Es gibt das ›eigene‹ Werk sowenig wie die ›reine‹ Sprache. Was
wir an einem poetischen Gebilde ›eigen‹ nennen, ist so eigen und
eigentümlich wie jenes missgestaltete Kind dämonischer Wesen, das
diese im Wochenbett gegen ein neugeborenes Menschenkind
eingetauscht haben: ein Wechselbalg.
Harald Hartung
Lernt Sprachen. Auch die nicht vorhandenen.
Stanislaw J. Lec
Die Rede von ›Zwischen‹-Welten ist einem metaphorischen Konzept
verpflichtet, das die Wirklichkeit als primär räumlich auffasst.
Raum-Metaphern und ihre Derivate dienen unter anderem zur
Beschreibung sprachlicher Wirklichkeiten und sprachbezogener
Erfahrungen. So scheint etwa die Metapher vom ›Haus‹ der Sprache
suggestive Evidenz zu besitzen. Wie wäre die Beziehung des
Sprachbenutzers zu seinem Idiom besser zu charakterisieren als
durch den Vergleich mit einem Behältnis, das Schutzraum, aber
ebensowohl Gefängnis sein kann, das sich den spezifischen
Bedürfnissen des Benutzers anpasst, ihn umgekehrt aber auch dazu
zwingt, seinen Lebensstil den architektonischen Gegebenheiten
anzupassen, das (normalerweise) nicht vom Benutzer errichtet wird
und ihm folglich fremde Regeln aufzwingt, dabei aber doch durchaus
gestaltbar bleibt, so dass es durch seine jeweils besondere
Einrichtung vieles über den verrät, der sich hier eingerichtet hat?
Der eigene Wohnraum schafft – so scheint es – ein Stück Identität,
wenn man denn von ›Identitäten‹ überhaupt noch sprechen möchte, die
Zugehörigkeit zu Wohngemeinschaften nicht minder. Nicht weniger
suggestiv ist die Beschreibung der eigenen Sprache als
heimatliches, die anderer als fremdländischer Territorien.
Zu den – wegen ihrer scheinbaren Selbstverständlichkeit – als solche kaum mehr wahrnehmbaren sprachbezogenen Raum-Metaphern gehört die der Übersetzung. Analog zum lateinischen Äquivalent translatio und seinen neu-europäischen Derivaten suggeriert dieser Ausdruck den räumlichen Wechsel von der einen auf die andere Seite. Der Übersetzer setzt über, er ist ein Fährmann. Sein eigener Raum ist das Dazwischen. Aber es gibt sowohl für den Verfasser des von ihm übersetzten Textes als auch für diejenigen, welche von der Übersetzung profitieren, ein heimatliches Ufer, so suggeriert das Gleichnis vom Über-setzen. Wie evident die Vorstellung, räumlich ›innerhalb‹ einer Sprache zu leben, auch bei manchen Vertretern der modernen Literatur ist, belegt eine Überlegung Helmut Heißenbüttels von 1963. Jeder einzelne Sprecher bewohnt ihm zufolge sein eigenes Apartment im Haus sprachlich geprägter Erfahrungsräume, vielleicht sogar sein eigenes Haus innerhalb einer kleineren oder größeren Siedlung ähnlicher Gebäude, und die verschiedenen Häuser können einander nahe, aber auch weit voneinander entfernt, sie können gut miteinander verbunden oder voneinander separiert sein. »Die Sprache, in der ich lebe, bedeutet die Welt, in der ich lebe. Nur soweit die Welt der einen Sprache der der anderen vergleichbar ist, findet Verständigung statt. Allmählich setzt sich ein Bewusstsein multipler Sprach- und Auffassungswelten durch.« (Helmut Heißenbüttel: Über Literatur, S. 86)
Zu aussagekräftigen Modifikationen der Ausgangsmetapher vom Sprach-Raum kommt es insbesondere in Selbstkommentaren von Autoren, die zweisprachig leben und arbeiten, denn hier gilt es nicht nur Wohnorte zu beschreiben, sondern deren Wechsel oder aber die Lokalisierung differenter sprachlicher Räume zueinander. Der in Frankreich lebende türkische Autor Nedim Güksel schildert seine Erfahrungen als Türke in Frankreich unter pointierter Abwandlung des Bildes von der Sprache als einem bewohnbaren Haus. Er verortet sich nämlich ironisch im »Keller« der Hausgemeinschaft, in der er lebt, und dieser Keller ist das Türkische; er fühlt sich dort bedrängt vom Französischen, fürchtet die Besetzung seines sprachlichen Refugiums. »Eigentlich lebe ich weder in einer Stadt noch in einem Land, sondern in einer Sprache. Das Türkische ist mein Keller, wo ich im Schreiben bin wie der Kern in der Frucht. Ich schreibe also in meiner Muttersprache, und das beruhigt mich. Dennoch bin ich in meinem täglichen Leben durchdrungen von der französischen Sprache, die mich verfolgt. Bisweilen gelingt es ihr, die Mauern meines Kellers einzureißen, und sie löst dann in meinem Schreiben einen nicht umkehrbaren Mechanismus aus, eine Art Riss. Ich verliere die Herrschaft über die Regeln meiner Sprache. Damit will ich sagen, dass die französische Sprache, deren Exilort par excellence, meine Sätze zu strukturieren beginnt, dass sie meine Syntax durcheinanderbringt, während ich weiter auf türkisch schreibe." (Nedim Güksel: Les mots de l'exil/Die Worte des Exils, S. 101)
Das Bedürfnis nach einem abgeschlossenen oder doch
abschliessbaren Wohnraum auch und gerade in der Fremde ist
nachvollziehbar, aber nicht selbstverständlich. Gerade im 20.
Jahrhundert entwickelt sich der Typus eines Schriftstellers, der
gern und oft den Wohnort wechselt, sprachlich also gleichsam aus
dem Koffer lebt, sich womöglich gar mehrere Wohnungen gleichzeitig
leistet, um mobil zu sein. Der Wechsel zwischen den
Nationalsprachen ist nur eine der hier denkbaren Optionen. Eine
andere besteht im Wechsel zwischen den verschiedenen Etagen und
Flügeln eines Hauses, den Stilebenen, Soziolekten, Sondersprachen
und Jargons, die innerhalb einer Nationalsprache angeboten werden.
»Stilübungen«, »Exercises de style« nannte Raymond Queneau seine
einfallsreiche Folge von Variationen über einen recht trivialen
Ausgangstext, der durch seine Transposition in verschiedenste
sprachliche Fassungen demonstriert, wie sich innerhalb eines
sprachlichen Geländes verschiedenste Orte beziehen lassen. Die
theoretische Fundierung solcher Stilübungen liefert etwa die
Sprachästhetik Michail Bachtins, der die innere Vielheit der
einzelnen Sprachen als prägend für die literarische Moderne
begriffen hatte.
»(...) die zentripetalen Kräfte des sprachlichen Lebens, die in der ›Einheitssprache‹ verkörpert sind, wirken im Milieu der faktischen Redevielfalt. Die Sprache ist in jedem gegebenen Moment ihrer Genese nicht nur im genauern Sinne des Wortes (nach formal linguistischen Merkmalen, in der Hauptsache nach phonetischen) in linguistische Dialekte gespalten, sondern, was für uns hier wesentlich ist, in sozioideologische Sprachen: Sprachen von sozialen Gruppen, ›Berufssprachen‹, ›Gattungssprachen‹, Sprachen der Generationen usw. Die Hochsprache selbst erscheint unter diesem Aspekt nur als eine der Sprachen der Redevielfalt und sie ist ihrerseits wiederum in Sprachen (von Gattungen, Richtungen u.a.) aufgesplittert. Und diese faktische Aufspaltung und Vielfalt der Rede ist nicht nur die Statik, sondern auch die Dynamik des sprachlichen Lebens: die Aufspaltung und die Redevielfalt verbreitern und vertiefen sich, solange die Sprache lebendig ist und sich entfaltet; neben den zentripetalen Kräften verläuft die ununterbrochene Arbeit der zentrifugalen Kräfte der Sprache, neben der verbal-ideologischen Zentralisierung und Vereinheitlichung finden ununterbrochen Prozesse der Dezentralisierung und Differenzierung statt.« (Bachtin: Ästhetik des Wortes, S. 165)
Demnach bewegt sich der Benutzer einer Sprache, indem er sie für verschiedene Zwecke und in verschiedenen Kontexten benutzt, zwischen verschienenen Teilzonen seines sprachlichen Gesamtgeländes hin und her. Je vielfältiger die sprachlich zu erfüllenden Funktionen, desto komplexer die Bewegungen. Diese Vorstellungen haben seit einigen Jahrzehnten vor allem auf die Einschätzung literarisch erschlossener Sprach-Räume Einfluss genommen; literarisches Schreiben spiegelt sich nach Überzeugung verschiedener Theoretiker eher im Geschäft eines Reiseunternehmers als in dem eines Hausverwalters. Michel Butor fordert – ganz im Sinne Bachtins – Werke, in denen die Sprachen einen Dialog führen. »Wir müssen vielsprachig werden, das heißt unsere Texte vielsprachig machen, auch wenn sie eine Grundsprache bewahren, innerhalb derer aber die anderen Sprachen einen Dialog miteinander führen. Das gleicht ein wenig der Beziehung zwischen dem Erzähler und den Personen in einem Roman.« (Butor, Improvisationen, S. 189)
Erscheinungsformen der literarischen Mehrsprachigkeit und der
Sprachenmischung erfüllen die Forderung nach mobilem Wohnverhalten
am augenfälligsten. Lustvoll Reisende, die gerne und oft umziehen,
und sei es um den Preis, mit leichtem Gepäck unterwegs zu sein,
sind dabei keineswegs nur unter den Autoren zu finden, die
zweisprachig aufwuchsen oder aus anderen biographischen Gründen zur
Zweisprachigkeit gezwungen wurden.
»(...) ich was not yet
in brasilien
nach brasilien
wulld ich laik du goals ich anderschdehn
mange lanquidsch
will ich anderstehn
auch lanquidsch in rioo (...)«(Ernst Jandl, calypso)
Bei Jandl sind Umzüge dieser Art Programm. Sie korrespondieren seiner nachdrücklich geäusserten Überzeugung, dass es so etwas wie Eigentum an Wohnraum schlechterdings nicht gebe – und schon gar keinen Grundbesitz. »Ja, ich bin ein Lyriker ohne eigene Sprache, denn diese Sprache, die deutsche, wie jede andere [...], gehört nicht dem Lyriker, nicht dem Dichter, nicht dem Schriftsteller, sondern allen, die in dieser und jener, jeglicher, Sprache leben, d.h. in ihr, mit ihr und durch sie Menschen, menschliche Wesen, sind. Die Sprache gehört mir nicht, diese meine deutsche Sprache gehört mir nicht. Sie gehört allen.« (Jandl, Das Öffnen und Schließen des Mundes, S. 37.)
Plädoyers für Sprachmischungen und Sprachwechsel setzen die suggestive Raummetaphorik bei der Beschreibung sprachlicher Prozesse, Eigenarten und Verfahrensweisen nicht ausser Kraft, erfordern aber Modifikationen. Erschien traditionellerweise der Benutzer einer ›Mutter‹-Sprache an sein ›Haus‹, sein ›Grundstück‹, seine ›Heimat‹ gebunden, war nur der ›Übersetzer‹ demnach zwischen den Territorien unterwegs, so wird der sprachlich Sesshafte im Zuge weitläufiger Prozesse der Migration, des Kulturtransfers und der kulturellen Hybridisierung durch den Reisenden ersetzt. Dabei ist allerdings immer noch zwischen solchen Reisenden zu differenzieren, die kein heimatliches Territorium mehr besitzen oder besitzen wollen, und solchen, die nach Exkursionen in die Fremde gerne heimkehren. Bei der Suche nach Apologeten des Gemischtsprachigen im 20. Jahrhundert stösst man gelegentlich auf überraschende Bundesgenossen. So Theodor W. Adorno, der den Gebrauch von Fremdwörtern gegen das im buchstäblichen wie um übertragenen Sinn territoriale Denken verteidigt, und dabei für den Gebrauch von muttersprachlichen sowie fremdsprachlichen Wörtern neben den Raum-Metaphern auch andere Bilder findet; gastronomische – und erotische. Er spricht allerdings aus der Haltung eines Reisenden, der sich von definiertem Gelände ausgehend gerne gelegentliche Exkursionen gestattet. Das erotische Äquivalent dazu ist (man wird die Raum-Metaphern nicht los) der Seiten-Sprung.
»Der frühe Drang zu den Wörtern aus der Fremde ähnelt dem zu ausländischen, womöglich exotischen Mädchen; es lockt eine Art Exogamie der Sprache, die aus dem Umkreis des Immergleichen, dem Bann dessen, was man ohnehin ist und kennt, heraus möchte. Fremdwörter ließen damals [er erinnert an die Zeit des Nationalsozialismus] erröten wie die Nennung eines verschwiegenen geliebten Namens. Diese Regung ist Volksgemeinschaften, die sich auch in der Sprache das Eintopfgericht wünschen, verhasst. Erst in dieser Schicht entspring die affektive Spannung, die den Fremdwörtern jenes Fruchtbare und Gefährliche leiht, von dem ihre Freunde sich verführen lassen und das ihre Feinde besser ahnen als die indifferenten.« (Adorno, Wörter aus der Fremde, S. 112f.)
Für Adorno, der sich bei allen Vorbehalten dem Ethos der Aufklärung verpflichtet weiss, ist die Verwendung von fremdsprachigen Ausdrücken ein Stück Aufklärung. Sie desillusioniert hinsichtlich des naiven Glaubens an die Kongruenz von Gemeintem und Gesagtem, Inhalt und Ausdruck, schärft damit das Bewusstsein von der Vermittelheit und Verfremdung alles verbal Artikulierten, deutet auf die unaufhebbare Distanz gegenüber der Wahrheit, in der sich jeder Sprecher immer schon befindet. »Die Diskrepanz zwischen Fremdwort und Sprache kann in den Dienst des Ausdrucks der Wahrheit treten. Sprache hat teil an der Verdinglichung, der Trennung von Sache und Gedanken. Der übliche (sic) Klang des Natürlichen betrügt darüber. Er erweckt die Illusion, es wäre, was geredet wird, unmittelbar das Gemeinte. Das Fremdwort mahnt krass daran, dass alle wirkliche Sprache etwas von der Spielmarke hat, indem es sich selber als Spielmarke einbekennt. Es macht sich zum Sündenbock der Sprache, zum Träger der Dissonanz, die von ihr zu gestalten ist, nicht zuzuschmücken.« (Wörter aus der Fremde, S. 115f.) »In jedem Fremdwort steckt der Sprengstoff von Aufklärung, in seinem kontrollierten Gebrauch das Wissen, dass Unmittelbares nicht unmittelbar zu sagen, sondern nur durch alle Reflexion und Vermittlung hindurch noch auszudrücken sei.« (Wörter aus der Fremde, S.116f.)
Der fremde Klang bringt insbesondere das Eingesperrtsein der Sprecher in ihren jeweiligen Sprach-Raum zum Ausdruck, wobei jedoch für Adorno das fremde Wort nicht etwa einen Ausbruch aus solcher Gefangenschaft ermöglicht, allenfalls einen Wechsel der Zellen, und – das ist das Entscheidende – ein Bewusstsein für die Begrenztheit des eigenen mentalen Territoriums: »Wogegen man sich beim Fremdwort sträubt, ist nicht zuletzt, dass es an den Tag bringt, wie es um alle Wörter steht: dass die Sprache die Sprechenden nochmals einsperrt; dass sie als deren eigenes Medium eigentlich misslang. (...) An den Fremdwörtern erweist sich die Unmöglichkeit von Sprachontologie: noch den Begriffen, die sich geben, als wären sie der Ursprung selber, halten sie ihr Vermitteltsein vor, das Moment des subjektiv Gemachten, der Willkür.« (Wörter aus der Fremde, S. 116)
Ein gewisses Moment so verstandener Aufklärung liegt wohl in
allen Versuchsanordnungen, bei denen Sprachgrenzen ignoriert und
Brüche zwischen den sprachlichen Teilzonen des jeweiligen Textes
erzeugt werden. Zu den Autoren, die ostentativ zwischen den Orten
wechseln oder an mehreren Orten gleichzeitig zu wohnen scheinen,
gehört der zweisprachige Raymond Federman. Er hat in seiner
Poetikvorlesung mit dem Titel Surfiction die Diagnose der
eigenen sprachlichen Ortlosigkeit mit kritischen Reflexionen über
die ›Identität‹ und ›Originalität‹ von Autoren verknüpft. Diese
Themenverflechtung allein deutet bereits auf die fundamentale
Verschiebung im Selbstverständnis des sprachlich »ortlosen«
Schriftstellers hin. Bei Federman wie bei anderen
Dauer-Grenzgängern sind Sprach-Mischungen und Sprachwechsel
zugleich selbstzweckhafte ästhetische Prozesse und metaphorische
Vehikel zur Dekonstruktion vertrauter Konzepte.
»SCHREIBEN heißt zuallererst ZITIEREN. Der Schreiber ist (...) derjenige, der zitiert. (...) Der Schriftsteller ist also weder innerhalb noch außerhalb seiner Sprache. Er ruht nicht in ihr. Er wandert nur hindurch. Doch wie können wir von ›seiner‹ Sprache reden, wenn die Sprache, die er zitiert, nur geliehen ist? Schriftsteller zu sein stimmt nicht länger mit einer bestimmten Identität überein, sondern mit einer bestimmten Situation, die jedem zugänglich ist. / Diese Entmystifizierung der heiligen Funktion des AUTORS und der Idee der ORIGINALITÄT deutet an, dass tatsächlich alle Schriftsteller als PLAGIATOREN bezeichnet werden können, da sie keine Sprache erfinden, sondern sie nach jemand anderem zitieren, der sie selbst nach jemand anderem zitiert, und so weiter. / Einen literarischen Text zu schöpfen ist ein bloßer Prozess der Sprachverschiebungen, um sie von einem Ort zum anderen zu transportieren.« (Federman, Surfiction, S. 96)
Federman beschreibt seine eigene sprachliche Situation durch die Formel (so sein Vorlesungs-Titel): »Eine Stimme in einer Stimme« und mit dem Beckettschen Zitat: »Manchmal verwechsle ich mich mit meinem Schatten und manchmal nicht.« (The Unnamable) Statt sich selbst in einem Raum zu verorten, beschreibt sich der Sprachwechsler selbst als einen Raum, in welchem anderes – mehrzüngig – spricht. »In mir spricht eine Stimme in einer Stimme, widerspricht sich zweisprachig, auf Französisch und Englisch, einzeln, aber manchmal auch gleichzeitig. (…) Daran ist nichts Ungewöhnliches. Viele Menschen an vielen Orten dieser Welt sprechen zwei, drei oder noch mehr Sprachen. Ob ich diese beiden Sprachen (Französisch und Englisch) beherrsche, ist eine Frage, die zu beantworten mir nicht ansteht. Doch bleibt die Tatsache, dass ich ein zweisprachiges Wesen bin, ein doppelköpfiger Murmler, also auch ein bikulturelles Wesen. Die ersten zwanzig Jahre meines Lebens habe ich in Frankreich verbracht, also innerhalb der französischen Sprache und Kultur, und die letzten fünfunddreißig Jahre (mehr oder weniger) in Amerika, also innerhalb der amerikanischen Sprache und Kultur. (...) / Auch bin ich ein zweisprachiger Schriftsteller. Ich schreibe auf Französisch und Englisch (...). Und außerdem übersetze ich manchmal meine eigene Arbeit vom Englischen ins Französische oder umgekehrt.« (Surfiction, S. 115)
So eng sind für Federmann das Französische und das Englische miteinander verflochten, dass es für ihn keinen Raum ›zwischen‹ diesen beiden Sprachen gibt. Deren wechselseitige Durchkreuzung beschreibt er allerdings in räumlich-dimensionierten Bildern, und er gibt die Koordinaten an, welche zur Vermessung dieses doppelten Sprachraumes maßgeblich sind.
»Es kommt mir nicht so vor, dass es in mir einen Raum zwischen den beiden Sprachen gibt, der sie voneinander trennt (...). Im Gegenteil, bei mir scheinen sich die beiden Sprachen stets zu überschneiden, wollen zusammenkommen, wollen sich gegenseitig umarmen, wollen ineinander aufgehen. Oder (...) sie wollen sich gegenseitig verderben und korrumpieren. Deshalb glaube ich nicht, dass die eine Sprache vertikal in mir liegt und die andere horizontal. Wenn überhaupt, dann scheinen sie beide in der gleichen Ebene zu liegen – manchmal vertikal und zu anderen Zeiten horizontal, je nach ihrer Laune oder ihren Wünschen.« (Surfiction, S. 119)
Federmann gesteht, seine eigenen einsprachigen Texte nicht zu
ertragen. Sobald er ein Werk geschrieben habe, überkomme ihn der
Drang, es zu übersetzen, auch wenn dies bei längeren Arbeiten oft
mit Langeweile, Erschöpfung oder Abscheu ende. Bei Gedichten
entstehe ohnehin immer sofort eine Fassung in der anderen Sprache.
Nicht bestimmte Themen, nicht ein bestimmter Stil oder andere
traditionelle Parameter prägen das Autorenprofil Federmans, sondern
allein dieses Bedürfnis nach dauerndem Wechsel der Territorien. Der
Wechsel von Sprache zu Sprache ist als konkreter Prozess wie als
Metapher grundlegender sprachlich-poetischer Verfahrensweisen an
sich ambig. Er kann dazu dienen, Ortlosigkeit, Heimatlosigkeit und
Unrast zu artikulieren, aber auch Reise–, Spiel- und
Maskierungsfreude. Er leide nicht unter seiner Zweisprachigkeit, so
meint beispielsweise Federman, er fühle sich dadurch eher reicher.
Entsprechend unterschiedlich akzentuierbar ist die
korrespondierende Idee eines nicht-identischen, beweglichen,
ortlosen Subjekts der Rede, einer Zersplitterung des Sprechers in
verschiedene sprachliche Teil-Identitäten. Eine solche
Zersplitterung kann sowohl als schmerzlich wie auch als Freiheit
empfunden werden. Manchmal ist es sogar schwer entscheidbar, welche
Akzentuierung überwiegt, wie im folgenden Beispiel von Derek
Walcott, das mit einem provokanten Entweder-Oder endet:
»I'm just a red nigger who love the sea,
I had a sound colonial education,
I have Dutch, nigger and English in me,
and either I'm nobody, or I'm a nation.«
(In: Luftfracht, S. 30)
Gemischtsprachige Dichtung unterläuft den romantischen Glauben an sprachliche Heimatterritorien ebenso wie den an homogene Identitäten. Charakterisiert man die Situierung vieler Vertreter der literarischen Moderne – in Anlehnung an den Bildhorizont des bewohnten Raumes – als ein ›Dazwischen‹, so sollte man allerdings falsche Suggestionen meiden. Gegen die Wendung vom Leben »zwischen zwei Sprachen« hat etwa die Literaturwissenschaftlerin und Autorin Immacolata Amodeo nachvollziehbare Bedenken geäußert. In Ihrer Antwort auf meinen Vorschlag, anlässlich gemischtsprachiger Texte von einer lyrischen Bewegung zwischen den Sprachen zu reden, schlägt Amodeo »eine andere Sicht auf die Dinge« vor und präzisiert ihre Vorbehalte durch den Vorschlag, zweisprachige Autoren doch lieber »in« Sprachen zu verorten – wenn auch in mehreren gleichzeitig: »Bei der Bewegung ›zwischen den Sprachen‹ sehe ich das Problem, dass diese Formulierung missverstanden werden könnte. Bei den eingewanderten Autoren in der Bundesrepublik war oft davon die Rede, dass sie sich zwischen den Sprachen bewegen. Das ›Zwischen‹ suggeriert für mich, auch wenn es nicht so gemeint ist, dass ein Autor eine marginale sprachliche und kulturelle Position einnimmt, sich an den sprachlichen und kulturellen Rändern bewegt, und dass es andere Autoren gibt, die zentralere sprachliche und kulturelle Positionen einnehmen. Mit ›zwischen den Sprachen‹ assoziiere ich etwas wie ›zwischen zwei Stühlen zu sitzen‹, also eine unbequeme Position. Ich würde die Formulierung ›in zwei Sprachen‹ bevorzugen, weil diese weniger ein sprachliches Defizit, sondern vielmehr sprachlichen Reichtum suggeriert.« (Immacolata Amodeo, brieflich an mich, am 12. 9. 2001)
Topographische Metaphern prägen eine ganze Reihe von
Standortbestimmungen gemischtsprachiger Autoren, denn sie gestatten
auch vor dem Hintergrund sich ändernder Selbstverortungen die
Artikulation differenzierter Befunde. So etwa, wenn Immacolata
Amodeo selbst sich in einem italienisch-deutschen Gedicht mit einer
konventionellen, hier aber demgegenüber semantisch verschobenen
Wendung »auf dem Strich« verortet; ihr Text lässt die Grenzlinie
zwischen zwei Sprachräumen assoziieren und präsentiert das lyrische
Ich selbst beim akrobatischen Akt des Gehens auf einer schmalen
Linie:
»Per un pelo non mi sento auf dem Strich
wenn du mich contro pelo kämmst nell' uovo
lo nascondo lo cerchi in der Suppe
wenn ich dir la lingua in den Mund lege
ist es keine Frage dass la questione
della lingua auch etwas mit Fremdsprachen
zu tun hat differenza haarspalterisch (...).«
(Katzengeschichten, zit. nach Letteratura de-centrata, S. 21/S. 80)
Mit anderer Akzentuierung der räumlichen Grundmetapher, aber
wiederum in deutlicher Abhängigkeit von dieser, spricht der Dichter
Franco Biondi, der Deutsch und Italienisch schreibt, von
»Sprachfeldern«, wobei er diese nicht nur außen, sondern auch in
sich selbst als ursprünglich getrennte Territorien wahrnimmt. An
diese Selbstdiagnose schliesst sich dann der Befund einer inneren
Spaltung an, welche nicht allein die Frage der sprachlichen
Identität betrifft:
»In meinem Kopf
haben sich
die Grenzen zweier Sprachen
verwischtdoch
zwischen mir
und mir
verläuft noch
der Trennzaun,
der Wunden zurücklässtjedesmal
wenn ich ihn öffne.«(Sprachfelder, in: Irmgard Ackermann, Harald Weinrich (Hg.), Eine nicht nur deutsche Literatur, S. 115)
Während der bereits zitierte Güksel sich im Keller seiner
Muttersprache verortet und mit Unbehagen wahrnimmt, dass sich
dieser gegenüber den fremdsprachigen Räumen der oberen Etagen nicht
dicht abschliessen lässt, akzeptiert Biondi die Offenheit der
Türen. Anfangs, so bemerkt er über seine Beziehung zum Deutschen,
habe er diese Sprache »als fremde Macht erfahren, der ich mich, um
mich zu wehren, zu bemächtigen hatte«; demgegenüber sei sie »heute
für mich in gewisser Weise ein Zuhause geworden. (...) Dennoch
bleibt in der Sprache die Fremde wohnen.« (Biondi: Die Fremde wohnt
in der Sprache, S. 30.) Ein Gedicht Gino Chiellinos, eines weiteren
Autors, der sich zwischen den sprachlichen Territorien verortet,
operiert mit dem Bild der Grenze, um von Prozessen der Ausgrenzung
zu sprechen. Mit resignativer Geste deutet Chiellino die
Notwendigkeit an, den durch die eigene Sprache gestifteten, ihn in
der sprachlichen Fremde aber isolierenden Raum aufzugeben. Die
Alternative klingt bedrückend:
»Verstummung, für Celan
Meine Sprache
grenzt mich ab
ich habe sie aufgegebenmit seiner
verfaulen mir
die Gefühle im Bauch«(Sich die Fremde nehmen. Gedichte 1986-1990, Kiel 1992, S. 93).
Der Titel des Gedichts bezieht sich auf jene berühmte und dabei doch kryptische Anwort, die Paul Celan, nach dem »Problem der Zweisprachigkeit« befragt, 1961 auf eine Umfrage der Librairie Flinker gegeben hatte. Celan hatte dabei in denkbar lakonischer und zugleich aggressiver Weise die enge Bindung zwischen Sprache, Denken und dichterischer Identität betont: »An Zweisprachigkeit in der Dichtung glaube ich nicht. Doppelzüngigkeit – ja, das gibt es, auch in diversen zeitgenössischen Wortkünsten bzw. -kunststücken, zumal in solchen, die sich, in freudiger Übereinstimmung mit dem jeweiligen Kulturkonsum, genauso polyglott wie polychrom zu etablieren wissen. / Dichtung – das ist das schicksalhaft Einmalige der Sprache. Also nicht (…) das Zweimalige.« (Antwort auf eine Umfrage, S. 175)
Chiellinos Verstummung weist, als Antwort darauf und in
Abgrenzung von diesem emphatisch klingenden Bekenntnis zum
schicksalhaft Einmaligen, sowohl nüchtern auf die Konsequenzen hin,
die das Festhalten an der Erstsprache in der Fremde haben kann –
die Ausgrenzung –, als auch auf die komplementäre Problematik der
Gewöhnung an eine fremde Sprache: Vieles bleibt ungesagt,
un-geäussert und »verfault« dort, wo es untransportiert herumliegt.
»Zwischen« diesen beiden Optionen liegt nur das Niemandsland der
Stummheit. Visualisiert wird das Bewusstsein, sich zwischen zwei
gleichermaßen problematischen Optionen zu befinden, durch die
Leerzeile, welche das Gedicht durchzieht. Hier steht, unvernehmbar,
das lyrische Ich, wohin es sich dann auch wendet. Die
Selbstumkreisung von differenten sprachlichen Territorien aus wird
es zwar niemals positiv sichtbar in Erscheinung treten lassen,
verspricht aber, ihm wenigstens einen Umriss zu verschaffen. Mit
seinen Texten bewegt sich der Autor Chiellino selbst konsequent
permanent zwischen diversen sprachlichen Territorien hin und her,
stets im Bewusstsein der unaufhebbaren Ambivalenzen seiner
Mehrsprachigkeit und des Refugiums, das ihm die Erstsprache
gegenüber der Zweitsprache bedeuten könnte: »ich schreibe kein
Deutsch / meine Sprache gehorcht euch nicht.« (Chiellino in: Sich
die Fremde nehmen, S. 21. Zit nach Letteratura de-centrata, S. 183)
Pointiert verwendet Chiara de Manzini Himmrich, die sowohl auf
Italienisch als auch Deutsch schreibt, das Bild der Wohnung, um
ihre ambivalente Beziehung zum Deutschen als ihrer Zweitsprache zu
schildern:
»Eine geliehene Sprache.
Dies hier ist eine geliehende Sprache. Sie ist nicht meine Sprache. (...)
Ist sie mir geliehen worden,
oder habe ich sie mir selbst geliehen?
Muss ich sie wieder zurückgeben?
Oder gehört sie mir irgendwann wie selbstverständlich?
Mietkauf einer Wohnung,
die ich jahrelang bezahlt habe?«(Zit. nach: Letteratura de-centrata, S. 125)
Sich als Exilant, als in der ›Fremde‹ zu empfinden, ja allein
die Rede von einer solchen Fremde, impliziert die Erinnerung an
eine verlorene Heimat. Wie aber, wenn es eine solche Heimat im
traditionellen Sinn nie gab und folglich auch die Differenzierung
zwischen Heimat und Fremde nicht gelingen kann? Wie, wenn der
sprachliche ›Raum‹, in dem ein Schriftsteller sich, sei es aus
biographischen, sei es aus anderen Gründen verortet, von Anfang an
ein sprachlich gedoppelter oder multipler Raum ist? Feridun
Zaimoglu, Sohn türkischer Arbeitsimmigranten, in Deutschland
sozialisiert, aber nicht als Einheimischer, sondern als Fremder, in
dieser Eigenschaft aber wiederum kein Einzelfall, sondern der
Vertreter einer nicht unbedeutenden gesellschaftlichen Gruppe, hat
mit seinem Band Kanak Sprak einen Text vorgelegt, der sich
ostentativ zwischen den konventionellen sprachlichen Territorien
bewegt. Er versucht, einen Eindruck von der Sprache zu geben,
welche in einer Gruppe gesprochen wird, für die es manchen
tentativen Namen gibt, unter anderem die heuchlerisch wirkende
Bezeichung ›Gastarbeiter‹. Zaimoglu empfindet solche Beschönigungen
als heuchlerisch: »Der Volksmund weiß es besser: Er spricht vom
›Kümmel‹ und ›Kanaken‹«. ›Kanaken‹ sind die Angehörigen einer
städtischen jugendlichen Subkultur, die Kinder türkischer
Arbeitsimmigranten, die von Anfang an zwischen den Kulturen stehen.
Im Vorwort zu Kanak Sprak stellt Zaimoglu gründliche
Beobachtungen des hybriden Idioms an, das er anschliessend in
seinen Texten präsentiert, in verfremdeter Form allerdings. Denn
wie unmissverständlich klar wird, gehört die
gestisch-artikulatorische Dimension zur eigentlichen ›Kanak Sprak‹
hinzu, ohne dass sie durch den geschriebenen Text wiedergegeben
werden könnte. Die Verschriftlichung kommt einer Einebnung des
kanakischen Sprachgeländes gleich, welche das erläuternde Vorwort
nur teilweise kompensiert.
»Längst haben sie einen Untergrund-Kodex entwickelt und sprechen einen eigenen Jargon: die ›Kanak-Sprak‹, eine Art Creol oder Rotwelsch mit geheimen Codes und Zeichen. Ihr Reden ist dem Free-Style-Sermon im Rap verwandt, dort wie hier spricht man aus einer Pose heraus. Diese Sprache entscheidet über die Existenz: Man gibt eine ganz und gar private Vorstellung in Worten. / Die Wortgewalt des Kanaken drückt sich aus in einem herausgepressten, kurzatmigen und hybriden Gestammel ohne Punkt und Komma, mit willkürlich gesetzten Pausen und improvisierten Wendungen. Der Kanake spricht seine Muttersprache nur fehlerhaft, auch das ›Alemannisch‹ ist ihm nur bedingt geläufig. Sein Sprachschatz setzt sich aus ›verkauderwelschten‹ Vokabeln und Redewendungen zusammen, die so in keiner der beiden Sprachen vorkommen. In seine Stegreif-Bilder und -Gleichnisse lässt er Anleihen vom Hochtürkisch bis zum dialektalen Argot anatolischer Dörfer einfließen. Er unterstreicht und begleitet seinen freien Vortrag mimisch und gestisch.« (Zaimoglu, Kanak Sprak, Vorwort)
Der ›Kanake‹ ist also in einem ganz spezifischen Sinn
mehrsprachig. Er artikuliert sich mit Stimme, Händen und Füßen –
ein multipler Sprach-Körper und als solcher das bewegliche Zentrum
eines mobilen Sprach-Raums. Der ›Kanake‹ ist, so gesehen, eine
ästhetische Chiffre sprachlich-kultureller Hybridität, die sich
nicht definitiv lokalisieren lässt, sondern zur Entwicklung neuer
räumlicher Orientierungsmuster provoziert. Durch seinen Körper
beschreibt er das Territorium, auf dem er ist – in dem Sinne, wie
man einen Kreis beschreibt: der Kreis entsteht durch die Bewegung
des Beschreibens allererst.
»Die reiche Gebärdensprache des Kanaken geht dabei von einer Grundpose aus, der sogenannten ›Ankerstellung‹: Die weit ausholenden Arme, das geerdete linke Standbein und das mit der Schuhspitze scharrende rechte Spielbein bedeuten dem Gegenüber, dass der Kanake in diesem Augenblick auf eine rege Unterhaltung großen Wert legt. Ballt der Kanake beispielweise die rechte Faust, um sie blitzschnell zu öffnen und die Hand zu fächern, will er seine Missbilligung oder seine Enttäuschung zum Ausdruck bringen. Streicht er sich mit einem angefeuchteten Zeigefinger über eine Augenbraue, so möchte er seine Kompetenz oder einen gelungenen Spruch anerkannt wissen. Und über die einzelne charakteristische Gebärde hinaus signalisiert der Kanake: Hier stehe ich und gebe mit allem, was ich bin, zu verstehen: Ich zeige und erzeuge Präsenz.« (Kanak Sprak, Vorwort)
Dezidiert wendet sich Zaimoglu gegen die Suggestion, es könne
für den Kanaken eine Sprachheimat im traditionellen Sinn geben.
Kanak Sprak ist keine Hommage an den orientalischen
Volkscharakter, kein Hinweis auf ein Gelände, in dem man wurzelt,
sondern ein künstliches Idiom, das sich zu seiner Künstlichkeit
bekennt, ein Indikator der Wurzellosigkeit, die nicht kompensiert
werden kann und soll. Genau in diesem Willen zum ›Dazwischen‹
findet der Kanake seine nicht nur sprachliche hybride Identität.
Der Übersetzer des Kanakenidioms sitzt auf seine Weise zwischen den
Stühlen. Jeder Versuch, Authentizität zu simulieren, ist zum
Scheitern verurteilt, denn sagt man die Dinge so, wie sie der
Kanake mit dem türkischen Anteil seines Idioms wörtlich sagt,
verfehlt man den Charakter seiner Aussage, beschönigt, stilisiert,
verfremdet. Zaimoglus Versuch, diesen Irrweg zu meiden, führt dann
allerdings zu Reduktionen der Farbigkeit und Aggressivität
›kanakischer‹ Selbstdarstellung. Er versucht die innere Paradoxie
seines Unternehmens (die ihm bewusst ist) dadurch abzumildern, dass
er die eigene Verfahrensweise ausführlich darlegt. Und dadurch,
dass er seinen Kanaken von außen beschreibt – als irritierend
bewegliche Objekte, die sich einer nicht minder beweglichen, in
ständiger Entwicklung befindlichen Ausdrucksweise bedienen.
»Weil sich die Kanak Kids in den Straßen bewegen, sprechen sie einen sich laufend weiterentwickelnden symbolischen Jargon, der häufig als blumige Orientalensprache missverstanden wird. Dieser Folklore-Falle musste meine Nachdichtung entgehen. Deshalb enthält die deutsche Übertragung nur die Anrede ›Brüder‹ und nicht gözüm (mein Auge), gözümün nuru (mein Augenlicht) oder vieles andere. Der Kanake sagt, wörtlich übersetzt, ›Hasshand teilt gerne aus, bricht sich aber viele Knochen‹ und meint ›wer von Hass erfüllt ist, greift ohne Rücksicht auf Verluste zur Gewalt‹. Der Kanake sagt ›Gott fickt jede Lahmgöre‹ und meint ›wenn man weiterkommen will, muss man sein Schicksal selbst in die Hand nehmen‹. Dies war bei der Nachdichtung (...) zu berücksichtigen.« (Kanak Sprak, Vorwort)
Die physisch-räumliche, konkret körperliche Dimension dieser
Hybridsprache muss beim Lesen des Buches durch die Imagination des
Lesers restituiert werden. Wenn sich der Kanake konkret und
metaphorisch in Zwischenräumen bewegt, so misst er diese ostentativ
durch Gesten und Körperbewegungen aus. Kanak Sprak ist an räumliche
Präsenz gebunden und legt es auf die Suggestion solcher Präsenz an
– durch die Besonderheiten ihrer Performance. Stets betont der
Kanake dabei seine Lokalisierung zwischen allen gesicherten
Territorien, und zwar in sprachlicher wie in sozialer Hinsicht.
Eine Präzisierung scheint allerdings geboten: Zaimoglu gibt seine
Texte zwar als Protokolle von Unterhaltungen mit türkischen
Migranten aus, aber er nennt sie doch – zu Recht – eine
»Nachdichtung«. Als Schriftsteller bearbeitet er, was er
protokolliert. Der literarische Transformationsprozess des
sprachlichen Ausgangssubstrats schliesst vieles ein:
Homogenisierung, Zuspitzung auf Effekte hin, aber ganz einfach
zunächst einmal Lesbarmachung, Transposition vom Mündlichen ins
Schriftliche, Verwandlung von Sprechhandlungen in differenzierte
Texte. Der sprachliche Aktionsraum des Kanaken wird zur
geschriebenen Linie. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zwar
mehr als zufällig, aber sie sollten nicht dazu verleiten, das
schriftlich verfasste Abbild mit einem ›authentischen‹ Original zu
verwechseln. Das deutlichste Indiz für die bewusste
Stilisierungsarbeit, die Zaimoglu leistet und mit der er die
sprachliche Selbststilisierung seiner Gesprächspartner modellhaft
verdoppelt, liegt in der Ausführlichkeit und Reflektiertheit, mit
welcher er beschreibt, was er tut. Die soziologischen,
kommunikativen und praktischen Rahmenbedingungen seiner Arbeit
werden einleitend explizit dargelegt; der Leser erfährt genau, wie
Zaimoglu verfahren ist, und die Beschreibungssprache, die er dabei
verwendet, ist eine ganz andere als die ›Kanaksprak‹. Sie zeigt
eine deutliche Prägung durch den fachspezifischen Code des
Sprachsoziologen und ist insofern ebenfalls ein Beitrag des Autors
zur Selbsterfindung. Zaimoglus Interesse an der ›Kanak Sprak‹ lässt
sich allerdings ebensowenig auf das des Sprachsoziologen wie auf
das des kritischen Apologeten türkischer oder hybridkultureller
Identität reduzieren. Seine Arbeit an der Kunstsprache der
›Kanaken‹ ist literarische Arbeit, und sie findet ihre Fortsetzung
in anderen Texten, in denen das Prinzip der Mischung weiter – und
mit ganz anderen stilistischen Konsequenzen – durchgespielt wird.
So in Abschaum, der (laut Untertitel) wahren Geschichte von Ertan
Ongun. Wie die Beiträge zu Kanak Sprak bewegt sich diese
»wahre Geschichte« nicht zuletzt zwischen Dokumentarischem und
Fiktion – eine Differenzierung, die nur noch begrenzt tragfähig
erscheint, wo die Idee einer stabilen Identität obsolet wurde.
Schliesslich entsteht der Kanake in einem gestisch-räumlichen Akt
sprachlicher Performanz, und wenn dabei die Kopie eines
Krimi-Ganoven herauskommt, dann korrespondiert dies der Einsicht
Federsmans, dass alles Sprechen Zitieren ist – auch die sprachliche
Selbsterfindung.
»Atilla hat so ne Knarre (…). Ich hab ihm gesagt: Alter, schieb die Knarre rüber. Ein Tag vorher war das, ich wusste ja, der Araber kommt auf jeden Fall wieder, yak, diyo, moruk, herhangi bi durum olursa silahi hemen sana veririm.« (Zaimoglu: Abschaum, S. 55)
Gerade in ihrer Schrillheit ist die Kanak Sprak ein Spiegel der hybriden und problematischen Identität ihrer Benutzer, Ausdruck der Notwendigkeit, sich auf instabilen kulturellen und sozialen Territorien zu behaupten, einen Standort oder doch wenigstens einen Spielraum zu beziehen – Ausdruck, altmodisch gesagt, für das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Sprachlichkeit und (sei es denn künstlicher) Identität des Einzelnen wie des Kollektivs. Zaimoglu über seine Kanaken: »Sie alle eint das Gefühl, ›in der Liga der Verdammten zu spielen‹, gegen kulturhegemoniale Ansprüche bestehen zu müsssen. Noch ist das tragende Element dieser Community ein negatives Selbstbewusstsein, wie es in der scheinbaren Selbstbezichtigung seinen oberflächlichen Ausdruck findet: Kanake! Dieses verunglimpfende Hetzwort wird zum identitätsstiftenden Kennwort, zur verbindenden Klammer dieser ›Lumpenethnier‹. Analog zur Black-conciousness-Bewegung in den USA werden sich die einzelnen Kanak-Subidentitäten zunehmend übergreifender Zusammenhänge und Inhalte bewusst. Die Entmystifizierung ist eingeleitet, der Weg zu einem Neuen Realismus gelegt. Inmitten der Mainstreamkultur entstehen die ersten rohen Entwürfe für eine ethnizistische Struktur in Deutschland.« (Kanak Sprak, Vorwort)
Die türkische Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar entwickelt
auf der Basis vergleichbarer sprachlicher und kultureller
Voraussetzungen ganz andere Strategien der Erkundung sprachlicher
Zwischen-Zonen als Zaimoglu. Sie protokolliert nicht, was
hybridsprachliche ›Kanaken‹ sagen, sondern erzählt aus der Sicht
eines literarischen Ich davon, wie man zwischen die Sprachen gerät,
wenn einem die eigene Muttersprache fremd zu werden droht. Es
beginnt damit, dass einzelne Wörter nicht mehr selbstverständlich
sind, sondern wie Fremdkörper erscheinen. In Erinnerungstext
tauchen sie dann als Fremd-Körper auf; sie sind gesperrt gedruckt,
passend zu der Erfahrung, dass sie sich im Mund sperrig verhalten,
dass sie quer stehen zu ihrem sprachlichen Kontext. Auch die
typographische Sperrung von Fremd-Wörtern kann insofern als Derivat
der Raum-Metapher verstanden werden. Eine für Özdamars Buch
typische Szene schildert das Erzählerinnen-Ich beim Durchmessen
eines Raumes, der nicht nur von zwei Sprachen besetzt, sondern
zudem auf traumhafte Weise zwischen Erfahrung und Erinnerung,
Wahrnehmung und Imagination lokalisiert ist.
»Wenn ich nur wüsste, in welchem Moment ich meine Mutterzunge
verloren habe. Ich lief einmal in Stuttgart um dieses Gefängnis da,
da war eine Wiese, nur ein Vogel flog vor den Zellen, ein
Gefangener im blauen Trainingsanzug hing am Fenstergitter, er hatte
eine sehr weiche Stimme, er sprach in derselben Mutterzunge, sagte
laut zu jemandem: ›Bruder Yashar, hast du es gesehen?‹ Der andere,
den ich nicht sehen konnte, sagte: ›Ja, ich hab gesehn.‹ / Sehen:
Görmek. / Ich stand auf der Wiese und lächelte. Wir waren so weit
weg voneinander. Sie sahen mich wie eine große Nadel in der Natur,
ich wusste nich, was sie meinten mit Sehen, war ich das oder ein
Vogel (...). / Görmek: Sehen.
Ich erinnere mich an ein anderes Wort in meiner Mutterzunge, es war
im Traum. Ich war in Istanbul in einem Holzhaus, dort sah ich einen
Freund, einen Kommunisten, (...) ich erzähle ihm von jemandem, der
die Geschichte mit seinem Mundwinkel erzählt, oberflächlich.
Kommunist-Freund sagt: ›Alle erzählen so.‹ Ich sagte: ›Was muss man
machen, Tiefe zu erzählen?‹ Er sagte: ›Kaza gecirmek, Lebensunfälle
erleben.‹
Görmek und Kaza gecirmek.« (Özdamar, Mutterzunge, 11-12)
Özdamar bemüht sich vielfach darum, zu bildhaften Wendungen, die im Türkischen konventionell erscheinen, wörtliche oder doch fastwörtliche deutsche Entsprechungen zu finden. Dadurch ergeben sich in ihrem deutschen Text charakteristische Verfremdungseffekte. Gerade dieser Weg ist es, den Zaimoglu ablehnt, weil er nach seiner Auffassung einem falschen ›Orientalismus‹ Vorschub leistet. Özdamar kreiert durch wörtliche Übertragungen ins Deutsche eine Sondersprache, die nicht eigentlich dem deutschen Sprachgelände angehört, sondern an dieses angrenzt. Zaimoglu hingegen nimmt in seinen Texten, denen ja laut Vorbemerkung protokollarische Aufzeichnungen zugrundelagen, den türkischen Gleichnissen beim Übersetzen ihre Konkretheit und ersetzt sie durch weniger bildhaft-plastische. Doch auch der daraus resultierende Stil ist ein Kunstprodukt aus dem Raum ›zwischen‹ den Sprachen. Trotz markanter Unterschiede untergraben Özdamar wie Zaimoglu gleichermaßen die Idee eines homogenen sprachlichen Heimatterritoriums, die bei den zuvor zitierten deutsch-italienischen Autoren zumindest als vage beschworene Erinnerung noch im Spiel war. Dass die Ausdifferenzierung sprachlicher Hybridprodukte einer eigenen Dynamik folgt, wird am populären Oeuvre Zaimoglus in mehr als einer Hinsicht ablesbar: Zum einen sah er sich kurz nach dem Erfolg seines Kanaken-Buches motiviert, der Darstellung der »männlichen« Kanak Sprak ein »weibliches« Gegenstück folgen zu lassen (Koppstoff – Kanaka Sprak vom Rande der Gesellschaft). Und zudem sind seine Bücher dabei, die Bühne – und das heisst: neue Territorien des Performativen – zu erobern (vgl. http://www.welt.de/daten/2001/12/09/1209b05301253.htx)
Kein Heimatterritorium, nur ein diffuses, von Fremdem und
Halbvertrautem durchsetztes Gelände: das ist der Raum, in dem sich
die Literatur der Moderne bewegt, und der in seiner Diskontinuität
und Inhomogenität auf die der ihm korrespondierenden Gedanken- und
Gefühlswelten verweist. Dass T. S. Eliots Grossgedicht The Waste
Land, das durch seinen Titel nicht zuletzt auf die Versteppung
sprachlicher Landschaften hindeutet, selbst eine Assemblage aus
verschiedensten sprachlichen Materialien darstellt, ist kein
Zufall, und es bestätigt auch – gerade in der verfremdeten Form –
die suggestive Evidenz der Metapher vom sprachlichen
Gelände.
»Wenn in einem modernen Poem wie T. S. Eliots Waste Land die Zitate überhandnehmen, so weist dies hin auf eine Situation, in der die Annahme, aller Sinn und alle Wahrheiten könnten sich auf die Dauer in einem einzigen universalen Thesaurus versammeln, sich als eine fixe und gewaltsame Idee erweist. Die Hervorhebung eines Fremden, das nicht assimiliert oder übertüncht, sondern als halber Fremdkörper gekenntzeichnet wird, versetzt uns an die Schwelle von Eigenem und Fremdem, an die Schwelle von eigener und fremder Sprache, an einen Ort also, wo die Normalität nicht mehr bloß durch Anomalien umrahmt, sondern von ihnen durchfurcht wird.« (Waldenfels, Hybride Formen der Rede, S. 335)
Die Faszination der Bewegung zwischen den sprachlichen
Territorien charakterisiert also keineswegs nur Migranten und deren
Nachkommen. Eliot und Joyce als zwei der kanonischen Vertreter der
mittlerweile klassischen Moderne belegen dies exemplarisch. Die
Freude an der Mobilität prägt insbesondere den Stil (oder eher
noch: die Stile) von Autoren, die sich der europäischen Welt als
einem vielsprachigen Gelände verbunden sehen. Oskar Pastior hat
nachdrücklich seine Absicht erklärt, zwischen den Territorien zu
reisen, »die Schiene der Einsprachigkeit« zu durchbrechen, und vor
allem sein Krimgotisch, eine für poetische Zwecke erfundene
Kunstsprache, verbindet viele Sprachgelände: »die
siebenbürgisch-sächsische Mundart der Großeltern; das leicht
archaische Neuhochdeutsch der Eltern; das Rumänisch der Straße und
der Behörden; ein bissel Ungarisch; primitives Lagerrussisch; Reste
von Schullatein, Pharmagriechisch, Uni-Mittel- und Althochdeutsch;
angelesenes Französisch, Englisch... alles vor einem mittleren
indoeuropäischen Ohr... und, alles in allem, ein mich
mitausmachendes Randphänomen.« (Pastior, Unding, S. 66f.) Das
sprachliche Durcheinandertal, in dem er selbst aufgewachsen ist und
von dem er geprägt wurde, betrachtet Pastior eindeutig affirmativ:
»›Unterschiedenes ist gut‹ – noch ein Zitat.« ([von Hölderlin]
Unding, S.102). Die Frage, welche Sprache er denn eigentlich
spreche, beantwortet Pastior selbstbewusst mit dem Hinweis auf die
Eigenheit seines dichterischen Idioms. Sprachen sind für ihn
»Gemenge«, keine Kontinuitäten und keine homogenen Substanzen. Er
spreche, so Pastior, »Klipp und klar pastior«, ein »Privatidiom«,
hin und wieder »Krimgotisch« genannt im Bewusstsein der
»Randphänomenalität der Gemengelage in jeder Sprachbiographie.«
(Pastior, Unding, S. 95) Die von Pastior mehrfach verwendete
Metapher vom ›Gemenge‹ ist eine neuerliche Modifikation räumlicher
Konzepte: Gemenge entstehen durch Verschiebungen und bleiben
anfällig für weitere Verschiebungen. Sie füllen einen Raum,
strukturieren diesen jedoch nicht endgültig – und vor allem nicht
hierarchisch. Der durch die Erfindung von Pastiors »krimgotischem«
Idiom fingierte Krimgotische Fächer, eine imaginäre
Sprachlandschaft, deren Bezeichnung die ›Auffächerung‹ in diverse,
aber miteinander verbundene Territorien suggeriert, ist nicht
wirklich kartierbar.
Der Zuversicht, durch Übersetzungen zwischen differenten
Sprachräumen vermitteln zu können, steht Pastior skeptisch
gegenüber, da er nicht an die Möglichkeit eines Transports von hier
nach dort glaubt – schon weil sich in Gemengen kein festes
Ausgangs- und Zielterritorium bestimmen lässt. Was auch immer da
übersetzt werden soll, wandelt sich über dem Transport,
verschwindet gleichsam im ›Dazwischen‹.
»(...) Im Grunde ist ja Übersetzung nicht möglich. Übersetzung ist das falsche Wort für einen Vorgang, den es nicht gibt. In einer anderen Sprache denkst du anders, sprichst du anders, agierst du anders, bist du anders.« (Unding, S. 102)
Pastiors Interesse gilt denjenigen sprachlichen Geländen, die – und das gilt in letzter Konsequenz für alle, wenn auch in unterschiedlichem Maße – nicht endgültig auszumessen sind, wobei nach seiner Überzeugung vor allem Gedichte ver-messen sind. Sie verschieben den sprachlichen Boden, auf dem sie entstehen, verändern den Sprachraum, dem sie entstammen (Pastior, Unding, S. 102). Wo alles in Bewegung, das sprachliche Territorium selbst ein Gemenge sich permanent gegeneinander verschiebender Schichten und Blöcke ist, da besteht für den, der sich im sprachlichen Raum bewegt, immerhin eine gute Aussicht, immer wieder ein Stück Boden unter die Füße zu bekommen. Pastior ist zuversichtlich, dass die gesamteuropäischen Sprachbrocken in ihrer Mobilität sich wie von selbst – wenn auch in unkalkulierbarer Folge und Ordnung – einstellen, wenn nur Bedarf besteht, vorübergehend auf ihnen Platz zu nehmen. In diesem Sinne gäbe es also zumindest kein ›Dazwischen‹.