»Politik wird im Parlament gemacht!« Diese Beschwörungsformel wird von kritischen Geistern seit gut zwanzig Jahren regelmäßig und in letzter Zeit immer häufiger gegen die Verlagerung des Prozesses der politischen Entscheidungsfindung aus der Volksvertretung in diverse nichtöffentliche Gremien und Zirkel vorgebracht. Schon in der sogenannten ›Ära Kohl‹ wurde ein Politikstil beklagt, der die Massenmedien dazu nutzte, politische Leerformeln durch ›Personalisierung‹ zu gewichtigen Überzeugungen aufzublähen, während die wirklich relevanten Fragen privatissime in ›Küchenkabinetten‹ erörtert und entschieden wurden; immerhin verströmte dieser Regierungsstil neben dem Air der Konspiration auch noch den diskreten Charme der verflossenen Bonner Republik. Der Umzug in die Metropole im märkischen Sand brachte neben einem neuen Kanzler und einer veränderten Parteienkonstellation ansonsten wenig Neues. Nur dass die Zirkel jetzt vorab der (mehr oder weniger) interessierten Öffentlichkeit mit großem Aplomb als »Expertenkommissionen« präsentiert werden. Der Charme ist dahin, die konspirative Arbeitsweise bleibt: Irgendwann wird ein fertiges Gesetz vorgelegt, das, mit dem Namen des Vorsitzenden jener Kommission veredelt, als funkelndes goldenes Kalb vor den staunenden Volksvertretern hergetragen wird. Und während die Koalition es noch huldreich umjubelt, wetzt die Opposition bereits die Messer, um es in irgendwelchen exklusiven Ausschüssen zu schlachten. Lässt sich auch auf diese Weise keine Einigung erzielen, landet der Kadaver schließlich vor den Hohepriestern des Verfassungsgerichts. Das Parlament als Bühne, als Forum, auf dem in offenem Rednerwettstreit um die besten Ideen gefochten wird, diese Vorstellung scheint einer fernen historischen Epoche anzugehören, an die sich niemand mehr erinnert.
Doch vielleicht ist der Gedanke ja auch allzu naiv. Eine moderne, funktional ausdifferenzierte Gesellschaft mit ihren technokratischen und bürokratischen Institutionen wird, wenn überhaupt, weit mehr von administrativen Notwendigkeiten als von parlamentarischen Entscheidungen beherrscht; ihre eingefahrenen Prozeduren und erprobten Methoden lassen nur wenig Spielraum für neue Ideen, die im Rahmen einer parlamentarischen Debatte als politische Willensbekundungen artikuliert werden. – Aber wenn das so ist, dann stellt sich die Frage, welche gesellschaftliche Relevanz der Begriff ›parlamentarische Demokratie‹ überhaupt noch hat. Eine gelebte Demokratie konstituiert sich nicht durch das formale Ritual von Wahlen, die den Bürgern alle paar Jahre ein Bleistiftkreuzchen abverlangen. Sie muss im täglichen Leben wahrgenommen werden, d. h. von der Idee bis zur Umsetzung in politisches Handeln müssen Transparenz und Konsequenz herrschen.
Was heute mit dem Schlagwort ›Mediendemokratie‹ bezeichnet wird, ist keines von beidem; genau besehen ist es nicht einmal demokratisch, denn die Bürger fungieren in diesem Spiel institutioneller Akteure nur als Zuschauer. Die wesentlichen Handlungsträger sind: prominente ›Spitzenpolitiker‹ der jeweiligen Parteien, Medienvertreter, die mit ihnen regelmäßigen Umgang pflegen, sowie diverse Meinungsforschungsinstitute, welche die Medien mit den passenden Stimmungsbildern füttern. Sie bilden eine Art symbiotisches Dreiecksverhältnis, in dem die Journalisten als Stichwortgeber für die politischen Statements der Fernsehgesichter der Parteien dienen, die ihre Antworten an den ›Erkenntnissen‹ der Meinungsforscher ausrichten, welche wiederum ihre Fragen nach der Tagesaktualität, d. h. den gerade in den Medien kursierenden Themen auswählen. Ein selbstreferentielles System hat sich so herausgebildet, das mit dem täglichen Leben der Bürger überhaupt nicht mehr in Berührung zu kommen braucht. Dass es sich trotzdem einreden kann, irgendwie demokratisch zu sein, hängt mit der Versicherung der Demoskopen zusammen, ihre Methode sei in der Lage, die Mehrheitsmeinung zuverlässig zu errechnen. ›Mehrheit‹ jedoch ist in diesem Fall eine statistische Größe, die sich erst im Zusammenspiel des mulitmedialen Dreiecks aus ›Spitzenpolitikern‹, Journalisten und Meinungsforschern konstituiert. Der Zuschauer kann sich dann anhand von bunten Torten- und Balkendiagrammen des »Politbarometers« (der Name sagt mehr als seinen Erfindern bewusst ist) vergewissern, ob er mit seiner Meinung zu den Gewinnern oder Verlierern gehört hätte – wenn er denn gefragt worden wäre. Und der bei diesem virtuellen Wettstreit unterlegene Politiker kann seine PR-Berater anweisen, sich ein anderes Image für ihn auszudenken, damit das, was er will, beim nächsten Mal besser ›rüberkommt‹.
Dieses mediale Spiel simuliert Wichtigkeit auf einer abstrakten Ebene, die nur noch sehr indirekt mit dem Leben der Menschen »draußen im Lande« zu tun hat. Mehrheiten lassen sich ja auch viel leichter organisieren, wenn eventuell eintretende negative Auswirkungen nicht direkt spürbar oder wenigstens den zugrundeliegenden politischen Entscheidungen nicht ohne weiteres zuzurechnen sind. So wird der statistisch errechnete Mehrheitsmensch (ein Zwillingsbruder ›des Verbrauchers‹) die Frage der Schaffung eines »freien« Marktes ohne staatliche Restriktionen gewiss vorbehaltlos bejahen, und viele Bewohner städtischer Ballungszentren könnten sich dieser Meinung auch ohne weiteres anschließen, gelangen sie doch sehr viel billiger in den Genuss ihrer heiß begehrten Waren. – Was aber bedeutet das für die Produzenten der Rohstoffe in den zumeist ländlichen Regionen oder, schlimmer noch, für die Anrainer der großen Verkehrsadern, welche die zur globalen Verteilung nötigen Transportkontingente tagtäglich durch ihre Vorgärten rollen sehen, ohne irgend einen Vorteil von dem schrankenlosen Handel zu haben? Hier entstehen die Friktionen der ›globalisierten Welt‹. Die regionale Lebenswirklichkeit wird von jener Simulation namens ›Mediendemokratie‹ umstandslos nivelliert.
Der amerikanische Politologe Benjamin R. Barber hat in seinem aufsehenerregenden Buch Coca Cola und heiliger Krieg, bereits 1995 den Konflikt zwischen den nach globaler Vorherrschaft strebenden, von privatwirtschaftlichen Interessen dominierten Gesellschaften des Westens und einem nationalistisch oder religiös eingefärbten Separatismus der Regionen beschrieben. Im Vorwort der Neuauflage, das er in Reaktion auf die Terroranschläge des 11. September 2001 hinzugefügt hat, fordert er nicht eine Abkehr von der Globalisierung (und damit eine Rückbesinnung auf den bürgerlichen Nationalstaat, den er im ursprünglichen Text noch als Hort der bürgerlich-demokratischen Gesinnung ausgemacht hat) sondern eine »Globalisierung der Demokratie« . Auf dem Papier nimmt sich dieser Gedanke gewiss reizvoll aus. Doch muss eher zweifelhaft erscheinen, ob er sich je wird umsetzen lassen (erst recht natürlich mit den Mitteln, welche die gegenwärtige amerikanische Administration für adäquat hält), denn die ›globalisierte Demokratie‹ ist im Grunde nur die Projektion der bereits praktizierten ›Mediendemokratie‹ des Westens auf den gesamten Erdball. Durch Projektion indes gwinnt eine Simulation keinen Deut an Wirklichkeit hinzu.
Verantwortlich für die Transformation der traditionellen Welt pluraler Kulturen in die weltumspannende Monokultur der sogenannten »McWorld« ist nach Barber jene Industrie, die er als »Infotainment-Telesektor« bezeichnet. Damit meint er, amerikanische Verhältnisse vor Augen, die allmählich miteinander verschmelzenden, ausschließlich privatwirtschaftlich organisierten Bereiche Fernsehen, Kino und Internet, die ihre Programme voll und ganz auf die Ankurbelung des privaten Konsums abgestellt haben. Das Perfide ihrer Strategie bestehe darin, dass sie die demokratische Freiheit mit der Wahlfreiheit des Fastfoodkonsumenten identifiziere: »Auf dem globalen Markt von Mc World beschränkt sich die Volkssouveränität auf die freie Auswahl der Lieblingssoße zur Folienkartoffel. Der Rest ist passiver Konsum« Ein von solcher Marktideologie beeinflusstes Bewusstsein lasse sich dann umso leichter einreden, dass das wohlverstandene öffentliche Interesse, sofern es Konsum und Verschwendung Grenzen setzen will (etwa beim Umweltschutz oder ganz allgemein in der Frage steuerfinanzierter öffentlicher Aufgaben, die das private Einkommen und damit die Kaufkraft schmälern) ›in Wahrheit‹ ein verbrämtes Partikularinteresse (von Umweltschützern, Eltern oder regionalen Interessengemeinschaften) sei. Auf diese Weise werde die Grundlage der demokratischen Gesellschaften, der Konsens darüber, dass es überhaupt so etwas wie einen öffentlichen Bereich gibt, unterminiert.
Die Analyse ist gewiss zutreffend, die Tendenz zur Abtretung öffentlicher Aufgaben an privatwirtschaftliche Organisationen ist auch bei uns unübersehbar. Wie tief die Marktideologie bereits in die Hirne selbst der sogenannten ›vierten Gewalt‹ eingedrungen ist, zeigt sich in diversen Kommentaren zur leidigen Steuerdiskussion, in denen der Staat als Abzocker oder schamloser Profiteur hingestellt wird, so als sei staatliches Wirtschaften ebenso wie das private auf Gewinnmaximierung angelegt und das staatliche Steuerprivileg im Grunde nichts anderes als ein kapitalistisches Monopol.
Ist das Bewusstsein eines eigenständigen Bereichs öffentlicher (d. h. die Allgemeinheit und eben nicht einzelner Gruppen oder Individuen betreffender) Aufgaben erst einmal so weit geschwunden, so ist es sicher nicht damit getan, die Medien in die öffentliche Hand zu überführen, wie Barber dies in seinem Buch fordert. Ein solches Vorgehen kann nur als unerlaubter staatlicher Eingriff in die verbrieften Freiheitsrechte missverstanden werden, solange Freiheit mit schrankenloser Entfaltung des Marktes gleichgesetzt wird.
Barber stellt die Kräfte des Djihad jenen von »McWorld« als deren dunkle Brüder an die Seite, und er hat gewiss insofern recht, als antagonistische Parteien immer aufeinander angewiesen bleiben (was wäre Osama bin Laden ohne das weltumspannende Satellitenfernsehen?), aber das zugrunde liegende Problem lässt sich nicht durch eine (sei es auch globale) medienpolitische Entscheidung lösen. Wäre dies so, dann müsste die Tatsache, dass die »BBC World News« bereits heute bis in das letzte Beduinenzelt vorgedrungen sind, den heiligen Kriegern längst den Wind aus den Segeln genommen haben.
Der Denkfehler entsteht durch eine perspektivische Verschiebung, die durch das mediale Dreieck hervorgerufen wird: Die ›Öffentlichkeit‹, die Barber globalisiert sehen möchte, ist ebenjene Simulation, die durch das Zusammenspiel der institutionalisierten Kräfte gesellschaftlicher Vermittlung entsteht. Das Problem hängt nicht mit der Organisationsform dieser Kräfte zusammen, sondern mit der Abstraktion, die ihrer Vermittlungsleistung notwendigerweise zugrunde liegt: dem Absehen von regionaler Wirklichkeit, unterschiedlicher Interessenlage, kultureller Differenz.
Wie konstituiert sich eine demokratische Öffentlichkeit? Indem sich Menschen als Gleiche begegnen, um im Gespräch ihre gemeinsame Interessenlage zu erkunden und in die Tat umsetzen, was jeder Einzelne nicht zu schaffen vermag. Auf diese Weise sind, nachzulesen bei Alexis de Tocqueville, im Amerika des frühen 19. Jahrhunderts sich selbst organisierende Gemeinden entstanden mit Schulen, Richterämtern und einer Verwaltung, die sich um die Belange ihrer Wähler kümmerte, weil sie sie nicht als Verwaltete ansah, sondern als Bürger. Das, was von öffentlichem Belang ist, hat sich seit jener Zeit, entgegen dem medial vermittelten Eindruck, nur wenig geändert: Sicherheit, Bildung und ein lebenswertes Umfeld mit funktionierender Infrastruktur. Auch Barber gibt diesem Begriff von Öffentlichkeit ausdrücklich Raum: »Die demokratische Gesellschaft oder der öffentliche Raum besetzt das Mittelfeld zwischen Staat und Privatsektor. Dort wählen wir nicht und kaufen oder verkaufen auch nicht, sondern dort reden wir mit Nachbarn, planen einen Basar für die Kirche, erörtern die Beherbergung von Obdachlosen durch unsere Kirche oder Synagoge oder organisieren im Sommer eine wilde Fußballiga für unsere Kinder.« Aber seine starre Einteilung in drei »Sektoren« führt ihn dazu, staatliche Bemühungen, diese Öffentlichkeit zu schützen (etwa durch Reglementierung von Verkehrs- und Warenströmen sowie Eindämmung des Einflusses der amerikanischen Kulturindustrie) umstandslos den zersetzenden Kräften des Djihad zu subsumieren.
›Öffentlichkeit‹, wie sie das multimediale Dreieck herstellt, hat wenig zu tun mit der Öffentlichkeit des Demos (und genau darum handelt es sich im Grunde bei der sich selbst organisierenden Gemeinde). Nichts verdeutlicht dies besser als jene vieldiskutierte Diskrepanz zwischen dem in Meinungsumfragen geäußerten Gefühl der Bedrohung und der tatsächlichen Unwahrscheinlichkeit für den Einzelnen, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden. Eine demokratische Globalisierung setzte also zunächst einmal einen Bewusstseinswandel voraus, eine (man verzeihe mir den Rückgriff auf dies außer Mode gekommene Wort) Aufklärung über den manipulativen Charakter medial vermittelter ›Wirklichkeit‹, damit die Menschen klar unterscheiden können zwischen dem, was sie unmittelbar angeht und dem, was nur eine vergröbernde Abstraktion fremder Erfahrung ist. Erst dann kann aus einem Massenmedium ein wirkliches Instrument der »Vernetzung« von freien, gleichen, in friedlichen Gemeinden zusammenlebenden Menschen werden. Es war diese Vision, die einst die Entwicklung der Kommunikationstechnik vorantrieb. Heute freilich erscheint sie uns ferner denn je – eine weitere Illusion der technokratischen Intelligenz.