Die gute Nachricht vorab: Erziehungswissenschaftler wollen uns weiterhin erziehen, Psychologen uns kurieren, Psychoanalytiker die verdrängten ödipalen Konflikte ans Licht bringen und Anthropologen uns mitsamt unseren Artefakten archivieren. Die Welt ist also noch in Ordnung, daran vermochte auch der sogenannte cultural turn nichts zu ändern, der vor zwanzig Jahren in die arrivierten Wissenschaften vom Menschen eingebrochen ist wie ein Computervirus in das zentrale Netzwerk einer Großbank.
Die Aufsatzsammlung Kulturwissenschaft. Felder einer prozeßorientierten wissenschaftlichen Praxis möchte, so die Herausgeberinnen in ihrer Einleitung, mithelfen, die Verwirrung, die im akademischen Betrieb eingetreten ist, seit der längst überwunden geglaubte Begriff ›Kultur‹ in den Diskursen und Metadiskursen seine fröhliche Auferstehung feiert, ein wenig zu lindern. Zu diesem Zweck steuern acht Vertreter geistes- bzw. humanwissenschaftlicher Fakultäten, die auch durch bisherige Publikationen schon Interesse an der Erkenntnis (oder Bewältigung?) kultureller Phänomene gezeigt haben, Aufsätze bei, in denen sie mit den Mitteln ihrer jeweiligen Disziplinen versuchen, der »Unbestimmtheit« (so die Herausgeberinnen) des Kulturbegriffs ein wenig beizukommen.
Appelsmeyer und Billmann-Mahecha geben sich von vornherein nicht der Illusion hin, ihr Buch könne die Probleme, die der cultural turn aufgeworfen hat, lösen. Immerhin verbinden sie aber mit der diagnostizierten Konfusion die Hoffnung, es könne aus ihr ein neues Verständnis der wissenschaftlichen Welt hervorgehen, in der die starre Trennung der Disziplinen aufgehoben werde zugunsten einer, wie der Untertitel schon sagt, »prozeßorientierten wissenschaftlichen Praxis«, was vor allem erfordere, dass die von der ›Kultur‹ heimgesuchten Fächer sich in Selbstreflexion übten.
Nach der Lektüre der einzelnen Beiträge bleibt allerdings der Verdacht, dass die Lösung des Problems wohl so einfach nicht werden wird, und zwar weniger wegen der unterschiedlichen Auffassungen des problematisierten Kulturbegriffs – die so unterschiedlich gar nicht sind –, als vielmehr dessen, was ›Selbstreflexion‹ eigentlich beinhaltet.
Zu konzedieren ist, dass die Beiträge durchweg den sehr unterschiedlichen Diskussionsstand der einzelnen Disziplinen widerspiegeln. Das Fußnotenmaterial ist reichhaltig, die Autoritäten nicht nur der eigenen, sondern auch der angrenzenden Fächer sind allen Autoren bekannt – aber das darf man eigentlich auch erwarten. Weitgehend enttäuscht wird allerdings ein Leser, der neue, gar noch wissenschaftlich beglaubigte Einsichten zum Kern des Problems erwartet, zur Kultur.
Am konsequentesten arbeitet (wie sollte es auch anders sein) der Kulturanthropologe an der ›Dekonstruktion‹ des Begriffs, und dazu bedarf er kaum mehr als des Hinweises auf die Pluralisierung der Standpunkte innerhalb des eigenen Faches, die durch die postkoloniale Situation hervorgerufen wurde. Martin Fuchs konstatiert einen ›Verlust der Totalität‹, erklärt mit den Vertretern seines Faches aus ehemals kolonialisierten Ländern jedwede ethnologische ›Repräsentation‹ östlicher Völker durch Beschreibungen westlicher Wissenschaftler für blanke Machtausübung und fordert stattdessen ›Selbstrepräsentation‹ – schon aus Gründen der globalen Migration und der damit einhergehenden Zunahme von Diaspora- und Mischkulturen, die Kultur als identitätsstiftenden Faktor obsolet erscheinen ließen.
Wohin dies führt, lässt sich, ganz ohne Selbstreflexion, anhand einer einfachen Grenzwertbetrachtung errechnen: Um niemanden zu unterdrücken, müsste jeder einzelne zur Selbstrepräsentation ermutigt werden. Bei geschätzten 6,5 Mrd. Menschen bedeutet das ebensoviele Beschreibungen. Da nun aber niemandem zugemutet werden kann, ein Jahr lang mit ein und derselben Identität zu leben, müsste ihm konzediert werden, seine Selbstbeschreibung zumindest einmal am Tag zu überdenken. Der Ethnologe hätte somit 6,5 Mrd. × 365 = 2372,5 Mrd., d.h. rund 2,4 Billionen Beschreibungen zu berücksichtigen, wollte er dem Vorwurf entgehen, er verfolge mit seinen Vorstellungen irgendwelche illegitimen Machtansprüche. Bei solchen Aussichten lässt man es vielleicht besser ganz oder versucht es mit den klassischen soziologischen Kategorien.
Gabriele Cappai zeigt mit seiner metatheoretischen Betrachtung, dass auch das nicht so einfach ist. Deren Vorzug ist immerhin, dass sie von vornherein zu bedenken gibt, lediglich einen perspektivischen Ausschnitt des Phänomens ›Kultur‹ zu beleuchten. Um dieses trotzdem in möglichst vielen Dimensionen zu begreifen, schlägt er vier seiner Meinung nach ›geprüfte Instrumente‹ (vulgo: etablierte Theorien) vor, mit denen die kulturrelevanten Bereiche »Semantik, Ideen, Symbole, kommunikative Gattungen« in den Griff zu bekommen seien: Niklas Luhmanns Systemtheorie, Max Webers Wissenschaftslehre, Clifford Geertz' Anthropologie und die Theorie kommunikativer Gattungen von Luckmann und Bergmann. Wer mag, kann ihm folgen, wer nicht – nun, der stricke sich eben sein eigenes Tableau.
Der Erziehungswissenschaftler Walter Herzog befindet sich in einer weit weniger üppigen Lage als der Soziologe und das ist nach seiner Ansicht die Schuld eben der Soziologie. Die Ahnen seiner Zunft, wenigstens die praktizierenden, befanden sich einst im Besitz der Kultur. Sie waren es, die Kultur, als Bildung verstanden, von Generation zu Generation weiterreichten. Doch dann kam die sozialwissenschaftliche Wende und der Auftrag hieß fortan ›Sozialisation‹. In neuester Zeit allerdings sehen sich die Pädagogen mit Schulklassen konfrontiert, in denen größtenteils türkische, griechische oder italienische Kinder sitzen, ganz zu schweigen von ›deutschen‹, die nur russisch sprechen, weil sie in Weißrussland oder Kasachstan das Licht der Welt erblickt haben. Offensichtlich zeigen sich die sozialwissenschaftlichen Theoreme dieser Realität nicht mehr gewachsen, denn plötzlich kehrt ›Kultur‹ wieder zurück in die erziehungswissenschaftliche Theorieküche – bislang allerdings, wie Herzog befindet, vornehmlich als ›Jargon‹. Indes: für die gepeinigten Erzieher im ›multikulturellen Klassenzimmer‹ relativiert sich der Kulturbegriff ohnehin von allein – ohne theoretische Anstrengung. So kann die Erziehungswissenschaft in Zukunft wohl auf entsprechende Anregungen aus der Soziologie oder anderen Fächern, die neuerdings ihre ›kulturwissenschaftliche Kompetenz‹ entdecken, ganz gut verzichten.
Die Psychologie hat einiges ›wiedergutzumachen‹, nachdem sie jahrzehntelang unsere kognitiven Fähigkeiten (Theorien zu entwickeln, Experimente zu ersinnen, Wahrheiten zu suchen) mit dem Verhalten von Laborratten in albernen Labyrinthen zu erklären suchte. Als wollten sie dieses Manko überkompensieren, haben die Psychologen gleich zwei neue Teildisziplinen ersonnen, um ›Kultur‹ in ihr Theoriegebäude einzubauen: Kulturpsychologie und kulturvergleichende Psychologie. Jürgen Straubs Aufsatz klärt präzise über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten beider auf, was ihm als Methodologen keinerlei Schwierigkeiten bereitet. Insbesondere legt er den neuerlichen Reduktionismus der letzteren offen. Kulturelle Bedeutungen könnten eben nur deutend erfasst werden, sollen sie nicht unterderhand zu verhaltensdeterminierenden Variablen mutieren. Was sonst in Straubs Darstellung sich dem psychologisch geschulten Fachmann noch an faszinierenden Inneneinsichten der Disziplin bieten mag: vor allem tritt in der Konkurrenz der beiden Teilbereiche – sozusagen im Kleinformat – der alte Gegensatz zwischen dem naturwissenschaftlich orientierten Erklären und dem geisteswissenschaftlichen Verstehen wieder offen zutage. Der Kulturwissenschaftler Straub plädiert für letzteres – aber mit Vorsicht.
Wäre die eingefleischte Feindschaft zwischen Psychologen und Psychoanalytikern nicht allseits bekannt, könnte man nach der Lektüre von Hans-Dieter Königs Aufsatz Tiefenhermeneutik als Methode psychoanalytischer Kulturforschung geneigt sein, Jürgen Straub zu überreden, ins Lager der letzteren zu wechseln. Was die anderen Fächer mit großem theoretischem Aufwand zu erlangen hoffen, das hat die Freudsche Schule, daran lässt König keinen Zweifel, von Anfang an besessen: die richtige hermeneutische Methode. Einzelne Ungereimtheiten in Freuds Interpretationen sind von seinen Nachfolgern beseitigt worden, die Vergrößerung der Reichweite der Psychoanalyse ins soziokulturelle Feld hinein erfolgte durch Einbeziehung soziologischer Theorien von Horkheimer über Habermas und Lorenzer bis hin zu König. Und wie es guter Brauch seit den Zeiten des Gründervaters ist, liefert der Autor auch gleich ein praktisches Beispiel für den erfolgreichen ›Brückenschlag‹ zwischen Psychoanalyse und Sozialwissenschaft mit: die tiefenhermeneutische Interpretation von Leni Riefenstahls Film Triumph des Willens. Die Einsichten, die sich der Gruppe, die diese erarbeitet hat, boten, können hier nicht en detail gewürdigt werden. Wer wissen möchte, was der Film über den Nürnberger Reichsparteitag der NSDAP mit Reinhard Meys Lied Über den Wolken gemeinsam hat, der lese bitte selbst nach.
Wäre das Buch an dieser Stelle zu Ende, könnte man sich fragen, ob nicht eine kommentierte Bibliographie der wissenschaftstheoretischen und methodologischen Hauptwerke der vergangenen Jahrzehnte dem Anliegen der Herausgeberinnen nützlichere Dienste geleistet hätte. Was die bisher erwähnten Beiträge an die bekannten Autoriäten ihrer Fächer delegieren, das Nachdenken darüber, was eigentlich ›Wissenschaftlichkeit‹ bedeutet und welche Rolle diese bei der Problematisierung des Kulturbegriffs spielt, das führt der fulminante Essay der Historikerin Ute Daniel mit leichter Hand durch. Allerdings scheinen sprachliche Brillanz und ein souveräner Umgang mit den überlieferten Kategorien in der deutschen akademischen Diskurswelt immer noch Anlass zu Missverständnissen zu geben, wie sich an der kurzen Zusammenfassung des Beitrags in der Einleitung des Buches zeigt. Nein, liebe Herausgeberinnen, Ute Daniel »plädiert« nicht für eine Wiederaufnahme der »um 1900 geführten Kulturdebatte«. Sie fordert lediglich dazu auf, mit der Selbstreflexion des wissenschaftlichen Tuns endlich ernst zu machen, damit diese Debatte nicht immer wieder mit denselben bleichen Argumenten durch den Elfenbeinturm spukt!
Wo Ute Daniel mit klarer Sicht und gedanklicher Schärfe besticht, wartet der Beitrag der Literaturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick mit einer schönen Vision auf: Literatur – ein Vernetzungswerk. Eine Poetikvorlesung des italienischen Schriftstellers Italo Calvino aus dem Jahre 1985 aufgreifend, streicht sie sechs »Tugenden der Literatur« heraus, die einer Kulturwissenschaft im neuen Jahrtausend besser anstünden als das »[Klappern] mit einer schweren Rüstung kulturwissenschaftlicher Theorie«: »Leichtigkeit, Schnelligkeit, Genauigkeit, Anschaulichkeit, Vielschichtigkeit und Konsistenz.« – D’accord!
Dass auch die Religionswissenschaft ihren Platz unter den Kulturwissenschaften einnehmen muss, stellt Hans G. Kippenberg mit seinem kenntnisreichen Beitrag klar. – Durch die Ereignisse des 11. September 2001 und deren bisher noch unabsehbare Folgen erhält das Nachdenken über Religion als kulturelle Praxis eine aktuelle Dringlichkeit, von der Kippenberg freilich nichts ahnen konnte, als er seinen Aufsatz verfasste.
Jörg Büsching