierte Appelle an, Toleranz gegenüber und Respekt vor dem Andern, die Anerkennung kultureller Vielfalt und die Entwicklung der auf demokratischen Prinzipien aufbauenden, uneingeschränkten kulturellen Partizipation nach besten Kräften nachhaltig zu fördern. »Civilizations are not confined to individual nation-States,« heißt es in der entsprechenden Resolution vom 13. November 2000, »but rather encompass different cultures within the same civilization, and (...) civilizational achievements constitute the collective heritage of humankind, providing a source of inspiration and progress (...); that dialogue among civilizations can make valuable contributions to an improved awareness and understanding of the common values shared by all humankind.«

Eine frühe Inkarnation und lebendige Allegorie des zwischenkulturellen Dialogs war der Inca Garcilaso de la Vega. Sohn eines spanischen Offiziers und einer Inkaprinzessin, reiste er im Jahr 1560 von Peru nach Andalusien, kämpfte gegen die Morisken und widmete sich den studia humanitatis. Sein literarisches Debut feierte er mit der Übersetzung der neoplatonisch-jüdischen Dialoghi d’amore des spanischen, 1492 nach Italien emigrierten Gelehrten Leone Hebreo aus dem Italienischen ins Spanische. 1609 erscheinen seine Commentarios Reales, que tratan del origen de los Yncas, die Geschichte der Inkas und der Welt seiner Mutter; Jahre später erscheint der zweite, der Kultur der Spanier und der Welt seines Vaters gewidmete Band. Der Mestize Garcilaso sah aber am Ende im Inkareich ein »anderes Rom«, die Verschmelzung der Alten mit der Neuen Welt unterm Dach der Christianisierung. Er opferte so die Quelle des permanenten Dialogs, die kulturelle Differenz, der kolonialistischen Logik heilsgeschichtlichen Einheitsdenkens.

Die UN-Resolution 53 aus dem Jahr 1998 entsprach einem Vorschlag des Präsidenten der Islamischen Republik Iran‚ des ›weisen Herrn‹ (Seyyed) Mohammad Khatami. Die Beweggründe Khatamis mögen damals in erster Linie innenpolitischer Art gewesen sein, in seiner im Frühjahr 2001 veröffentlichten Präsentation des Dialog-Jahres jedoch spielt er auf dem Register der Globalisierungskritik. Er argumentiert hier mit der Bedrohung der gewachsenen Eigentümlichkeiten ›eingeborener‹ lokaler Traditionen und deren Vielfalt durch eine einzige ›global culture‹. Dieser Bedrohung – sagen wir’s offen: durch McWorld – zu begegnen, plädiert der persische ›Herr‹ mit dem interkulturellen Dialog für eine Sache, die seine eigenen Landsleute entbehren müssen. Es sei denn, er benutzt das Wort ›Dialog‹ in einer Variante, die Rede und Gegenrede ausschließt. Für diese Vermutung spricht die, oberflächlich gesehen, unpolitische Forderung Khatamis, über die ›ewigen Menschheitsfragen‹ zu disputieren, um ›Form und Gehalt der global culture in natürliche Einheit und Harmonie‹ zu überführen. Das Hybride am kulturellen Pluralismus der modernen Migrationsgesellschaften ist in seinen Augen keine Bereicherung, vielmehr Ausdruck ›kultureller Heimatlosigkeit‹. Nicht seine Verteidigung der ›islamischen Zivilisation‹ als Ort der wahren Begegnung zwischen Offenbarung und Denken irritiert. Es ist vielmehr die völlige Missachtung des Dissenses im Kräftespiel des Dialogischen und sein Ersatz durch ›Einfühlung und Mitleid‹.

In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts, als sich die imperialistischen Mächte um die Aufteilung der Welt zankten, notierte ein Meister des Monologs, Friedrich Nietzsche, in sein Schreibheft: »Die Höhepunkte der Kultur und der Zivilisation liegen auseinander: man soll sich über den abgründlichen Antagonismus von Kultur und Zivilisation nicht irreführen lassen. Die großen Momente der Kultur waren immer, moralisch geredet, Zeiten der Korruption; und wiederum waren die Epochen der gewollten und erzwungenen Tierzähmung der Menschen (›Zivilisation‹ -) Zeiten der Unduldsamkeit für die geistigsten und kühnsten Naturen. Zivilisation will etwas anderes, als Kultur will: vielleicht etwas Umgekehrtes...«

In den frühen Morgenstunden des 11. Septembers des Dialogjahres 2001 lenken islamistische Attentäter vollgetankte und gut besetzte Passagierflugzeuge amerikanischer Fluggesellschaften in die Zwillingstürme des World Trade Centers in New York und in einen Pentagon-Block in Washington. Die Zerstörungen sind total, Tausende werden getötet. Die amerikanische Regierung antwortet mit einem ›Verteidigungskrieg‹, der ein monatelanges Bombardement Afghanistans, des vermuteten ideologischen und logistischen Zentrums des fundamentalistischen Terrors, einschließt.

Im Jenseits-Dialog zwischen Eiros und Charmion des Amerikaners Edgar Allan Poe erzählt Eiros, den das Feuer auslöschte, dem andern, der eines natürlichen Todes starb, das Ende: »A furious delirium possessed all men; and, with arms rigidly outstreched towards the threatening heavens, they trembled and shrieked aloud. But the nucleus of the destroyer was now upon us; then, there came a shouting and pervading sound, as if from the mouth itself of HIM; while the whole incumbent mass of ether in which we existed, burst at once into species of intense flame, for whose surpassing brilliancy and all-fervid heat even the angels in the high Heaven of pure knowledge have no name. Thus ended all.«

Februar/März 2002: Der afghanische ›Feldzug‹ dauert an, während die Regierung des Präsidenten G. W. Bush ihre Feindbildpolitik auch auf Khatamis Iranische Republik ausdehnt und das Justizministerium einer ›wartime reorganization‹ unterwirft. Zeitgleich veröffentlicht das Institute for American Values (New York) ein Pamphlet mit dem Titel What We’re Fighting For, das eine Gruppe US-amerikanischer Wissenschaftler und Opinionleaders, unter ihnen Samuel Huntington, Michael Walzer, Francis Fukuyama und Amitai Etzioni, unterschrieben hat. Die Werte, die es nach dem Papier zu verteidigen gilt, sind: allgemeine Menschenwürde, die Überzeugung von universell gültigen moralischen Wahrheiten (Standard: Menschenrechts-Charta), Gewissens- und Religionsfreiheit sowie das Vertrauen in die Kraft des Arguments bei der Suche nach Wahrheit. Keine andere Nation der Welt, versichert das Pamphlet, habe ihre Identität so direkt und explizit auf das Fundament dieser Universalwerte gebaut, weshalb der ›Krieg‹ gegen die Feinde Amerikas ganz unmittelbar mit der Verteidigung der genannten Werte zusammenfalle. Zweifel sind unerwünscht. Das Wort ›Krieg‹ fließt den Verfassern wie nichts in den Text, denn dieser ›Krieg‹ ist kein gewöhnlicher Verteidigungskrieg, sondern ein ›gerechter Krieg‹, auch wenn seine Gewalt ›in some circumstances‹ Tod und Verstümmelung von Zivilisten zur Folge hat. Den selbstgerechten Ton des Dokuments trübt kein einziges Wort über das, was zu jedem, auch zum sog. gerechten Krieg gehört wie der Sturm zum Orkan: das Hinwegfegen moralischer Normen und die bestürzende Aushöhlung der Rechte, zumal der Menschenrechte, nach dem Motto inter arma silent leges. Kein Wort über den mörderischen Exterminismus und die Kontaminationsfolgen der neuen Waffensysteme, kein Wort über die Verantwortung gegenüber den beabsichtigten und unbeabsichtigten Opfern dieses ›gerechten Krieges‹, wozu die sozio- und rechtspolitischen Koordinaten eines ganzen Landes gehören. Nur der Sieg zählt: »with one voice we say solemnly that it is crucial for our nation and its allies to win this war.«

Wo der Dissens zum Schweigen gebracht, die Parteilichkeit zum Dogma erhoben, die Abweichler benannt sind, versteinert die Sprache. Die Sprache, besser: das Wort, lebt in der Vollzugsform des Dia-Logs. Das versteinerte Wort weckt den Anschein vollendeter Realität und ist der Ruin des Kommunizierens. Als nur allzu schwacher Schein ist der Anschein wie das Gespenst der Nacht: ein verwaschenes, furchteinflößendes Etwas. Der Wort-Wechsel im Sinne von Rede und Gegenrede – Substanz des Dialogischen – folgt dem Prinzip vom unzureichenden Grund. Will sagen: Wahrheitssätze sind stets bestreitbar, widerlegbar aber diejenigen, die den Anschein vollendeter Wahrheit vortäuschen wollen. »La réalité«, heißt es in Lytordas Verteidigung der Differenz, »n’est pas une question de témoin absolu, mais une question de futur.« Was Realität, was Wahrheit ist, zeigt sich erst in der Verneinung.