Man nimmt gewöhnlich an, die Schaffensperiode des ultimo Croce schließe etwa die letzten 15 Jahre seines Lebens ein, vom Ende der dreißiger bis zum Anfang der fünfziger Jahre. Benedetto Croce hatte damals, schon 70-jährig, zwei lange Phasen geistiger Aktivität hinter sich, deren erste ihm das Renommee einer authentischen intellektuellen Autorität eingebracht und deren zweite die Dauer dieses Ansehens beträchtlich verlängert hatte.
Die erste Phase beginnt um die Jahrhundertwende. Lange genug war Croce – was nicht vergessen werden darf – Geschichtsforscher, Jäger intellektueller curiosità, Sammler von Anekdoten und Andenken über das alte Italien gewesen. Er reduzierte Geschichte auf literarische Erzählung und näherte sie dem intellektuellen Spiel. Er war nur für sich selbst verantwortlich und redete zu seinesgleichen, d. h. zu dem nicht allzugroßen Kreis von Menschen, die an historischer Narration Interessiert waren. Seit der Jahrhundertwende beschäftigte sich Croce, ohne seine Aktivitäten als Chronist zu vernachlässigen (die er intensiv bis zum Ende seines Lebens pflegte), mit der Grundlegung der Filosofia dello spirito – er schrieb sie in der Jahren 1902-1914 – und wurde zum Initiator, Exponenten und Anführer der italienischen, neoidealistischen intellektuellen Bewegung, zum großen Philosophen und Humanisten.
Das Milieu, an das er sich wandte, wurde dadurch zwar breiter, blieb aber weiterhin nicht allzu groß: es bestand aus hochgebildeten, geistig und künstlerisch schöpferischen Menschen, die sich für die Kultur kompetent und aktiv interessierten. Wenn behauptet wurde – manchmal im Sinn eines Vorwurfes –, Croce sei ein geistiger Aristokrat gewesen, wies es der Philosoph nicht ab: er nahm diese Bezeichung an und bestimmte selbst ihren Inhalt. Dieser Inhalt war übrigens in die Struktur der Philosophie des Geistes eingeschrieben.
Ausgangsaxiom dieser Philosophie ist die monistische Auffassung der Welt: Außer dem allgegenwärtigen Geist gibt es in ihr keinen Platz für andere Dinge. Etwaige Spuren des Dualismus (als Vermutung, dass außer dem Gedanken noch etwas existiert, was er zu beherrschen hat), die in der Ästhetik, dem ersten Band der Philosophie des Geistes, noch zu bemerken waren, wurden später sorgfältig entfernt. Es gibt nichts, was Sein an sich, Anderssein, Entfremdung des Geistes wäre. Die Welt sei vom Geist als dem einzigen Sein und zugleich als der einzigen Idee, der einzigen Wahrheit und dem einzigen Gedanken erfüllt. Und auch von dem einzigen Leben, weil der Geist zugleich Werden, d. h. Kreativität sei. Dieser Geist ist dabei keine Objektivität, weder heilig, noch weltlich, er ist das Werk von Menschen, genauer: von menschlichen Eliten.
Dieser Geist ist eine Einheit, aber eine Einheit von ausgezeichneten (distinti) Formen der Aktivität. Er schließt nämlich theoretische und praktische Aktivität ein. Die theoretische Aktivität teilt sich in intuitive und intellektuelle Formen. Die Intuition gibt dem Geist in seiner individualisierten, konkreten Gestalt Ausdruck; ihre Sprache ist die expressiv-bildliche Sprache der Kunst. Der Intellectus (Verstand) erschließt den Geist in seiner Verallgemeinerung, in einer universellen Form; seine Sprache ist die abstrakt-begriffliche Sprache der Philosophie. Die praktische Aktivität des Geistes wird ähnlich eingeteilt: in ökonomische (utilitäre) und ethische Formen. In der ökonomischen (utilitären) Form der Aktivität ist der Geist der Wille zur Verwirklichung der Ziele von Einzelnen; in der ethischen Form wird der überindividuelle, universalisierte Wille verwirklicht. Diese vier Formen der Aktivität des Geistes schöpfen alle potenziellen Möglichkeiten seiner Existenz aus: alles, was ihn erfüllt und ausdrückt, läßt sich auf eine von diesen Formen zurückführen. Der Geist ist jedoch Einheit. Die ausgezeichneten Formen der Aktivität sind nur Momente desselben lebendigen Ganzen. Um diese Einheit auszudrücken, führt Croce den Begriff eines Kreislaufes (circolarità) von Formen des Geistes ein. Sie existieren nicht parallel, aber bilden einen Kreis. Sie sind verschieden (distinte), aber nicht getrennt (separate), und schon gar nicht gegensätzlich (opposte). Es gibt zwischen ihnen keine höheren oder niedrigeren Formen, sondern sie sind sich untereinander gleich und komplementär. Der Inbegriff ihrer Leistungen bildet das, was in der Kultur am wertvollsten ist: die höchsten Formen der Wahrheit, Schönheit, Nützlichkeit und des Guten. Die Sorge um diese Werte, ihre Erschaffung und ihr Schutz ist die höchste moralische Pflicht, das höchste Sollen der kulturellen Elite: nur so viel und nicht weniger verlangt Croce von ihr.
Im Sinne dieser Annahmen soll
der Philosoph keine besondere Rolle unter diesen gleichwertigen
Aktivisten des Geistes spielen. Die Lektüre von Croces Texten
scheint aber darauf hinzudeuten, dass in dieser Reihe von Gleichen
die erste Geige der Savio spielt, d. h. der weise
Philosoph-Humanist. Es scheint auch, daß Croce selbst diese
ausgezeichnete Rolle des intellektuellen Anführers prätendierte,
wie auch, dass er in dieser Hinsicht zu jener Zeit viel erreichte:
er wurde zum wirklichen Initiator, Exponenten und Anführer des
italienischen rinnovamento, der postpositivistischen
Bewegung der kulturellen Erneuerung. Das ging nicht ohne Widerstand
ab. Die Ursachen der Behinderungen waren (unter anderem) der
Konstruktion der Philosophie des Geistes selbst als einige
folgenschwere intellektuelle Operationen eingeschrieben.
Darunter:
– radikale Trennung der Philosophie vom empirischen Wissen, von der
Naturwissenschaft: viele Denker der Jahrhundertwende zielten auf
die Auszeichnung der Geisteswissenschaften ab, Croce ging jedoch
sehr viel weiter, indem er die Naturwissenschaften zum Wissen
zweiter Kategorie herabsetzte;
– drastische Begrenzung der Aufgaben der Geisteswissenschaften
durch Degradierung aller Fragen und Begriffe, die von der
nicht-monistischen Systematisierung herstammen, d. h. die eine
Unterscheidung von Geist und Materie, Objektivität und
Subjektivität, Form und Gehalt zur Grundlage haben. Sie alle wurden
als Pseudobegriffe, wurden durch das einfache, allzu einfache
Schema von Oppositionen eliminiert: Philosophie und
Nicht-Philosophie, Poesie und Nicht-Poesie;
– Unterschätzung der Vertreter rationalistischer Positionen wie
Cattaneo oder Vaillati;
– ständiges demonstratives Bezeugen der Unempfänglichkeit für
avantgardistische Strömungen in der Literatur und Kunst dieser Zeit
usw.
Der Preis, den Croce dafür zu entrichten hatte, bestand im Widerstand seitens einiger Kreise, Gruppen und Personen, in manchmal entschiedener und scharfer Polemik gegen ihn. Es war aber der Widerstand von damals marginalisierten, zur Verteidigung gezwungenen Kreisen. Bedeutende Teile der schöpferisch-kulturellen Elite erlagen der suggestiven Parole einer kulturellen Erneuerung des von Positivismus und Klerikalismus unfruchtbar gemachten italienischen Bodens. Am Positivismus vorbei griff man nach den in Vergessenheit geratenen früheren Epochen des Barocks und der Romantik. Gut geheißen wurde die Aneignung großer Vorbilder wie Vico, Hegel, Goethe, sowie die Annäherung an lebendige Inspirationsquellen wie Nietzsche, Bergson, Mach, Avenarius u. a. Es schien also, als ob Croces philosophische Systematisierung ein wichtiges Moment der Wahrheit sei, das dazu berechtigte, frühere, vergangene Wahrheiten zu ersetzen. Es ist nicht verwunderlich, dass Croce diese fröhliche Wissenschaft – man möchte sagen: apollinische Wissenschaft – in großer Eintracht mit sich selbst und in der Überzeugung, seiner Zeit gut zu dienen, ausübte – was er selbst in der Contributo alla critica di me stesso sagte (1915).
Der nächste Wandel der Philosophie Croces kam nach dem Sieg des Faschismus in Italien. Nach einiger Zeit der Unentschlossenheit wandte sich Croce seit der Mitte der zwanziger Jahre sehr entschieden gegen den Faschismus und die Diktatur. Er ordnete seine gesamte intellektuelle Aktivität der Pflicht der Verteidigung der Kultur unter. Seine Philosophie änderte sich damit. Man sagt manchmal sogar (z. B. E. P. Lamanna), dass unter den Bedingungen des Faschismus ein zweiter Croce, radikal anders als der frühere, erwuchs. Diese Feststellung geht aber zu weit. Während jener Zeit verzichtete Croce auf keines der konstitutiven Glieder seiner Philosophie des Geistes. Er blieb beim philosophischen Monismus und festigte ihn, indem er seiner Philosophie in den dreißiger Jahren den Namen storicismo assoluto gab, das Konzept von ausgezeichneten (distinti) Formen der Aktivität des Geistes aufrecht erhielt, usw. Er wusste aber geschickt und zweckmäßig seinen philosophischen und methodologischen Apparat an die neue antifaschistische Aufgabe anzupassen. So verwandelte sich seine Philosophie von einer apollinischen, fröhlichen Wissenschaft in ein dionysisches, dramatisches Wissen.
In der Philosophie des Geistes hatte Croce die Rolle betont, welche in der Geschichte die Elite, die »Aristokratie des Geistes« spielt. Ihr Tun bestimmte er damals als Kreativität – autonom und autotelisch. Jetzt maß er ihr auch die wichtigste Bedeutung in der Geschichte zu, den Inhalt der Kreativität aber schloß er in der Kategorie der Freiheit ein. Die Freiheit ist Prinzip der Geschichte, und die Geschichte ist Geschichte der Freiheit. Dabei bedeutet hier die Freiheit keine Idylle des Lebens, sondern sein Drama: den ständigen Kampf der Freiheit, die das Leben des Geistes ist, gegen die Tyrannei, die sein Tod ist; einen Kampf, in dem es Perioden gibt, in denen Freiheit eine verkannte Tugend ist, die nur in den Seelen Weniger lebt – in den Seelen der großen Philosophen und Dichter (aber zuletzt zählen nur diese großen Menschen); einen Kampf, in dem die Freiheit manchmal Niederlagen erleidet, nie aber kompromittiert oder durch ein höheres Ideal ersetzt werden kann, weil weder ein solches Ideal noch etwas, was die Freiheit erniedrigen könnte, überhaupt möglich ist.
Um diese These zu begründen, lenkt Croce jetzt die Aufmerksamkeit von der Philosophie und Ästhetik auf die Geschichte. Vor allem seine historischen Studien Storia d’Italia von 1929 und Storia d’Europa von 1932 (die man mit La storia come pensiero e come azione vom 1938 zusammen lesen sollte) zeigen in Modellanalysen, wie sich die ›Religion der Freiheit‹ in der nachnapoleonischen Epoche gestaltet. Die als »Stern von unvergleichbarem Glanz« bewunderte Freiheit wurde damals zu einem Begriff, der die Vergangenheit und die Wege in die Zukunft zu erleuchten imstande sein sollte: als die motorische Kraft der Geschichte und als das moralische Ideal. Dieser Begriff der Freiheit hat sich in Italien und in Europa in der verhältnismäßig ruhigen »liberalen Epoche« um die Jahrhundertwende durchgesetzt. Der Krieg erschütterte diese Ordnung und bahnte der Diktatur den Weg. Das Sollen bedeutete jetzt für Croce, »klar einzusehen«, dass nur die Freiheit Existenzberechtigung verleihe. Zur Pflicht wurde, die Anwesenheit der Freiheit in den Gesinnungen der Elite zu fördern, also derjenigen, die, obwohl isoliert und zerstreut, fähig sind, diese Idee in die Zukunft weiter zu tragen. Früher getrennt und gegeneinander gleichgültig, näherten sich jetzt die beiden Welten des Denkens und des Tuns einander. Und diese Annäherung brachte in die Philosophie Croces viel Spannung und Dramatik.
Der ungewöhnliche Mut, mit
welchem Croce in den »Zeiten der Verachtung« seine ›Religion der
Freiheit‹ verkündete, nötigt sicherlich vollen Respekt ab. Es
drängt sich aber der Eindruck auf, dass die Umstände, in welchen er
sie verkündete, paradoxerweise seine Philosophie lebendig hielten
und ihr Funktionieren verlängerten. Hinter der Fassade der
›Religion der Freiheit‹ bestand all das fort, was ich die Unkosten
seiner philosophischen Strategie nenne. Jetzt aber zahlte diesen
Preis, zumindest zum großen Teil, der Faschismus:
– der Faschismus verursachte die Isolierung des Landes und
schwächte das Vordringen der damaligen intellektuellen Strömungen
nach Italien (darunter auch solche in den Naturwissenschaften und
den technischen Wissenschaften), die den ›absoluten Historismus‹
Croces hätten bedrohen können;
– das Regime nahm auch auf sich die Hemmung der künstlerischen
Avantgarde, die Croce im Rahmen seiner Doktrin nur unterschätzen
konnte;
– der Faschismus legitimierte offiziell nur zwei Richtungen: den
staatlichen Nationalismus und den kirchlichen Klerikalismus. Jede
der beiden Richtungen wollte sich dabei der Geschichte Italiens auf
eigene Weise bemächtigen, beide waren gleich aggressiv wie
primitiv, was dem kompetenten Geschichtswissenschaftler und
kunstfertigen Polemiker Croce die Möglichkeit bot, beiden seine
eigene – unvergleichlich weisere – Vision der italienischen
Geschichte entgegen zu stellen;
– die Behörden unterdrückten die Aktivitäten demokratischer und
sozialistischer Intellektueller (Gramsci schrieb seine kritische
Interpretation des Croceanismus im Gefängnis), was Croce vor der
Konfrontation mit diesen Richtungen schützte und eine
verhältnismäßig sichere Glorifizierung des konservativen Musters
des Liberalismus aus der Zeit der Restauration und des
Parlamentarismus der Jahrhundertwende gewährleistete;
– unter diesen Bedingungen fand die Rhetorik der ›Religion der
Freiheit‹ den Weg zu breiteren Kreisen als bisher: sie wurde auch
von der ›Masse‹ angenommen, die im Grunde in seiner Vision der
Geschichte abwesend war;
– sogar Croces Thesen über den Faschismus als ein Phänomen, das in
der Geschichte seines Landes nicht hätte erscheinen dürfen und nur
als ein äußerer Auswuchs auf einem in Grunde gesunden Organismus zu
betrachten sei, erweckten Hoffnung. Die aktiven Menschen, die
einzigen Schöpfer des Geistes oder der Geschichte, seien also
schließlich doch imstande, denkend und handelnd dieses Phänomen zu
überwinden und zu bewirken, dass alles wieder in den Normalzustand
zurückzukehren vermöchte. Diese Thesen - nach dem Krieg scharf
kritisiert – verstärkten die antifaschistische Bewegung, oder
besser: verschiedene antifaschistische
Bewegungen.
Unter solchen Umständen konnte sich Croce weiter von den festen Grundlagen seiner Philosophie und vom bleibenden Wert dieser Systematisierung überzeugt zeigen, die auch in den neuen Verhältnissen ihr Moment der Wahrheit behauptete: nun nicht mehr in Bezug auf die vergangenen Wahrheiten, sondern auch auf die gegenwärtigen, die er sachlich und moralisch übertraf.
Die nächsten Änderungen brachte die Zeit des ultimo Croce. Der Anfang dieser Periode fiel in die Mitte der dreißiger Jahre, ihre erste Phase dauerte bis zum Ende des Krieges. Die Ursache der Änderung war der Faschismus: das, was er bewirkte und was von Croce eine andere als die bisherige Interpretation und Beurteilung forderte. Die bedrohlichen Eigenschaften der ›neuen‹ Welt bedurften einer Diagnose, das bisherige Philosophie-Modell lieferte aber nicht den entsprechenden analytischen Apparat. Croces Interpreten, z. B. die Autorität Giuseppe Galasso, sprechen von einer ernsten Krise dieses Modells und behaupten, dass Croce in dieser Zeit zu »wichtigen theoretischen Überlegungen« kommt. Croce bestätigte das in späteren Äußerungen: »in dieser Zeit« – schrieb er – »habe ich meinen philosophischen Gedanken bereichert ... vor allem habe ich die theoretischen Probleme der Geschichte tiefer erfaßt«. Es scheint aber, dass diese tiefe Wende zwar angesetzt, aber nicht vollendet wurde.
In den letzten Vorkriegsjahren und während des Krieges hat sich Croce mehrmals zum Faschismus geäußert, meistens anlässlich von Bestellungen ausländischer Verleger von Periodica und Enzyklopädien. Seine in diesen Äußerungen enthaltene Diagnose der Situation war im Prinzip richtig, aber oberflächlich, weil durch keine tiefere anthropologische Überlegung gestützt. Es fiel ihm schwer, die Wurzel dessen, was im Menschen böse, niedrig, aggressiv ist, zu erklären. Er deutete es als uneigentliches, d. h. deformiertes oder degradiertes Funktionieren der den Menschen zukommenden Formen der Aktivität des Geistes: als Unterentwicklung des Gedankes und der Intuition, als einseitigen, durch ethische Normen unausgeglichenen Egoismus usw. Aber gerade in dem vom Faschismus beherrschten gesellschaftlichen Organismus verlangten diese bösen, niedrigen und aggressiven Eigenschaften des Menschen stärkere diagnostische Fähigkeiten. So kam es, dass in Croces Sprache Ausdrücke wie Barbarei, Wildheit, Bestialität immer häufiger wurden. So schrieb er z. B., dass »zivilisierte Nationen manchmal (was unsere Zeiten unerwartet erfahren haben) verwildern, primitiv werden, grausam und tierisch und wieder zur Natur zurückkehren«, wie auch, dass ein solches Schicksal von den gegenwärtigen deutschen Philosophen vorbereitet worden sei, die »das Ideal des ›Geistes‹ durch eine Vision des animalischen Lebens ersetzen«.
Bemerkenswert ist hier der Ausdruck Natur. Croce ›befreite‹ schon früher die Philosophie von diesem Phantasma und hegte lange die Überzeugung, dass er gut daran getan hatte, weil solche Begriffe wie Natur, Materie, Ding an sich usw. von einer schlecht verstandenen Wissenschaft der »Idealisten alten Schlages« herkämen, »die Wissenschaft durch Mythologie ersetzen«. Jetzt aber scheint der Begriff der Natur wieder an Bedeutung zu gewinnen. In L’umanità e la natura, einem Text aus dem Jahr 1945, bezeichnet diese Kategorie eine »Realität niedriger Ordnung«, d. h. die animalische Welt, die von der menschlichen Welt zu unterscheiden und ihr entgegenzustellen sei. Auch im Menschen selber, der ja ein Tier ist.
Über diese Natur hat Croce wenig zu sagen. Er spricht über sie in den Kategorien des alltäglichen Wissens. Die außerordentliche Bedeutung dessen, was an der menschlichen Natur zu beobachten war, hat ihn aber bewegt, solche Erfahrungen in der philosophischen Reflexion zu berücksichtigen. Es erschien eine neue Kategorie: vitalità. Die Kategorie der Vitalität sollte nach Croces Absicht die Sphäre der economicità oder, wie er sie später nannte, der utilità erweitern, d. h. diejenige Form der Aktivität der Geistes, die die einzelnen Ziele verwirklichen sollte; vitalità, neben utilità situiert (ohne sie zu eliminieren oder zu ersetzen), durchtränkt alle vier distinkten Formen mit ihrer ursprünglichen Energie. Vitalità an sich ist weder böse noch gut, kann sie alle emporheben oder tief bis in die Regionen der Animalität, in die Sphäre der Barberei und Wildheit, unter das Niveau der Menschlichkeit, hinabdrücken.
Croce führte die Kategorie der Natur ein, um die Grundlagen seiner philosophischen Systematisierung an die reellen Lebensbedingungen anzupassen. Die Arbeit an ihr ging mühsam voran, er bestimmte diese Kategorie ohne genügende Schärfe. Aber für ihn selbst, wie auch für damalige aufmerksame Beobachter, war es klar, dass – wie es Gennaro Sasso formulierte – »die Einführung dieser Kategorie auch die Krise dieser philosophischen Grundlagen bewirken könnte«. – Es ist schwer zu sagen, wie groß und mit welchen Folgen dieses Erdbeben gewesen wäre, wenn das Kriegsende die Verifizierung des gedanklichen Prozesses nicht unterbrochen hätte.
In der neuen Friedenszeit
befand sich Benedetto Croce wieder in radikal veränderten
Verhältnissen. Die Freiheit bedurfte keiner Verteidigung – man
brauchte sie nur zu benützen. Die Italiener aber nutzten sie in
einer für Croce und seine Philosophie ungünstigen Weise:
– zu Worte kamen jetzt Menschen, die lange Zeit zum Schweigen
gezwungen waren: Antifaschisten, die gegen das Regime mit der Waffe
in der Hand gekämpft und sich handelnd um die Freiheit
bemüht hatten; das schwächte das Prestige Croces, der den
Faschismus mit der Feder bekämpft hatte;
– in dieser neuen Situation griffen nach der ›Seelenregierung‹, und
zwar mit Erfolg, zwei politisch-weltanschauliche Orientierungen,
mit denen Croce sein ganzes Leben hindurch im Konflikt war: die
sozialistische Linke und die christliche Demokratie;
– es wurden Hindernisse beseitigt, die lange Zeit die Kontakte der
italienischen geistigen und künstlerischen Kultur zur Welt
blockiert hatten; das beschleunigte das Eindringen und die rasche
Verbreitung von verschiedenen Strömungen, Orientierungen und
Stilen, darunter auch solchen, gegen die Croce Einspruch einlegte
und die er kritisch zensierte;
– unter den neuen Verhältnissen gewannen die Naturwissenschaften
und die Technik wieder die Oberhand, wie auch die mit ihnen
verbundene rationalistische intellektuelle Orientierung: es
erschienen italienische Neo-Illuministen, die an der italienischen
geistigen Formation vorbei an aufklärerische und positivistische
Traditionen anknüpften;
– einen großen Erfolg konnte die mehrfach von Croce verabschiedete
Philosophie der Praxis verzeichnen, enthalten und neu entdeckt in
Antonio Gramscis Gefängnisheften,
usw.
Viele Umstände also kamen zusammen, die Croces philosophischen Einfluss schwächten und die Zahl seiner Anhänger verringerten. Die Zeit, als er für italienische Intellektuelle der »weltliche Papst« sein konnte, wie ihn Gramsci nannte, war vorbei. Sein Stern erlosch.
Croce war jedoch weiter aktiv. Er setzte alle seine Forschungen und Arbeiten fort. In Neapel gründete er ein Historisches Institut, wo seine weniger zahlreichen und weniger lauten Verehrer Zuflucht finden konnten und wo er eine junge Elite von Humanisten auf seine Weise auszubilden versuchte. Er machte sich an die Systematisierung, Ordnung und Summierung seines Gedankenguts.
Die Alumni des Instituts waren unmittelbare Adressaten dieser geordneten Deutung der philosophischen Ansichten Croces, die er ihnen in einem Zyklus von Vorlesungen präsentierte. Es sollte sich aber bald zeigen, dass die eigentliche Absicht Croces war, der Nachwelt sein eigenes intellektuelles Selbstbildnis zu übermitteln. Eine riesige, über 1200 Seiten umfassende Anthologie von Texten, von ihm selbst aus dem Lebenswerk ausgewählt und kurz vor seinem Tode im Jahr 1951 veröffentlicht, sollte sein Selbstbildnis, sein Denkmal, sein Vermächtnis sein.
Dieses Mosaikporträt wurde von der Hand eines Meisters zusammengestellt. Die geistige Leistung, das Geschick, mit welchem Croce, damals schon wahrhaft der Ultimo, beinahe 85-jährig sein Bildnis modelliert, wie es seiner Absicht nach in Erinnerung behalten werden sollte, erregt Staunen. Man hat Croce manchmal den Vorwurf gemacht, er manipuliere hier das Bewusstsein seiner Leser. Beachten wir aber, dass das jeder Autor tut, der eine ähnliche Anstrengung unternimmt, und schauen wir uns an, wie und in welcher Absicht er es tut. Das Resultat dieser Beobachtung kann interessant sein.
Croce traf hier mindestens dreifache Vorkehrungen. - Er lenkte die Aufmerksamkeit auf die mittlere, reife Periode seiner geistigen Aktivität. In der genannten Anthologie finden sich zwar auch Texte aus früheren und späteren Jahren, aber das Selbstbildnis stellt hier vor allem den Croce der dreißiger Jahre, aus der heroischen Periode der Verteidigung der Religion der Freiheit, dar. – Er zeigt sich dabei hauptsächlich als humanistischer Theoretiker, indem er seine philosophische Motive, wie bekannt, mit der Geschichte der Philosophie und mit der Geschichte tout court identifiziert, exponiert: die philosophischen Texte umfassen etwa 700 Seiten, für den Rest verbleiben etwa 500 Seiten. Materialien aus dem sehr umfangreichen Werk Croces als Geschichtsschreiber, als Erforscher der künstlerischen Kultur, als Kritiker müssen in der Anthologie als Beispiele dafür herhalten, wie er allgemeine Voraussetzungen seiner Philosophie auf die Praxis des Geschichtsschreibers oder des Kritikers überträgt. – Last but not least suggeriert er durch geschickte Komposition die unerschütterliche Dauerhaftigkeit der philosophischen Grundlagen seiner Systematisierung.
Die neue Kategorie der vitalità wird hier ignoriert, ähnlich wie ihre Voraussetzung, die in der Zeit der Verachtung dramatisch aufgefasste Kategorie der menschlichen Natur. Konstitutives Element dieser Struktur bildet, wie immer, der Geist, der die Welt ganz erfüllt und in dem Prozess des absoluten Historismus durch die den Auserwählten zukommenden – ausgezeichneten (distinti) – Vermögen schöpferisch wirkt. In einem Kreislauf (circolarità) produziert er also eigentlich menschliche, sich gegenseitig fördernde Werte, die untereinander durch den höchsten Wert, d. h. die Freiheit, verbunden werden.
Der Sieg über den Faschismus bewirkte, dass man sich um diese Freiheit nicht mehr mit so schmerzlicher und dramatischer Spannung wie früher bemühen musste. Aus diesem Grunde konnte die Philosophie Croces wieder etwas von der apollinischen Aura zurückgewinnen: wenn nicht von dieser fröhlichen vom Anfang des Jahrhunderts, dann doch in jedem Fall von der ruhigen, olympischen Aura. Sie bewahrt auch ihr Moment der Wahrheit. Die einzelnen philosophischen Systematisierungen Croces sind zwar vorläufig, steuern aber im Ganzen etwas Bleibendes zu ihm bei. Auch der storicismo assoluto - diese Bezeichung verwendet er jetzt ständig – kann immer noch in der neuen Nachkriegswelt, die nervös nach neuen Wegen sucht, als Wegweiser dienen. Die Abschaffung seiner Systematisierung wird also in eine unabsehbare Zukunft verlegt. Der ultimo Croce, noch einmal mit der Welt, vor allem aber mit sich selbst in Eintracht, hinterlässt dieser Welt seine Botschaft, sein philosophisches Vermächtnis, als einen immer noch nicht veralteten Wert.
Die Nachkriegswelt wollte
diese Botschaft lange nicht anerkennen, wollte aus dem
testamentarisch verkündeten Moment der Wahrheit keine
Vorteile für sich ziehen. Voller Achtung – erzwungen vom
gigantischen Ausmaß des Lebenswerks, von Dauerhaftigkeit und Kraft
seiner Auswirkung und seiner moralischen Verdienste – hat diese
Welt die Person und das Werk Croces in Lehrbücher und Enzyklopädien
wie in Katakomben verschlossen. Die rinnovamento der
Nachkriegszeit, oder wie man öfter sagte: aggiornamento der
italienischen geistigen Kultur erfolgte diesmal neben oder
sogar gegen Croce. Bei vielen italienischen Intellektuellen
trug das neue Ethos Merkmale des Widerspruchs gegen die
Croceanische Tradition, wie auch Kennzeichen der Reaktion gegen
ihre allzulange Herrschaft. Das Ausmaß dieser Reaktion blieb
proportional zur Prägekraft von Croces Erbe, das sogar auf die, die
an ihn nicht glaubten, einen einschränkenden Einfluss hatte. In
vielen Kreisen, vor allem unter der jüngeren Generation, wurde ein
vorbehaltloses Akzeptieren des Croceanismus als intellektueller
Selbstmord angesehen; die Bezeichnung ›verspäteter Croceanist‹
wurde zum Ausdruck einer an Verachtung grenzenden Missachtung. Die
Bestimmung eigener la distanza da Croce (ein Buchtitel des
damals dreißigjährigen Antonio Prete, 1970) wurde für viele zur
Pflicht.
– Es mußten etwa 30 Jahre vergehen, bevor sich die Lage ändern und
die Umstände für Croce günstiger werden konnten;
– in einigen Nachkriegsjahrzehnten wurde das Modell des
Intellektuellen akzeptiert, das sich Antonio Gramsci erträumt
hatte: eines kämpfenden, engagierten, mit gesellschaftlichen
Bewegungen und politischen Parteien ›historisch verbundenen‹
Menschen; dieses Modell ignorierte also die heiligen
distinti Croces und überwand die Distanz zwischen Erkenntnis
und Handeln;
– die Niederlage des Sozialismus und bald auch die Dämmerung der
Christlichen Demokratie stellen auch dieses Modell des geistigen
Handelns in Frage und verleihen Croce, dem nüchternen Verteidiger
kultureller Autonomie und kultureller Elite, wieder mehr
Attraktivität, gemessen an der unmittelbaren Abhängigkeit von
aggressiven, organisierten politischen Kräften der Linken und der
Rechten;
– die Nachkriegszeit brachte wieder in Mode, was man das Paradigma
der Moderne nennen könnte: das Vertrauen in eine Wissenschaft, die
das rationalistische, aufklärerische Wissen im Namen des
Fortschritts mit der Technik verbindet. Später wurde auch dieses
zivilisatorische Paradigma auf die Anklagebank gesetzt, was Croces
Ansehen hob, der Vico vor Descartes den Vorzug gab und das
bedingungslose Vertrauen in die aufklärerische Vernunft in Frage
stellte.
– Mit dem günstigen Schicksal der Moderne auf dem Feld der
Wissenschaft verband sich die Anziehungskraft der Avantgarde in der
Kunst. Später unterminierte die Post-Avantgarde diese Haltung, mit
der Folge, dass das kritische Verhältnis Croces zur modernen Kunst
aufhörte, sich zu seinem Nachteil auszuwirken, usw.
– Ergänzend ließe sich sagen, dass die Zeitläufe selbst ihn
begünstigten: wer sich von Croces Einfluss befreien wollte, hatte
das bereits getan. Mit der Zeit wurde eine objektive und ruhige
Würdigung leichter.
Dieses wachsende Interesse für Croces Erbe und der es begleitende Meinungswandel lassen sich an zahlreichen Publikationen ablesen: in den Veröffentlichungen anlässlich der Säkularfeier (1966), der fünfundzwanzigsten und dreißigsten Wiederkehr des Todestages (1977, 1982). Eine Gelegenheit zum Meinungswandel bot auch die Arbeit an der nationalen Werk-Edition, die Veröffentlichung seiner Korrespondenz und seiner Taccuini di lavoro; einen erneuten Blick brachten auch gewichtige Monographien von Autoritäten wie Gianfranco Contini, Giuseppe Galasso, Gennaro Sasso, Massimilian Capatti u. a.
Die Folgen dieser Reinterpretationen aber waren und bleiben unrevolutionär. An dieser Debatte über Croce nehmen fast ausschließlich Wissenschaftler der älteren Generation teil. Sie sind bereit, das Gewicht der positiven Auswirkungen Croces zu betonen und ihre negativen Folgen milder zu beurteilen, verweisen ihn aber – als einen Klassiker – in vergangene Zeiten: Croce verbleibt also in den Katakomben, zwar in besser beleuchteten und belüfteten, aber in Katakomben. Die jüngere Generation von Forschern teilt dieses Interesse nicht. Ihr wichtigster Exponent, Gianni Vattimo, sucht bei seinen Meistern Nietzsche und Heidegger Inspiration, unter Nichtbeachtung nicht nur Croces, sondern der ganzen italienischen Tradition. In einer ausführlichen Übersicht über italienische Philosophen der jüngeren Generation, veröffentlicht von Giuseppe Cantarano (Immagini del nulla. La filosofia italiana contemporanea, 1998), in der neben Vattimo M. Cacciari, R. Esposito, S. Givone, M. Perniola exponiert wurden, wird Croces Name nicht einmal erwähnt. Es scheint also, dass in Italien die Älteren Croce in den Katakomben halten, während die Jüngeren ihn ins Nichtsein entlassen.
So steht es in Italien. Andernorts ist es scheinbar ganz anders. Andernorts heißt: in Amerika. David Roberts, der Initiator des amerikanischen ritorno a Croce, hat sich große Mühe gegeben, seine Leser davon zu überzeugen, dass die Stimme des Neapolitaners heute überraschend lebendig klingt. Er hat das in der Abhandlung Benedetto Croce and the Uses of Historicism (1987) und in vielen späteren Aufsätzen getan. Nach Roberts’ Meinung muss man in Croce einen Denker sehen, der gleichzeitig mit den großen Reformatoren der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Nietzsche und Heidegger, und parallell mit späteren Fortsetzern dieser Reform, Gadamer und Rorty, in der Sache der Überwindung der Metaphysik tätig war. Croce ist ein Postmetaphysiker, weil er in seinem absoluten Historismus die absolute Autonomie des Menschen als des einzigen Urhebers der Geschichte annimmt und ihm zugleich jeden Rückbezug auf die Gestalt des transzendentalen Gottes, das Naturrecht und die historische Notwendigkeit nimmt. Für Croce, wie auch für andere Post-Positivisten, beruht die philosophische Hauptaufgabe auf dem Erkennen, wie sich der Mensch in dieser autonomen Welt zurechtfinden soll, wie man ohne metaphysisches Werkzeug das Schicksal des Menschen definieren kann. Croce definiert dieses Schicksal, und zwar bedächtiger als andere Post-Metaphysiker, einschließlich Nietzsche und Heidegger, weil er subjektivistische, nihilistische, irrationalistische Folgerungen vermeidet. Er situiert das Handeln des Menschen in der Geschichte, nimmt ihm aber weder schöpferische Initiative noch moralische Verantwortung. Er entzieht der menschlichen Erkenntnis jede objektive Wahrheit, lässt ihr aber einen nicht in Frage gestellten, obwohl nicht bleibenden Wert. Roberts wundert sich deshalb darüber, mit welcher Gleichgültigkeit die Italiener, besonders Post-Metaphysiker wie Gianni Vattimo, Croce als toten Hund behandeln: Croce öffne doch den Weg zu alledem, was die Kultur der Gegenwart suche.
Man muß Roberts’ große
Geschicklichkeit in der Überredungskunst zugestehen. Es gilt aber
auch zu vermerken:
– Der amerikanische Interpret liest aufmerksam philosophische
Erklärungen Croces, besonders in La storia come pensiero e come
azione (1938), viel weniger beschäftigt ihn das Verhältnis
zwischen Deklaration und Praxis, sowie Croces
historische und kritische Praxis selbst. Diese Praxis war aber
umfangreich, sehr einflussreich und dauerte sehr lange. Die
Berücksichtigung von beidem, Theorie und Praxis, kann vielleicht
zeigen, dass (wie der scharfsinnige Philosophieforscher Wladyslaw
Tatarkiewicz vermutete) in der Praxis dieses erklärten
Antipositivisten »Elemente des Positivismus enthalten sind«; es ist
offensichtlich, »dass von allen Idealismen, welche im 19. und 20.
Jahrhundert erschienen, der Croceanische sicherlich der am meisten
positivistische war«.
– Dieser »absolute« Gegner der Metaphysik, welcher die
Vorläufigkeit aller philosophischen (und anderen)
Systematisierungen, darunter auch seiner, verkündete,
betrachtete die eigenen so, als seien sie wenn nicht ewig, dann
doch zumindest sehr dauerhaft und als käme ihnen nicht bedingte,
sondern unbedingte Wahrheit zu.
– Seine Erzählung über den großen (fortschrittlichen)
Entwicklungsprozess der Philosophie, dessen Krönung seine
Systematisierung sei, könnte François Lyotard ohne Mühe zu
den großen Narrationen zählen.
– Nachdem Croce die Philosophie und Kunst von vielen alten
Klassifikationsbegriffen befreit hatte, führte er seine eigenen
Klassifikationen rigoros und mit der Verbissenheit eines Zensors
ein. Er verfügte, was nicht Wissenschaft, Philosophie,
Poesie sei. Diese oft die Horizonte einengende Praxis wurde den
Italienern immer mehr zur Last, was seine Doktrin nicht wettmachen
konnte. Roberts, der diese Last nicht berücksichtigt, hat Gründe,
die doktrinären Deklarationen Croces wiederzubeleben. Aber auch
Vattimo mag seine Gründe haben, an Nietzsche und Heidegger unter
Hintansetzung Croces
anzuknüpfen.
Diese Beobachtungen deuten darauf hin, dass im denkerischen Werk Croces gewisse wenn nicht metaphysische, so doch quasi-metaphysische oder para-metaphysische Residua existieren. Hinzufügen lassen sich weitere Hinweise, weshalb Roberts’ Interpretationsstrategie nur so zögerlich akzeptiert wird. Der Amerikaner fordert dazu auf, Croce in einem »weiteren Kontext« anzusiedeln. Im Grunde begrenzt er diesen Kontext aber auf zwar geschätzte, doch nicht allzu zahlreiche gegenwärtig modische Philosophen. Es ist ja eine fast kategorische Pflicht all derjenigen, die philosophisch en vogue sein wollen, Nietzsche und Heidegger zu favorisieren, dazu Gadamer und Rorty, die mustergültigen Post-Metaphysiker unserer Zeit. Es gab jedoch außer den von Roberts erwähnten noch weitere Denker, die den Menschen zum absoluten Schöpfer der Geschichte erklärten, für den es weder bei einem Gott Rückhalt gebe noch im Naturrecht noch in einer historischen Notwendigkeit, der aber trotzdem volle Verantwortung für sein Tun trage. Allein in Italien wirkten mindestens zwei von ihnen: Antonio Gramsci und Giovanni Gentile. Obwohl von der Ausgangsposition her ähnlich, wurden sie dann doch in der Praxis in verschiedene Richtungen gedrängt; der eine zu einem sehr persönlich eingefärbten marxistischen Sozialismus italienischer Prägung, der andere zu einem ebenso persönlichen und eigenwilligen faschistischen Aktualismus italienischer Prägung. Und auch sie, nicht nur Nietzsche und Heidegger, bilden den Kontext, in dem man Croce ansiedeln muss – mit seinem elitären Philosophieren und liberalen Politisieren, das in der Zwischenkriegszeit ehrenwert gewesen sein mag, im gegenwärtigen Europa aber viele Fragen aufwirft.
Diese Anmerkungen sollen den Überlegungen Roberts weder ihre Sinnhaftigkeit noch ihre Attraktivität nehmen. Der philosophischen Zeitmode zu folgen kann mitunter – das lässt sich nicht ausschließen – durchaus dazu führen, Momente der Wahrheit zu erreichen. Im vorliegenden Fall kann ein solches wichtiges Moment allein schon darin bestehen, einmal den Versuch zu unternehmen, jenseits der üblichen Interpretationen den Blick auf Croce zu richten – Interpretationen, zu denen schon Croce selbst beitrug: nämlich das Modell einer heroischen Philosophie, die die traditionellen geistigen Werte verteidigt, ohne die der Mensch aufhört, Mensch zu sein. Es muss klar gesagt werden, dass Croce, wenn er nicht von Croce selbst, sondern von Roberts porträtiert wird, viel menschlicher wird – nicht mehr so denkmalverdächtig und dadurch leichter akzeptierbar für eine Generation, die ihn vorerst ins Nichtsein verbannt hat. Roberts’ Versuch überzeugt zwar nicht, weil er überaus einseitig ist und oberflächlich wirken kann. Immerhin zeigt er an, dass die Zeit gekommen ist, Croces Werk von einem anderen Paradigma her zu lesen, als es das zwanzigste Jahrhundert bereitzustellen vermochte.
Die Effekte einer neuen Lektüre führen zwar möglicherweise – und mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit – nur dazu, das Schlagwort von einer Rückkehr zu Croce zu desavouieren und letztlich die Gründe aufzuhellen, aus denen er nicht mehr als ein Klassiker bleiben wird, der bloß interessant ist für diejenigen, die sich lebendig mit der Vergangenheit beschäftigen wollen. Aber alle Voraussagen können nur hypothetisch bleiben, weil die Zukunft launisch, unberechenbar und überraschend zu sein pflegt. Wer hätte jemals vermuten können, dass eines Tages ein David Roberts auftauchen würde, der die volle Aktualität Benedetto Croces zu beweisen versucht?