Burckhard Dücker
Selbstinszenierung und Kanonisierung:
Strukturmerkmale ritualisierter Öffentlichkeit

Einleitung: Vier Fallbeispiele

Im 8. Gesang der Odyssee berichtet Homer, dass Odysseus während seines Aufenthalts bei den Phäaken den Sänger Demodokos öffentlich vor der höfischen Festgesellschaft ehrt, indem er ihn – freilich nicht am Königstisch – am Festmahl teilnehmen lässt, weil jener die Geschichte der Achaier vorgetragen habe, als sei er selbst dabei gewesen. Ein zweites Mal bestätigt Odysseus die nun schon erwartete Authentizität eines Berichts von Demodokos, als dieser auf Odysseus’ Bitten einen Abschnitt aus dessen eigener Geschichte, nämlich die Episode mit dem Trojanischen Pferd, vorträgt: Odysseus muss sich vor Rührung von der Vortragsbühne abwenden und sein Gesicht verhüllen, weil die vom Sänger inszenierte Gestaltung des Geschehensablaufs seinem eigenen Erinnerungsbild völlig entspricht und ihm den vergangenen Handlungszusammenhang mit seinen situationsspezifischen Implikationen vergegenwärtigt. Durch seine leibsymbolische Reaktion verkörpert Odysseus seine Bewertung der Aufführung, er macht sie für die Festgesellschaft lesbar.

Insgesamt definiert Odysseus das Szenario ›Hoffest‹ bei den Phäaken unter erinnerungspolitischem Gesichtspunkt als Gelegenheit zur Selbstinszenierung. Wenn er Demodokos für dessen Version der Heldendarstellung mit einer Gabe – Einladung zum Festmahl – ehrt, bezeichnet er ihn – über die bloße Anerkennung für eine erbrachte Dienstleistung hinaus – als der Herrschernähe würdig, ohne damit die soziale Rangordnung zu verändern. Entscheidend ist die Bestätigung der herrschaftsauslegenden und -sichernden Funktion der Institution Literatur. Letztlich legitimiert Odysseus sich selbst in der Rolle des geschichtsmächtigen Repräsentanten der griechischen Position, die ihm der Sänger zugeschrieben hatte. Demodokos konstruiert ein ideales Erinnerungsbild von Odysseus, dieser erwartet – mit Recht, wie der weitere Festverlauf bestätigt – entsprechende reale Konsequenzen für die Handlungsgegenwart. Die symbolisch als Auslegungsangebot vorgetragene Wirklichkeitskonstruktion, die normative Erwartung, bestimmt die soziale Wirklichkeit, die symbolische Repräsentation als Handlungsmacht verschafft der repräsentierten Norm Präsenz: Indem die Phäaken Odysseus’ geschichtsmächtige Funktion anerkennen, verändert sich nicht nur sein Status, sondern auch der des Auslegungsangebots, das als Gründungstext kollektiven Gedächtnisses anerkannt wird.

Demodokos nimmt die Gabe nicht nur an, sondern versteht auch die damit zugeschriebene Erwartung als Verpflichtung, indem er sich mit einem zweiten Vortrag – als Gegengabe – revanchiert. Dass dieser zweite Bericht auf Odysseus’ Bitte hin vorgetragen wird, entspricht der Distanz, die auch mit Odysseus’ Gabe nicht aufgehoben ist: Demodokos nimmt am Festmahl teil, aber nicht gleichberechtigt mit den Herrschenden. Um seine vorbereitete Gegengabe präsentieren zu können, bedarf es eines Signals der Mächtigen. Aus der Perspektive der nicht zum Mahl Geladenen handelt es sich um eine Auszeichnung, eine Erhöhung des Sängers, für die Herrschenden bleibt die soziale Hierarchie gewahrt.

Ihre besondere Pointe gewinnt diese Inszenierung von Wirklichkeit dadurch, dass sie gleichsam auf einer Bühne gezeigt wird, die selbst wiederum auf der von Homer mit seiner Odyssee errichteten Bühne der Inszenierung des Helden Odysseus spielt. So kann das Spiel im Spiel als Zeichen für die Konstruktivität bzw. die Erfindung von Tradition und Wirklichkeit gelesen werden. Damit das lange zurückliegende Geschehen vor Troja für eine beliebige Gegenwart wirklichkeitsbildend und handlungsorientierend werden kann, ist seine Gestaltung (Darstellung und Auslegung) als narrativer Sinnzusammenhang mit einem Anfang und einem daraus folgenden Ende ebenso unverzichtbar wie dessen Bestätigung durch eine institutionell dazu legitimierte Definitionsmacht. Erinnern ist bekanntlich eine Form von Gegenwartshandeln, daher kann die in der Erinnerungserzählung mitgeteilte Referenz Wirkung nur in der Gegenwart ihrer jeweiligen Aufführung entfalten; damit werden diejenigen, die wie Dichter und Künstler über symbolische Handlungskompetenz verfügen, als unentbehrliche Hüter des kollektiven Gedächtnisses von deren jeweiligem institutionellen Machtfundament privilegiert, was sich in der Regel als Aufnahme der Erinnerungsspezialisten ins kanonisierte Erinnerungssystem zeigt und was für Demodokos und Homer zutrifft.

So rühmt auch der römische Epistolograph und Redner Plinius der Jüngere (61/62 – 113/14) den verstorbenen Dichter Martial, weil dieser ihm »Ehre und Ruhm, und beides für die Ewigkeit« verschafft habe. Insgesamt ist bei mäzenatischen Aktivitäten eine erinnerungspolitische Dimension zu berücksichtigen, denn in der Regel sorgen die Mäzenierten dafür, dass der Name ihres Förderers – gleichsam als Gegengabe – ins spezielle Erinnerungssystem Literaturgeschichte aufgenommen wird.

Über die Feierlichkeiten anlässlich der Hochzeit des Thronfolgers in der regierenden Grafenfamilie des Hauses Stolberg 1737 verfasst der am Stolberger Hof als Hofdichter (»Hof-Agent«) tätige Johann Gottfried Schnabel eine Chronik der Ereignisse unter dem Titel Das höchst-erfreute Stolberg. Seine eigene Funktion fasst er in den Zweizeiler: »Mein Ammt ist aller Welt zu sagen,/ Was sich in Stolberg zugetragen.«, womit er vorgibt, einem öffentlichen Interesse nachzukommen. Allerdings wird die Welt nicht gefragt, ob sie Schnabels Bericht lesen will, sie hat aber keine andere Wahl, als ihn zur Kenntnis zu nehmen, weil er im medialen Speichersystem Literatur vorliegt. Wie jede Chronik kann auch Schnabels Bericht nur ausgewählte Ereignisse anhand einer vorgegebenen Darstellungsstruktur zu einem Sinnzusammenhang mit Anfang und Ende gestalten. Als Gestaltungsmuster wählt er eine chronologische Anordnung der Handlungssegmente, die ihm für die symbolische Herrschaftsrepräsentation am bedeutendsten erscheinen. So entsteht das Bild einer idealen, konfliktfreien Beziehung zwischen Regierenden und Regierten, das von der sozialen Realität zu bestätigen ist. Für die Grafenfamilie bedeutet Schnabels Bericht die Aufnahme in das literaturgeschichtliche Erinnerungssystem, für Schnabel eine Verbindung zur politischen Geschichte.

Besonders an diesem Beispiel und dem von Odysseus’ Auftritt beim Hoffest der Phäaken wird deutlich, dass Macht, Herrschaft und Politik symbolisches Handeln nicht nur anregen, sondern dass sie geradezu darauf angewiesen sind als auf eine Institution, die ihren Aktionen über deren bloße Aus- und Aufführungsdauer hinaus geschichtsmächtige Sinnhaftigkeit, Bedeutung und Gestaltungsaktivität (z. B. regelmäßige Gedenkrituale, literarische / künstlerische Gestaltungen) verschafft. Erinnerungspolitisch zählen weniger der ökonomische und machtpolitische Nutzen, den militärische und politische Aktionen einbringen, sondern das durch sie erwirtschaftete ›symbolische Kapital‹ (Pierre Bourdieu), dessen Wert sich nach der Qualität der Medienpräsenz eines Ereignisses bemisst. ›Politisch‹ und ›medial‹ gehören nicht zuletzt deshalb als Attribute eines Feldes zusammen, weil sie wegen ihrer symbolischen Dimension die Schnittmenge einer Entwurfsperspektive teilen.

Vorbereitet wird die Aufnahme eines Handlungskomplexes in ein Erinnerungssystem durch symbolische Auslegungsangebote, die von Zeitzeugen vorgelegt werden, aber auch durch Selbstkommentare der Akteure. So bestätigt Odysseus selbst die von Demodokos gewählte Inszenierung seiner Taten als authentisch und als Muster eines Helden, womit er die Überlieferung in dieser Form als verbindlich patentiert und damit die Möglichkeit ihrer Kanonisierung vorbereitet. Auch Schnabels Hochzeitschronik inszeniert ein unvergängliches Szenario für die einmalige und zeitlich begrenzte Aufführung der Hochzeitsperformance: Er verzeichnet genau die in den Fenstern zahlreicher Häuser in Stolberg zu Ehren des Brautpaars ausgestellten illuminierten emblematischen Gestaltungen (antike Szenen, allgemeine Lebensweisheiten usw.), aber nur die, die ihm künstlerisch am originellsten und gelungensten erscheinen; wohl nicht zufällig deckt sich das Ergebnis dieser Auswahl im wesentlichen mit der Gruppe der angesehensten Bürger, deren Name, Anschrift und Beruf verzeichnet werden. (Hier öffnet sich für das Verständnis der Kategorie künstlerische Originalität das Feld der historischen Epistemologie, die die Entstehung, Geschichte und Bedeutung jener Strukturen erforscht, »die die Gültigkeit unseres Wissens gewährleisten« (Lorraine Daston) und – so ist hinzuzufügen - auch die der Wertkomplexe und -begriffe.)

Die Einwohner unterbrechen ihren Alltag und gestalten ihre Stadt symbolisch zum Kunst- und Gedenkort, vor dessen Häusern als Kulissen sich der Auftritt der Akteure vollzieht: Das Brautpaar fährt durch die gereinigten und geschmückten Straßen und bestätigt die Visualisierung seiner Herrschaftsgeltung und deren Akzeptanz durch die Bürger. Allerdings beschreibt Schnabel nur die Kulissen, nicht die Aufführung. Er verzeichnet nicht, wie lange das Brautpaar vor den einzelnen Häusern verweilt und mit welchen Kommentaren es die Gestaltungen versehen hat, was womöglich zu Unstimmigkeiten zwischen den Bürgern geführt hätte. Diese erhalten dafür mediale Aufmerksamkeit als Aufnahme ins literatur- und regionalgeschichtliche Erinnerungssystem, aber nicht als einzelne, sondern als Funktion eines dynastischen Kontexts. Es geht nicht um Individualgeschichte. Indem das Grafenhaus die Hochzeitschronik bei Schnabel in Auftrag gibt, vollzieht es einen Akt medialer Selbstinszenierung für die Aufnahme ins kulturgeschichtliche Erinnerungssystem und für die damit eröffnete Gedenkmöglichkeit. Durch die Umwandlung von Ereignissen in einen narrativen Sinnzusammenhang wird erinnerungspolitisch einsetzbares symbolisches Kapital (Image, Prestige, Singularität usw.) produziert. Auch durch den Deutungsbedarf besonders normenkonformer oder -kritischer Auftritte kann symbolisches Kapital erwirtschaftet werden. In der Regel sind es Handlungen oder Objekte, die wegen ihrer Referenz zu Kontexten von Prominenz, Events und Devianz Gegenstand medialer Aufmerksamkeit und symbolischer Aufwertung werden können.

Im April 1774 bekennt der früh verstorbene Dichter Ludwig Christoph Heinrich Hölty, der zu den Gründungsmitgliedern des Göttinger Hainbunds gehört, in einem Brief: »Ich will kein Dichter sein, wenn ich kein grosser Dichter werden kann. Wenn ich nichts hervorbringen kann, was die Unsterblichkeit an der Stirne trägt, was mit den Werken meiner Freunde in gleichem Paare geht, so soll keine Silbe von mir gedruckt werden. Ein mittelmässiger Dichter ist ein Unding!« Immer wieder benennt Hölty in seinen Briefen nicht nur die ›Unsterblichkeit‹, d. h. aber die Kanonisierung als Ziel seiner Karriere als Dichter, sondern er entwickelt auch strategische Vorstellungen, um dieses Ziel zu erreichen, wie z. B. Freundschaften und Gegnerschaften mit bedeutenden Kollegen, die Gründung eines Dichterbunds und die in der Öffentlichkeit der Korrespondenzpartner häufig wiederholte Beteuerung, an der eigenen Unsterblichkeit zu arbeiten. Ausschlaggebend für die angestrebte Geltung ist die Aufmerksamkeit der Medien, wozu im 18. Jahrhundert vor allem auch das Medium des Briefes und der dadurch hergestellten Korrespondenzkreise zählt, wurden doch gerade Privatbriefe geschrieben, um weitergereicht zu werden.

Zwar ist der physische Tod des Individuums nicht zu verhindern, der soziokulturelle Tod des Vergessenwerdens als Rollenträger aber kann auf unabsehbare Zeit aufgeschoben werden. Ernst Kantorowicz spricht von den zwei Körpern des Königs und meint damit den sterblichen des Individuums und den unsterblichen, weil in einer öffentlichen ritualisierten Handlung gekrönten Körper des Königs, dessen historische Unsterblichkeit in der Geschichte der Institution Monarchie fundiert ist. Gewonnen wird die historische Ewigkeit oder ›Unsterblichkeit‹ als symbolische Lebensstiftung z. B. durch eine Krönung oder Ernennung und die dadurch vollzogene Einverleibung in eine Institution oder durch einen Dichter, dessen ›Erzählung‹ die Aufnahme eines Monarchen usw. in ein literaturgeschichtliches Erinnerungssystem ermöglicht. Krönung, Ernennung und ›Erzählung‹ werden hier nur unter dem erinnerungspolitischen Aspekt verglichen. Für die Literatur setzt dies die Geltung als soziokulturelle Institution voraus, die für den ästhetisch-symbolischen Handlungs- und Erinnerungsraum zuständig ist, zugleich stellt die ›Erzählung‹ diese Geltung her. Dass die Autorschaft am symbolischen Leben eines Prominenten in der Regel mit erinnert wird, ist für die Herausbildung der Schriftstellerrolle und für die Institutionalisierung der Literatur zu berücksichtigen. In den hier herangezogenen Beispielen sind es Dichter – es könnten auch Architekten, Baumeister, Künstler sein –, die symbolisch Leben stiften und die historische Ewigkeit sichern.

Selbstinszenierung und Symbolizität

Damit rückt die Kategorie der Selbstinszenierung als handlungsleitend in den Vordergrund. Versteht man unter dem theaterwissenschaftlichen Begriff ›Inszenierung‹ das In-Szene-Setzen, die Bühneneinrichtung einer vorhandenen Textvorlage, sei es ein Drama, ein Libretto oder eine Partitur, wobei die Gegebenheiten der jeweiligen Bühne ebenso zu berücksichtigen sind wie die Textauffassung des Regisseurs, so handelt es sich bei der Selbstinszenierung um medienbezogene Handlungsprozesse der Selbstdarstellung auf der metaphorischen Bühne der Öffentlichkeit. Jemand versucht, seine Handlungsintention in ikonischen oder narrativen Symbolstrukturen zu verdichten, die ihm eine möglichst hohe Medienpräsenz verschaffen, so dass im günstigsten Fall eine oder mehrere ikonisch oder narrativ verdichtete Handlungsfolgen sich mit dieser Person als Merkmal ihrer öffentlichen Identität verbinden. So gehört zu John F. Kennedy der Satz ›Ich bin ein Berliner‹, zu Willy Brandt das Bild seines Kniefalls in Warschau 1970 als Symbol von Demut und Bußwilligkeit, zu Helmut Kohl der Handschlag mit François Mitterand in der Gedenkstätte Verdun als die archaische Friedensgeste einer Annäherung ohne Waffen. Es sind symbolische Handlungen, die nur in einem bestimmten historischen, geographischen und problem- oder diskursbezogenen Kontext möglich waren, die nur ein einziges Mal ausgeführt werden konnten und deren Wirkung die vorgefundenen Kontextfaktoren paradigmatisch veränderte.

Weil sie ausgeführt werden, lösen sie die Wirkungen aus, die sie symbolisch repräsentieren. Sie bewirken das, was sie bedeuten, die Markierung von Traditionsbrüchen und Gründungsakten. So sind die zeitlichen Kategorien ›Vorher‹ und ›Nachher‹ zur qualitativen Markierung einer Übergangs- oder Zwischenphase geworden, die Veränderungen des räumlichen Faktors sind mit dem Gegensatzpaar ›Abschließung‹ / ›Öffnung‹ und die des Problemkontexts mit ›Abgrenzung‹, ›Distanz‹ und ›Annäherung‹ sowie ›Verständigung‹ zu bezeichnen. Insgesamt geht es um einen Umwandlungsprozess von Statik in Dynamik.

Die Symbolizität des Handelns besteht in seinem Verweischarakter (Indexikalität) auf etwas anderes, das nur durch diese speziell organisierte symbolische Repräsentation als präsent erfahrbar ist sowie in dessen wirklichkeitsverändernder Kraft (Dynamik). Fundiert sind diese Funktionen in der Struktur des Symbols, das aus der Bildseite (Ausführung, Handeln) und der Bedeutungsseite (Indexikalität, Dynamik) besteht, die eine expansive Öffnung nach außen impliziert.

Wie im kultisch-religiösen Bereich ritualisiertes als symbolisches Handeln eine numinose oder transzendente höchste Instanz als anwesend und erfahrbar machen soll, so kann es im politischen Bereich z. B. um die Idee der Nation, des Friedens, der Tradition, der Gemeinschaft als höchstem Wert gehen.

So symbolisiert die Überreichung der Investiturinsignien den traditionsfundierten Rechtsanspruch auf die Ausübung einer Herrschaft, die Überreichung einer Preisurkunde den Anspruch, als Repräsentant der durch den Preis und die verleihende Institution vertretenen Position zu gelten. Die Ebene der Ausführung (Performanz) symbolischen Handelns ist von der seiner Wirkung zu unterscheiden, die der performativen Komplexitätsreduktion Komplexitätssteigerung entgegensetzt. Auf diese Weise erhält symbolisches Handeln eine Fremd- oder Außenreferentialität, die nicht nur die Konkurrenz mit anderen Situationsdeutungen und Ansprüchen erschließt, sondern dadurch auch Geschichtlichkeit herstellt.

Der Kniefall Willy Brandts als Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland vergegenwärtigt deren Bereitschaft zur Annäherung an und Aussöhnung mit Polen. Im Augenblick des Vollzugs dominiert die Präsenz dieser durch die symbolische Handlung repräsentierten Perspektive. Der performative Akt als Kernhandlung oder Verdichtung der Intentionalität eines ritualisierten Handlungsprozesses ist frei vom Möglichkeitsprinzip. Auf der Wirkungsebene provoziert die Symbolhandlung Oppositionen, Polaritäten, produziert neuen Handlungsbedarf. Obwohl die symbolische Verdichtung auf diese Weise in die Komplexität des Pragmatischen überzugehen scheint, bleibt sie als fundierende Vision gültig.

Dadurch dass Selbstinszenierung in der Form symbolischen Handelns verwirklicht wird, scheint die Möglichkeit ihrer ausschließlich individualgeschichtlichen Verwendung nicht zu bestehen, obwohl sie nur im Wirkungskontext des jeweiligen Akteurs ihren Platz haben kann.

Wenn als eine Voraussetzung für die historische Ewigkeit öffentlichen Handelns dessen mit der Ausführung gleichzeitige soziale Relevanz gilt, die in Werten der Medienpräsenz gemessen wird, dann scheint öffentliches Handeln besonders unter der Vorherrschaft visueller Medien zu einer formalen Kategorie für mediale Aufmerksamkeit zu werden. Deren kausale (warum?), modale (wie?), funktionale (zu welchem Zweck?), ökonomische (Kosten – Nutzen) Qualitäten haben keinen Eigenwert, sondern zählen nur im Zusammenhang mit dem dominierenden Neuheits- und Unterhaltungswert einer öffentlichen Handlung.

Weil medienspezifische Kriterien wie Aktualität, Neuheit, das Spektakuläre, rascher Einstellungs–, Sequenzenwechsel, Authentizität, überschaubare Handlung, Bedeutung der Körperlichkeit und Unterhaltung über die Konstruktion, Verbreitung und Aufnahme von Nachrichten entscheiden, entsteht eine Tendenz zur Vereinheitlichung der Wahrnehmungsangebote durch erfolgssichere Inszenierungsformen. Unterschiedliche Themen werden in ähnlicher Weise aufbereitet und dadurch ähnlich. Die medientechnischen Möglichkeiten können nicht ohne inhaltliche Auswirkungen auf die Vermittlung und Geltung politischer Bedeutung bleiben, weil sie der performativen Seite von Politik ungeahnte Aufmerksamkeit verschaffen.

Wenn die Medienpräsenz, d. h. letztlich die Einschaltquote und die Kompetenz der Selbstdarstellung eines Politikers für seine Akzeptanz als Politiker zunehmend wichtiger werden als sein politisches Programm, wenn das Wie das Was dominiert, dann entspricht diese Tendenz der zentralen Gegebenheit visueller Medien, dass Bilder wichtiger sind als Worte, was eine »Personifizierung der Politik« (Ulrich Sollmann) und eine Verschiebung der Inhalte zur Folge hat. Wenn öffentlich bis zu einem Gerichtsverfahren darüber gestritten wird, ob ein Bundeskanzler seine Haare färben lässt oder nicht, ob ein amerikanischer Präsident ein Verhältnis mit einer Mitarbeiterin hat oder nicht, ob ein deutscher Minister sich mit seiner Lebensgefährtin beim Schwimmen für die Medien fotografieren lassen sollte oder nicht, dann wird deutlich, dass die visuell vermittelbare körperliche Dimension von Politik, wozu auch das Privatleben der Politiker (sportliche Aktivitäten, Urlaubsziel und -form, literarische Vorlieben, Haustiere usw.) gehört, die politische Programmatik als Zentrum eines Begriffs des Politischen in den öffentlichen Medien zu verdrängen scheint. Nicht als abseitig wird der (noch) nicht ernst gemeinte Vorschlag abgetan, Politiker in besonderen kompetitiven Auftritten wie Fernsehduellen zwischen Amtsinhaber und Herausforderer durch Politikerdarsteller zu ersetzen. In diesem Zusammenhang wird als bester Präsident der Vereinigten Staaten der gelernte Schauspieler Ronald Reagan erwähnt. Gestik, Mimik, Körperhaltung, Artikulation, Sprechtempo, Stimmhöhe und -stärke, Kleidung, Brille, Frisur, Zigarren- oder Zigarettenmarke, Automarke und -modell usw. sowie Medienpräsenz in möglichst vielen verschiedenen Sendungsformaten sind zentrale Faktoren für das Erfolgsprofil eines Politikers. Sollmann spricht vom ›Sichtbarkeitsbonus‹ des medienkompetenten Politikers. Gefragt ist – in Abwandlung des Romantitels Robert Musils – ›der Mann mit Eigenschaften‹, die nicht nur sichtbar, wiedererkennbar und mit hoher Erwartungssicherheit verbunden sein müssen, sondern deren Symbolwert sich auch politisch verwenden lassen muss. Wenn der frühere Wirtschaftsminister und Bundeskanzler Ludwig Erhard wegen seiner Korpulenz und Vorliebe für dicke Zigarren »der Dicke« genannt wurde, dann äußert sich darin sowohl ein Zeichen von Bürgernähe als auch die Zuschreibung von Vertrauen in die fachpolitische Kompetenz eines Ministers, der für das »Wirtschaftswunder« zuständig war und es schon durch seine Körperlichkeit selbst bestätigte.

Wenn Politiker wie der saarländische Ministerpräsident Peter Müller bestätigen, dass scheinbar spontane emotionale Reaktionen sorgfältig geplante und strategisch günstig situierte, also inszenierte Äußerungen sind, dann liegt der Vergleich von politischen Räumen mit Bühnen nahe, von demokratisch gewählten Politikern mit Rollen- oder Maskenspielern, von der politisch interessierten Öffentlichkeit mit dem Publikum, das eine ›Aufführung‹ der politischen Funktionsträger nur noch ästhetisch nach ihrem Unterhaltungswert beurteilen kann oder soll. Dies zielt auf das Profil des Unterhaltungskonsumenten ab, der stets ›nur‹ Abwechslung verlangt; das Verfallsdatum des politischen Infotainments scheint sich mit seiner Aufführungs- bzw. Sendezeit zu decken. Darüber hinaus mag sich der Verdacht einstellen, dass das Entscheidende, nämlich die Entscheidungen, in einen Raum hinter der Bühne bzw. den Kulissen verlegt wird, dass ein öffentlicher Bild- und ein arkaner Wortbereich, ritualisiertes und nichtritualisiertes Handeln mit je verschiedenen Spielregeln zu unterscheiden sind.

Unmittelbar evident wird die Existenz dieser beiden Räume regelmäßig bei Staatsbesuchen. Bis zum Verschwinden der Delegationen in abgeschlossenen Diensträumen wird die Performance der Begrüßung mit rotem Teppich, Handschlag oder Bruderkuss der Politiker, Nationalhymnen (musikalische Einlage), Flaggen, Abschreiten einer militärischen Ehrenformation, Kleiderordnung (selten Bad in der Menge und Fahrt im offenen Wagen durch die Straßen) gezeigt. Dass diese Zweiteilung Ergebnis einer langen, vor allem monarchischen Tradition ist, zeigt ein Blick auf das Nebeneinander von üppiger Festkultur und Arkan- bzw. Kabinettpolitik absoluter Herrscher. Weil Entscheidungen über Interessengegensätze und die fachpolitische Arbeit arkan ausgehandelt werden, erfüllen die ritualisierten Politikerauftritte die politische Funktion eines Events, einer Aufmerksamkeitsfalle für staatsbürgerliches Engagement. Gerhard Schulzes Buchtitel Erlebnisgesellschaft (1992) ist längst zu einem Begriff geworden. Bedarf besteht an wechselnden Handlungsangeboten, daran, dass immer etwas, aber stets etwas anderes passiert, öffentlich wird, was visualisierbar ist und dynamisch, was keine Rezeptionsarbeit verlangt, das scheinbar Einmalige, das neuen ›Erlebnisnutzen‹, weniger neue Erfahrung verspricht. Worin besteht dieser keineswegs sichere, nur angebotene Nutzen? Er ermöglicht es, ›in‹ zu sein, sich an Gesprächen über das neue Erlebnis zu beteiligen, das angesichts eines allerneuesten zu veralten droht. Auf diese Weise wird eine Struktur stabilisiert: Die Struktur von Handlung als Wiederholung des Gleichartigen, das aufgrund seines Angebotscharakters und der damit verbundenen futurischen Perspektive jeweils Neues im Sinne neuer Erfahrung nur verspricht.

Sprechhandlung ›dementieren‹ oder Denkmal und Denkmalsturz

Auch die Errichtung eines Denkmals und seine symbolpolitische Integration ins ritualisierte öffentliche Handeln ist hier zu berücksichtigen. Ein Denkmal, das den Repräsentanten (Politiker, Monarch, Künstler, Revolutionsführer usw.) eines Systems in idealer Körperkonzeption (Konstruktion eines idealen Körpers als Ausdruck der natürlichen Überlegenheit des Systems) darstellt, vergegenwärtigt symbolisch Interessen, Normen, Werte und Geltungsansprüche einer bestimmten Gruppe gegenüber der eigenen Bevölkerung und dem Ausland mit dem Appell, das Angebot der Selbstinszenierung als handlungsleitende Gegebenheit zu praktizieren, dem symbolisch Repräsentierten reale Präsenz zu verschaffen.

Kommt es zum Denkmalsturz, d. h. der Rückführung des idealen auf den natürlichen Körper, der intendierten, aber prinzipiell unerreichbaren Aufhebung von Unsterblichkeit, bedeutet dies die Entwertung und Ersetzung einer symbolischen Währung durch eine andere. Mit dem Symbol fällt auch die Symbolreferenz, die Bezugsgruppe und das von ihr verkörperte System bestehen zumindest in der öffentlich ausgetragenen Auslegungskonkurrenz nicht mehr, weil sie nicht mehr symbolisch repräsentiert und präsent sind. Der Denkmalsturz entspricht symbolpolitisch der performativen Sprechhandlung ›dementieren‹, mit der die Geltung einer sozialen Wirklichkeit aufgehoben bzw. durch eine andere ersetzt werden soll. Dabei wird etwas durch diese Sprechhandlung zum Alten, Überwundenen gemacht, weil es vom Ursprung abweiche und daher verwerflich sei; Maßstab dafür ist die Setzung des Neuen, das vor allem als angemessene Deutung des Ursprungs legitimiert wird, der in seiner verletzten Authentizität wieder hergestellt werden soll. Die damit verbundene Engführung von Altem und Neuem verweist auf das Kausalitätsverhältnis, wonach jenes dieses provoziert habe, dieses jenem seine Existenz verdanke. Eine verkehrte Welt wird symbolisch markiert, damit ihre Aufhebung gerechtfertigt und vollzogen wird, eine Zeit wird als Übergangsphase konstruiert, damit ihre Beendigung propagiert werden kann.

Denkmalsturz und Dementi gemeinsam ist die Behauptung eines Traditionsbruchs, der durch diese Behauptung erst hergestellt wird. Auf jeden Fall bieten Vollzug und Diagnose eines Traditionsbruchs Anlass, eine neue, nämlich die eigene Normativität als Grundlage einer neuen Kanonbildung vorzustellen und institutionell zu positionieren.

So bleiben die Plätze, an denen Stalin- und Saddam-Denkmäler standen, entweder leer oder Symbole der neuen Ordnung treten an ihre Stelle. Beide Varianten behalten die erinnerungspolitische Funktion, an den Umsturz und damit an die Möglichkeit von Alternativen zu erinnern. Gewinnen Fragmente des gestürzten Denkmals unter der neuen symbolischen Währung einen ökonomischen Marktwert, ist dies im allgemeinen ein Zeichen dafür, dass das alte System politisch keine Alternative mehr darstellt. Seine Symbolrelikte sind zu ästhetischen Gegenständen geworden und markieren keine produktiven Schnittstellen zwischen kulturellem und politischem Feld mehr. Anders ist die Situation, wenn die Relikte die Funktion von Reliquien annehmen, nicht öffentlich gezeigt werden und zum Fokus von Bewegungen werden, die ihrerseits an einer Deutung des Ursprungs arbeiten, die auf den Sturz des neuen Systems zielen.

Auch wenn zahlreiche Denkmäler, Büsten, Fotos usw. eines Politikers aus der Öffentlichkeit entfernt werden, gilt nur ein Denkmalsturz als Ausdruck und Vollzug des Traditionsbruchs, als symbolische Grenzziehung zwischen dem Alten und dem Neuen, als dessen Gründungsakt, der auch durch besondere Medienpräsenz als solcher inszeniert wird. Im Irak kommt dem Sturz des Saddam-Denkmals im Zentrum von Bagdad am 9. April 2003 diese Funktion zu. Andere Denkmalzerstörungen, selbst wenn sie zeitlich früher liegen, haben nur mehr den Status mimetischer oder präparativer Handlungen, die den Gründungsakt als symbolische Verdichtung des Traditionsbruchs bestätigen. Auch dieses Beispiel bestätigt, dass die Komplexitätsreduktion durch Komplexitätssteigerung zu ergänzen ist, damit das Neue auch neu sein kann. Allerdings macht das einprägsame Bild des Denkmalsturzes es dem Neuen schwer, sich symbolisch ähnlich eindrucksvoll wahrnehmbar zu positionieren.

Ritualisierung

Mit Blick auf eine jeweilige Adressatengruppe, etwa die Öffentlichkeit aller Wahlberechtigten oder die eines gesellschaftlichen Subsystems (z. B. das literarische Feld), kann das Mittel der Selbstinszenierung eingesetzt werden, um von dieser Gruppe wiedererkannt und damit von anderen unterschieden zu werden. Diese doppelte Zielsetzung von Wiedererkennbarkeit und Differenz erfordert die flexible Wiederholung gleicher Organisationsabläufe. Ritualisiertes Handeln stellt eine Organisationsform für das Wiedererkennen und die erneute Erfahrung einer Struktur und deren Gründungsakt sowie den von ihr vorgegebenen Handlungsrahmen dar. Wenn es das Neue zugunsten einer Kontinuität des Identischen scheinbar dezentriert, so gilt das nur graduell: Die Kategorie des Neuen ist aufgrund der Historizität ritualisierten Handelns stets zu berücksichtigen, dominant ist aber die Organisationsform symbolischen Handelns. Daraus folgt, die einzelnen Inszenierungen ritualisierten Handelns als historische Ereignisse zu analysieren, die einen jeweils veränderten soziokulturellen Kontext erschließen.

So zielen die erwähnten medienspezifischen Kategorien zwar auf Wiedererkennbarkeit und Dauer, aber im relationalen Rahmen von Serie und einzelner Folge; wenn Spielorte, Personen, Handlungsstruktur und weitgehend das jeweilige Thema gleich bleiben, ohne dass ein Arkanbereich sichtbar wird, so ergibt sich keine ›große Erzählung‹, sondern ein Stationenstück, wobei die Kenntnis der Serie für das Verstehen einer Station keine Voraussetzung bildet. Vielmehr kann der Eindruck entstehen, dass, wer einige Folgen gesehen hat, die gesamte Serie kennt, zumindest auf sie hochrechnen kann. Als Personen oder Gesichter wollen die Politiker wiedererkannt werden, ihre Statements sollen aber keine unveränderbare politische Konzeption und Wertung erkennen lassen. So werden immer gleich inszenierte Auftritte, Performances, zugehöriges formelhaftes Sprechen mit dem Zuschreibungsbegriff ›bloßes Ritual‹ wahrgenommen. Dahinter verbirgt sich der Vorwurf leerlaufender Wiederholung, der Verwaltung des Stillstands, mangelnder Effektivität (»es passiert nichts«) und fehlender situationsbezogener Handlungsmöglichkeit, weil die Akteure an vorgegebene Handlungsstrukturen gebunden seien. Wenn ritualisiertes Handeln dennoch als sinn- und orientierungstiftend für den je historischen gesellschaftlichen Alltag wirken kann, ist die Kategorie des Neuen auf der Wirkungsebene anzusiedeln. Wenn demnach auf der symbolischen Ebene die Kontinuitätserhaltung einer Organisationsform dominiert, folgt daraus, dass die Wiederholung ritualisierten Handelns sowohl den Vorteil der Wiedererkennbarkeit des Identischen als auch den einer stets situationsangemessenen Orientierung und Konfliktlösung bietet.

Zumeist ist aus der Referenz von Politikeräußerungen zu erkennen, in welchem Kontext, vor welchen Adressaten sie gemacht wurden. Angebote von Wertnormierungen vermitteln sich auf diese Weise nur schwer, die allerdings auch nicht explizit eingefordert zu werden scheinen.

Würde jemand danach fragen, welche Werte das politische Handeln nachhaltig und dauerhaft prägen, welche Werte die Politiker explizit als Orientierung ihres Handelns definieren und begründen, könnte er auf die 1976/77 in der Presse geführte sogenannte ›Grundwerte-Debatte‹ (vor allem über Änderungen im Ehe- und Familienrecht, Abtreibungs–, Scheidungsregelung) verwiesen werden, in der sich eine eher pragmatisch-historische Position (die Politik findet eine Pluralität von Wertauffassungen in den gesellschaftlichen Diskursen vor, Grundwerte prägen sich gesellschaftsimmanent aus, reagieren auf Veränderungen) und eine eher normative Ausrichtung (gesellschaftliche Sinngebungs- und Orientierungsgruppen definieren Werte) gegenüberstehen. Im ersten Fall scheinen es Werte zu sein, die gelebt werden, die handlungsproduktiv sind und deshalb als Gesetzestexte aufgeschrieben werden sollen, im zweiten Fall scheinen es tradierte Wertdefinitionen in der Form geschriebener festgelegter Texte zu sein, die unabhängig von den je historischen und sozialen Bedingungen gelebt werden und gelten sollen.

Wenn die verschiedenen Formen öffentlichen Handelns Affinitäten zum Typus ritualisierten als symbolischen Handelns zeigen, so verweist dies zunächst darauf, dass die Ausführung einer ritualisierten Handlung in einem beliebigen sozialen Feld in der Regel öffentlich ist, dass diese Handlung zur Lösung oder Vermeidung einer Krise ausgeführt wird, dass sie daher auf konfliktlösende Komplexitätsreduktion und symbolische Verdichtung in einem zentralen Handlungssegment angelegt ist. Wenn beim Krönungsritual die Investiturinsignien übergeben, bei einer Literaturpreisverleihung Scheck und Urkunde, von Laudatio und Dankrede umrahmt, überreicht werden, wenn ein Trauungsritual mit Ringtausch und Jawort aufgeführt wird, wenn Politiker in vielfältigen Situationen wie Grundsteinlegungen, ersten Spatenstichen, Einweihungen, Jubiläen, Empfängen, Ernennungen usw. aufgrund ihrer institutionellen Legitimation diese Ausführungen rechtmäßig vollziehen, dann geht es stets um einen Akt der Umwandlung von Unordnung in Ordnung bzw. den offiziell sanktionierten und ratifizierten Übergang von einer lebensgeschichtlichen Phase in eine andere.

Die an der Aufführung einer ritualisierten Handlung (Performance) beteiligten Personen werden durch den Vollzug der Handlung zur Zeugen- und Wertegemeinschaft, d. h. die Handlung stellt ihre eigene Gemeinschaft her. Insofern ist von der Selbstreferenz dieser Handlungen zu sprechen. Weiterhin bieten sie den beteiligten Institutionen Gelegenheit, ihrer Programmatik in der Handlungsaufführung Präsenz zu verschaffen, den einzelnen, ihre Teilnahme als Zeitzeugenschaft zu instrumentalisieren, um so ins Geschichtsbuch zu kommen.

Zugleich markieren ritualisierte Handlungen Grenzen zwischen denjenigen, die dazu gehören und denen, die von dieser Gemeinschaftsstiftung ausgeschlossen bleiben, während sie in anderen Handlungskontexten zu Ritualgemeinschaften gehören. Ritualisiertes Handeln ist durch Binarismen wie Innen – Außen, Eigenes – Fremdes, das Alte – das Neue usw. gekennzeichnet.

Dass die Begrüßung per Handschlag und üblichen Floskeln zwischen dem amerikanischen Präsidenten George W. Bush und dem deutschen Kanzler Gerhard Schröder anlässlich der stark ritualisierten Ereignisse des 300. Gründungsjubiläums der Stadt St. Petersburg (31. Mai 2003) und des Gipfeltreffens der G8-Staaten in Evian am Genfer See (1. Juni 2003) mehr Aufmerksamkeit erhält als die unterzeichneten Verträge, unterstreicht die Bedeutung öffentlichen als ritualisierten Handelns. Der nicht fotografisch dokumentierte Petersburger Handschlag wird durch Zeugenaussagen bestätigt, der in Evian vor den Kameras der Weltöffentlichkeit ausgeführt. Beide Handlungen werden als Symbole der Beendigung der ›Eiszeit‹ zwischen den USA und Deutschland sowie der Ausgrenzung Deutschlands aus der Solidargemeinschaft mit den USA gedeutet, sie gelten geradezu als Gründungsakte eines wieder normalen Klimas. Erst die monatelange ›Funkstille‹ zwischen Bush und Schröder, also ein Traditionsbruch, macht eine habitualisierte, ja automatisierte Alltagsgeste zu einem bedeutenden symbolischen Vorgang, der auf der Basis der intentionalen Verdichtung schafft, was umfangreiche diplomatische Bemühungen nicht vermochten. Deshalb wird die symbolische Bedeutung des Handschlags als archaische Friedensgeste thematisiert, wobei nicht unerwähnt bleibt, dass es Bush ist, der auf Schröder zugeht, um den Symbolakt zu vollziehen. Die so auf der Ebene der symbolischen Performanz eingeleitete Verbesserung der Atmosphäre muss auf der Wirkungsebene eingelöst werden.

Kanon und Kanonisierung

Eine Kanonkonzeption setzt das Bewusstsein von Anspruchs- und Geltungsalternativen bzw. -konkurrenzen zwischen dem Eigenen und dem Anderen oder Fremden voraus. Seit und weil es diese Unterscheidung gibt, gibt es die Arbeit am Kanon als Grenzmarkierung zwischen beiden. Ein Revier wird abgesteckt, ein Raum umgrenzt und besetzt. Dies impliziert nicht nur die Sprechhandlung ›Bekennen des eigenen Kanons‹, sondern auch die der ›Anerkennung anderer Kanones‹, weil sonst dem Bekennen Motivation und Notwendigkeit fehlten. Durch die Erfindung des Speichermediums Schrift wird Kanon zu einer abgeschlossenen, tradierbaren Konzeption. Zwar kann sich das Andere in unendlich vielfältigen Formen ausprägen, das Eigene steht aber nur zu einer bestimmten Form des Anderen in Konkurrenz. So setzt Hölty seinen Kanonrahmen der ›grossen Dichter‹ von den auch, aber anders kanonfähigen und -funktionalen ›mittelmässigen Dichtern‹ ab. Schon dieses Beispiel zeigt, dass ›Kanon‹ eine selektive soziale Konstruktion ist, die von gruppenspezifischen Interessen getragen wird, d. h. es ist von ›Kanones‹ zu sprechen. Wenn die Aufnahme in einen Kanon gegen Vergessenwerden imprägnieren soll, muss seine Fähigkeit, Orientierung zu bieten und Tradition zu sichern, in bestimmten Handlungsabläufen immer wieder vollzogen und bestätigt werden; ein Kanon muss sichtbar machen, was er zu sein behauptet oder er ist nicht, zuvor aber muss er selbst gesetzt werden. Über einen Kanon heiliger Texte entscheidet eine entsprechend legitimierte Institution, Ähnliches gilt für ›geschlossene‹ Gesellschaften mit kontrollierter und zensierter Öffentlichkeit. Für (literarische) Kanones in offenen Gesellschaften gelten z. B. die Formen der Konsekration und der Approbation. Der erste Begriff bezeichnet eine institutionsbezogene Auszeichnung, die in der Form einer ritualisierten Handlung wie der Preisverleihung vollzogen wird und deren Träger für die jeweilige Institution ihren Kanon bilden, auf den man sich als Instanz für folgende Preisverleihungen beruft und der bei weiteren Veranstaltungen aufgerufen wird. Als Approbation gilt eine Auszeichnung, die ohne institutionelle Stütze von Verbrauchern oder Lesern vergeben wird, indem sie einem Produkt, einem Buch als Konsumenten Erfolg verschaffen. Konsekration mag als Auszeichnung von oben, Approbation als eine von unten gelten, Konsekration scheint eher der normativen, Approbation eher der pragmatisch-historischen Position in der Grundwerte-Debatte zu entsprechen.

Grundsätzlich zu berücksichtigen ist, dass gruppenspezifisches ritualisiertes als symbolisches Handeln zwei komplementäre Geltungsformen einschließt: Unter dem Aspekt selbstreferentiellen Vollzugs generiert das symbolische Verdichtungssegment die Geltungsform ›Setzung einer Norm‹: Damit wird der gruppenspezifische Binnenkanon bestätigt. Wird ein literarischer Text in bezug auf je gruppenspezifische Normen kanonisiert, wie z. B. in bezug auf die von einer literarischen Gesellschaft festgelegten Normen einer Preisvergabe, so bezieht sich die Kanonisierung auf die der Jury vorliegende Textform. In dieser Gestalt gilt der Text als kanonwürdig, eventuelle spätere Umarbeitungen oder Neufassungen unterliegen dem Gruppenkanon nicht. Ein kanonisierter Text ist in jeder Hinsicht abgeschlossen, außerhalb der Geschichte oder – mit Jan Assmann – ein ›Endprodukt‹. Kanonforschung allgemein, auch die zu literaturpeisabhängigen Kanones, kann daher nur die Entstehung des ›Endprodukts‹ von den Anfängen her nachzeichnen, erklären und kommentieren, wobei für einen kanonischen Text das Ergebnis der Aushandlung einer Jury ein wichtiges Anfangsmerkmal sein wird. Selbstverständlich handelt es sich bei Literaturpreiskanones im Unterschied zu Kanones heiliger Texte von Religionen nicht um einen abgeschlossenen Kanon, sondern um einen zur Zukunft offenen, dessen Normen produktiv sein und weitere Texte dem Binnenkanon zuführen sollen. Insofern verbindet ein Literaturpreiskanon die Qualität eines »Raum(s) der Dauer« (Jan Assmann) mit der Bewegung des Fortschreitens.

Unter dem Wirkungsaspekt, der dem symbolischen Handeln eine Fremd- bzw. Außenreferenz in einem größeren Rahmen, z. B. dem der Nationalliteratur, vermittelt, erscheint der Binnenkanon als Angebot einer Kanonisierung, das im Wettbewerb mit anderen gruppenspezifischen Kanones erst durchzusetzen ist. Daher gehört zum ritualisierten als symbolischen Handeln, auf der Wirkungsebene der imperative Gestus, der Setzung (Binnengeltung) und Auslegungsangebot (Anspruch auf Geltung am Markt, Konkurrenz) vereint, d. h. die gruppenspezifische Normativität als allgemeine Normalität etabliert.

Die Setzung stützt sich auf das Verfasstsein einer Norm, z. B. in einem Gründungs- oder Stiftungstext, zum Auslegungsangebot gehört die Vielfalt seiner Verkörperungen bzw. Selbstinszenierungen unter Einsatz des symbolischen Kapitals; langfristig ist eine Strukturdynamik von den Verkörperungsformen auf die verfasste Norm nicht auszuschließen, weil mit jeder Verkörperung ein Moment Dezentrierung der verfassten Norm verbunden ist. Verkörperung von symbolischem Kapital zeigt sich z. B. als Herstellung von Singularität und Monumentalität. So kann ein beliebiger Gegenstand, der nachweislich in Berührung mit der Berühmtheit war, zum prominenten auratischen Einzelgegenstand und Original, zum Symbol von dessen Geschichte werden. Daher wirkt die mediengerechte Selbstinszenierung eines Autors bei Lesungen und Signierstunden als konstitutiv für die Geltung seiner Autorschaft; signierte Exemplare, Erstausgaben und -auflagen, Objekte aus dem Besitz von Prominenten werden durch deren Körperbezug zu symbolischem Kapital, weil sich auf diese Weise mit den Objekten eine Geschichte verbindet, sie sind identifizierbar, wiedererkennbar und authentisch geworden, für den je aktuellen Besitzer wirken sie identitätsstiftend. Als Gegenstand der Verehrung (Reliquie) finden sie ihren Platz im Erinnerungsraum einer Sammlung oder eines Museums, d. h. symbolisches Kapital generiert ökonomisches Kapital. Sammlerbörse oder Auktionshaus werden zur Umrechnungsstation von symbolischer in ökonomische Währung. Zur Geschichte einer Erinnerung gehört die ihrer Erinnerungsgeschichte (Stationen der Erinnerungshandlungen).

Medienpräsenz und Politikbegriff

Das ritualisierte politische Bühnengeschehen, das nach stets gleichen Formen der Selbstdarstellung und der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner abläuft, absorbiert die Aufmerksamkeit des Publikums, so dass die arkan getroffenen Entscheidungen mit verminderter Beachtung rechnen können, was durch die dominierende Bedeutung des Handschlags zwischen Bush und Schröder vor den politischen Vereinbarungen bestätigt wird. Dass öffentliches ritualisiertes Handeln das Klima arkaner politischer Verhandlungen anzeigen kann, ist am Aufwand bei Empfängen (›großer Bahnhof‹, Arbeitsessen, -besuch usw.), an der Größe der Delegationen, der Teilnehmerzahl an einem internationalen Treffen usw. abzulesen. Dringt etwas aus dem abgeschirmten Bereich in die Öffentlichkeit, kommt es zur Inszenierung eines Skandals, der als besondere Handlungsfolge auch Eingang ins Erinnerungssystem findet.

Zugleich produziert symbolisches Handeln nur Bilder, deren Vielzahl das Wesentliche verdecken kann, was häufig im Zusammenhang mit der Berichterstattung über den Irak-Krieg (2003) festgestellt wird. Dabei geht es um das authentische Bild vom Krieg, womit nicht gemeint ist, wie sondern was er ist und in welchem Kontext er zu beurteilen ist. Das Urteil des schwedischen Schriftstellers Henning Mankell in der Frankfurter Rundschau über die veröffentlichten Bilder des Irakkriegs entspricht dem anderer Beobachter: »Aber wir waren nie in den Räumen, in denen die Entscheidungen getroffen wurden. Aus diesen Räumen kamen keine Bilder. Man hat uns nicht erlaubt, das zu verfolgen, was die Debatten gewesen sein müssen: dass dieser Krieg in Wahrheit nichts anderes ist als der Beginn eines anderen Krieges, und nicht in der Hauptsache das Ende von Saddams Regime.« Weil es sich bei Visualisierung, Inszenierung und dem strategischen Einsatz der Medien um technische Mittel handelt, die für jedes Ziel einsetzbar sind, stehen sie auch – wie Boris Groys im Interview mit der Frankfurter Rundschau meint – dem internationalen Terrorismus zur Verfügung. »Der Medienraum ist auch ein strategischer Raum und die Attentäter oder die Drahtzieher haben ihn besetzt, monatelang waren nur diese Bilder [vom Anschlag am 11.09.2002 in New York] zu sehen. Die Frage ist, wie bringe ich mich in diesen Medienraum und wie besetze ich ihn, wie akquiriere ich die Medienmacht und übe sie aus. Es ist die Frage, die uns alle beschäftigt. Das beginnt alles mit den Videos von bin Laden. Bin Laden ist im Grunde Videokünstler, der Videos produziert und sie durch Al-Dschasira und andere Medienunternehmen vertreibt. Es ging von Anfang an um eine neue Video- und Medienkunst auf der Ebene der Machtausübung und eines strategischen Spiels.« Wieder bestätigt sich, dass die Medien für die Politik konstitutiv sind, dass politische Vorgänge in Performances übersetzt werden, um den je historischen Bedingungen und Möglichkeiten der Medien zu entsprechen, um Medienpräsenz zu erreichen. Wenn der bilderfeindliche Islam in dieser Form die Selbstinszenierung seiner Repräsentanten und Ziele betreibt, könnte damit laut Groys auch eine – zwar noch unkalkulierbare – Veränderung des islamischen Selbstverständnisses angezeigt sein.

Ergebnisse der Untersuchung Die Demontage der Politik in der Informationsgesellschaft (1998) von Hans Martin Kepplinger scheinen darauf hinzuweisen, dass alle diese Phänomen zu einem Glaubwürdigkeits–, Akzeptanz- und Bedeutungsverlust der ›politischen Klasse‹ geführt haben.

Alltag und Medienpräsenz

Während Politiker und Medienstars dadurch definiert sind, dass sie im Rampenlicht öffentlicher Aufmerksamkeit stehen und so ihre mögliche Aufnahme in ein Erinnerungssystem vorbereiten, ist der Normalbürger in der Regel davon ausgeschlossen. Wenn aber Medienpräsenz an sich als Wert gilt, wenn das bloße Auftreten, das Sich-Darbieten, die performative Seite einer Handlung, symbolisches und in der Folge auch ökonomisches Kapital versprechen, dann wird die Frage, die Bertolt Brecht in seinem berühmten Gedicht Fragen eines lesenden Arbeiters formuliert und variiert hat, aktuell: Welche Chance hat der Normalbürger ins Geschichtsbuch zu kommen?

Mit zunehmender Verbürgerlichung, Individualisierung und Fragmentierung der Gesellschaft unter dem Begriff der Modernisierung, mit der Entwicklung neuer medialer Speichermöglichkeiten und der Entstehung einer Vielzahl konkurrierender Medienunternehmen nehmen Spektrum und Vielfalt der Präsentationssituationen zu. Superstar- und Talkshow-Formate für alle gesellschaftlichen Gruppierungen belegen dies. Insgesamt hat der Bedarf an regelmäßig wiederholten ritualisierten Handlungen enorm zugenommen, was an der Einführung neuer Feste (z. B. Brücken–, Stadtteil–, Straßen–, Burgenfeste), der Reaktivierung verschütteter Traditionen (z. B. Johannis–, Osterfeuer, Walpurgisnacht) zu erkennen ist.

Weil sich immer mehr Interessen ausdifferenzieren, wächst auch die Zahl der Auslegungsangebote und ihrer Symbolobjekte, die um einen Platz im kanonisierten Erinnerungssystem konkurrieren, zugleich nimmt deren hierarchische Ordnung in einer Werteskala ab. Die Zeit, in der man sich mit bestimmten Objekten ikonisch in symbolischer Verdichtung zeigt, wird immer kürzer, die Struktur, sich mit etwas zeigen zu wollen bzw. zu müssen, immer stabiler. Ob Schallplatten, Videos, Fotos, Texte , Bilder, Briefmarken, Verpackungen oder andere Gegenstände gesammelt und deren Sammlungsgeschichte dokumentiert werden, ob eine beliebige Handlung so lange regelgemäß ausgeführt wird, dass eine Eintragung ins Guinness-Buch der Rekorde erreicht wird, gilt gleichviel. Was zählt, sind die durch die Objekte bzw. die Handlung ermöglichte Medienpräsenz sowie die mit ihnen verbundenen Geschichten und deren symbolische Bedeutung für den jeweiligen Besitzer und dessen Gegenwart. Zugleich bedingt aber das Phänomen der Mode eine Verringerung der Berühmtheitsdauer dessen, was ›in‹ ist.

Wie bei den vier Anfangsbeispielen wird auch hier derjenige mit erinnert, der die Erinnerungsstücke zusammengetragen oder die Erinnerung inszeniert hat. Sammler, Vermittler, Agenten ebenso wie Dichter, Künstler usw. profitieren von der Nähe zur Berühmtheit oder der Aura der Objekte und erlangen auf diese Weise selbst Berühmtheit, deren Berührung wiederum symbolisches Kapital (eine Geschichte), den Besitzern auch ökonomisches Kapital durch die Vermarktung der Symbolwerte verschafft.

Grundsätzlich besteht die Möglichkeit, sich durch Bezug zu einem großen Ereignis oder einem Prominenten als Zeitzeuge zu profilieren (Berichte von Kriegsgefangenen, Interviews in Geschichtswerkstätten usw.). Neue Formen der Geschichtsschreibung wie oral history, Alltagsgeschichte, Geschichte von unten, Regional–, Lokal–, Betriebsgeschichte haben diese Möglichkeiten signifikant erweitert. Handelt es sich hierbei aber um eine von außen angeregte Erinnerungsarbeit, die für traditionell angelegte Feld- und Fachgeschichten eine Rolle spielen, ist eine weitere Form mediengerechter und -intensiver Selbstinszenierung zu erwähnen, für die hier der Begriff ›finale Bedeutsamkeit‹ geprägt wird.

Gemeint sind damit Aufführungen devianter mediengerechter Handlungsprozesse, wie sie in der Form des Schulmassakers oder der spektakulären Geiselnahme vorliegen. Den Akteuren gelingt es ein einziges Mal, Medienpräsenz zu erleben, bevor sie sich selbst töten oder für lange Jahre in der Anonymität einer Haftanstalt verschwinden. Besonders die unter dem Gesichtspunkt der Vergeblichkeit und des Scheiterns des Akteurs ausgeführten Formen des Schulmassakers erscheinen unter dem Aspekt der Medieninstrumentalisierung als strategische Leistungen der inszenierten Sichtbarkeit eines bis dahin völlig unbekannten, namenlosen Menschen. Für die Ausführung einer spektakulären kriminellen Handlung wird der »Tatort als Bühne« (Martin Altmeyer) eingerichtet, findet die Tat doch in aller Öffentlichkeit an einem Schulvormittag statt, Medien, Rettungsdienste und Sicherheitskräfte sind, von den potentiellen Opfern über Handy benachrichtigt, sofort zur Stelle, Zeugen finden sich in großer Zahl als Publikum ein. Die Täter sind meistens unmaskiert, ihre Identität schnell festgestellt; weil sie möglichst gut erkennbar ins Bild der Öffentlichkeit kommen wollen, präsentieren sie sich offen.

Martin Altmeyer schreibt in der Frankfurter Rundschau, dass die Akteure »sich nach den Regeln einer Ökonomie der Aufmerksamkeit verhalten, wo Performance gegen Beachtung getauscht wird« und diagnostiziert damit genau den Produktions- und Erwerbsprozess »symbolischen Kapitals«, das seinerseits wiederum ökonomisches Kapital generiert, wenn ein verurteilter Täter Exklusivverträge mit Zeitschriften, Buchverlagen und Fotoagenturen abschließt oder dadurch, dass die Anzahl der verkauften Zeitschriftenexemplare wegen des spektakulären Themas steigt. In der Regel endet die ›Aufführung‹ eines Schulmassakers mit dem Tod des Akteurs, nachdem er möglichst viele Schulangehörige erschossen hat. Er kann in dem Bewusstsein sterben, sich mit seiner Tat einen Namen gemacht zu haben und in die Annalen der Schule, aber auch ins sozialgeschichtliche Erinnerungssystem einzugehen. Am ersten Jahrestag (26. April 2003) des Schulmassakers von Erfurt erscheinen in zahlreichen Zeitungen Gedenkartikel für die Opfer, in denen aber auch der Name des Täters erwähnt, der Tatverlauf noch einmal beschrieben und eine sozialpsychologische Deutung der Aktion und des Akteurs, d. h. aber eine normierende Einordnung ins kollektive Gedächtnis versucht wird.

Ähnlich spektakulär werden Entführungen von Bussen mit Geiselnahme inszeniert, wobei häufig Journalisten und Sicherheitskräfte dem Bus unmittelbar folgen, so dass eine Echtzeit-Aufführung mit tendenziell unbegrenztem Publikum entsteht. Auch in diesen Fällen geht es häufig um die Herstellung von Prominenz und Medienaufmerksamkeit, den Erwerb ›symbolischen Kapitals‹ für einen Menschen, der ohne diese Aktion keine Beachtung finden würde.

Motiviert scheint die Ausführung solcher Handlungen dadurch, dass jemand seine soziale Perspektive als krisenhaft oder aporetisch deutet, seien dafür mangelnde soziale Anerkennung, Misserfolgserlebnisse oder Minderwertigkeitskomplexe verantwortlich, für die keine rational diskursive Lösung möglich scheint. Es handelt sich um eine intentionale Handlung, für die der Akteur gewisse Vorbereitungen (Entscheidungsprozess als selbstreflexive Aushandlung, Auswahl einer verkehrsgünstig gelegenen Schule um die Aufmerksamkeit zu sichern, Beschaffung einer Waffe, Zeitpunkt usw.) getroffen hat. Für die Ausführung der Handlung unterbricht der Akteur seinen gewohnten Alltag und begibt sich mit dem Überschreiten der markierten Grenzschwelle des Schulareals in die Übergangs- oder Schwellenphase, die die erwartete Veränderung bringen soll. Geplant ist ein Übergangsritual auf zwei Ebenen in entgegengesetzter Richtung: Zum einen geht es um den Übergang vom physischen Leben zum physischen Tod, zum andern um den vom bisherigen sozialen Nicht-Leben (Vergessensein) zur sozialen Neugeburt (historische Unsterblichkeit); um beide Übergänge mit Sicherheit irreversibel zu machen, ist eine möglichst große Zahl an Opfern verlangt.

Auf der sozialen Ebene bewirkt dieser rite de passage einen Statuswechsel des Akteurs. Unter Status wird nach den Ausführungen von Heinz Abels im 10. Band des Historischen Wörterbuchs der Philosophie (1998) eine Position in einem sozialen System verstanden, die sich in verschiedenen Rollen ausfaltet; Statusmerkmale können z. B. Geschlecht, Ethnie, Religion, Bildung, Beruf, Wohnform, soziale Beziehungen, Prestige, Image sein, die die Erwartungen und Zuschreibungen hinsichtlich des Status einer Person lenken.

Veränderbar sind vor allem Statusfaktoren wie Prestige, Image, soziale Anerkennung und Geltung. So hat der Akteur eines Schulmassakers seinen Status durch den Erwerb eines stark negativen Images wahrnehmbar geprägt, so dass er durch seine Tat sogar einen Gegenstand öffentlichen Gedenkens geschaffen hat. Er ist Teil ›großer Erzählungen‹ geworden, z. B. der der Kanonisierung von Gedenksituationen oder sozialer Gewalt, womit seinem Handeln die Möglichkeit der kulturellen Komplexitätssteigerung zugeschrieben wird; ein regelmäßig durchgeführtes ritualisiertes Gedenken kann in den verschiedenen Gegenwarten je unterschiedliche Polaritäten, Oppositionen und neue Wahrnehmungen generieren.

Ritualisierte Öffentlichkeit

Öffentliches ritualisiertes Handeln liegt handlungslogisch vor dem institutionalisierten politischen Handeln. Es geht um Möglichkeiten symbolischen Handelns, Atmosphäre und Klima politischen Handelns zu beeinflussen. Ritualisiertes Handeln formt Kontexte und stellt Strukturen bereit, um politisch konstitutive Faktoren wie Wiedererkennbarkeit und Dauer zu organisieren; zugleich erlaubt es als symbolisches Handeln etwas präsent zu machen, was nur durch die je bestimmte Organisationsform erfahrbar werden kann. Der Akteur exponiert sich mit einer symbolischen Handlung, er legt quasi ein Bekenntnis ab; in der symbolischen Bedeutung des Kniefalls in Warschau verdichtet Willy Brandt seine Vorstellung von deutsch-polnischer Zukunft. Dabei greift er auf ein Symbol zurück, das in der religiösen und monarchischen Tradition in einem breiten semantischen Spektrum als Demuts–, Bußwilligkeits- und Unterwerfungszeichen bekannt ist, was auch die Bedeutung der Ehrbezeugung einschließen kann. Symbolisches Handeln, das zeigt dieses Beispiel in besonderer Eindringlichkeit, kann neue, auch zeitübergreifende Sinnzusammenhänge herstellen und eröffnen, weil seine Elemente weder zeit- noch system- noch persongebunden sind. Mit den Mitteln der Rekursivität (aktualisierender Rückgriff auf alte rituelle Handlungselemente) und des Ritualtransfers (Übertragung einer ritualisierten Handlung von einem sozialen Feld in ein anderes) ist auch in einem politischen Kontext der säkularisierten Moderne eine Atmosphäre von persönlicher Unbedingtheit und Glaubwürdigkeit sowie politischer Dringlichkeit und Normativität herzustellen, deren Konsequenzen auf der Wirkungsebene den Folgen eines Traditionsbruchs vergleichbar sind.

Ritualisierte Öffentlichkeit ist als ein dynamischer Prozess von Auslegungskonkurrenzen zu beschreiben, was die Metapher von der Welt als Bühne fundiert: Die verschiedenen Auslegungsangebote, die eine Kombination aus normativen Erwartungen bzw. Visionen und Deskriptionen der sozialen Realität darstellen, die gesellschaftlich relevante Gruppen vertreten, versuchen mit ihrer Deutungsmacht möglichst viele Ereignisse, Begriffe usw. zu besetzen, um konkurrierende Angebote aus der medialen Aufmerksamkeit zu verdrängen. Dafür werden Medienpräsenz und ein Publikum als ›Konsument‹ der Auslegungsangebote gebraucht. Ein Binnenkanon soll in möglichst vielen öffentlichen Handlungssituationen plaziert werden. Ritualisierte Öffentlichkeit verbindet eine vorgegebene Organisationsform für die Traditionssicherung mit der tendenziell unabhängigen Handlungsentfaltung auf der Wirkungsebene.