1.
Europa ist ein Prozess, der so unausweichlich wie unverständlich erscheint, ein Geschiebe aus Apparaten, Stimmungen, Märkten, Wirtschaftskräften, Territorien und Bevölkerungen, dessen Gedränge und dessen Stockungen wohl weder von den politischen Akteuren noch von den darin befassten Menschen als rational erlebt oder gar durchschaut wird. Dass dieser Prozess weitergehen muss, ist dabei ebenso selbstverständlich wie seine Richtung unklar ist. Die europäische Idee befeuert offensichtlich nicht die Herzen der sogenannten Europäer auf ein verpflichtendes Ziel hin. In den vergangenen Zeiten kulturellen oder zivilisatorischen Hochmuts war eine Idee Europas, damals gerne noch ›Abendland‹ genannt, vermutlich mehr Menschen innerhalb oder ausserhalb Europas evidenter als heute – wenn auch in unterschiedlichen Bewertungen. Heute vermögen nicht einmal Dichter oder Produzenten der Massenkultur ein Bild Europas zu entwerfen. Eine Idee aber, die die Massen nicht ergreift, hat sich schon immer blamiert. Oder sollte umgekehrt gelten: Europa braucht keine Idee, weil der Prozess der europäischen Einigung diese überflüssig macht? Doch schon der Empfindung drängen sich elementare Fragen auf wie z. B. die, ob ein Europa als ökonomisches Zweckbündnis der Manager und Experten nicht alsbald von der Globalisierung verweht werden könnte, oder wie es mit der Spaltung zwischen Ost und West, die nun in ihm selbst stattfindet, in Zukunft umgehen werde?
So motiviert sich das vorliegende Sammelwerk durch die Entwicklungen seit 1989. Seit dem Ende der Machtblöcke muss sich Europa als politisch handelndes Subjekt in der Welt definieren, ohne mehr auf die ›karolingische‹ Vision der Gründergeneration zurückgreifen zu können. Neue Anwärter pochen trotz oder wegen ökonomischer Rückständigkeit und politisch-institutioneller Defizite auf ihr Bürgerrecht in Europa, nicht zuletzt unter dem Verweis, dass sie dieses in der europäischen Kultur ja schon immer besaßen. Zudem erzwingen die Herausforderungen der Globalisierung und die vielerorts spürbare mangelnde demokratische Partizipation der Völker am europäischen Prozess eine Selbstdefinition Europas, die sowohl seine äußeren Grenzen wie seine innere Identität meint. Angesichts der Tatsache, dass eine europäische diskutierende Öffentlichkeit nicht besteht – Spezialzirkel können allenfalls als Ansätze gelten – versuchen die Autoren der beiden Bände, einen solchen Reflexionsprozess über eine noch zu findende Identität anzustoßen.
Der Titel A Soul For Europe, der auf ein Wort von Jacques Delors zurückgeht, umreißt das Problem einer Identität, die nur wirklich ist, sofern sie in den ›souls‹ der Bürger als das Bewusstsein gemeinsamer Projekte, Werte, Prinzipien und geschichtlicher wie kultureller Erfahrungen lebendig ist. Die Metapher der Seele, die ja jene frühere Metapher des gemeinsamen Hauses deutlich überbietet, sollte trotz ihrer nostalgischen Anklänge nicht allzu spirituell verstanden werden; sie wird auch in den Texten zügig fallengelassen. Sie trotzdem ausspinnend, wird man sagen können, dass sie vor allem zwei Bedeutungskreise evoziert, die sich seit der Antike mit diesem Begriff verbinden: einmal, dass Seele das Lebensprinzip eines in Organe gegliederten Körpers ist, und andererseits, dass in der Seele unterschiedlichste, auch einander widerstrebende Kräfte wirksam sind, deren Dynamik keineswegs in eine harmonische Einheit münden muss. Schon immer waren komplexe oder auch zerrissene Seelen faszinierender und kreativer als homogen geglättete.
Identität ist in den letzten Jahren als zwanghafte Konzeptualisierung von Unsicherheiten in Verruf geraten. Zugleich hat sich das Bedürfnis nach Identitäten gesteigert, wie auch nur flüchtige Blicke auf die Wiederkehr von Nationalismen, Mythisierungen und Fundamentalismen aller Art zeigen. Nachdem kollektive Ideologien ihre politisch wirksame identitätsstiftende Kraft offenbar verloren haben, scheint die Suche nach kulturellem Selbstbewusstsein deren funktionales Erbe anzutreten. Solches Bewusstsein ist eo ipso aber partikulares Bewusstsein und Bewusstsein kultureller Differenz.
Damit gerät die Frage nach europäischer Identität zur Quadratur des Kreises. Zweifellos ist sie derzeit das vielleicht letzte verbliebene Großprojekt der europäischen Moderne, sie artikuliert sich aber im Milieu eines kleinteiligen Diskurses der unterschiedlichen Interessen, Kulturen, Traditionen und Regionen, im Pluralismus von Lebensformen und Sprachspielen. Die Autoren haben der bequemen Versuchung widerstanden, diesen tatsächlichen Befund in ein postmodernes Programm unverbindlicher Diversifikation umzudeuten. Sie suchen diese Situation vielmehr einzuzeichnen in die altmoderne Frage nach einer Identität, die in Differenzerfahrungen an Universalitätsansprüchen ohne Homogenitätszwang festhält.
Identität ist kein zusätzliches Moment, das dem europäischen Prozess – quasi als Überbau – hinzugefügt werden müsste oder könnte. Sie könnte nicht gesucht werden, wäre sie nicht längst vorhanden. So geht es auch in dem vorliegenden Werk nicht um Visionen, sondern um das intellektuelle Projekt einer Gegenwartsdiagnose der europäischen Wirklichkeit und um Spurensuche in den europäischen Traditionen, die zukunftsfähig sein können. Auf Zukunftskonzepte konkreterer Art, gar politische Ratschläge, wird mit Bedacht verzichtet, obschon doch gelten mag, dass die Fähigkeit zu Zukunftsentwürfen auch eine Voraussetzung für rationales Verhalten sein dürfte.
Die Chancen einer künftigen Entwicklung Europas werden anhand
zweier Schlüsselfragen diskutiert:
– wie kulturbedürftig ist das politische Europa?
– wie politikfähig ist die Kultur?
Dabei gilt, dass das politische Europa seiner kulturellen
Erfahrungen inne sein muss, um transnational wie interkulturell
flexibel und handlungsfähig zu sein. Zu diesen Erfahrungen gehören
die katastrophalen wie die keimhaft gelingenden Versuche unserer
Geschichte, mit Differenzen umzugehen. Zudem bedarf ein künftiges
politisches Europa einer transnationalen Identifizierung seiner
Bürger, die die nationalen Identitäten nicht ablöst, sondern
ergänzt. – Spiegelbildlich dazu verhält sich die Frage, wie und
welche historisch gewachsenen Elemente der europäischen Kultur für
eine politische Bewährung sich kräftig zeigen.
Die beiden Leitfragen zielen ersichtlich auf eine Auflösung bzw. Vernetzung der jedenfalls die deutsche Geschichte verhängnisvoll begleitenden Dichotomie von Politik und Kultur. Leider wird nicht darauf eingegangenen, ob diese Dichotomie sich in verschiedenen europäischen Traditionen ebenfalls unterschiedlich darstellt. Die Hartnäckigkeit dieser Figur beweist sich jedenfalls darin, dass auch die, die sie unterlaufen, auf ihre strukturierende Kapazität angewiesen bleiben. Es unterbleibt aber auch die selbstreflexive Nachprüfung, ob es sich bei dieser Dichotomie nicht bereits um ein Konstitutionsmoment der spezifisch europäischen Moderne handelt. Unmittelbar motiviert ist sie in der Konzeption des Werkes als ein Reflex auf eine europäische Wirklichkeit, die sich primär ökonomisch-politisch definiert hat, aber keine Strategien zum Umgang mit der immer drängender werdenden politischen Herausforderung kultureller Differenz entwickelt hat.
2.
Das zweibändige Sammelwerk, zu dem Vaclav Havel ein Vorwort beigesteuert hat, enthält neben den Einleitungen der Herausgeber insgesamt 18 Beiträge in englischer Sprache von internationalen Europa-Experten. Die Autoren kommen aus der Rechts- und Politikwissenschaft, der Ökonomie und der Philosophie. Der erste Band (Reader) enthält Beiträge zur politischen Identität der EU in ihrem gegenwärtigen Zustand. Der zweite Band (Essays) behandelt paradigmatisch wesentliche Facetten europäischer Identität wie Religion, Mythen, Ökonomie... Inhaltliche Überlappungen der beiden Bände gehören zum Programm. Auf mehrere Beiträge aus außereuropäischer Sicht sei ausdrücklich hingewiesen.
Es ist nicht möglich, alle Artikel im einzelnen zu charakterisieren oder gar zu diskutieren. Die Themenvielfalt kann nur selektiv angedeutet werden. Die etwas schematische Gliederung der Aspekte in der Folge spiegelt nicht den Aufbau des Werkes wider.
Politische Identität
Entgegen der beliebten Beschwörung der europäischen Identität in Anrufung ihrer Wurzeln in Griechenland und Rom, in jüdisch-christlicher Religion, in Aufklärung und Liberalismus stellt Göran Therborn (The Role of Economy in the Shaping of European Civilisation, Vol. 2) die Erfahrung der Diskontinuitäten der europäischen Geschichte in den Vordergrund. Nicht hehre Ideale, sondern die Katastrophen europäischer Selbstzerstörung wiesen den Weg zur Einigung. Die europäische Moderne, kulminierend in Nationalismus und Völkermord, hat mit den alteuropäischen Traditionen irreversibel gebrochen. Der Bau von Europa als eines supranationalen normativen Systems der Menschen- und Bürgerrechte ist eher ein politisch-rechtliches Projekt denn ein ökonomisches. Er ist nicht die Weiterführung europäischer Geschichte, sondern die Lektion daraus, dass Europa selbst sich von seiner Geschichte verabschiedet hat.
Joseph Weiler (European Democracy and the Principle of Toleration: The Soul of Europe, Vol. 1) analysiert das Demokratiedefizit der europäischen Institutionen. Ihrer Bürgerferne korrespondiert die überraschende technokratische Effizienz, die im gleichen Maße, in dem sie den europäischen Prozess erfolgreich managt, die demokratische Partizipation der Bevölkerung erstickt. Nur ein demokratisches Europa könnte jene konstitutionelle Toleranz erzeugen, in der auch unbequeme Entscheidungen akzeptiert werden.
Mario Telò/Paul Magnette (Justice and Solidarity, Vol. 1) entwerfen die Verbindung von Gerechtigkeit und Solidarität in ihrer gesellschaftlichen Entwicklung als ein Grundelement europäischer Sozialordnung. Diese politische Grundform hat inzwischen die Grenzen der Nationalstaatlichkeit überschritten. Sie unterscheidet auch Europa und Amerika (siehe dazu ferner den Beitrag von John Michael Krois in Vol. 2). Die Frage ist, wie dieses Modell unter den Bedingungen der Globalisierung bewahrt werden kann.
Geographie?
Nach Rémi Brague (Borders, Vol. 1) lässt sich europäische Identität nicht geographisch bestimmen. Die Grenzen der EU sind nicht die Grenzen Europas. Doch auch Europas Grenzen sind nicht eindeutig. Von der Antike bis heute unterlagen sie geschichtlichem Wandel, öffneten sich zudem durch europäische Migration in sämtliche Erdteile. Umgekehrt fühlen sich heute Europäer durch Migrationsströme nach Europa in ihrer Identität bedroht. – Politische Grenzen sind für ein friedliches Zusammenleben zwar praktisch nützlich, sie können ihren Zweck aber nur erfüllen, wenn sie in kulturellen Werten begründet sind. Eintrittsbillett in die europäische Kultur kann nur die Anerkennung jener Menschenwürde und Menschenrechte sein, die sich in dieser entwickelt haben. Da diese Prinzipien ihrem Anspruch nach universalistisch sind, würde Europa sich selbst verleugnen, wenn es seine Grenzen dicht machte.
Symbolische Identitäten
Ob europäische Identität auf Mythen und Symbole verzichten könne, wenn sie denn in den Herzen der Menschen Wurzeln schlagen soll, fragt Barbara Henry (Political Identity as Myth, Vol. 2). Es legt sich nahe, dies aus dem Blickwinkel der Identitätsbasteleien der nationalen Ideologien des 19. Jahrhunderts zu verstehen. Diesem Anachronismus will die Autorin entgehen. Sie kennt den totalitären und ausschließenden Charakter dieser Mythologien. Sie beklagt zugleich die Vernunftlastigkeit des europäischen Denkens, bemüht die Dialektik der Aufklärung und Cassirer wie Blumenberg. So fordert sie eine neue polyphone Mythologie, in der die europäische Idee expressiv und sinnlich werde. – Abgesehen davon, woher eine solche Mythologie kommen sollte, kann ich ein Bedürfnis nach solcher nicht erkennen. Genügen denn nicht die realen Symbole unserer Geschichte – Schlachtfelder, KZs, Grenzanlagen...?
Als eine Form des kulturellen Gedächtnisses begreift Hendrik J. Adriaanse (The Religious Factor in the Cultural Identity of Europe, Vol. 2) die aktuelle Rolle der Religion. Im Unterschied zur Rhetorik der ›christlichen Wurzeln‹ prägt Säkularisierung heute weitgehend die europäischen Gesellschaften. Doch ebenso ist die Präsenz der Religion unbestreitbar. Adriaanse widerspricht der naiven Gleichsetzung von Christentum und europäischer Kultur, indem er nicht nur die schlichte Vorstellung vom Christentum als einer einheitlichen Größe auflöst, sondern auch unterschiedliche Formen seiner Vermittlung mit der Kultur thematisiert.
Zunächst ist die religiöse Prägung Europas nicht ausschließlich christlich. Judentum, Islam, griechische und römische Antike zählen ebenso zur europäischen Religionsgeschichte. Zudem ist das Christentum selbst plural; in Lehre und Inkulturation sowie in der Diachronie seiner Geschichten. Sein Verhältnis zur Kultur umfasst eine Gestaltenfülle zwischen Antithese und Synthese. – Die Säkularisierung in ihrer geschichtlichen und sozialen Wirkung ist wohl irreversibel. Dem stehen heute Renaissancen einer frei flottierenden Religiosität gegenüber, über deren Zukunft noch nichts auszumachen ist. Allerdings ist Europa heute durch Immigration und auch durch Konversionen zum Ort einer multireligiösen Gesellschaft geworden. Privatisierung der Religion im Wettstreit unterschiedlicher Traditionen sowie Religionslosigkeit dürften auf absehbare Zeit das religiöse Bild Europas bestimmen.
Geschichtliche Identität?
Aussichtslos muss nach Dimitri D'Andrea (Europe and the West: Identity Beyond Origin, Vol. 2) der Versuch bleiben, das politische europäische Projekt auf eine vermeintliche kulturelle Identität zu gründen. Denn was als diese in ihrer Geschichte gemeinhin verstanden wird, ist in sich paradox. Es ist die Kultur einer sich selbst aufhebenden Grenzenlosigkeit. Europäische Modernität als Wissenschaft, Technologie und kapitalistische Ökonomie hat längst ihren begrenzten Ursprungsraum verlassen und ist weltweite Realität. Ihre Expansion war nicht gebunden an den Geist jenes europäischen Individualismus, in dem die Prinzipien der Demokratie und Menschenrechte verwurzelt sind. Aber in der Geltung der Freiheitsrechte ist europäische Identität ununterscheidbar von der des Westens überhaupt. Jedoch ist gerade eine Paradoxie dieses individuellen Freiheitsbewusstseins ein Problem für die modernen westlichen Gesellschaften geworden, insofern es die Ausbildung gemeinschaftsbezogener Verantwortlichkeiten konterkariert.
Die politische Einheit Europas kann sich nicht durch einen Rückgriff auf eine angeblich faktisch gegebene kulturelle Identität, deren Zweideutigkeiten durch keine Konstruktion zu beseitigen sind, legitimieren, sondern durch einen Entwurf, der die Herausforderungen dieser partikularen Weltregion angesichts der Folgen der wissenschaftlichen und ökonomischen Europäisierung der Welt (Globalisierung) ins Auge fasst. Europäische Identität – hier wird der Aufsatz postulatorisch – hat die Errungenschaften der Moderne zu verknüpfen mit einer neuen Kultur der Beschränkung angesichts weltweit ungezügelter sozialer und ökologischer Globalisierungsfolgen. Gegenüber der Ökonomie wird sie die Rolle der Politik verteidigen und stärken müssen. Ob heutiges europäisches Subjektivitätsbewusstsein solche globale Verantwortung auf sich zu nehmen willens und in der Lage ist, das ist allerdings sehr die Frage.
Die europäische Geschichte kann schwerlich als auf das Telos der Einheit orientiert geschrieben werden. Zu groß sind die zentrifugalen Tendenzen in ihr, als dass sich unter der Dissonanz der Partikularitäten ein geschichtlich beständiger basso continuo europäischen Gemeinbewusstseins hätte ausbilden können. Enno Rudolph (Historical Manifestations of European Identity and its Failures, Vol. 1) unternimmt es, historisch verdichtete Momente bzw. Phasen dieser Geschichte auf ihre Tauglichkeit als Signalgeber für ein heutiges bzw. künftiges europäisches Bewusstsein zu überprüfen. Als solche bieten sich die revolutionären Ereignisse von 1989, 1789 und die Epoche des Renaissancehumanismus an.
Das Jahr 1989 hat Europa aus seiner eingeklemmten Lage zwischen den Supermächten befreit. Die bisherige Spaltung zwischen Ost und West ist nunmehr ein Problem innerhalb Europas. Sie bedeutet nicht nur fortbestehende demokratische und ökonomische Ungleichheiten, sondern macht Europa in neuer Weise zum Austragungsort kultureller Konflikte. Die erforderliche Selbstdefinition Europas wird sich weniger auf einen fiktiven Schatz gemeinsamen kulturellen Erbes besinnen können, als vielmehr auf Erfahrungen interkultureller Kompetenz, für die europäische Geschichte zwar kein Muster, aber immerhin Ansatzpunkte bietet. Die Chancen einer solchen Selbstdefinition sind gegenwärtig schwer abzusehen.
1789 als europäisches Geschichtszeichen markiert den die Folgezeit beherrschenden Konflikt zwischen liberaler und totalitärer Demokratie. Flankierende philosophische Entwürfe konnten keine politische Durchsetzungskraft entwickeln, weder Kants republikanisches Weltbürgertum noch Herders Idee eines kulturellen Pluralismus kollektiver Individuen, gegründet auf die Idee der Humanität. Europa hat es seither versäumt, für sich zu beantworten, welcher Aufklärung es folgen wolle und welcher Revolution.
Kulturhistorisch gab es Ansätze der Einheit Europas, wenngleich nur für Eliten. Ein Modell ist die ›Gelehrtenrepublik‹ des 17.Jahrhunderts, eine der Wissenschaft verpflichtete internationale Forschergemeinschaft, die über den konfessionellen Auseinandersetzungen und machtpolitischen Konflikten eine intellektuelle Einheit Europas symbolisiert. Sie ist bereits ein Folgephänomen der revolutionären Epoche des Renaissancehumanismus, der in mehrfacher Hinsicht die Grundmuster einer spezifisch europäischen Kultur entworfen hat. Erstmals wird die kulturelle Überlieferung der Antike dem kollektiven Gedächtnis zugeeignet. Das christliche Verständnis der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen wird abgelöst durch die Idee humaner Autonomie, die – indem sie sich selbst als christlich versteht – weitgehende Transformationsprozesse im Christentum auslöste. Religiöse Toleranz konnte nicht nur im Christentum, sondern ebensohr in Judentum, Islam oder heidnischer Antike einen Spiegel der einen Wahrheit erkennen. Gerade im Rückgang zu den eigenen Wurzeln wurde die Anerkennung der Vielfalt kultureller Lebensformen und Denkweisen als eigene europäische Identität entdeckt. Den Fehlschlag dieses Ansatz bildete die Reformation, die als europäische Katastrophe politisch wie kulturell den Kontinent spalten sollte. – Doch der europäische Humanismus hat das Modell einer Interkulturalität umrissen, die gegen eine blosse Multikulturalität über Kriterien der Humanität verfügt. Europäische Identität ist nicht, sie vollzieht sich als kulturelles Übersetzen.
3.
Das Sammelwerk wird durch seine Grundfrage zusammengehalten. Einheit in der Tendenz der Antworten ist nicht angestrebt. Die Perspektivenvielfalt ist beeindruckend; sie verbietet eine abschliessende Resümierung.
Gemeinsam ist den Beiträgen eine nüchterne, unpolemische Grundhaltung, die gleichwohl mancher politischen Rhetorik den Boden entzieht. Analyse der Gegenwart und Spurensuche in der Tradition stellen den Rahmen dar. Die Furcht vor Utopien schließt gelegentliches Aufblitzen moralischer Ansprüche und Argumentationen nicht aus, wie es unvermeidbar ist, wenn die Produktivität von Differenzerfahrungen, Konflikten und Selbstinfragestellungen als Konstituens europäischer Identität begriffen wird.
Natürlich wird jeder Leser nach seiner Neigung eine Liste der Desiderata aufmachen können. Beispielsweise seien zum Schluss genannt: In welcher Weise wird das neue Aufleben von Nationalismen zum Problem für Politik und Kultur? – Unterschätzen die Autoren nicht die Realität einer möglicherweise langfristigen Spaltung in ein ökonomisches und ein kulturelles Europa? – Ist nicht die Ungleichzeitigkeit und eine gewisse Antithetik von Politik und Kultur eine der grossen Triebkräfte unserer Geschichte gewesen?- Was ist die Rolle der Kultur und der Intellektuellen im gegenwärtigen und künftigen Europa?- Und schließlich: wer sucht die ›Seele‹? Ist das vielleicht ein Intellektuellenprojekt?
Hans P. Lichtenberger