Nationalismus ist zu einem Modewort geworden, ohne dass es begrifflich klar abgegrenzt wird. Hans-Ulrich Wehler, emeritierter Professor für Allgemeine Geschichte der Universität Bielefeld, hat in einem Buch den Nationalismus als Ideensystem erkundet, dessen Geschichte, Formen und Folgen er prägnant darstellt.
Der Nationalismus dient nicht nur der Entwicklung, Mobilisierung und der Eingliederung in eine größere Solidargemeinschaft, sondern ist zugleich ein Legitimationsinstrument moderner politischer Herrschaft. Die Nation ist das »oberste Legitimationsprinzip« (Rainer Lepsius). Unter Berufung auf die Geschichte, das Naturrecht, die »Vorsehung« eines nationalen Schicksals sowie Traditionen wird die Nation selbst zum Legitimationsspender ihrer eigenen Existenz.
In der Geschichte der Menschheit hat es natürlich immer schon Loyalitätsbindungen gegeben, die die Menschen an Herrschafts- und Solidarverbände (ob Familienclans, Stämme, die antike Polis, Adelshäuser, Stadtgemeinschaften usw.) gebunden haben. Neben diesen gab es gleichfalls immer schon regionale sowie religiöse Loyalitäts- und Zugehörigkeitsgefühle, die man geradezu als anthropologische Konstante ansehen kann. Solche Gefühle dienten nicht nur als Schutz und als solidarische Hilfe, sondern zudem der Stärkung des Identitätsgefühls und Selbstbewusstseins des Einzelnen, die durchaus mit dem Ansehen durch die Gemeinschaft und der Geltung in ihr verbunden waren und heute noch sind. Gleichzeitig kann aber diese identitätsbildende Wirkung zur Konstruktion einer nationalen Vergangenheit genutzt werden, die ein neues Weltbild produziert und in Form eines Nationalismus eine Übersteigerung erfährt.
Insbesondere in den letzten zwei Jahrzehnten hat die wissenschaftliche Nationalismusforschung große Resonanz gefunden und die kritische Distanz zugenommen. Aus dieser Entwicklung ergibt sich, dass der Nationalstaat als homogene Nation zum Kardinalproblem des Nationalismus wird, der u.a. Faschismus, Nationalsozialismus, Sprachentwicklung, politische Religionen, ethnische Konflikte, Protektionismus, Minderheitenfragen sowie Migrationen als auch Genozid und Krieg als Phänomene hervorgebracht hat.
Die ältere Nationalismusforschung teilte vier weithin für verbindlich gehaltene Prämissen: Erstens, dass die Nation die quasi-natürliche Einheit in der europäischen Geschichte war und als ein divinatorischer Schöpfungsakt vorausgesetzt wurde, wenngleich nie präzise untersucht wurde. Dies erklärt, warum Angehörige gegenwärtiger Nationalstaaten immer noch in ihrem kollektiven Gedächtnis der Vorstellung nachhinken, dass die Nation seit archaischen Urzeiten existiere und bestenfalls einmal temporär verdeckt war. Zweitens, dass jede Nation das Recht auf eigene Staatlichkeit besitze, die neue Nationen sich erkämpfen durften und alte zurückerobern konnten, wenn der Status der Staatlichkeit zeitweise verloren ging. Drittens, die Nation galt als Schöpfer eigener Ideen- und Wertsysteme, um den Fortbestand der Existenz zu rechtfertigen, ihre Vergangenheit zu deuten sowie ihre Zukunft zu entwerfen. Und viertens, die sprachliche wie politische »Basis« der Nation war das Fundament eines Nationalismus als ideeller »Überbau«.
Die neuere Nationalismusforschung hingegen definiert sich zwar ebenso aus vier Prämissen, diese stehen aber in deutlichem Kontrast zu ihrer Vorgängerschule: Erstens, basiert sie erkenntnistheoretisch auf dem Konstruktivismus. Anstelle des angenommenen Essentialismus historischer Phänomene treten die Konstrukte des menschlichen Geistes. Zweitens, rekurriert die neue Lesart auf die »linguistische Wende«, also auf das Primat der Sprache und der Ideen, die zunächst im Falle der Nation nur als utopisch-konzeptionelle »gedachte Ordnung« bestehen. Sie beruft sich dabei auf die »imaginierte Gemeinschaft« (Benedict Anderson) als die »gedachte Nation« im Kopf eines jeden einzelnen. Drittens, bezweifelt sie die Natürlichkeit des Nationialismus und der Nation und hinterfragt die Bedeutung des Nationalismus, sowohl als »identitätsstiftendes Element« für den Einzelnen als auch als »ideeler Überbau« für die »gedachte Ordnung«. Und schließlich versucht sie das Glaubensgebäude des Nationalismus als ein umfassendes »Weltbild« (Max Weber) oder als eine »gedankliche Vision« (Pierre Bourdieu) zur Verortung der modernen Welt infrage zu stellen, indem sie seine temporären Aggregatzustände nachzeichnet und nachweist, dass auch der reife Nationalismus in ausgebildeten Nationalstaaten sich ständig einem Wandel unterzieht und nicht die »perfekte, ewige Ordnung« darstellt. Vielmehr geht der Nationalismus wechselnde Allianzen und Koalitionen mit religiösen Konfessionen, Traditionen, Denkschulen, historischen Regionen, Bevölkerungsgruppen oder sozialen Bewegungen ein, die ihm immer wieder neue Nahrung zuführen und seine Langlebigkeit mitbegründen.
Für Wehler entsteht Nationalismus als Antwort auf Strukturkrisen, die aus einer kritischen Phase »fundamentaler Verunsicherung« des »Regelvertrauens« hervorgehen. Die zugespitzte Legitimationskrise führt zur Revolution, die als Konsequenz die Veränderung der alten Ordnung und Erosion des Institutionengefüges nach sich zieht. Allerdings führt der Kampf um politische Autonomie, der sich oftmals gegen faktische oder befürchtete Fremdherrschaft richtet, auch zu Auseinandersetzungen unterhalb von Revolutionen, die die bestehenden Machtstrukturen und Institutionen unter Rechtfertigungsdruck bringen. Es handelt sich dabei um Gesellschaftstransformationen in Form von durch Modernisierungskrisen entstandenen Nationalismus. Die Legitimationskrisen werden oftmals durch religiöse Konflikte verschärft, die die neuen Kräfte zu ihrem Erfolg zu nutzen versuchen und die die Ablösung bestehender Weltbilder zum Ziel haben. Dies ist Teil des Charakters des Nationalismus, denn sein Ziel ist die Schaffung einer neuen Ordnung und Legitimationsbasis für das Gemeinwesen, wozu er seine mobilisierenden und integrierenden Fähigkeiten nutzt. Insofern kann man mit Wehler den Nationalismus auch »als ingeniöse soziale Erfindung verstehen«.
Zugleich geht mit dem Nationalismus immer schon eine Gefahr einher, die sich aus der Ambivalenz seines Erfolges ergibt. Er besitzt mobilisierende sowie integrierende Wirkung, die sich historisch als politisch gefährlich und in Konfliktsituationen als destabilisierend erwies. Er eignet sich als Syndrom des Glaubens an die eigene nationale Einzigartigkeit und Sakralisierung der nationalen politischen Ziele. Die neuere Nationalismusforschung geht daher davon aus, dass die Nation ein vom Nationalismus konzipiertes Produkt darstellt. Dabei gelang das Kunststück, die Illusion von geschichtlicher und traditioneller Kontinuität aufzubauen und so eine homogene, seit der Urzeit tief verwurzelte Volksgemeinschaft entstehen zu lassen, die die ethnische Andersartigkeit von Bevölkerungsteilen glättete und die »historische Mission« der Nation in den Mittelpunkt stellte. Aus letzterer leitet sich dann auch der primäre Fokus des Nationalstaats auf »nationale Interessen« ab.
Die Ausblendung und Transformation »unpassender Traditionen« erlaubte die Entstehung einer »passenden Vergangenheit«, die durch »existentielle Bewährungsproben« in Form von Krisen und Kriegen Blutopfer der neuen »traditionsgeheiligten Verbände« rechtfertigte und geradezu zur erfolgreichen nationalen Identitätsausbildung verlangte. Die Opfer dienten zur Stärkung der Glaubwürdigkeit, sie waren Märtyrer für die mit Blutzoll neu eingeschworene Volksgemeinschaft. Der souveräne Nationalstaat war somit durch den Nationalismus integriert und legitimiert worden.
Weiterhin ist die dem Nationalismus zugrunde liegende Leitidee der homogenen Nation eines der großen Probleme, und neben der politischen Exklusion von nationalen Minderheiten auch Triebfeder des politischen Antisemitismus. Zur seiner Attraktivität gehört hingegen der durch ihn erfolgreich geschaffene Nationalstaat, der den Bürgern die Moderne sichern sollte und im Einklang mit dem Weltbild der Zeit war, obwohl die dem Nationalstaat zugebilligten Errungenschaften de facto nichts mit seiner Verfassungsform zu tun haben. Die Industrielle Revolution, die schnelle Industrialisierung und Wohlstandssteigerung, die nicht gekannte politische Teilhabe und die Gewährung von Rechtssicherheit wurden als seine Erfolge verbucht. Der moderne Verfassungs- und Rechtsstaat ist gleichsam im kollektiven Gedächtnis als Produkt des Nationalstaats verankert, obwohl dieser in den meisten Ländern Europas älter als der Nationalstaat ist und vielmehr ein Resultat des Konstitutionalismus und des Parlamentarismus. Zuguterletzt wurde ihm noch der Sozialstaat zugemessen, der sich durch die moderne Daseinsvorsorge, durch sein soziales Netz, aber auch durch Gewerkschaften und Tarifpolitik auszeichnet. Die innere Staatsbildung der Nation mit Verwaltungs-, Finanz- und Militärbürokratie resultierte zumindest in Europa in einem stabilen Gerüst von Institutionen, die zur Akzeptanz der Nationsbildung führten, lange bevor der Nationalismus die Gesellschaft und Staatsorganisation transformieren konnte. Wehler erscheint es plausibel, dass dieser Vorgang der äußeren und inneren Staatsbildung sich als die entscheidende Voraussetzung für den Erfolg des Nationalismus herausstellte; hingegen in Ländern, die diese innere und äußere Staatsbildung nicht erfolgreich bewerkstelligten, dies zu einer verhängnisvollen Dauerlabilität führte.
Als schwerwiegendstes Problem hat sich mittlerweile das zum Konzept des Nationalismus gehörende »Selbstbestimmungsrecht der Völker« herausgestellt. Dieses Prinzip, das zur politischen Antriebskraft und Psychomotorik des Einigungs-, des Sezessions- und des Transfernationalismus gezählt wird, hat desaströse Folgen gezeitigt, die dringend einer Eingrenzung bedürfen. Wehler spricht sich für eine Schwelle aus, unterhalb derer beliebig kleine Völkerschaften nicht automatisch ihren souveränen Nationalstaat als verbrieftes Selbstbestimmungsrecht zugebilligt bekommen dürfen, und benennt den Balkan, das Baskenland und die Kaukasusregion sowie Staaten in Afrika als potentielle Versorgungsfälle, wenn man ihnen, die weder politisch noch ökonomisch überlebensfähig seien, Autonomie zugestehen wolle. Er schlussfolgert, dass die uneingeschränkte Garantie aller Grundrechte sowie die regionale und kulturelle Autonomie nicht an das einstige Ideal des souveränen Nationalstaats gebunden sei, wie dies früher vom Selbstbestimmungsrechts der Völker beansprucht wurde. Hier böten sich heutzutage erfolgreichere föderalistische Lösungen an.
Der Nationalismus sei daher mit seinem Nationalstaat auf mehreren »regionalen Experimentierfeldern« fatal gescheitert. Das Ziel der homogenen Nation erwies sich schon in den europäischen Mutterländern des Nationalstaats als schwierig, wie man unschwer an Großbritannien oder Spanien ablesen kann. Die Übertragung dieses Konzepts auf Ost- und Südosteuropa löste erhebliche Probleme aus, die sich in multiethnischen Gebilden wie Russland täglich manifestieren. Wobei, so Wehler, die »ethnische Säuberung« nur »die gnadenlos konsequente Realisierung des verklärten Homogenitätszieles« war und ist. Analog lässt sich dies auch in anderen Teilen der Welt beobachten: Auf »multiethnische, polyzentrische Verbände ohne gefestigte Staatstraditionen« scheint der Nationalismus mit seiner Nationalstaatsidee schlichtweg nicht übertragbar. Düster ist Wehlers Prognose, dass überall dort wo er im Namen des Westens dennoch transferiert wird, »mörderische Massaker, engstirniger Rückzug auf einen Partikularnationalismus, erbitterter Widerstand gegen die befürchtete Vergewaltigung durch die neue Zentralgewalt die offenbar unvermeidbare Folge« seien.
Das Buch ist ein Parforceritt durch die Geschichte des Nationalismus. Es ist kenntnisreich, benennt Details nur wo notwendig, ohne allerdings wichtige Aspekte zu unterschlagen. Stilistisch brilliant geschrieben gibt es ein pointiertes Urteil über den Nationalismus und seine Zukunft ab, und kann uneingeschränkt empfohlen werden.
Ulrich Arnswald