Nicholas Rescher
Der amphibische Mensch

Die Menschheit lebt in der Welt der Erfahrung und in der Welt der Vorstellung. Das eine Mal werden unsere Gedanken und Anstrengungen auf dasjenige gerichtet, was ist – die wirkliche Welt, die den Gegenstand unserer wissenschaftlichen Untersuchungen bildet. Dann wieder adressieren wir dasjenige, was nicht ist – die imaginären Gegenstände unserer Phantasien und Spekulationen, unserer Vermutungen und Vorstellungen. Wir sind also Bürger zweier Welten: der wirklichen Welt unserer realitäts-interaktiven Erfahrung und der Gedankenwelt unserer realitätsaufhebenden Vorstellung. Fortwährend beschäftigen wir uns sowohl mit der kognitiven Erfassung der Wirklichkeit als auch mit der imaginativen Projektion abstrakter Vermutungen.

Doch warum sollten wir uns überhaupt mit irrealen Möglichkeiten befassen? Aus vielerlei Gründen. Fiktionen können unterhaltsam und instruktiv sein, darüber hinaus auch nützlich, weil sie uns ermöglichen, auf spekulativen Wegen in Regionen vorzudringen, in denen die Realität nicht herrscht. Auf der negativen Seite können Fiktionen zur Folge haben, dass wir Täuschungen erliegen, auf der positiven Seite jedoch gestatten sie uns, zu planen und Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Und sie versetzen uns in die Lage, unser Verständnis durch Gedankenexperimente und durch die Erforschung von Hypothesen zu erweitern.

Fast jeder Schritt in der Geschichte menschlicher Innovationen und Erfindungen ist dadurch zu Stande gekommen, dass jemand imaginäre Möglichkeiten in Betracht zog, indem er spekulierte über das, was passieren würde, und reflektierte über noch nicht realisierte und vielleicht nicht realisierbare Ereignisse. Das alternative Erwägen und Planen, das hypothesen- und annahmengeleitete Denken überhaupt bietet markante Beispiele für unseren weitreichenden Umgang mit Irrealitäten. Eine rationale Praxis verlangt den unvermeidlichen Rekurs auf bloße Möglichkeiten: Wir versuchen uns vor ihnen zu schützen, sie zu verhindern, sie zu verwirklichen, usw.

Tatsächlich gibt es ein komplexes, jedoch enges Verhältnis zwischen den zwei Reichen der Realität und der Vorstellung. Wir können sie weder effektiv voneinander trennen noch in dem einen Reich erfolgreich leben, ohne in dem anderen engagiert zu sein.

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Die Begriffe und Ideen, die wir benützen, um unsere Ansichten über nicht-realisierte Möglichkeiten zu formen, müssen stets aus der Erfahrung der Wirklichkeit genommen werden. In dieser Hinsicht hatte der klassische Empirismus Recht. Im Hinblick auf das Nicht-Reale müssen wir durchgehend Gebrauch machen von Begriffsmaterial, das der Erfahrung des Realen entstammt. Unsere Erfahrung der Realität – und nur der Realität – ist der Stoff, aus dem allein wir unsere Konzeptionen des rein Möglichen zu formen vermögen.

Auf der anderen Seite ist unsere Sicht der Realität selbst ein Produkt der Betrachtung von Möglichkeiten. Jedes Mal sind phantasievolle Vermutungen der Ausgangspunkt unseres Theoretisierens. Gedankenexperimente stehen am Anfang wirklicher Experimente. Keine Wissenschaft des Realen kann ohne den Gebrauch von Imagination, der sich in ›was wäre, wenn‹-Überlegungen niederschlägt, entwickelt werden. Denn schließlich ist Wissenschaft abstrakt, Erfahrung hingegen immer konkret – erst dieses, dann jenes. Wissenschaft handelt von Allgemeinheiten, Erfahrung nur von Partikularitäten. Alles Allgemeine transzendiert die Grenzen wirklicher Erfahrung. Die Erfahrung liefert Episoden, nicht Theorien. Ohne Exkurse in das realitätstranszendierende Reich der Vorstellungen, Annahmen, Vermutungen o. ä. könnten wir nicht über die Spezifitäten der konkreten Erfahrung hinausgehen. Um ein adäquates Verständnis des Realen zu erreichen, müssen wir es unvermeidlich vor dem größeren Hintergrund des rein Möglichen situieren.

Im allgemeinen also beschäftigt uns – auf der einen Seite – die realistische Modalität, die darauf abzielt, die Dinge im Horizont unserer Erfahrung zu charakterisieren, und – auf der anderen Seite – die imaginative Modalität, die darauf abzielt, unsere Einsicht in das Reich des Möglichen zu vergrößern.

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Damit tritt die Prioritätenfrage in den Vordergrund – und zwar im Zusammenhang mit der Frage, wo die Obergewalt liegt. Das ist letzten Endes eine Sache des Zwecks, soll heißen, der Absichten und Ziele des Unternehmens, das wir im Sinn haben. In wissenschaftlichen Untersuchungen von Weltereignissen und -prozessen ist es die Erfahrung, die den Fahrersitz innehat oder -haben sollte, während im Bereich der intellektuellen und schöpferischen Künste die Vorstellungen und Vermutungen im Vordergrund stehen.

Recht unterschiedliche Prioritätsprinzipien wirken also in diesen zwei Reichen der Realität und der Möglichkeit. Im Reich der Untersuchung herrscht die Vorrangstellung substantiell unveränderlicher Erfahrung, in der unsere Wünsche und Präferenzen keine Rolle spielen. Das Reich der Selbstherstellung hingegen ist auf das Mögliche ausgerichtet und gibt einer Vorstellung freie Herrschaft, die nur durch unsere Wünsche und Begierden begrenzt wird. Die wissenschaftliche Untersuchung der Welt wird durch Erfahrung an die Realität gebunden; die imaginativen Künste tun im Gegenteil alles uns Menschen Mögliche, um diese Fesseln mittels Vorstellung abzustreifen. Die Grundregeln des faktischen und des fiktionalen Diskurses unterscheiden sich deswegen vollständig, sie nehmen unterschiedliche Absichten und Zielsetzungen in den Blick.

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In dieser Hinsicht jedoch findet heutzutage ein enormer und beinahe revolutionärer Wandel statt – eine so fundamentale Veränderung, dass man ohne Übertreibung sagen kann, der homo sapiens stehe heute an einer der großen Gabelungen der Menschheitsgeschichte. Die Crux besteht darin, das Gleichgewicht zwischen Tatsache und Fiktion, zwischen Wirklichkeit und Phantasie, zwischen natürlicher und künstlicher Realität zu halten.

Während des größten Teils ihrer Geschichte war die Menschheit eng mit der natürlichen Realität befasst. In einer früheren, eher landwirtschaftlich orientierten Ära haben die Menschen den Tag von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang damit zugebracht, in der realen Welt mit der Natur zu ringen. Im 19. Jahrhundert konnten die Glücklicheren ab und zu für ein paar Stunden einen Roman lesen. Während des größten Teils des 20. Jahrhunderts haben Menschen nicht mehr als ein paar Stunden damit zugebracht, allerlei zu lesen, fern zu sehen, oder hin und wieder ins Kino zu gehen. Im 21. Jahrhundert jedoch scheint es so zu sein, dass Menschen einen großen Teil ihrer Zeit im Reich der künstlichen Realität verbringen – nicht nur während ihrer Freizeit, sondern auch in ihrem Arbeitsleben. Viele Stunden verbringt ein Flugschüler in einem Flugsimulator. Viele Stunden verbringt ein Fremdsprachen-Lerner im Sprachlabor, um mit Nicht-Personen Konversation zu treiben. Viele tüchtige Architekten realisieren ihre Konstruktionen nicht vor Ort, sondern am Computerbildschirm. Das zeitliche Verhältnis zwischen Kämpfen und Simulieren, zwischen Schlachtfeld und Schlachtsimulator, hat sich drastisch zugunsten des modernen hochtechnisierten Kriegers verschoben. Jugendliche hantieren nicht länger an der Werkbank oder mit dem Chemiekasten, sondern begeben sich mittels Computerspielen auf phantasievolle Abenteuer. Und so weiter.

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So verwischt sich in der gegenwärtigen Ära die Grenze zwischen Realität und Irrealität tendenziell deshalb, weil die Menschen sich so tief ins Künstliche verstricken, dass sie oft nicht mehr in der Lage sind, den Unterschied zu erkennen. Unzählige Strohhalme im Wind zeigen an, dass die Linie zwischen Wirklichkeit und Künstlichkeit, zwischen echter und künstlicher Realität verschwimmt: Das Halteseil zwischen Phantasie und Realität lockert sich zusehends. Schlagzeilen, die kürzlich in der amerikanischen Presse erschienen, illustrieren das vielfältig. Dort finden wir, dass ein gefeierter Biograph sich in das Leben des Protagonisten hineinschreibt (Edmond Morris in seiner Biographie Ronald Reagans). Da gibt es den mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Geschichtsprofessor, der seine Studenten mittels Lebenserfahrungen beeindruckt, die er nie gemacht hat (der angesehene Historiker Joseph L. Ellis vom Mt. Holyoke College). Da gibt es den Zeitungsreporter, der aufschlussreiche Interviews mit nichtexistierenden Menschen publiziert, den Autobiographen, der auf ein Leben Anspruch erhebt, das er nie gelebt hat, den Autor, der sich selber und andere bereden will, einen Text produziert zu haben, den er nie geschrieben hat. Es scheint, dass die traditionell betonte und in Ehren gehaltene Trennlinie zwischen Realität und Irrealität immer weniger beachtet wird.

Selbst in der Wissenschaft – traditionell definiert als rationale Untersuchung der Natur des Realen – kann man das gleiche Phänomen beobachten. In Bezug auf viele wissenschaftliche Leistungen ist es heutzutage schwer zu sagen, ob sie ihre Evidenzbasis in der Beobachtung der Natur haben oder in der Untersuchung der Modelle, die wir von ihr besitzen. Die wissenschaftliche Forschung entfernt sich immer weiter von der Natur. In zunehmendem Maße gilt unser Studium nicht den Naturprozessen, sondern einer Natur aus zweiter Hand, insofern wir das Verhalten künstlicher Modelle untersuchen: Wissenschaft – die Naturwissenschaften eingeschlossen – beschäftigt sich immer weniger mit dem Verhalten der Natur selbst. In diesem Bereich dringt die Künstlichkeit in einem solchen Ausmaß in den Vordergrund, dass der Anspruch der Wissenschaften, empirisch zu verfahren, fraglich geworden ist. Die Phänomene, die den Wissenschaftler interessieren, sind immer weniger solche der realen Natur als vielmehr Artefakte, die der kreativen Phantasie der Wissenschaftler entstammen.

Analog dazu arbeitet der heutige Ingenieur mehr und mehr mit Computersimulationen. Die Prozesse, mit denen er sich beschäftigt, sind keine der Natur, sondern der Designparameter seiner Computermodelle. Ähnliches gilt für diejenigen wissenschaftlichen Anwendungen in der Ökonomie, der Demographie oder der sozialen Theorie, die politische Handreichung versprechen. Sie alle beruhen heutzutage allzu selten auf sorgfältiger Beobachtung der Dinge ›im Feld‹, eingebettet in die Komplexitäten und Vielfältigkeiten der wirklichen menschlichen Praxis. Allzu oft basieren sie auf dem Studium künstlicher Modelle sozialen und ökonomischen Verhaltens und der dazu gehörenden Prozesse.

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Zugegeben – ein Realitätsersatz, der verhindert, dass die Grenzlinie zwischen Wirklichkeit und Künstlichkeit wahrgenommen wird, ist als solcher nichts Neues. Er wurde auch nicht an dem Tage erfunden, an dem Orson Welles im Jahre 1938 seine notorische Krieg der Welten-Radio-Übertragung im Mercury Theater of the Air sendete. Menschen, die Fiktionen als Tatsachen nehmen, waren – wie die Armen – immer schon Mitspieler auf der Weltbühne. Neu hingegen ist die Breite und Tiefe des Phänomens.

Diese Zunahme hat auch eine weltanschauliche Veränderung bewirkt. Wenn der Respekt vor der Realität abnimmt, dann passen sich die Menschen diesem Stand der Dinge an: Sie senken ihre Erwartungen. Viele sind nicht länger schockiert und abgestoßen, wenn sie sehen, wie der Unterschied von Realität und Fiktion der Missachtung anheimfällt. Wie anderswo erzeugt Vertrautheit auch hier Akzeptanz und die Menschen fangen an, Abnormalität als normal zu akzeptieren.

Der Wandel, der dadurch erzeugt wird, ist enorm. Historisch gesehen galten Ehrlichkeit und Wahrheitsliebe – kurz gesagt: Realitätsrespekt – im normalen Alltagsleben immer als etwas Kostbares. Die Person, die kein festes Verständnis der Grenze zwischen Tatsache und Spekulation, zwischen Realität und Irrealität aufzubringen vermochte, wurde entweder als Schurke oder als Kandidat für das Irrenhaus angesehen. Traditionellerweise haben Psychologen die Unfähigkeit, eine klare Trennung zwischen dem Realen und dem Imaginären vorzunehmen und durchzuhalten, als eine Psychose mit Wahnvorstellungen charakterisiert. Die Idee, zwischen dem Realen und dem Irrealen verlaufe nicht eine entscheidend wichtige Grenze, sondern eine Straße, die man nach eigenem Belieben kreuzen könne, wäre bis vor kurzem voller Verachtung abgelehnt worden.

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Ohne Zweifel war der Mensch schon immer eine Amphibie, die sich zwischen den Bereichen der Realität und Fiktion bewegt. Seit seiner Entwicklung zum homo sapiens bildete sich in seiner Lebensweise die Dualität zwischen der Welt der Natur und der künstlichen Welt aus. Aber das Phänomen existiert in unterschiedlichen Graden. Was jetzt im Gang ist, zeigt einen grundlegenden Wandel des Gleichgewichts an, bei dem die Vorstellung gegenüber der Erfahrung mehr und mehr an Gewicht gewinnt.

Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass wir dabei sind, einen großen und sehr problematischen Schritt zu tun, wenn wir uns auf diese mysteriöse Reise begeben, die uns immer tiefer in das Reich der vorstellungsbasierten Künstlichkeit hinein trägt. Offenbar stehen wir, zum Guten oder – was eher wahrscheinlich ist – zum Schlechten, im Begriff, uns von der naturbasierten Erfahrung zu entfernen. Was droht, ist ein Verlust des Realitätsrespekts, der die Gefahr einer Verwandlung des homo sapiens in den homo imaginans in sich birgt.



Vortrag, gehalten an 4. Juli 2002 an der FernUniversität Hagen zur Verleihung des Grades eines Dr. phil. h.c. Für Hilfestellung bei der Übersetzung danke ich Marion Ledwig.