Um es vorwegzunehmen: Mit dem halben Weg soll nicht etwa eine Halbheit gemeint sein. Halbheit, die eine Schwäche der Qualität von etwas zu bezeichnen hat (weil ja Dinge aus der Not oder Unachtsamkeit heraus unvollendet gelassen werden), soll hier also nicht zu unserem Gegenstand gemacht werden, obwohl auf diesem tatsächlich solche Halbheiten auftauchen müssen und nicht etwa eine Seltenheit sind. Der Weg, um den es uns hier geht, ist einer von kultureller Relevanz oder besser: ein Weg, den ein Kultursuchender gehen will oder einschlagen muss, wenn er sein Ziel verfolgen und Erfolg darin haben will. Denn nach unserer Erfahrung wird der Weg des Erschließens der fremden Kultur späterhin immer mehr oder minder ein individueller bleiben. Was den halben Weg für mich interessant erscheinen lässt, ist die Tatsache, dass man nach diesem Aneignungsprozess weder zum einen noch zum anderen zu gehören scheint und dass das, was man dabei gelernt hat, oft sonderbare Blüten treibt, die gar nicht in der Absicht dessen lagen, der die Reise unternommen hat. Ich würde diese ›Blüten‹ allerdings nicht nur als ein Nebenprodukt bezeichnen wollen; viel eher schon als die Hauptsache des Ergebnisses selbst. Auch darf ich daran erinnern, dass dieser Weg naturgemäß ein schwerer ist, weil auf ihm viele Widerstände und manchmal subjektiv unlösbar scheinende Hindernisse zu überwinden sind, und dass denjenigen, die ihn zuerst gegangen sind, ohne Zweifel eine Art stille Pionierleistung gelungen ist; schon allein, weil sie damals noch nicht über die Mittel verfügten, die uns heute schon in erhöhtem Maß zur Verfügung stehen. Leichter ist seither zweifellos einiges daran geworden.
Inzwischen haben sich sehr viele hier bereits ins Ausland begeben, um dort einige Jahre zu Studienzwecken zu verbringen, und ich habe es immer wieder an den Rückkehrern (oder solchen, die mittlerweile auch zu den Ferien nach Hause kommen) beobachten können: Absolventen von ausländischen Schulen gewordene Taiwaner kommen mehr oder weniger ›verwestlicht‹ zurück nach Hause und unterscheiden sich anfänglich fühlbar in ihrem Gehabe von denen, die ständig im Land leben. Trifft man sie allerdings nach einigen Wochen unvorbereitet nochmals, so haben sie bereits ihr früheres Aussehen wieder angenommen und sprechen auch in der altgewohnten Weise, so als wären sie gar nie außer Landes gegangen. So erging es mir mit der Tochter meiner Nachbarin, die in Kanada studierte und die ich, nachdem ich ihr einmal etliche Wochen hindurch nicht begegnet war, das zweite Mal nur mehr mit Mühe erkannte, was aber nicht etwa auf einen Zufall zurückzuführen gewesen wäre, sondern an ihrer allgemeinen Erscheinungsweise lag. Ähnlich erging es mir mit einer ehemaligen Schülerin, die mich, nachdem ich sie sehr lange aus meinem Gesichtskreis verloren hatte, auf dem Frankfurter Flughafen ansprach. Sie hatte zehn Jahre in Deutschland verbracht und dort ein Doktorat in Wirtschaftswissenschaften gemacht. Jetzt fuhr sie nach Hause. Bei dieser Gelegenheit konnte ich feststellen, dass sie sich seit der Zeit, da sie bei mir im Unterricht war, doch merklich verändert und Gesichtszüge, aber besonders ihre Art des Ausdrucks, die ich früher allesamt als angeborene angesehen hätte, mittlerweile durch europäische, offensichtlich in Westfalen übliche, wo sie ja studierte, ausgetauscht hatte. Jedoch kam es mir so vor, dass es sich dabei nicht nur um einen ›Ersatz‹ handeln konnte, sondern ihr Zustand war offensichtlich der nach einer kulturellen Amalgamierung, wobei ich oft nicht mehr zu bestimmen imstande war, ob es sich bei ihr bereits um eine ›deutsche‹ oder noch um ihre ursprüngliche Art handelte, so klein waren die differenzschaffenden Elemente geworden.
Wenn man mit überseeischen Besuchern oder Rückkehrern spricht, die schon auf die eigene Jugend mit dem Abstand der Jahre zurückblicken, d. h. die ihr bereits entfremdet gegenüberstehen, so kann man mitunter erleben, dass sie sich dabei schon so etwas wie einen Mythos ihres frühen Werdegangs ausgebildet haben. Denn so geht es mit allen intensiv erlebten Jahren und Geschehnissen, dass sie in unserer Erinnerung eine andere Gestalt annehmen. Und da wir uns schon auf einer Insel befinden: Wie zwei fern gegenüberliegende Ufer stehen im Gedächtnis der Leute diese grundlegenden Positionen stellvertretend für jedes Beginnen – der Ort, an dem einer sich seit je befindet und das – oft wahnwitzige, weil so ausgefallen erscheinende – Ziel, das ihm vor Augen schwebt. Diese tatsächlich oft nicht anders als ›nebelige Ufer‹ zu bezeichnenden Standorte, oft einer ganzen Lebensreise, sind also durch ihren vagen Charakter oder auch durch eine künstlich in der persönlichen Sprache erreichte Bestimmtheit des noch weithin Unbekannten charakterisiert. Für Leute, die außer einigen Reproduktionen von Fotos in Büchern oder Zeitungen nichts von der ›Welt draußen‹ gesehen, sondern bestenfalls gehört hatten, mussten selbst die natürlichen Formen ihrer Insel zur Sichtbarmachung ihrer Wünsche herhalten. Wenn wir jung sind oder Zeit haben, gehen wir an den Meeresstrand und schauen stundenlang sehnsüchtig über die weite Oberfläche des Wassers. Da drängt sich selbstverständlich die Frage auf, was sich auf der anderen Seite dieses Wassers befindet. Es braucht gar kein realistischer Ort zu sein, um unsere Phantasie anzuspornen. Auf der anderen Seite erwartet man wohl all jenes zu finden, wonach einen jetzt verlangt, weil man aus seinem kleinen genügsamen und doch ungenügenden Kosmos heraus möchte. So entfernt er auch heute erscheinen mag, aber dieser Mythos vom überseeischen Ufer imponiert uns allen und ist selbstverständlich eine treibende Kraft in unserem Bemühen.
Es existiert da durchaus die Chance der phantasievollen Einbildung: man lebt in der Phantasie ja schon lange auf ein (bereits) gefasstes oder erklärtes Ziel hin, bevor man überhaupt noch an das eigentlich Trennende, jenes Wasser, ja den Ozean (dieses Wort erst drückt den Sachverhalt richtig aus), die dazwischenliegenden Länder gelangt. An der Basis, so können wir sagen, entsteht ein Bruch mit dem, was uns von Anfang an oder eben bis dahin umgeben hat.
Die früh aus dem Land Gegangenen sind tatsächlich oft ohne die Gewissheit geschieden, wieder einmal nach Hause zurückkehren zu können, da sie sich über die zukünftige Entwicklung der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in ihrem Heimatstaat sowie über ihr eigenes soziales Fortkommen im Ausland überhaupt keine genauen Vorstellungen zu machen imstande waren, die es ihnen erlaubt hätten, Voraussagen auf die Zukunft zu treffen.
Wer im Ausland studiert, lehnt selbstverständlich die Kultur, die er dort antrifft, nicht ab, muss man ja doch den Inhalt des Studiums bereits als einen Teil dieser Kultur verstehen. Man muss aber bedenken, dass seine Sicht auf diesen unermesslich scheinenden Komplex verengt ist durch eine augenblickliche Konzentration auf sein Hauptziel, das naturgemäß ein praktisches ist. Man ist kaum je ohne ein solches, besonders, wenn man zum Studium im Ausland leben kann und wenn erwartet wird, dass man nach angemessener Frist mit einem Diplom erscheint, das den Ruf der ganzen Familie verschönt. Es ist außer diesem nur praktischen Erwägungen dienenden Zweck meist auch kein größeres, umfassendes ad-hoc-Bildungskonzept zur Hand, das ins Bewusstsein des Diplomanwärters dringen würde; nur eine Teildisziplin der Kultur ist für die Betreffenden interessant. Man kommt kaum dazu, die Weite der fremden Kultur auch nur andeutungsweise zu erfassen. Doch besonders verzerrt erscheint mir die Situation am Beginn, da man sich nur an einzelne, allerdings sprechende, Bilder klammert. Jedoch Landschaftswert, Architektur, Essen, Feste, Freizeitkultur und vieles andere scheinen überhaupt nicht im Katalog der so einseitig Bildungssuchenden auf. Jahrelang, nachdem sie schon an einem Ort gelebt haben, sind viele dieser Universitätsdiplomanwärter – die nicht etwa von ihrer Vorstellungskraft her als beschränkt bezeichnet werden dürfen – kaum über die Grenzen der Stadt hinaus- oder in der Stadt selbst herumgekommen.
Die Annahme der fremden Kultur bei den Personen
der früheren ins Ausland gehenden Generationen war überhaupt
motiviert von dem Bestreben, dort überleben zu können. Daher wurde
kulturell relevantes Handeln offensichtlich innerhalb jener
praktischen Bereiche angenommen, die ein solches Überleben
gewährleisten konnten: Sprache, Ausbildung, äußere Erscheinung. Man
suchte (und man wird das auch heute noch so tun) sich ferner einen
›kleinsten gemeinsamen Nenner‹ unter verschiedenen Angeboten, wie
zum Beispiel unter den Materialien und Früchten, die einen höheren
Vertrautheitsgrad verraten oder verträglich erscheinen, kommt man
ja doch in Länder, die jedenfalls, was das Essen anbetrifft, die
Vielfalt und Qualität der Speisen nicht kennen, die man von zu
Hause gewohnt ist.
Heute haben wir realistisch zu nennende Hilfen, Ratgeber, sozial
organisierte Helfer und ganze Systeme, die uns bei der Bewältigung
eines Studienaufenthalts an die Hand gehen können, wenn wir nur
verstehen, sie richtig zu nützen. Andererseits sind es unsere
eigenen und von Haus aus mitgebrachten Fähigkeiten – und zum Ende
nichts als diese –, welche uns im späteren Verlauf des Aufenthalts
im Ausland
weiterbringen.
Als Beispiel einer gelungenen Synthese von Fachausbildung und Lebenskultur erlangte Robert Scholz (1902-1986) für Taiwan einen hervorragenden Platz. Er war tatsächlich das, was man eine realistische Hilfe ›vor Ort‹ nennen darf, besonders was den kulturellen Teilbereich der Musik anbetrifft. Durch sein Können als Pianist und Komponist, durch seinen täglich gelebten Humanismus, durch seine überall erkennbare Disposition zum Philosophischen und nicht zuletzt durch seine menschliche Integrität war es ihm möglich, zu jenem Zeitpunkt, als er hier ankam, ein Maximum aus seinen Schülern, die er in musikalischen Fächern unterrichtete, herauszuholen. Er verstand sich – das ist aufschlussreich – als Alt-Österreicher, als welcher er diese Qualität des Andersseins in ›größerer Reinheit‹ vertreten konnte als jemand, der heutzutage von dort kommt. Alt-Österreicher meint hier in dem von ihm gebrauchten Sinn, dass er vor dem Zweiten Weltkrieg in Österreich lebte: in einer Zeit also, die noch eine verhältnismäßig starke Kontinuität der alten Zeit – der Jahrhundertwende und der Epoche davor, die wir heute allesamt als ›groß‹ oder ›glänzend‹ zu bezeichnen uns angewöhnt haben – aufzuweisen hatte, was ihn, der trotz Emigration sich von dieser Welt keineswegs entfremdet hatte, befähigte, diese spätbürgerliche Kultur, selbstverständlich in Grenzen, vozurleben. Es war mit seiner Bestallung sogar eine von beiden Seiten gehegte Hoffnung verbunden – er war immerhin von der namhaften amerikanischen Fulbright-Stiftung hierher geschickt worden – dass er den Musikinteressierten dabei helfe, ihr Können bereits zu Hause so zu verbessern, dass sie ohne zu große Bedenken auftreten könnten. Wobei er auf zweifellos gutes Schülermaterial stieß, das seine Ideen rasch aufgriff und verbreitete. Kaum ein Musiker, der heute zwischen 40 und 70 ist und der auch den Ruf besitzt, in der Musik hier etwas zustandegebracht zu haben, der nicht irgendwann einmal bei ihm studiert hätte. Bei den Interessen solcher Schüler handelte es sich freilich oft auch um etwa im Elternhaus geförderte. Reichtum oder wenigstens eine gewisse Wohlhabenheit – wenngleich das auch nicht als unabdingbar angesehen werden muss – waren im allgemeinen schon erforderlich, und man setzte die eigenen Mittel umso lieber ein, sobald feststand, dass die Schulen im Inland nicht genügend förderlich für einen waren. Wobei sich ein solches selbstverständlich nicht allein auf Musik oder Bildende Kunst bezog, sondern auf sämtliche Lebensbereiche, für welche je universitäre Fachausbildungen angeboten wurden. Es kann nur als ein interessantes Detail am Rande gelten, wenn nach dem Zeugnis mancher meiner Bekannten Klavier und andere Musikinstrumente, die ja traditionell in ihrer Gesellschaft ein hohes Prestige genießen, auch in der Befriedung der Bevölkerung ihre Funktion fanden, da sie das vitale Interesse, etwas Größeres zu leisten als der Durchschnittsbürger, auf das Gebiet der Kunst leiteten. Zum Vergleich: Es finden heute viel mehr Leute den Weg in die Politik. Zuvor, als sie diese Wahl noch nicht treffen konnten, schrieben sie beispielsweise wuchtige Familienromane. Aber auch das universitäre Wissen, so noch beschränkt durch den allgemeinen Zugang zu wertvollen Bibliotheken, genießt einen ähnlichen Ruf. Nur dazu kommt noch bei solchen Fächern ihre vordergründig praktische Eignung: Der Staat braucht schließlich Universitätsabgänger mit höherwertigem Wissen. Um es nur zu erwähnen, weil es an dieser Stelle aufschlussreich ist: Bei Universitätslehraufträgen wurde in den letzten zwanzig Jahren ein Auslandsstudium mit abschließendem Doktorat allgemein unumgänglich. Ich kenne Leute, die, mitten in ihrer Lehrtätigkeit begriffen, ein Doktoratsstudium im Ausland in Angriff nehmen mussten, als der Druck auf sie, eines vorzuweisen, zu groß wurde.
Hin und wieder erhebt sich das Problem des Feststellens von Unterschieden dessen, was der eine oder andere (eigentlich meine Beobachtungsobjekte) in der Kultur ›gelernt‹ habe oder noch viel komplizierter: bis zu welchem Grad sich die gegenwärtige kulturelle Situation fortbewegt habe. Die Faktoren und Anzeichen, auf die ich mich dabei stütze, sind von einer, ich muss sagen, mir seltsam erscheinenden Dynamik beherrscht, und mein Urteil war darin lange ›frei-schwebend‹, ja unsicher. Denn wir sind bereits in eine Mischung von Kulturen hineingeboren und werden auf eine solche nicht von selbst aufmerksam, sondern müssen sozusagen erst durch spezielle Fälle darauf gestoßen werden. Um das ein bisschen zu verdeutlichen: Der ehemalige Direktor eines großen Museums bemerkte mir gegenüber einige Zeit nach meiner Ankunft, dass Taiwan ja ›schon stark europäisiert‹ sei, was für mich damals nicht so recht nachvollziehbar war, denn ich persönlich hatte den untrüglichen Eindruck gewonnen gehabt, sehr rasch nach meiner Ankunft einen Kulturschock erlebt zu haben. Er begann mit dem plötzlichen Orientierungsverlust in der Stadt Tainan mit ihren damals noch vielen engen und winkeligen Gässchen, und er fand später seine Fortsetzung in einer mir albtraumhaft in Erinnerung gebliebenen Unfähigkeit, mich mit den Leuten zu verständigen, bis hin zu paranoischen Gefühlen. Heute glaube ich zu wissen, dass das Fehlen von geeigneten Daten sowie meine eigene Befangenheit in der Sache mich daran hinderten, zu sehen, was es vor Ort bereits an ›Europäisiertem‹ gab. Ich hatte das ›unberührte‹ Taiwan, jenes schon vergangene, (das wiederum eine Konstruktion der Phantasie ist) nicht gekannt und hatte obendrein vergessen, dass ich seit meiner Kindheit unbewusst neben dem Exotischen, das mich seit je angezogen hatte, die Gemeinsamkeiten gesehen hatte, die mir eine Vorstellung vom Unbekannten erst richtig ermöglichten.
Solche Erfahrungen weckten in mir lange schon den Gedanken, dass wir nur ein ziemlich fragmentarisches Bewusstsein von kulturellen Dingen und den wahren Verhältnissen darin besitzen und dass wir es meistens damit bewenden lassen. Wir finden uns aber trotzdem zurecht, indem wir für gewöhnlich das Nächstliegende und Nächstbeste aussuchen, um uns darin einzurichten. Wir kümmern uns erst um Anderes und Neues, wenn das Bedürfnis dafür genügend vordringlich ist.
Ferner nehmen wir viele Inhalte unbewusst an,
lange bevor wir uns darüber Rechenschaft ablegen, wie wir das
eigentlich bewerkstelligen. So erinnere ich mich, dass zu einer
Zeit, in der ich noch kaum ein paar Sätze hintereinander richtig
auf Chinesisch herauszubringen imstande war, mir Schüler zu meiner
Überraschung zu verstehen gaben (ohne mir dabei schmeicheln zu
wollen), es sei das, was ich ›gerade‹ von mir gegeben hätte, wie
von einem Chinesen Gesagtes gewesen, eben nur auf Deutsch. (Ich
hatte zwei Studentinnen, die bei einer Theaterprobe überfordert und
in einen Weinkrampf ausgebrochen waren, zu beruhigen versucht.)
Solche Fähigkeiten kamen fallweise durch die Interaktionsweise
zustande, da ich oft in stundenlanger Arbeit den Darstellern die
Situation auf der Bühne erklären musste.
Da sich bei längeren Aufenthalten an einem Ort unsere Sichtweisen
auf das Land allmählich ändern, wir also eines Tages bemerken, dass
wir uns – so wir uns noch genau erinnern können – von unseren
früheren Bildern und Urteilen entfremdet haben, nehme ich an, dass
bestimmte kulturelle Phänomene nur auf Impulse unserer Phantasie
und unseres momentanen Interesses ansprechen, wir also, je weiter
wir in der Zeit fortschreiten, eine nur für die Eingeweihten
sichtbare, jedoch für die ›Fremden‹ verborgene Kultur besitzen.
Denn wer kennt die Leute
tatsächlich?
Wenn jemand nicht in seiner frühen Kindheit, sondern in späteren Jahren eine Kultur nach und nach ›erlernt‹, so entsteht bei ihm/ihr – und das kommt auf die Bezugsperson(en) und nähere Umgebung an – so etwas wie eine ›Zweitkultur‹. Die ältere, angestammte, verschwindet nicht, sondern bleibt je nach Situation im Leben latent, schweigend oder tritt hervor und verursacht Interferenzerscheinungen. Da ist, zum Beispiel, eine ehemalige Schülerin, die seit etwa zwanzig Jahren in Österreich und Deutschland lebt, dort verheiratet ist, Kinder hat, berufstätig ist, was schließlich zu einer gründlichen Praxis der dort üblichen Lebensformen geführt hat. Da sie Musik studiert hat und Orgel spielt, hat sie sich mit Hilfe der kirchlichen Gebräuche der protestantischen Kirche, in denen sie die Gottesdienste begleitet, eine tiefergehende ›Zweitkultur‹ geschaffen, die durch die Aktivität, in welche sie die Kinder durch Kindergarten- und Schulbesuche zwingen, ergänzt wird. Ihre fachliche Eignung ist sicher perfekt zu nennen, kann man doch immer wieder erleben, dass eine große Anzahl von taiwanesischen Landsleuten eine ausgesprochene Stärke auf dem Gebiet der Instrumentalmusik besitzt, und wenn auch der hier übliche Charakter des getragenen Orgelspiels von dem in Deutschland ziemlich verschieden ist, so besteht ja doch die Fähigkeit der individuellen Angleichung an den Standard der Ausführung, wie er in Deutschland gilt – so wie jemand akzentfrei sprechen lernt, was nun viel häufiger ist als früher. Die Zeiten, in denen nur die Wiener richtig Beethoven und Mozart, nur die Franzosen und Polen richtig Chopin und nur die Russen den richtigen Skriabin oder Prokofieff spielen zu können glaubten, sind mit Vorurteilen belastet und gehören wohl der Vergangenheit an. In einem Fernseh-Interview hörte ich Chrystian Zimmerman einmal sagen, dass es wohl ein Unternehmen von Vorteil wäre, wenn ein Pianist, der Chopin in seinem Repertoire hat, die Eigenart der masurischen Seenlandschaft unter Augenschein nehmen würde. Das ist natürlich vom Polnischen her gedacht, das bekanntlich sehr viele Charakterzüge in der Musik Chopins auf Polen sowie dessen Eigenart zurückführt. Aber selbstverständlich gibt es genügend Pianisten, die Chopinsche Mazurken spielen, ohne je Polen besucht zu haben. Vielleicht ist es auch schon um der Aussage der musikalischen Form willen zulässig, dass man hier völlige Freiheit von der Landschaft und dem Hintergrund der Entstehung der Kunstwerke lässt; von einem ganzheitlichen Standpunkt des Kulturerlebens gesehen würde ich persönlich Zimmermans Ansicht beipflichen. Aber doch entziehen sich gerade künstlerische Belange oft einer lokalen Festlegung. Deutlicher: Es gab Zeiten, da hat man es Studenten aus Asien nicht ohne weiteres zugestanden, dass sie auch etwas könnten, was über das gefällige Repetieren des vom Professor Vorgetragenen und vom Schüler hernach mit Fleiß Geübten hinausginge. Nur zum Kontrast: Meine Frau, die hier in Taiwan geboren ist und bereits als Kind von ihrem Vater in musikalischer Formenlehre und Kontrapunkt trainiert worden ist, hat als junge Studentin in Wien etliche Fehler entdeckt, die durch Unachtsamkeit in revidierten Urtext-Ausgaben immer wieder fortgedruckt worden waren. Der Professor war glücklich und gleichzeitig entsetzt darüber und teilte diesen Fund (es wurden dann mehrere) seinen Kollegen mit. Die Sache sprach sich herum, und selbstverständlich fand sich ein Wiener Zweifler, der es sich nicht nehmen ließ, die Studentin zu ›prüfen‹, indem er ihr eine fehlerhafte Stelle aus einer seriellen Komposition von Ernst Krenek gab. Und auch das konnte sie. Das etwas triviale Misstrauen dieses älteren Kollegen erfolgte selbstverständlich aus ›kulturellem Neidempfinden‹ heraus, indem man sich – ähnlich dem Fußballspiel – den ›Heimvorteil‹ (Standort-Vorteil des Spielplatzes) ausbedungen hatte. Eine Borniertheit, die bereits ein Anachronismus ist. Ich wüsste dazu allerdings ein kurioses Gegenstück hier: Anders als in Italien, Frankreich oder England weigern sich hier nicht wenige Leute, mit Ausländern, die erst zu sprechen beginnen und dabei natürlich über die Maßen Fehler machen, das Chinesische zu sprechen – sei es aus Höflichkeit oder aus Besorgnis über den holprigen Gang der Konversation. Doch habe ich mich in der Vergangenheit nicht selten in der absurden Situation wiedergefunden, in der ein Hiesiger an mir sein Englisch praktiziert hat und ich mein Mandarin-Chinesisch radegebrochen habe.
Es gibt hier allerdings Menschen – und vornehmlich handelt es sich dabei um Frauen – die auf Äußerungen von Ausländern so reagieren, dass sie alle auftretenden ›Fehlstellen‹ ergänzen, welche jene durch mangelnde Vertrautheit mit der Fremdsprache offen lassen, wodurch oft das mühevoll Gesagte oder Gemeinte inkohärent und missverständlich wirkt und deshalb rasch korrigiert oder vervollständigt werden muss. Durch intuitiv gewonnene Erfahrung bauen sie eine Art Netzwerk auf, durch das sie in den Stand gesetzt sind, aus den erhaltenen Fragmenten sofort ›ganze Bilder‹ zu schaffen. Eine ungemein wichtige und wertvoll zu nennende Funktion, die den Verkehr im täglichen Umgang mit der fremden Seite erleichtert. Die Person errät und schließt aus einer Reihe von Beobachtungen und Äußerungen, die durchaus nicht rein sprachlicher Natur sein müssen, sondern aus der Interaktion gewonnen werden, was ich eigentlich ›will‹. Wobei ein großes Augenmerk auf die Bereinigung von Missverständnissen gelegt werden muss, da es oft um rasches Reagieren geht, das den Lauf der Sprechhandlung beeinflusst.
Das Fremdsprachen-Erlernen ist von praktischen Notwendigkeiten bestimmt: die Fähigkeit, irgendeinem Text, einer sprachlichen Äußerung einen erkennbaren und verbindlichen Sinn zuschreiben zu können. Man muss also damit ›etwas anfangen‹ können. Meist reicht allerdings die Zeit nicht, eine zweite Fremdsprache so umfassend und ausführlich zu erlernen, dass man sich über ganz spezielle Aufgaben und Themen unterhalten könnte. Es wird ein eher ›ungefähres‹ Bild vom anderen erstellt oder angestrebt, das zwar nicht widerspruchsfrei ist, das aber Interpolation und Korrektur leicht verträgt.
Der kulturelle Fundus, der mit dem Erlernen einer Fremdsprache (gleichzeitig) importiert wird, steht in einem vielfältigen Verhältnis zu dem, was ein erst im Lernen begriffener Sprecher in der aktiven Beherrschung leistet: seine Performanz.
Unter den Lehrern von Fremdsprachen hat man von allem Anfang an gern solche genommen, die bereits aus dem betreffenden Land stammen, dessen Sprache man erlernen wollte. Das scheint eine logische Verfahrensweise zu sein, denn man ›importiert‹ sozusagen das integrale System der Grammatik samt Konnotationen, welche man im Unterricht nach Belieben abruft. Durch den Nachahmungstrieb (nämlich den Drang, es seinem Lehrer gleichzumachen) und andere praktische Erwägungen kommen mehr und mehr nicht-native speaker in dieses System, die selbstverständlich durch Prüfungen und Diplome im Ausland den Beweis erbracht haben, dass sie nicht nur das Fach an der Universität anstandslos gemeistert haben, sondern auch die Sprache vollkommen beherrschen, so dass man bei ihrer Rückkunft keinerlei Schwierigkeit und Bedenken sieht, ihnen Lehrstellen anzuvertrauen. Es wäre auch ein wirtschaftliches und gar politisches Unding, ihnen solche zu verweigern, denn erstens sind sie Bürger des Staates, in dem Stellen vergeben werden und zweitens sind sie native speaker der anderen Seite, die in der vor Ort herrschenden Kultur unumschränkte Geltung hat. Ohne Mühe erklären sie ihren Schülern einen Ausdruck oder einen ganzen Text in der Muttersprache, wogegen der Ausländer schon eminente Schwierigkeiten bei einer einfachen Übersetzung des Textes hat.
Das Theaterspiel als komplizierte Spielart des kulturellen Erlernens ist seit jeher in seiner didaktischen Bedeutung erkannt worden, und ich habe erlebt, dass Studenten wahre ›Wunderwerke‹ aufzuführen imstande waren.
Die Literatur, welche die Leute lesen. Lauter Schulliteratur, daher wurde lange außerhalb des regulären Schulbetriebs nicht gelesen. Es entsteht jetzt ein größeres privates Leseinteresse, das nebenbei auch den westlichen Komfort des (angenehmen) Lesens unterstreicht. Das universitär geleitete Lesen von Belletristik jedoch geht gegenwärtig zurück, obwohl das Niveau des Unterrichts durchaus steigt, da die Hörer bisweilen einen Auslandsaufenthalt hinter sich haben und deshalb eine höhere Fähigkeit zur Aufnahme fremdsprachiger literarischer Texte besitzen.
Weihnachten, repräsentativ für ein international erfassbares Fest, wird im Ausland vom Standpunkt eines Bewohners alpenländischer Regionen und deutscher Mittelgebirgslandschaften ohne die dort übliche Wärme und Sentimentalität gefeiert. Ich nehme meine ersten Weihnachten in Tunghai (einer christlichen Universität in Mitteltaiwan) zum Beispiel, die wir mit Studentinnen meiner Frau verbrachten. Sie kochten Teigtaschen, erzählten Dinge, die ich zumeist nicht verstand, die sich aber offenbar auf das Leben der Studenten und auf allgemeine sowie persönliche Dinge bezogen. Wir aßen ein wenig von dem weihnachtlichen Lebkuchen, den mir meine Mutter geschickt hatte – die einzige weihnachtliche Speise! –, der aber nicht viel Anklang bei ihnen fand, da der darin verwendete Ingwer hier nicht für Süßspeisen und Kuchen, sondern in Fleisch- und Gemüse- oder Fischspeisen seine Verwendung findet, also deplaciert wirkte. Die nächsten Weihnachten feierte ich erst zwei Jahre darauf in Taipei, das durch sein kühleres Klima und die verhältnismäßig vielen ausländischen Bewohner eher dazu verleitete als eine südlich gelegene Stadt. Einige Jahre später, in Tainan, gelang es uns in der Familie, die dafür keinerlei Vorbild hatte, ein einmalig schönes Weihnachtsfest – mit Baum! – zustandezubringen. In den neunziger Jahren wurde aus dem früher vornehmlich den westlichen Bewohnern reservierten, eher stillen Fest in weiten Teilen der Städte ein richtiger Rummelabend, an dem man auf die hell erleuchteten Straßen oder in die Warenhäuser ging, ein teures Restaurant aufsuchte oder mit dem Motorrad durch die Gegend fuhr. An ›Weihnachten‹ erinnert so etwas kaum mehr, aber für eine kurze Zeit entsprach es den vitalen Kräften der aufstrebenden Bevölkerung, die darin so etwas wie ein ›Ventil‹ gefunden hatte. Dennoch muss ich feststellen, dass der Anblick der neuen Weihnachtsbäume und des industriell erzeugten Baumschmucks, wenngleich nicht immer frei von Kitsch, ein recht angenehmer ist, und es ist mir schon untergekommen, dass Leute, die ein künstlerisches Interesse besitzen, dieses zu neuen Schmuck-Designs nützen, indem sie jahreszeitlich (wenn auch nicht inhaltlich) koinzidierende Themen mit Hilfe traditioneller Weihnachtsbäume gestalten.
So, wie Lebensformen heutzutage aus dem Bereich des Überseeischen – oft aus rein praktischer Überlegung heraus – übernommen werden, so, wie man Standardisierungen, die ganz woanders üblich sind, implementiert (Globalisierung), so kommen auch mannigfaltige Ideen zur Rückbesinnung auf das Land selbst von außen: etwa der Umweltschutz. Es hat lange gedauert und – nebst einer großen Zahl von Krebstoten (nachweislich die häufigste Todesursache) – eines intensiven internationalen Ideenaustauschs bedurft, bis die Bedrohung durch die von der Industrie und falscher Umweltbehandlung verursachten Schäden in das Bewusstsein der Allgemeinheit gedrungen ist.
Was immer die Wirkung des halben Weges auch sein mag: Das heutige Verhältnis zur eigenen wie zur fremden Kultur kann man mit dem (schon anderswo gebrauchten) sprachlichen Bild des ›kulturellen Selbstbedienungsladens‹ umreißen. Der Supermarkt als Ikone des sogenannten modernen kulturellen Verhaltens, das in den Großstädten die Multikulturalität großzüchtet und der billigen Wahl aus dem überwältigenden Angebots an scheinbar ›Gleichwertigem‹, leicht Austauschbarem unterwirft. Das Fehlen einer inneren Einstellung allerdings lässt diese Errungenschaft fragwürdig erscheinen, da ja am Ende eines solchen Umformungsprozesses einmal keine Notwendigkeit mehr bestehen könnte, sich (selbst das eigene) Brauchtum und Sitte lernend anzueignen und auch danach zu handeln. Was dann eintritt, übersteigt meine gegenwärtige Vorstellungskraft. Bis jetzt konnte ich hier immer noch den Vollzug dieses kulturellen Erbes beobachten, seltsamerweise am ausgeprägtesten anhand der Riten der Tempelfeste und Begräbnisse. Jedoch werden auch diese heute von nicht wenigen als überflüssig, beziehungslos und unzeitgemäß angesehen.