Ottmar Ette, Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika
Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2001

Der Leser, wie seit langem bekannt, ist ein Fort-Leser – die nicht enden wollende, in den Tod oder ins Verschwinden hineinführende Bewegung des Lesens annulliert die Lektüren, die einer hinter sich lässt, oder verwandelt sie in Hintertüren resp. Hintertreppen der Ignoranz, die vor jedem Einfall steht wie vor einem nie Dagewesenen, das sich seinen Platz an der Sonne hic et nunc erkämpfen muss. Diesen Struggle for Life der Unvernunft nennt man gelegentlich Interpretation: vorbereitende, zubereitende, nachbereitende, überhaupt bereit seiende und Bereitschaft vermittelnde Signale des Verstehens oder besser des Verstanden-Habens, das überall und nirgends an seine Grenze kommt. Nichts hat dieses Verstehen besser verstanden als die Grenz-Überschreitung als Funktion: »Das Verstehen eines revolutionären Prozesses wird – gemäß der Umwälzungsmetaphorik – als ein Bewegungsprozeß und als eine Dynamik erfasst, die vom Reisenden auf die Lesenden überspringen sollen und eine Literaturkonzeption ausdrücken, die in mehrfachem Sinne an der inneren wie äußeren Bewegung ihres Lesepublikums ausgerichtet ist.« Das wird in Bezug auf Joachim Heinrich Campes Reise ... von Braunschweig nach Paris im Heumonat 1789 gesagt, aber es trifft die Grundbewegung und Grundaussage dieses Buches ins Herz. Ottmar Ettes Lektüren von Reiseberichten, topographischen, topologischen und metalogischen Texten Alexander von Humboldts, Roland Barthes’, Jorge Luis Borges’, Honoré de Balzacs, Edouard Glissants, Arnold Stadlers und so mancher anderer spielen auf dem schlüpfrigen Sprach-Grund von Félix Guattari und Gilles Deleuze, der, wie könnte es anders sein, seinerseits nach Überschreitung verlangt: »Die Schreibweise von Maryse Condé in Traversée de la Mangrove hingegen ist gleichzeitig genealogisch und multifokal, sie ist Baum und Rhizom, Mangrovenbaum und Textmangrove zugleich. Damit führt die in Europa noch immer unterschätzte Schriftstellerin die narrative Verwirklichung einer Poetik vor, die sich jenseits von Dualismus wie Dialektik, aber auch jenseits von Fusion und Kreolisierung ansiedelt. Ihre Durchquerung der Mangrove lässt sich nicht auf einen der drei von Deleuze und Guattari vorgeschlagenen Buchtypen zurückschneiden, sondern führt deren Möglichkeiten simultan vor. Sie erlaubt uns damit auch, den poststrukturalistischen Entwurf von Gilles Deleuze und Félix Guattari poetologisch weiterzuführen und ästhetisch in eine komplexe Mangrovenlandschaft zu übersetzen...« Die moderne kulturwissenschaftliche Lehre bringt es gelegentlich mit sich, studentische Haus- oder gar Abschlussarbeiten dieses Zuschnitts korrigieren und beurteilen zu müssen, aber 563 Seiten, fest gebunden, schwarz und schick und gedruckt, das ist kein Pappenstiel, wieviel weniger eine Kerze: nennen wir es einen Aufbruch. –

Felicitas Streu