Diethelm Kaiser
Spurenlese: Paul Gauguin

Um sich die finanziellen Mittel für die große Reise zu verschaffen, veranstaltet Gauguin eine öffentliche Versteigerung seiner Werke, und er sorgt mit der Inszenierung einer regelrechten ›Medienkampagne‹ dafür, dass ihr auch genügend Beachtung geschenkt wird. Auf seine Bitte hin wendet sich Mallarmé an den Schriftsteller und Kunstkritiker Octave Mirbeau, der seine Unterstützung zusagt und einen langen, mitunter angestrengt pathetisch wirkenden Essay über Gauguin verfasst. Er wird am 16. Februar 1891 in L’Écho de Paris veröffentlicht, ein zweiter Artikel von Mirbeau folgt zwei Tage später in Le Figaro, auch der Kritiker Roger Marx und der Schriftsteller Jean Dolent publizieren Beiträge in verschiedenen Pariser Zeitungen. Die Versteigerung am 23. Februar 1891 im Hôtel Drouot wird ein respektabler Erfolg. Von den 30 ausgestellten Bildern finden 29 einen Käufer, Gauguin erzielt einen Nettogewinn von weit über 7000 Francs. Das breite Publikum hält sich zwar nach wie vor zurück, in Künstler- und Kritikerkreisen aber genießt Gauguin kurz vor seiner Abreise große Achtung – der Prophet beginnt interessant zu werden, wenn er sich anschickt, das eigene Land zu verlassen.

Nach seiner Rückkehr von einem Kurzbesuch in Kopenhagen, bei dem er sich offenbar mit seiner Frau Mette aussöhnt, trifft Gauguin die letzten Reisevorbereitungen. Vom Ministerium für Erziehung und die Schönen Künste wird er auf seinen Antrag hin mit einer unbesoldeten »künstlerischen Mission« betraut. Er beabsichtige, so formuliert Gauguin in seinem Gesuch, in Tahiti »eine Reihe Bilder des Landes zu malen, dessen Charakter und Beleuchtung ich erforschen möchte«. Das Ministerium erwirkt außerdem bei der Schifffahrtsgesellschaft einen Preisnachlass von 30 Prozent für Gauguins Fahrkarte zweiter Klasse.

Am 23. März wird für ihn im Café Voltaire, dem Treffpunkt der Symbolisten an der Place de l’Odeon, ein großes Abschiedsbankett ausgerichtet, an dem 40 Personen, unter ihnen Odilon Redon, Charles Morice, Paul Sérusier und Daniel de Monfreid, teilnehmen. Man frönt ausgiebig den Freuden der französischen Tafel – und Gauguin, der gutes Essen immer zu schätzen wusste, dürfte in dieser Runde schmerzlich bewusst geworden sein, dass er auch manche Segnung der Zivilisation hinter sich lassen würde. Die Speisenfolge des lukullischen Menus ist überliefert:

Suppen
Saint-Germain. Tapioka
Hors d’œuvre
Butter. Oliven. Wurstaufschnitt
*
Buttfilet in Sauce Dieppoise
*
Fasanenragout mit Pilzen
Gebratene Lammkeule
Weiße Bohnen nach Art des Küchenchefs
*
Brie
*
Früchtekorb
Eisgebäck
*
Beaujolais

An der opulenten Tafel feiern die Künstler und Literaten ausgiebig Gauguin und, wie immer, auch sich selbst. Man spricht Toasts auf den Scheidenden aus, Gedichte werden rezitiert, mehr oder minder mitreißende Reden gehalten. Stéphane Mallarmé, der »Meister«, der den Vorsitz führt, verabschiedet den Maler mit folgenden Worten: »Meine Herren, um das Dringlichste vorwegzunehmen, trinken wir auf Paul Gauguins Rückkehr; aber nicht ohne das großartige Gewissen zu bewundern, das ihn im Glanz seines Talents in die Ferne und zu sich selbst vertreibt, um sich neu zu stählen.« Der Weg in die Ferne als Aufbruch zu sich selbst – knapper lässt sich der Sinn des Unternehmens nicht zusammenfassen.

Neun Tage später, am 1. April 1891, folgt Paul Gauguin der Forderung seines »Gewissens« und geht in Marseille an Bord der L’Océanien.

2.

Wer aufbricht, das Paradies zu finden, läuft Gefahr, in der Hölle zu landen. Zumindest wird er die Erfahrung machen, dass dem Irdischen nicht zu entkommen ist – und dass in der real existierenden Welt beide Extreme dicht beieinanderliegen, dass der süße Traum vom paradiesischen Idyll sich sehr leicht zum höllischen Alptraum verzerren kann. Auch Gauguin ist diese Erfahrung nicht erspart geblieben. Er, der glaubte, das »verrottete« Europa nun hinter sich gelassen zu haben, musste bereits kurz nach seiner Ankunft in Tahiti feststellen, dass dem Zauber der Südsee die Fäulnis schon erheblich zugesetzt hatte und die Verhältnisse in Papeete, der Inselhauptstadt, sogar noch beklagenswerter waren als in seinem Heimatland. »Das Leben zu Papeete wurde mir bald zur Last«, heißt es in Gauguins Buch Noa Noa, der literarischen Verarbeitung seines ersten Tahiti-Aufenthaltes. »Das war ja Europa – das Europa, von dem ich mich zu befreien geglaubt hatte! – und dazu noch unter den erschwerenden Umständen des kolonialen Snobismus und der bis zur Karikatur grotesken Nachahmung unserer Sitten, Moden, Laster und Kulturlächerlichkeiten. Sollte ich einen so weiten Weg gemacht haben, um das zu finden, gerade das, dem ich entflohen war?«

Dass Gauguin einer Welt begegnet, die zum Untergang verurteilt ist, wird durch ein Geschehnis auf geradezu sinnbildliche Weise veranschaulicht. In einer in der Tat bemerkenswerten Koinzidenz der Ereignisse stirbt drei Tage nach der Ankunft Gauguins in Papeete, am 12. Juni 1891, Pomare V., der letzte König Tahitis. Die Begräbniszeremonien folgen weitgehend europäischem Muster, der Leichnam des Herrschers wird mit einer französischen Admiralsuniform bekleidet aufgebahrt, zwischen den Totenklagen der Einheimischen meint Gauguin die Sonate Pathétique zu vernehmen, am Sarg hält der Gouverneur der Insel eine der üblichen Reden. Pomare V. hatte zwar schon 1880 abgedankt – wofür er von den französischen Kolonialherren mit einer großzügigen monatlichen Pension ausgestattet worden war –, und er zeigte sich an der ursprünglichen Kultur seines Volkes wenig interessiert, für Gauguin aber war sein Tod gleichbedeutend mit dem Ende des traditionellen Tahiti. An seine Frau schreibt er im Juli 1891: »Der Tod des Königs Pomaré stimmt mich traurig. Tahiti wird nun ganz französisch werden, und mit der Zeit wird der alte Zustand der Dinge dahinschwinden. Unsere Missionare haben schon viel protestantische Heuchelei hierher verpflanzt und einen Teil der Poesie zum Verschwinden gebracht.« Und er fügt hinzu: »Gar nicht zu reden von der Lustseuche, die die ganze Rasse befallen hat, ohne sie, meiner Treu, hässlicher zu machen.« Hinter der schönen Oberfläche lauert in der Tat der Verfall; nach Auskunft der zu jener Zeit auf Tahiti tätigen Ärzte der Kolonialverwaltung war der größte Teil der einheimischen Frauen mit der Syphilis infiziert.

3.

Obwohl Gauguin in Papeete völlig andere Verhältnisse antrifft als erwartet und erhofft, bleibt er mehr als drei Monate in dem Ort. Da der Gouverneur nicht im Ernst daran glauben mag, dass man den in offizieller Mission Reisenden nur mit einem künstlerischen Auftrag um die halbe Welt schickt, vielmehr einen Spion der Regierung in ihm vermutet, wird ihm, in den ersten Wochen zumindest, besondere Aufmerksamkeit zuteil. Ein in Tahiti stationierter Schiffsoffizier namens Jénot, mit dem sich Gauguin anfreundet, vermittelt ihm eine Unterkunft, führt ihn in den Offiziersklub ein und stellt den Kontakt zu Kolonialbeamten und einigen Zivilisten her, unter ihnen der Bürgermeister Papeetes, ein Rechtsanwalt, auch ein Eiscrèmehändler – für Gauguin alle potentielle Auftraggeber für Porträts. Eine Zeitlang gibt sich der Maler als Kolonist, er verkehrt in den Kreisen der in Papeete wohnenden Europäer, trifft sich regelmäßig am Nachmittag, wenn die Hitze nachzulassen beginnt, mit ihnen im Klub und passt sich ihren Kleidungsgewohnheiten an. Die Männer trugen damals ein in der Regel weißes Jackett mit Stehkragen, dazu weiße oder auch blaue Leinenhosen, weiße Leinenschuhe und einen breitkrempigen Strohhut.

Gauguin fertigt in diesen Monaten hauptsächlich Skizzen an, außerdem porträtiert er die Kinder seiner Nachbarn und führt Schnitzarbeiten aus. Jénot schildert beispielsweise, wie Gauguin bei einem der Besuche, die er ihm in seinem Haus abstattet, einige Werkzeuge hervorholt und ihn fragt, ob er eine ovale, mit einem Griff an jeder Seite versehene Popoi-Holzschale bearbeiten könne, die als Behältnis für die aus den Früchten des Brotfruchtbaumes hergestellte Breispeise (»Popoi«) dient. Jénot erklärt sich einverstanden, Gauguin nimmt die Schale in die Hand, betrachtet sie eingehend und fängt »plötzlich, ohne weitere Vorbereitungen« an zu schnitzen. »Ich schaute dabei zu«, schreibt Jénot, »sagte aber nichts, denn wenn Gauguin arbeitete, war er stumm und sogar taub.«

Solche Versuche sind freilich nichts anderes als künstlerische Vorarbeiten auf dem neuen Terrain, erste Annäherungen an das Material, das sich ihm darbietet. Und auch die Rolle des Kolonisten, die er vorübergehend spielt, wird bald wieder abgestreift. Schließlich ist er, nach eigenem Verständnis, nicht als Abgesandter der Zivilisation nach Tahiti gekommen, sondern mit der Absicht, in der Ursprünglichkeit der Natur und seiner Bewohner den Nährboden für eine weitere Entfaltung seiner künstlerischen Schaffenskraft zu finden. Mehr noch, er reklamiert für sich selbst den Status als ›Wilder‹ und grenzt sich damit von vornherein von seinen Landsleuten ab, die in Papeete mehr oder minder überzeugend ein europäisches Dasein simulieren. Dass ihn dieser Anspruch nicht davon abgehalten hat, sich von der französischen Regierung mit einer offiziellen Mission ausstatten zu lassen und von den damit verbundenen Privilegien bei seiner Ankunft in Tahiti auch ausgiebig Gebrauch zu machen, zeigt einmal mehr, wie spannungsvoll der Selbstentwurf Gauguins ist: Als programmatische Forderung aufgestellt, bleibt die ›Wildheit‹ zwangsläufig an ihren Gegenpol, die ›Zivilisiertheit‹, gebunden. Die interne Dichotomie ist prinzipiell nicht auflösbar, sondern führt immer wieder konsequent in eine Identitätskrise, die Gauguin als Person existentiell in Frage stellt, zugleich aber die Bedingung seines künstlerischen Schaffens ist. Der Abschied vom europäisierten Papeete, der Entschluss, die ›Fronten‹ zu wechseln und in das Innere des Landes zu gehen, kann darum als erneuter Versuch Gauguins verstanden werden, den geeigneten Ort für sich zu finden – einen Ort, an dem er leben und sein Atelier der Tropen einrichten kann und der es ihm zugleich erlaubt, den eigenen Standpunkt zu bestimmen.

4.

Die erste Nacht in seiner neuen, von der »Melodie« der einfallenden Mondstrahlen erfüllten Behausung erlebt Gauguin als Befreiung; so stellt er es zumindest in dem Buch Noa Noa dar. »Zwischen dem Himmel und mir nichts als das hohe, leichte Dach von Pandanusblättern, in denen die Eidechsen nisten. Ich bin weit fort von jenen Gefängnissen, den europäischen Häusern! Eine maorische Hütte trennt den Menschen nicht vom Leben, von Raum und Unendlichkeit...« Die Schilderung der Umgebung und der dort wohnenden Menschen entwirft ein idyllisches Bild, das sich den bekannten Vorstellungen fügt. Die »Wilden« führen danach ein einfaches, glückliches Leben »ohne größere Anstrengung, als die täglichen Bedürfnisse es erforderten – ohne die geringste Sorge um Geld.« Hat Gauguin also hier in Mataiea endlich den gesuchten paradiesischen Ort gefunden?

Diese Frage schlicht zu bejahen hieße, den Charakter des Buches Noa Noa – zu übersetzen mit »Duft« oder »Wohlgeruch« – gründlich misszuverstehen. Es ist keinesfalls als dokumentarischer Bericht über Gauguins ersten Tahiti-Aufenthalt aufzufassen, sondern eine in vielerlei Hinsicht durchaus beschönigende, selektiv verfahrende Darstellung gemachter Erfahrungen, die überdies von dem mit Gauguin befreundeten symbolistischen Dichter Charles Morice stark redigiert wurde. Und sie ist als literarische Verklärung einer künstlerischen ›Mission‹ sehr genau auf die Erwartungen eines durch die Romane Pierre Lotis mit exotischen Themen und Schauplätzen vertrauten Publikums hin berechnet. Was Gauguin in seiner Beschreibung der Verhältnisse in Mataiea ausblendet, ist beispielsweise die Tatsache, dass auch dieser Distrikt schon europäisch dominiert war. In der Siedlung mit den locker über ein weites Gebiet verstreuten Hütten hatten sich bereits die beiden christlichen Konfessionen ihren Platz gesichert, sie hatten ihre Gotteshäuser erbaut und Schulen eingerichtet. Wie streng auf die Einhaltung der guten Sitten geachtet wurde, musste Gauguin erfahren, als er beim Nacktbaden beobachtet und daraufhin vom Distriktsoberhaupt ermahnt wurde. Symbolträchtiger lässt sich kaum darlegen, dass die Vertreibung aus dem Paradies auch hier schon längst vollzogen war.

Andererseits aber schlagen auch die Bemühungen Gauguins fehl, sich dem Leben der einheimischen Bevölkerung anzupassen, soweit es noch in ursprünglichen Bahnen verläuft. Schon das Erlernen der Landessprache fällt dem Maler, so berichtet unter anderem Leutnant Jénot, außerordentlich schwer. Gauguin habe »eine irritierende Fähigkeit zu vergessen, die Silben zu vertauschen oder zu verdrehen«, was Jénot auf das fortgeschrittene Alter seines Freundes zurückführt. Wie aussichtslos der Versuch war, sich von den Gewohnheiten der eigenen Zivilisation zu lösen und die der fremden anzunehmen, wird aber nirgends so deutlich wie bei der Frage der Nahrungsbeschaffung und -zubereitung.

5.

Die Tahitier in Mataiea sind in der Tat noch nicht von der Sorge um das Geld umgetrieben; sie sind in der Lage, sich ausschließlich von dem zu ernähren, was die Natur ihnen bietet. Es ist ein fruchtbares, gesegnetes Land, in dem Gauguin lebt; die bittere Ironie ist nur, dass er, anders als die Einheimischen, nicht in der Lage ist, das reiche Angebot der Natur zu nutzen. Er versteht sich nicht auf die Herstellung der einheimischen Gerichte, und ebensowenig vermag er die Nahrungsmittel heranzuschaffen. Um etwa die wild wachsenden Bananen zu pflücken, sind strapaziöse Wanderungen in die Berge erforderlich, und die ausgefeilten Techniken des Fischens in den hiesigen Gewässern beherrscht Gauguin nicht. An jagdbaren Tieren gibt es auf Tahiti nur verwilderte Schweine, aber ein Ausflug in die unwegsamen Teile der Insel bedeutet für einen Ortsunkundigen ein zu großes Risiko. Auf sehr unmittelbare Weise, nämlich im bedrängenden Hungergefühl, wird dem Kulturmenschen bewusst, wie weit er sich von der Natur entfernt hat. In Noa Noa, in der literarischen Projektion, greifen die ›Wilden‹ hilfreich ein. Dem mit leerem Magen betrübt in seiner Hütte sitzenden Maler stellt ein kleines Mädchen »gekochtes Gemüse und sauber von frisch gepflückten grünen Blättern umhüllte Früchte« vor die Tür. Und wenig später heißt es: »Meine Nachbarn sind mir Freunde geworden. Ich esse und kleide mich wie sie.«

In der prosaischen Wirklichkeit hingegen muss Gauguin eine Konsequenz ziehen, die einer Demütigung gleichkommt und zudem seine finanziellen Reserven sehr viel schneller aufzehrt als geplant: Den Großteil seiner Lebensmittel kauft er in dem Laden, der nicht weit von seiner Hütte entfernt von einem Chinesen betrieben wird. Da die Einheimischen grundsätzlich nicht mit Nahrungsmitteln handeln, Gauguin also auch keine frischen Waren von ihnen kaufen kann, ist er auf das angewiesen, was der Laden führt: Konserven, Bohnen, Reis, Nudeln – und Alkoholika. Die Preise für diese Importartikel sind selbstverständlich sehr hoch; eine Büchse Corned Beef beispielsweise kostet zwischen 2,50 und 3,50 Francs, für eine Flasche Absinth muss Gauguin 7 Francs bezahlen. Was die Bewältigung des alltäglichen Lebens betrifft, verweigert sich das ›wilde‹ Tahiti dem Zivilisationsflüchtling als alternatives Identifikationsmuster. Gauguin steht damit, nach Maßgabe seines Selbstverständnisses, buchstäblich auf verlorenem Posten. Die Aufgabe, die angestrebte Position trotzdem zu erringen, muss einmal mehr delegiert werden, an die Malerei und diesmal, mit seinem Werk Noa Noa, auch an die Literatur.

6.

Gauguin benötigt wieder seine »Inkubationszeit«, wie sie er einmal genannt hat, um sich soweit mit der Landschaft und den Menschen vertraut zu machen, dass er ein seiner Umgebung und zugleich seinen eigenen Anforderungen gemäßes Darstellungskonzept entwickeln kann. Und die Eingewöhnungsphase währt diesmal, in dem vollkommen fremden Ambiente, besonders lange. Erst im Juni 1892, also ein Jahr nach seiner Ankunft in Tahiti, kann er seiner Frau mitteilen: »Ich bin mit meinen letzten Arbeiten ziemlich zufrieden. Ich fühle, dass sich der Charakter der Südseeinseln mir erschließt.« Das langsame Eindringen in die für ihn neue Welt, das sich Schritt für Schritt vollzieht und bei dem alles »natürlich aufeinander folgt« wie bei der Bildung einer Korallenbank, lässt sich auch in der Entwicklung des Malstils nachvollziehen. Die ersten Bilder, die Gauguin auf Tahiti malt, sind überwiegend Landschaftsansichten, häufig auch mit einem integrierten Figurenensemble; in diesen Gemälden werden gleichsam die Elemente der Umgebung registriert. Manche der Bilder erinnern an die in Martinique entstandenen Werke. Erst später erfolgt die für Gauguin so charakteristische »synthetische« Stilisierung, die eine Vereinfachung des Bildaufbaus und die schärfere Konturierung der Flächen einschließt und, auf der motivischen Ebene, einzelne Figuren in den Vordergrund treten lässt. Der Kompositionswille emanzipiert sich zusehends von seinem Ausgangspunkt, der vorgefundenen Realität.

In dieser überaus produktiven Phase um das Jahr 1892 gelingt es Gauguin tatsächlich, vor allem in Genreszenen und Porträts, das Bild eines pastoralen Tahiti zu entwerfen. Die Inselbewohner, zumeist Frauen, werden im Müßiggang dargestellt, sie baden im Meer oder sitzen im Schatten der Bäume, plaudern miteinander, manch eine von ihnen spielt Flöte. Nur ganz selten wird eine Person bei einer Verrichtung gezeigt, die als Arbeit zu bezeichnen wäre. Und doch ist es keine Idylle, die europäischen Erwartungen entsprechen könnte: Das Genrehafte ist oft ins Monumentale verzeichnet, mit den kräftigen, manchmal geradezu plump wirkenden Frauenkörpern malt Gauguin provokativ gegen das in Europa herrschende Schönheitsideal an. Die Leichtigkeit ist aus dieser fast erstarrten Welt gewichen, es ist eine verfremdete, ins Archaische gewendete Idylle, die ihren Kunstcharakter deutlich verrät.

7.

Die Verfremdung, für Gauguin ein künstlerisches Grundprinzip – »ich beabsichtige, immer unverständlicher zu werden«, schrieb er einmal –, wird noch in einer weiteren Hinsicht vorangetrieben. Gauguin war bei seiner Suche nach den verschütteten Ursprüngen der tahitischen Kultur und Religion auf das völkerkundliche Buch Voyages aux îles du Grand Océan des aus Belgien stammenden Geschäftsmannes Jacques-Antoine Moerenhout gestoßen, der in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts als Konsul auf Tahiti Frankreich und die Vereinigten Staaten vertreten hatte. Aus diesem 1837 erschienenen Buch schöpft Gauguin sein Wissen über die religiösen Bräuche und die Mythologie der Tahitier, die bei diesen selbst am Ende des Jahrhunderts schon zum größten Teil in Vergessenheit geraten waren. Das besondere Interesse Gauguins finden die Abschnitte über die Schöpfungsgeschichte und die Götterwelt der »Mahorie«, wie die Einheimischen genannt wurden. Ganze Passagen daraus übernimmt Gauguin in nahezu wörtlicher Übereinstimmung in sein Buch Ancien Culte Mahorie, einige Partien, über den Schöpfergott Ta’aroa oder die Mondgöttin Hina, tauchen auch in Noa Noa auf. Dort werden sie entweder aus einer mysteriösen »uralten Handschrift« zitiert oder der Geliebten des Malers, der jungen Tehura, in den Mund gelegt.

Auch in den Bildern Gauguins hinterlässt die Lektüre des Buchs von Moerenhout deutliche Spuren der ›Verfremdung‹: Götzenbildnisse, Totengeister (die Tupapau), geheimnisvolle Schriftzeichen werden dargestellt, etliche Bildtitel verweisen auf einen numinosen Hintergrund. Gauguin strebt freilich mit der Integration solcher Elemente keine im ethnographischen Sinne exakte Darstellung der einheimischen Mythologie an – er nimmt mit leichter Hand Umdeutungen vor und macht Anleihen bei anderen Religionen, beim Christentum und beim Buddhismus. Ebensowenig ist er an der Vermittlung irgendwelcher religiöser Inhalte interessiert. Es geht ihm vielmehr, nicht anders als etwa in dem bedeutenden Gemälde Vision nach der Predigt, jenseits aller »trüben Realistik« um die Andeutung einer Dimension, die selbst nicht darstellbar ist, die greifbare Welt aber in ihrem Bezug auf ein schlechthin anderes verrätselt, poetisch auflädt. Der »schöpferische Traum«, den Gauguin vor der Natur Tahitis träumt, legt den mythischen Grund der Wirklichkeit frei – und damit wird dem Paradies, wenn es denn eines ist, der Ort zugewiesen, der ihm gebührt: jenseits der Menschengeschichte, zugänglich allein in der Ahnung der Melancholie. Die »wahren Paradiese sind Paradiese, die man verloren hat«, wird es bei Marcel Proust heißen.

8.

Dem Versuch, das Atelier der Tropen zu gründen, war in künstlerischer Hinsicht trotz aller Widrigkeiten ein grandioser Erfolg beschieden. In einem Brief an Daniel de Monfreid zieht Gauguin eine beeindruckende Bilanz: »Während zweier Jahre, darin einige Monate verloren waren, habe ich sechsundsechzig mehr oder weniger gute Bilder ausgebrütet und einige ultrawilde Schnitzereien. Das ist genug für einen einzigen Menschen.« Was die wirtschaftliche Situation des Malers betrifft, ist jedoch auch dieses Unternehmen gescheitert. Schon seit März 1892, rund neun Monate nach seiner Ankunft in Papeete, erwägt Gauguin aus Geldmangel die Rückkehr nach Frankreich. Auf Erlöse aus dem Verkauf seiner Bilder in Europa wartet er vergeblich, und die Bemühungen, vor Ort einen Posten in der Kolonialverwaltung zu bekommen, schlagen fehl. Dem Antrag auf Repatriierung wird erst im Mai 1893 stattgegeben. Mit einer offiziellen Mission der Regierung betraut, ist Gauguin nach Tahiti gekommen; mit einer Fahrkarte »letzter Klasse« in der Tasche reist er zwei Jahre später wieder ab.

Die durch finanzielle Schwierigkeiten veranlasste Rückkehr nach Frankreich folgt aber auch einer inneren Notwendigkeit: In Paris und nirgendwo anders will Gauguin Anerkennung für seine künstlerische Leistung erhalten. Die im November 1893 eröffnete große Ausstellung in der Galerie von Durand-Ruel, in der 41 Bilder aus Tahiti gezeigt werden, erregt denn auch beträchtliches Aufsehen. Auf die – von Gauguin ja angestrebte – Fremdheit der Werke reagieren die meisten Kritiker allerdings mit Verständnislosigkeit, einer spricht von den »Phantasien eines armen Spinners«, ein anderer empfiehlt seinen Lesern einen Besuch der Ausstellung zur »Belustigung ihrer Kinder«.

Aber Gauguin findet in einer anderen Hinsicht eine für ihn und sein Selbstbild wichtige Bestätigung. Hier in Paris kann er wieder ganz in die Rolle schlüpfen, die ihm außerhalb der ›Zivilisation‹ zu spielen nicht recht gelingen wollte; in der Heimat gilt er wieder als der ›Wilde‹, der ›Barbar‹ oder, nach einem Ausspruch von Degas, als der »Wolf«. Der schwedische Dichter August Strindberg, den Gauguin um ein Vorwort zum Katalog für eine Versteigerung seiner Bilder gebeten hat, lehnt mit der Begründung ab, er könne die Kunst Gauguins weder erfassen noch lieben. Er schreibt: »Wer ist er denn? Er ist Gauguin, der Wilde, der eine zwangvoll belästigende Zivilisation hasst, etwas von dem Titanen, der, eifersüchtig auf den Schöpfer, in den Augenblicken der Verlorenheit seine eigene kleine Schöpfung macht, [...] der es vorzieht, den Himmel rot zu sehen, als blau mit der Menge.« Gauguin jedoch spürt trotz aller gegenteiligen Versicherungen Strindbergs offenbar ein so großes Verständnis, dass er kurzerhand den Absagebrief des Dichters als Katalogvorwort abdrucken lässt. In der Antwort an Strindberg betont Gauguin den grundlegenden Andeutungscharakter seiner Werke, das ›antizipatorische‹ Moment seiner Kunst: »Diese Welt, die vielleicht weder ein Cuvier noch ein Botaniker wiederaufzufinden wüssten, wäre also ein Paradies, das ich selbst entworfen hätte. Und vom Entwurf bis zur Verwirklichung des Traumes ist ein weiter Weg. Was tut’s? Ein Glück voraussehen, ist das nicht ein Vorgeschmack des Nirwana?«

9.

Das Projekt, ein Atelier in den Tropen zu gründen, ist nicht allein einem ästhetischen Programm verpflichtet. Neben den finanziellen Gründen spielen gewiss auch erotische Verlockungen eine Rolle. Als Gauguin noch zwischen Tahiti und Madagaskar als Reiseziel schwankt, rühmt er in einem Brief an Bernard die weibliche Bevölkerung Madagaskars: »Und die Frauen? – Die Frauen sind, gleich denen auf Tahiti, sehr sanft ...« Woher er diese Kenntnis bezog, bleibt offen; aber das Klischee der zärtlichen, hingebungsvollen und dabei noch anspruchslosen Frau der Tropen war, zumal in der Hochblüte des europäischen Kolonialismus, so verbreitet, dass man wahrlich nicht weit suchen musste, um eine Bestätigung der vorgefassten Meinung zu erhalten. Auch der Südsee-Roman Pierre Lotis über die Liebe eines englischen Offiziers zu der dreizehnjährigen Rarahu, den Gauguin gelesen hat, verdankt seinen außerordentlich großen Erfolg der geschickten Präsentation dieses Klischees.

Gauguin knüpft mit seinen erotischen Erlebnissen auf Tahiti an die Geschichte Lotis an, er folgt gewissermaßen im Lebensvollzug einer literarischen Vorlage – und er verarbeitet wiederum seine Erfahrungen literarisch, nämlich in Noa Noa. Hier schildert er, wie er sich eine Vahine, eine Geliebte nimmt. Missmutig, des Alleinseins überdrüssig, bricht er von Mataiea, wo er sich niedergelassen hat, zu einer Reise um die Insel auf. Als er auf seinem Weg von einer einheimischen Familie zum Essen eingeladen und nach seinem Vorhaben befragt wird, kommt ihm spontan die Antwort über die Lippen, er suche eine Frau. Sogleich bietet ihm seine Gastgeberin ihre Tochter an. Er willigt ein, nachdem seine drei Fragen, ob sie jung, hübsch und gesund sei, bejaht wurden. Daraufhin erhebt sich die Mutter und geht hinaus. »Nach einer Viertelstunde, als das Mahl – wilde Bananen und Krabben – aufgetragen wurde, kam sie in Begleitung eines jungen Mädchens wieder herein, das ein kleines Bündel in der Hand hielt. Durch das Gewand von sehr durchsichtigem rosa Musselin schimmerte die goldene Haut ihrer Schultern und Arme. Zwei Knospen hoben sich schwellend an ihrer Brust. Es war ein schlankes, großes, kräftiges Kind von wunderbarem Ebenmaß.«

Das entzückende Mädchen mit dem Namen Teha’amana – in Noa Noa heißt sie Tehura – ist, wie die Rarahu Lotis, gerade mal dreizehn, was einem Alter von »achtzehn bis zwanzig in Europa« entspricht, wie Gauguin in Klammern hinzusetzt. Sie zieht mit ihm in seine Hütte in Mataiea und bleibt nach einer verabredeten Probezeit von einer Woche aus eigenem Entschluss bei ihm, als Geliebte, als Modell, als Haushälterin und Köchin. Die Eintracht wird nicht zuletzt dadurch gewährleistet, dass sie den Maler nie stört, wenn er arbeitet oder träumt. »Instinktmäßig schweigt sie dann. Sie weiß sehr gut, wann sie sprechen kann, ohne mich zu belästigen.« Teha’amana ist aber nicht nur die willfährige, rücksichtsvolle Gespielin des Malers, sie bringt ihm auch die Kultur ihres Volkes näher, wenn wohl auch nicht als Verkünderin der uralten »maorischen« Mythen, zu der sie in Noa Noa stilisiert wird. Was sie dort über die tahitische Götterwelt berichtet, stammt, wie schon an anderer Stelle erwähnt, größtenteils aus dem Buch Voyages aux îles du Grand Océan von Jacques-Antoine Moerenhout. Aber sie demonstriert beispielsweise, auf allerdings mehr unfreiwillige Weise, wie lebendig der Geisterglaube unter den Einwohnern Tahitis noch war, trotz aller bislang unternommenen Missionierungsanstrengungen der christlichen Kirchen. Als Gauguin an einem Tag erst lange nach Einbruch der Dunkelheit von einem Ausflug nach Papeete zurückkommt, findet er sie »reglos, nackt, platt hingestreckt auf dem Bett, die Augen vor Angst übermäßig weit geöffnet«. Ohne Licht, fühlte sie sich den Geistern der Toten, den Tupapaus, hilflos ausgeliefert. Gauguin hat diese Szene, die ihn mit dem befremdlichen, dämonischen Aspekt der Vorstellungswelt der Tahitier in Berührung brachte, in einem Bild mit dem Titel Manao Tupapau verarbeitet.

Teha’amana bleibt nicht die einzige Vahine Gauguins. Bei seinem zweiten Aufenthalt in Tahiti ist es die vierzehnjährige Pahura, die mit ihm lebt, auf der Marquesas-Insel Hiva Oa, wo sich Gauguin im September 1901 niederlässt, heißt die Geliebte Vaeoho Marie-Rose. Sie ist ebenfalls vierzehn, als Gauguin sie zu sich nimmt. Was ihn an diesen Beziehungen, neben der Jugend und dem sinnlichen Zauber seiner Gefährtinnen, besonders gereizt haben mag, ist wohl die Unkompliziertheit, mit der man sich zunächst ›handelseinig‹ wird und dann das gemeinsame Leben einrichtet. Gauguin ist zweifellos der Herr im Hause, die jungen Mädchen kochen für ihn, Ansprüche, die ihn von seiner Arbeit hätten ablenken können, stellen sie nicht. Und, besonders wichtig, der Beischlaf ist »geregelt«. In der gewohnt grobianischen Art schreibt Gauguin an den Maler und Graphiker Armand Séguin: »Und meine fünfzehnjährige Frau kocht täglich einfache Mahlzeiten und legt sich für mich, wann immer ich will, auf den Rücken; alles für ein Kleid für 10 Francs, das ich ihr alle paar Monate kaufen muss...« An anderer Stelle, in einem Schreiben an Monfreid, lässt Gauguin seinem Hang zur Prahlerei freien Lauf. »Alle Nächte treiben sich verteufelte Mädchen in meinem Bett herum«, schreibt er, »gestern sind drei angetreten.« Die Selbstilisierung zum erotischen Wüstling – auch das fügt sich natürlich in das Konzept vom ›Wilden‹, das Gauguin für sich reklamiert.

10.

Sein Hang zur Ungeselligkeit hat sich erst spät aufgelöst, bezeichnenderweise zu einer Zeit, als sein Selbstbewusstsein als Künstler so sehr gefestigt war, dass er Gesellschaften als willkommene Möglichkeiten zur Selbstdarstellung nutzen konnte. In der Rolle des Gastgebers tritt er erstmals nach seiner Rückkehr aus Tahiti in Erscheinung, als Gauguin zu einer, wenn auch umstrittenen Hauptfigur in der Pariser Kunstszene geworden ist. Das Erbe seines verstorbenen Onkels Isidore – es ist derselbe Onkel, der ihn vor 38 Jahren als Knaben in Orléans aufgenommen hatte – erlaubt ihm, ein Appartement in einem Hinterhof in der Rue Vercingétorix anzumieten. Die Wohnung besteht aus zwei Räumen, den kleineren benutzt Gauguin als Schlafzimmer, den größeren als Atelier und Empfangssalon. Die exotische Ausstattung des Ateliers beschreibt Jean de Rotonchamp, einer der ersten Biographen Gauguins: »Dieser eher großdimensionierte Raum, in den das Licht durch ein westliches, chromgelb – Chrom Nr. 1 – getöntes Seitenfenster fiel, gab einem sofort das Gefühl des Außergewöhnlichen und Unerwarteten. Die Wände waren mit wilden Gemälden und – dazwischen – primitiven Waffen behängt: mit Totschlägern, Bumerangs, Beilen, Spitzhacken, Lanzen, die alle aus unbekannten, dunkelroten, orangefarbenen und schwarzen Hölzern gefertigt waren.«

Hier, in dieser Südsee-Enklave inmitten der Großstadt Paris, hält Gauguin hof. Er feiert Feste, richtet sogar, nach dem Beispiel Mallarmés, einen ›offiziellen‹ Empfangstag ein. Die Inszenierung ist gekonnt: Die Besucher, die in großer Zahl kommen, werden von einer »auffallend schönen, glutäugigen Mulattin« begrüßt, der dreizehnjährigen, aus Java stammenden Annah, die Gauguin bei dem Galeristen Vollard kennengelernt und, den Gepflogenheiten auf Tahiti folgend, als Geliebte zu sich genommen hat. Ihr fällt die Aufgabe zu, den Gästen Tee und Gebäck zu reichen; dieser Pflicht kommt sie, wie Rotonchamp berichtet, »in würdigem Schweigen« nach. Der von ihr mitgebrachte kleine Affe, der sich im Atelier tummelt, sorgt für einen weiteren Akzent in dem für Pariser Verhältnisse höchst ungewöhnlichen Ambiente.

Gauguin sieht viele der alten Freunde und Malerkollegen wieder, darunter Morice, Degas, Schuffenecker und Sérusier, junge Künstler wie der Spanier Paco Durrio und der von Gauguin sehr geschätzte Aristide Maillol besuchen ihn, selbst Mallarmé kommt gelegentlich vorbei. Mit dem Cellisten Fritz Schneklud, von dem Gauguin ein Porträt anfertigt, wird häufig musiziert. Auch August Strindberg, der gerade in Paris weilt, findet sich einmal ein, singt und spielt Gitarre, während er aufmerksam die Gemälde an den Wänden betrachtet, »dieses Tohuwabohu von sonnenüberfluteten Bildern«, die, wie er später schreibt, ihn nachts bis in den Schlaf verfolgt hätten.

Am 3. Juli 1895 schifft sich Gauguin in Marseille zu seiner zweiten Reise nach Tahiti ein; der Abschied von Europa ist diesmal ein endgültiger. Er lässt sich in Punaauia nieder, einem etwa fünf Kilometer von der Inselhauptstadt entfernten Ort an der Westküste Tahitis. Dort mietet er ein kleines Stück Land und errichtet – in »herrlicher Lage« – mit Hilfe der Einheimischen eine Hütte im traditionellen Stil. »Stellen Sie sich einen großen Vogelkäfig mit Bambusstäben und Kokosdach vor, der durch die Vorhänge aus meinem alten Atelier in zwei Teile geteilt wird«, schreibt er an Daniel de Monfreid. Ein Teil, der abgedunkelt ist, um ihn kühl zu halten, dient Gauguin als Schlafzimmmer, im anderen Teil, dem Atelierraum, ist ein großes Fenster eingelassen. Der Boden ist mit Matten und einem alten Perserteppich ausgelegt, die Wände sind mit Stoffen und Zeichnungen geschmückt. »Sie sehen also, ich bin im Moment nicht zu beklagen«, setzt er hinzu, offensichtlich zufrieden über seine neue Behausung, in der er zusammen mit seiner Geliebten, der jungen Pahura, ein wenig von dem bescheidenen Glück findet, das er so lange gesucht hat. »Hier einfach zu sitzen, sorglos, eine Zigarette zu rauchen und ein Glas Absinth zu trinken, das ist ein Vergnügen, welches ich jeden Tag habe«, heißt es in einem Brief an Armand Séguin.

11.

Ein im März 1900 geschlossener Vertrag mit dem Galeristen Ambroise Vollard, der ihm gegen die jährliche Lieferung von 20 bis 24 Bildern ein Monatseinkommen von 300 Francs garantiert, verschafft dem Künstler endlich, nach rund 15 Jahren eines verzweifelten Existenzkampfes, materielle Sicherheit. Gauguin reagiert, wie immer, wenn er über Geld verfügen konnte, großzügig: Er beginnt in jener Zeit, Freunde einzuladen, er entdeckt wieder die gastronomische Seite in sich und zeigt sein Talent als Gastgeber. Nicht nur die Menus werden sorgfältig zusammengestellt, auch auf eine angemessene Gestaltung des äußeren Rahmens wird Wert gelegt. Zu einem der von Gauguin arrangierten Gastmahle sind die Speisekarten erhalten, elf unterschiedlich von ihm gestaltete, mit Texten und Aquarellzeichnungen versehene Blätter. Das Menü umfasste danach folgende Gänge:

Foutimaises assorties
*
Puaha oviri au four canaque
*
Moa opapa sauce coco
*
Rôti boeuf à la farani
*
Salade !! Aita
*
Desserts
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Apéritifs, Vins cave coloniale

Der französische Kunsthistoriker Robert Rey, der als erster diese Speisekarten veröffentlicht hat, gibt dazu einige unerlässliche Erläuterungen. Foutimaises ist offenbar eine Wortschöpfung Gauguins, vielleicht eine Ableitung vom französischen foutaise, was soviel wie »Geschwätz«, »Quatsch« bedeutet, also etwas, das ebenfalls den Mund in emsige Tätigkeit versetzt. Gemeint sind mit Foutimaises assorties vermutlich die üblichen ›Gaumenkitzler‹ als Vorspeise, beispielsweise eine – landesübliche – Zusammenstellung von in Essig und Öl eingelegten Früchten, kleingeschnittenem, scharf gewürztem Gemüse, kleinen Krustentieren und Filets von rohem Fisch, mariniert in Zitronensaft.

Die tahitischen Worte Puaha oviri bezeichnen das auf Tahiti wild lebende Schwein, mit au four canaque ist die spezielle Zubereitungsart angegeben: Das Schwein wird in dem für die Insel typischen Erdofen gebacken. Moa opapa sauce coco bedeutet »Hühnchen in Kokossauce«; moa ist das tahitische Wort für »Hühnchen«, der Zusatz opapa («ohne Schwanz«) ist eventuell als Hinweis zu verstehen, dass es sich um ein Exemplar einer besonderen Hühnerart handelt. Rôti boeuf à la farani schließlich wäre mit »Rinderbraten auf französische Art« zu übersetzen.
Bleibt die Zeile Salade !! Aita – ein weiterer Scherz Gauguins: Aita ist die tahitische Vokabel der Negation, was nichts anders besagt, als dass die Gäste bei diesem Mahl auf Salat verzichten mussten.

Wann genau dieses Essen stattgefunden hat, ist nicht zu ermitteln, in Betracht zu ziehen ist aber wohl nur der Zeitraum von Frühjahr 1900, als die finanzielle Lage des Künstlers sich stabilisierte, bis Sommer 1901; im September dieses Jahres verließ Gauguin Tahiti. Eine Angabe auf einer der Menukarten – »à Punoauia Propriété Papa Ruo« – aber gibt einen konkreten Hinweis auf den Ort des Geschehens: Mit Punoauia ist zweifellos Punaauia gemeint, Papa Ruo ist höchstwahrscheinlich die Bezeichnung Gauguins für sich selbst; das tahitische ruo heißt »alt«. Demnach hätte, was ohnehin naheliegt, Gauguin, der »alte Papa«, das Essen in seinem Haus veranstaltet. Darüber, wer die elf geladenen Personen waren, lässt sich nur spekulieren. Robert Rey äußert die Vermutung, es habe sich um »(politisch) interessierte Freunde« gehandelt, die Gauguin, wie er in einem Brief an Monfreid schreibt, bei seiner Tätigkeit als Journalist gewonnen habe. Und es ist davon auszugehen, dass sie, wie der Maler selbst, den staatlichen und kirchlichen Behörden gegenüber sehr kritisch eingestellt waren.

12.

Ein letztes Mal geht Gauguin daran, ein Heim für sich zu bauen. In Atuona, dem Hauptort des Archipels, erwirbt er am 27. September 1901 vom Bischof der Marquesas, Monsignore Martin, für 650 Francs ein Grundstück im Dorfkern, auf dem Brotfruchtbäume, Kokospalmen und Bananenstauden wachsen. Bis zur Vertragsunterzeichnung war er noch jeden Tag in die Messe gegangen, danach erlischt dieser ungewöhnliche Eifer schlagartig, und Gauguin sollte nie wieder die Kirche des Ortes betreten.

Mit der Hilfe von zwei einheimischen Zimmerleuten, einer von ihnen ist Gauguins Nachbar Tioka, wird in rund einem Monat sein neues, zweistöckiges Wohnhaus errichtet. Es ist etwa 12 Meter lang und 5,50 Meter breit, steht auf 2,40 Meter hohen Pfählen, wird von einem Dach aus Palmblättern bedeckt und hat im ersten Stock zwei Räume, die über eine Holztreppe erreichbar sind. Der erste, kleinere Raum dient als Schlafzimmer, der sich anschließende große, der sechs Fenster hat, als Atelier. Der vordere Teil der Fläche unterhalb des Schlaf- und Atelierbereichs wird durch Holzplatten abgetrennt, dadurch erhält Gauguin einen weiteren Atelierraum, in dem er an seinen Skulpturen arbeitet. Der hintere Teil, ebenfalls von Holzwänden umschlossen, beherbergt die Küche. Der Mittelteil bleibt nach beiden Seiten hin offen, in diesem luftigen Areal nimmt Gauguin seine Mahlzeiten ein und empfängt Gäste. Später bringt er dort auch die Kutsche unter, die er kauft, als ihm das Laufen immer schwerer fällt. An der westlichen Ecke des Hauses lässt Gauguin einen Brunnen graben und wenige Meter davon entfernt eine etwa einen halben Meter tiefe Badewanne bauen.

Im Hauptatelier im ersten Stock herrscht nach der Aussage mehrerer Besucher stets die für den Maler übliche Unordnung. Seine persönlichen Sachen sind in zwei Kommoden, abschließbaren Truhen und mehreren Regalen untergebracht, auf der Staffelei steht das Gemälde, das Gauguin gerade in Arbeit hat, weitere lehnen an den Wänden unter den Fenstern, überall befinden sich Malutensilien, irgendwo mitten im Raum ruht auf dem Fußboden ein kleines Harmonium, zwischen Leinwänden stehen Gauguins Mandoline und Gitarre. Die Wände des Ateliers sind mit Kunstreproduktionen, pornographischen Fotografien und, von den Besuchern besonders bestaunt, mit »anatomischen Schaubildern von Sexualorganen« geschmückt. Über dem Eingang zum Schlafzimmer sind in den Türsturz die Worte Maison du Jouir – »Haus der Freude« – eingeschnitzt.

Der Name seines Hauses ist für Gauguin Programm und beständige Aufforderung. Er genießt, fast atemlos, die Freuden, die ihm die Malerei, die sinnliche Liebe, das Essen und der Alkohol gewähren. Er lässt junge Mädchen zu sich kommen, die ihm erst Modell sitzen und dann oft auch in der Nacht Gesellschaft leisten. Zwei Monate nach seiner Ankunft überzeugt er die Eltern der vierzehnjährigen Vaeoho Marie-Rose, sie aus der katholischen Schule zu nehmen und ihm als Vahine, als Geliebte, anzuvertrauen. Nicht nur damit macht er sich bei der Mission und den Behörden unbeliebt. Seine freizügige Austeilung von scharfen alkoholischen Getränken an Einheimische erregt beträchtliches Missfallen bei den Hütern der staatlichen und sittlichen Ordnung, und noch mehr seine Aufforderungen zur Unbotmäßigkeit, etwa die Steuern nicht zu bezahlen.

Sein eigener Konsum von Alkoholika nimmt in dieser Zeit bedrohliche Ausmaße an. Zum Essen, das ihm sein Koch Kahui, ein Neffe seines Nachbarn Tioka, bereitet, trinkt er Rotwein, in Maßen, wie es heißt. Das gilt jedoch nicht für den Absinth, den er nahezu den ganzen Tag über konsumiert. Um ihn ständig gekühlt genießen zu können, hat er sich eine höchst sinnreiche Vorrichtung einfallen lassen. Timo, ein anderer Neffe Tiokas, berichtet: »Von seinem Atelierfenster aus legte Gauguin seine Flasche Absinth und einen Tonkrug mit Hilfe einer Bambusstange und einer Angelleine zur Kühlung in seinen Brunnen, so dass er seine Arbeit kaum unterbrechen musste. Von Zeit zu Zeit sah man ihn im Fensterrahmen erscheinen, die Bambusstange ergreifen und die Absinthflasche nebst Krug aus dem Brunnen fischen, um sie nur kurze Zeit später wieder im Brunnen zu versenken.« Seine stattlichen Vorräte an hochprozentigen Getränken teilt Gauguin gern mit den Freunden, die er unter den Kolonisten gefunden hat – alle als oppositionelle Geister und tüchtige Trinker bekannt. Der ehemalige Unteroffizier Émile Frébault etwa, nun Besitzer eines Ladens an der Hauptstraße von Atuona unweit von Gauguins Haus, erzählt, dass der Maler oft schon gegen elf Uhr morgens an die Grenze seines Grundstückes kam und ihn zu einem Gläschen Absinth einlud, aus dem bei den langen Gesprächen, die sie führten, meist mehrere wurden.

13.

Die Krankengeschichte Paul Gauguins ist von beeindruckender Länge und, möchte man hinzufügen, so abwechslungsreich und exotisch wie sein Leben. Dabei war seine allgemeine Konstitution ausgezeichnet – und das musste sie wohl auch sein, um all das erdulden zu können, was ihm noch bevorstand. Kälte hat er wohl nie gut vertragen, in Europa stellen sich im Winter regelmäßig hartnäckige Katarrhe ein, Ende des Jahres 1886 zwingen sie ihn zu einem Krankenhausaufenthalt von fast vier Wochen. Im Jahr darauf infiziert er sich in Panama mit Malaria und Ruhr, über ein Jahr leidet er unter stetig wiederkehrenden Leberschmerzen. Bei seinem ersten Aufenthalt in Tahiti speit er Blut – »ein Viertelliter pro Tag« –, eine Herzschwäche tritt auf, die mit einer Digitaliskur im Krankenhaus von Papeete behandelt wird. Danach plagen ihn häufig Magenbeschwerden, er nimmt stark ab, lebt zeitweise nur von »Brot und Tee«. Zurück in Frankreich, beklagt er sich in Briefen an seine Frau über »rheumatische Schmerzen, die sich von der rechten Schulter bis in die Hand hinziehen«, und über eine chronische Bronchitis. Nachdem ihm in der Bretagne das rechte Bein direkt über dem Knöchel gebrochen wird, ist er zwei Monate bettlägerig, die starken Schmerzen betäubt er mit Morphium und Alkohol. Der Heilungsprozess verläuft ungünstig, den Rest seines Lebens wird Gauguin Schmerzen im Bein verspüren, zudem bleiben Wunden, die immer wieder aufbrechen.

Schon in der Bretagne zeigt sich bei Gauguin der rote Ausschlag der Syphilis, die er sich vermutlich in Paris zugezogen hat. Als er wieder in Tahiti ist, verbreiten sich Ekzeme über beide Beine, die er bandagiert. Wahrscheinlich deshalb – Lepröse verbargen die erkrankten Körperteile unter Tüchern – hegen die Einheimischen und einige Bekannte Gauguins den Verdacht, er leide an Lepra. Im Sommer 1897 tritt eine schwere doppelseitige Bindehautentzündung auf, Schwindelanfälle und Fieberattacken suchen ihn heim, auch die Herzbeschwerden verschlimmern sich. Ein »trauriges und böses Abenteuer« sei seine Reise nach Tahiti, schreibt Gauguin in dieser Zeit an Monfreid. Die Verzweiflung über seine Situation ist so groß, dass sich Gauguin zum Freitod entschließt. Am 30. Dezember 1897 geht er in die Einsamkeit der Berge und schluckt Arsenik, allerdings eine so hohe Dosis, dass er sie wieder erbricht. Er überlebt; als Folge der Vergiftung quälen ihn einen Monat lang »schreckliche Schmerzen an den Schläfen, Ohnmachten und Brechreiz nach dem bescheidensten Essen«. Die letzten Jahre verschlechtert sich sein Befinden weiter; hin und wieder treten Phasen der Besserung ein, die in Gauguin sofort die Erwartung wecken, er könne seine alte Gesundheit wiedererlangen. Jedesmal aber heißt es bald darauf in seinen Briefen, er sei »kränker denn je«.

14.

Mit seiner radikalen Absage an die konventionelle Lebensführung des europäischen Bürgers, mit dem Anspruch, unter ›Wilden‹ eine eigene Form künstlerischer Existenz zu schaffen, hat Paul Gauguin nicht nur seine Familie, viele Freunde und die meisten seiner Zeitgenossen überfordert. Am äußersten Rand der ›zivilisierten‹ Welt, auf einer abgeschiedenen Insel inmitten des Pazifischen Ozeans muss er einsehen, dass auch er selbst an seine Grenzen gestoßen ist. Im August des Jahres 1902 spricht er zum ersten Mal in einem Brief an den Freund Daniel de Monfreid die Möglichkeit an, die Marquesas zu verlassen: »Denn wenn ich wirklich mit dem chronischen Ausschlag an beiden Füßen, der mir große Schmerzen verursacht, unheilbar bleibe, dann ist es besser, ich kehre der Luftveränderung wegen heim.« Und er entwirft schon neue Pläne; er wolle sich in den Pyrenäen, in der Nähe von Monfreids Domizil, niederlassen und in Spanien »neue Elemente« für seine Malerei suchen.

Die Reaktion seines Freundes – und es besteht kein Zweifel daran, dass Monfreid zu den wenigen echten Freunden Gauguins zählte – fällt überraschend aus. In einem ersten Antwortschreiben äußert er zwar Verständnis für das »Heimweh« des Malers nach Frankreich, gibt aber zu bedenken, dass er in Europa wieder unter den Lastern der Zivilisation und überdies unter dem dort herrschenden elenden Klima zu leiden haben würde. In einem weiteren, einen Monat darauf geschriebenen Brief wird Monfreid deutlicher. Eine Rückkehr, so führt er aus, sei nicht anzuraten, denn sie würde sich nur negativ auf die sich gerade neu orientierende öffentliche Meinung auswirken. Im Moment gelte er als »dieser seltsame, legendäre Künstler, der aus der Tiefe Ozeaniens seine bestürzenden, unnachahmlichen Werke schickt, endgültige Werke eines großen Mannes, der sozusagen aus der Welt verschwunden ist«. Dann folgen die berühmt gewordenen Sätze: »Kurz, Sie genießen die Immunität der großen Toten, Sie sind in die Geschichte der Kunst eingegangen.«

Es ist eine für Gauguin in der Tat bittere Ironie – man akzeptiert die von ihm so ausdauernd gespielte Rolle des Außenseiters, des ›Wilden‹, in dem Moment, in dem er sie selbst nicht mehr zu tragen imstande ist. Die unverblümte Aufforderung, nicht nach Frankreich zurückzukommen, auf seinem Posten in der Südsee auszuharren, verrückt die Grenze, an der sich Gauguin während seines Künstlerlebens bewusst und gewollt fortwährend aufgehalten hat, nun ohne sein Zutun um ein kleines, aber entscheidendes Stück: Er wird dadurch aus der Welt gedrängt, die er immer auf Distanz zu halten bestrebt war und die ihm gleichwohl als unverrückbarer Bezugspunkt diente. Am Ende seines Lebens verstrickt sich Gauguin in die eigene Legende, er fällt dem Mythos zum Opfer, den er selbst konstruiert hat. Und er muss erfahren, dass die bürgerliche Gesellschaft den Künstler mit der gleichen Gnadenlosigkeit lobt, wie sie ihn verachtet: Wen sie in den Rang der Unsterblichkeit zu erheben beabsichtigt, der hat sich tunlichst nicht als Lebendiger in laufende Verfahren einzumischen – »Immunität« wird nur den Toten gewährt.

Bleibt noch das faktische Ende des Künstlers nachzutragen. Am 8. Mai 1903, gegen elf Uhr vormittags, findet Pastor Paul-Louis Vernier, der Leiter der kalvinistischen Mission in Atuona, Paul Gauguin leblos in seinem Bett vor. Neben dem Bett liegt ein Ampulle Morphium. Man vermutet, dass er eine Überdosis des Betäubungsmittels zu sich genommen hat und einem Herzversagen erlegen ist; eine Überprüfung der Annahme durch eine Obduktion erfolgt nicht. In verdächtiger Eile wird, auf Betreiben des katholischen Bischofs, schon am nächsten Tag um zwei Uhr nachmittags der Leichnam Paul Gauguins auf dem katholischen Friedhof von Atuona beigesetzt – so als wolle man noch nachträglich eine Existenz entschärfen, die bis zuletzt eine Herausforderung war für jede, sei es staatliche oder kirchliche Ordnung.