Mitte Juni. Die letzte Plenarsitzung der Universität vor den Semesterferien. Das Defilee vorbei an den Tischen rechts und links des Eingangs zum Großen Sitzungssaal ist längst Gewohnheit. Stop and go in parallelen Schlangen, die Haltephase wenig länger als der nachziehende Schritt bei einem Trauermarsch. Auf den Tischen geöffnete Kartons voller Schutzmasken. Die Infrarot-Thermometer haben ihre Exotik verloren, sind alltäglich geworden wie die Einkaufstüte in der Hand beim Betreten der Geschäfte. Seit ein paar Monaten sind Plastiktüten aus Gründen des Umweltschutzes nur noch in Ausnahmefällen legal.
Wir besprechen Projekte für das kommende Studienjahr. Mit dem neuen Campus an der Atlantikküste wird es ernst. Die Konsequenzen, die sich aus der Mitgliedschaft Taiwans in der WTO für den Hochschulbereich ergeben, erfordern Antworten. Das Profil einiger Abteilungen lässt zu wünschen übrig. Vor allem aber ist viel aufzuholen, nachzuholen, wettzumachen. Zwei Monate Stillstand liegen hinter uns.
Obgleich wir uns in wechselnden Gruppierungen alle paar Tage getroffen haben, fühlen wir uns wie bei einem Wiedersehen. Plötzlich sind da wieder Gesichter statt bebrillter oder auch unbebrillter Augenpaare über weißen Dreiecken, Rechtecken, Quadraten.
Semesterende, Neubeginn. Es gibt auch ein neues Wort. In Analogie zum chinesischen Äquivalent für ›Nach-Moderne‹ spricht man von einer Zeit, einem Denken ›nach Sars‹: hou sha-szu.
Als die WHO im Herbst 2002 vor einer ungewöhnlichen Form der Lungenentzündung warnte, war die Welt dabei, sich in der vorläufig letzten Mutation eines Danach einzurichten, dessen Initialkräuselung bereits mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegt. Das Davor dieses Danach war eine Zeit, in der wechselseitige Erreichbarkeit Nachbarschaft definierte, die Erreichbarkeit vieler durch wenige eine funktionierende Verwaltung. Vor allem aber war Erreichbarkeit etwas, dem man sich entziehen konnte, im Prinzip wenigstens und mit unterschiedlichen Konsequenzen. Rückzug war möglich, Regionen der Unerreichbarkeit existierten.
Einem ›Trägersystem‹ der fortgeschrittenen Art, ob nuklear oder konventionell, kann sich niemand entziehen. Alle sind destruktiv erreichbar, dies allerdings nur für einige, eben diejenigen, die über das System verfügen.
Parallel zur Perfektionierung der destruktiven Erreichbarkeit aller durch einige steigerte sich die nicht-destruktive Erreichbarkeit vieler durch viele und immer mehr. Nicht nur Waffen- und Trägersysteme entwickelten sich ins Ungeahnte, auch Passagierflugzeuge, Verkehrsmittel und Instrumente der Übermittlung und des Austauschs von Informationen generell. Oberhalb einer bestimmten Zugangsschwelle – die Höhe fluktuiert, tendenziell sinkt sie – etablierte sich ein Netz realer oder potentieller Wege und Kanäle, das alles mit allem und jeden mit jedem verbindet.
Jede Steigerung der Erreichbarkeit ist eine Steigerung von Verletzlichkeit. Perioden der Steigerung von Erreichbarkeit in der Geschichte, oder auch in der Lebensgeschichte einzelner Menschen, unterscheiden sich durch die Konturen, die sie dem unvermeidbaren Miteinander des destruktiven und nicht-destruktiven Aspekts dieser Steigerung geben. Am 11. September 2001 wurde offenbar, dass eine Periode vorüber war.
Auf ihre Weise war sie einzigartig. Sie berührte eine Grenze, über die es kein Hinaus gibt. Mehr als alle und jedes kann man nicht erreichen. Passive Erreichbarkeit lässt sich über das prinzipielle Ende der Unerreichbarkeit hinaus kaum noch steigern. Das Berühren einer Grenze ist freilich nicht identisch mit ihrem Erreichen. Die Differenz zwischen beidem markiert den Spielraum, in dem sich die Periode der Steigerung von Erreichbarkeit bewegte, die nunmehr der Vergangenheit angehört.
Alles und jedes wurde immer und zu jeder Zeit destruktiv erreichbar. Dies markierte die Grenzberührung. Die Wahrnehmung dieser Tatsache produzierte einen Schrecken, der alle Gedanken und Vorstellungen aufsog, die man mit dem destruktiven Aspekt der Steigerung von Erreichbarkeit in Verbindung brachte. Damit war dieser Aspekt imaginär und konzeptuell vollständig absorbiert. Umgekehrt bedeutete dies eine imaginäre und konzeptuelle Abspaltung und Freisetzung des nicht-destruktiven Aspekts. Die Steigerung von Erreichbarkeit wurde erfahren als jederzeit reale und nicht eben unwahrscheinliche Möglichkeit instantaner Vernichtung und als Sich-Auftun der weiten Welt, beides nebeneinander und ohne sich zu stoßen.
Man könnte von einer sich lange hinziehenden Euphorie sprechen, getrieben von dem Bestreben, die genannte Grenzberührung auch auf nicht-destruktive Weise zu vollziehen.
Worauf es ankam, war das Separathalten der Aspekte. Ganz gelang es nie, lange aber gelang es, ihr Zusammenfließen zu ignorieren. Keineswegs haben sich, wie ein Kommentator rasch bemerkte, am 11. September 2001 Passagierflugzeuge in Bomben ›verwandelt‹. Der Möglichkeit nach waren sie immer schon Bomben, in der gleichen Weise, in der Briefe der Möglichkeit nach immer schon leicht verfügbare Instrumente des Angriffs waren. Diese Tatsache spricht weder gegen Briefe noch gegen Passagierflugzeuge. Beide aber sind, seit das Separathalten der Aspekte auch imaginär nicht mehr recht gelingen will, etwas anderes geworden.
In Taiwan gibt es vieles, um das man sich Sorgen machen muss. Um eines muss man sich keine machen, darum nämlich, wohin Taiwan gehöre, was es eigentlich sei, wie es Altes und Neues, Randlage und - je nach Perspektive – Mittellage, diplomatische Isolation bei wirtschaftlicher Totalintegration und all die anderen Gegensätze, die dieses Land ausmachen, zu so etwas wie einer ›Identität‹ zusammenfüge. Ich spreche hier nicht vom politischen Tagesdiskurs und den aus ihm hervorspießenden Debatten. Diese kommen ohne Sorgen der genannten Art nicht aus. Sie sind dort als highlights unverzichtbar und wohl auch am Platz. Ich spreche von Sorgen im Sinne einer gelebten und erlebten Problematik, und auch dies nur im Blick auf den Sektor der Bevölkerung, in dem ich mich seit nunmehr fünfzehn Jahren bewege. Ich spreche von den Studenten, den gescheitesten, neugierigsten, den am meisten nachdenklichen unter ihnen. Repräsentativ ist es also nicht, was ich zu sagen habe, aber was wäre in dieser Frage schon repräsentativ? Wir berühren hier einen Punkt, an dem das Repräsentative nicht unbedingt mit dem Wahren zusammenfällt.
Dort also, wo ich es erlebe, hat Taiwan die Steigerung und Kultivierung nicht-destruktiver Erreichbarkeit zum Ort und zur Quelle der Identitätsbildung gemacht. Freilich kommt es dabei sehr darauf an, was man unter Identität und deren Bildung versteht. Ein insularer Identitätsbegriff wäre, ironischerweise, fehl am Platz.
Die Studenten, von denen ich rede, sprechen mit den Großeltern möglicherweise Taiwanesisch, untereinander Mandarin oder eine Mischung aus Taiwanesisch und Mandarin, mit ausländischen Studenten, die in Taiwan Chinesisch studieren, vorwiegend Englisch, mit mir, spätestens vom Ende des zweiten Jahrgangs an, Deutsch. Viele von ihnen haben Familienangehörige und Bekannte, die in den USA, in Kanada, Australien, Neuseeland, zunehmend auch in Deutschland oder Österreich leben. Sie interessieren sich für japanische Modetrends, amerikanische Filme, klassische Musik, für Techno, überhaupt für alles, für das man sich interessieren kann. Es fällt schwer, im Plural von ihnen zu sprechen, denn jeder und jede ist anders. Die geläufigen Großkategorien – chinesisch, verwestlicht, amerikanisiert, zwischenweltlich etc. – werden leer, sobald man Studenten genauer kennt.
Gemeinsam ist vielen von ihnen eine zunächst überraschende Unbestimmtheit der Vorstellungen über ihre berufliche Zukunft. Mit Unentschiedenheit hat dies wenig zu tun. Eher ist es eine andere Form der Entschiedenheit, die nämlich, aus jeder sich ausformenden Lage das Beste zu machen. Sie zeigt sich in dem Bestreben, eine Beweglichkeit einzuüben, die es erlaubt, der herannahenden Zukunft gegenüber bis zum letzten Augenblick Positionierungen zu erproben, um auch wirklich diejenige zu finden, die der Gegenwart, zu der die herannahende Zukunft sich je und je ausprägt, am meisten angemessen ist. Als Optimum gilt die Position, von der aus sich die Möglichkeiten jeder Situation zum Nutzen aller – faktisch geht es dabei freilich nie ohne Abstriche, so dass aus allen dann diejenigen werden, für die man zu sorgen hat – erschöpfend erschließen.
Opportunismus ist dies keineswegs. Wer nach großkulturellen Tiefenerklärungen sucht, sei auf den gemeinchinesischen Gedanken verwiesen, nach dem die Menschen für das Gelingen des Universums verantwortlich sind. Dies bezieht sich auf jeden Augenblick. Geht eine Situation vorbei, in der Möglichkeiten, sie zum Besten zu wenden, übersehen oder nicht ergriffen wurden, gilt etwas als verloren, das hätte sein sollen, auf Grund des Unvermögens der Beteiligten aber nicht wurde. Die Situation hat die Beteiligten nicht erreicht. Sie waren nicht hinreichend erreichbar. Die Einübung der genannten Beweglichkeit strebt an, das Vorkommen dieser Form des Verfehlens zu reduzieren oder zu verhindern: Steigerung nicht-destruktiver Erreichbarkeit.
Die besondere Ausprägung des Bemühens um diese Steigerung, so wie sie mir täglich in Lehrveranstaltungen und in Gesprächen mit Studenten entgegentritt, und dies wiederum in einer Vielzahl persönlich akzentuierter Varianten, ergibt sich aus dem Zusammenspiel jenes gemeinchinesischen Lebensideals mit der rapide anwachsenden Verfügbarkeit einer Infrastruktur weltweiter Kommunikation. Von besonderer Bedeutung ist hierbei die schwindende Signifikanz der Insellage. Die gegenwärtige Ausprägung des Bemühens um Steigerung nicht-destruktiver Erreichbarkeit in Taiwan bezieht damit eine Dimension ein, die zum gemeinchinesischen Lebensideal immer gehörte, auf Grund der Insellage aber sehr eingeschränkt war. Gemeint ist das Bemühen um Verbreiterung des Bereichs, der als Situation erlebt wird und in dem genannten Sinne zu erschöpfen, nämlich zum Besten zu wenden ist. Der Bereich, den viele taiwanesische Studenten in diesem Sinne erleben, durch Kontakte und Freundschaften, die sie bei Begegnungen in Taiwan oder auf Reisen knüpfen und sorgfältig pflegen, durch Nutzung der Medien, immer wieder aber durch Begegnungen und Reisen, geht erheblich über die Grenzen der Insel hinaus.
Objekt destruktiver Erreichbarkeit zu sein war in Taiwan immer eine Konstante, mit der man zu leben hatte. Die Zahl der Raketen, die sich auf die Insel richten, nimmt zu. Alle Bedingungen für die euphorische Variante der Steigerung nicht-destruktiver Erreichbarkeit waren und sind also gegeben. Der 11. September 2001 produzierte auch in Taiwan Bestürzung, dies aber mehr im Sinne eines Fernereignisses. Die Solidarität mit den Amerikanern war eine Selbstverständlichkeit. Der Topos, die Welt sei eine andere geworden, beherrschte auch hier Debatten und Gespräche. Zugleich nahmen die Passagierzahlen der regionalen Fluggesellschaften zu. Man fühlte sich in ostasiatischen Flugzeugen sicherer als in amerikanischen oder europäischen. Insellage anders. Doch nicht mehr lange.
Für das Zusammenfließen des nicht-destruktiven Aspekts der Steigerung von Erreichbarkeit mit deren destruktivem Aspekt gibt es kaum ein fühlbareres Indiz als die Erweiterung jener zeitraubenden Nebengeschäftigkeit, die PC-Nutzern als Tribut für die Dienste ihres Geräts abverlangt wird. Lange ging es darum, kommunikativ aufzurüsten, Schritt zu halten mit dem jeweils letzten Grad von Erreichbarkeit: E-Mail, Internet Auftritt, Video-Conferencing. Heute ist es erforderlich, zusammen mit der elektronischen Erreichbarkeit die Abwehr zu steigern. Ein Steigerungsschub an Erreichbarkeit, der vergäße, die entsprechende Abwehr zu installieren, bräche schon beim ersten Hochfahren des Rechners unter den Attacken feixender Virenschreiber zusammen.
In einem gänzlich anderen Kontext, dem des Studiums fremder Kulturen, wurde das genannte Zusammenfließen schon erheblich früher sichtbar. Lange Zeit gab es zwei Diskurse über fremde Kulturen. Der eine fand nahezu im Verborgenen statt. Die Teilnehmer an diesem Diskurs studierten die betreffende Kultur im Sinne eines faktischen oder potentiellen Gegners. Studienzweck war die Wappnung für den Eventualfall. Um die Zerstörungskraft kostspieliger Sprengköpfe effizient zu nutzen, sind Ziele ausfindig zu machen, deren Zerstörung sich lohnt. Hierfür benötigt man Experten, die mit den Gegebenheiten und Lebensabläufen der Zielregion vertraut sind. Ein Arbeitsfeld und eine Option des Broterwerbs von vielen in diesem verborgenen Diskurs.
Marktgängig war er nicht. Geriet er in die Öffentlichkeit, so war er eher ein Anlass von Bestürzung. In Buchhandlungen, Zeitschriften, Dokumentarsendungen oder auch Vorlesungssälen fand ein Diskurs über fremde Kulturen statt, in dem es um Bildung, Verständigung, Erweiterung der Perspektive, die Überwindung, wie man so sagte, falscher kultureller Zentrismen ging.
Der immense publizistische Erfolg der Huntington-These in den frühen neunziger Jahren bekundete, dass sich die Verhältnisse geändert hatten. Gemeint ist der Marktwert, den der Titel des Aufsatzes und späteren Buches außerhalb der engeren Fachpublizistik erreichte. Er wurde zur Formel für eine neue Weise, die Sicherheitsprobleme der Welt zu sehen. Der Blick auf fremde Kulturen in sicherheitspolitischer Perspektive, bis dahin abgespalten vom öffentlich präsenten Diskurs über diese, war marktfähig, das Zusammenfließen eines Wissens um fremde Kulturen im Sinne militärischen Handlungswissens mit einem im weitesten Sinne humanistischen Kulturwissen war salonfähig geworden.
Passagierflugzeuge bringen Geschäftspartner aus unterschiedlichen Weltteilen an gemeinsame Tagungsorte, sie transportieren Touristen und Terroristen, sie verteilen auch unbekannte Erreger tödlicher Krankheiten um die Welt. Nach den Erwartungen der WHO war Sars nur der Anfang. Das Zusammenwirken des Flugverkehrs mit dem immer weiteren Vordringen des Menschen in unberührte Gebiete macht die Verbreitung von Krankheitserregern, die immer schon vorhanden waren, bisher aber nie mit dem Menschen in Berührung kamen, sehr wahrscheinlich.
Als die WHO Reisewarnungen für Teile Chinas, Hongkong, Singapur, Toronto und einige andere Länder ausgesprochen hatte, erschienen die ersten Leitartikel, die in Worte fassten, was vielen in der Form von Beklommenheit längst bewusst geworden war. Das Zusammenfließen des destruktiven Aspekts der Steigerung von Erreichbarkeit mit dem nicht-destruktiven Aspekt beschränkt sich nicht auf die Tatsache, dass jeder Fluggast Sprengstoff in den Schuhen haben könnte.
Ende April flog ich für eine Woche nach Oxford. Der Chiang Kai-Shek Airport war leer wie sonst nur am frühen Morgen. Besonders gespenstisch das Tiefgeschoß mit den Restaurants. Dampfende Gerichte, Gesichter mit Masken, die auf Kunden warteten, aber nur vereinzelt Menschen, wiederum maskiert, die zaghaft ihren Teller Nudeln verspeisten.
Das Flugzeug dann halb leer. Ein Teil der Reisenden trug Masken, andere hielten ihre Maske bereit, zogen sie hervor, sobald irgendwo ein Husten vernehmbar wurde. In Frankfurt nahmen alle die Masken ab und schritten hinaus in den Terminal, als wäre nichts gewesen, später in Heathrow ebenso.
Dann Rückreise. Bei der Ankunft in Taiwan wurde die Temperatur gemessen, damals noch nicht mit dem Infrarot-Thermometer. Manche protestierten gegen die erforderliche Berührung.
Die Theatergruppe der Deutschen Abteilung hatte die Einladung erhalten, im Rahmen der Europäischen Woche, mit der Taiwan die Eröffnung des Büros der EU in Taipei feierte, ein Stück aufzuführen. Nach meiner Rückkehr aus England begannen wir mit den Proben, arrangierten die Bühne, die Beleuchtung, die Akustik.
Eine Woche vor der Aufführung nahm die Zahl der Infektionen von Tag zu Tag rapide zu. Die Universität empfahl, alle Aktivitäten außerhalb des Campus abzusagen. Im Falle unserer Theateraufführung überließ man die Entscheidung den Teilnehmern. Wir sprachen darüber und entschieden uns, dem Vorschlag der Universität zu folgen. Erst in diesem Augenblick wurde uns in einem erlebten Sinne deutlich, dass Sars eine tödliche Krankheit ist, für die es keine Behandlung gibt. Statt unserer Aufführung hielt ich einen kurzen Vortrag. Die meisten Journalisten hatten abgesagt, darunter alle Vertreter europäischer Medien.
Auch Aktivitäten auf dem Campus, die über Lehrveranstaltungen und unverzichtbare Sitzungen hinausgingen, wurden reduziert. Tagungen, Kolloquien und Gastvorträge wurden verschoben oder abgesagt. Man wollte die Eingeladenen nicht in Verlegenheit bringen. Wer reist schon gern an einen Ort, vor dem die WHO warnt? Verschoben wurden auch Besuche von Vertretern der Universität bei Partneruniversitäten. Wer begrüßt schon gern Gäste aus einem Land, in dem man Masken trägt, um sich bei Gesprächen nicht gegenseitig zu infizieren? Auch längst organisierte Sommerkurse, darunter einer in Oxford, wurden gestrichen. Wiederum dachte man an mögliche Sensibilitäten der Gastgeber.
Lehrveranstaltungen und Sitzungen fanden im Zugwind statt. Bei stehender Luft steigt die Gefahr der Infektion. Wir bemühten uns, ein Mindestmaß an Normalität zu bewahren. Immer wieder bekam sie Risse. Eine Kollegin reichte mir zur Begrüßung wie gewohnt die Hand, zog sie dann zurück. »Ach ja, Entschuldigung, soll man ja nicht.« Ich selber tat wohl Ähnliches. Nur wenige Studenten trugen bei Lehrveranstaltungen Masken. Einmal begann eine Studentin zu husten. Nicht besonders stark. Nicht der Rede wert. Aber Husten gilt als eines der Symptome von Sars. Es gab einen Augenblick der Stille. Alle bemühten sich, die aufsteigende Angst zu ignorieren. Nach der Pause waren einige Studenten verschwunden.
Taiwan, quo vadis? Die Frage also doch? Das schon, doch nicht unbedingt sorgenvoll, eher voller Neugier. Wieder habe ich dabei nur die Studenten im Blick, denen ich täglich begegne. Die Worte ›Globalisierung‹, ›Internationalisierung‹, ›Kommunikation‹, ›Austausch‹ haben für sie einen härteren Klang bekommen. Es sind keine Wörter der Euphorie mehr. Es hat Wochen gegeben, an denen diese Wörter mit dem Erlebnis der Angst vor einer tödlichen Krankheit verknüpft waren. So etwas lässt sich nicht vergessen.
Aber viele dieser Studenten wissen auch, dass es keine Alternative zu dem gibt, was diese Wörter meinen, nicht in Taiwan und nirgendwo sonst. In Taiwan gibt es so eine Alternative nicht einmal dem Schein nach. Anderswo könnte man auf die Idee verfallen, es gäbe sie, damit an Möglichkeiten vorübergehenden Ausweichens vor dem Thema, das sich mit dem Ende der euphorischen Phase der Globalisierung vor uns hingedrängt hat. In Taiwan aber nicht. Das Ende der Euphorie ist hier ebenso ein erlebtes Faktum wie die Notwendigkeit, Erreichbarkeit weiterhin zu steigern und zu kultivieren.
Am 17. Juni hob die WHO ihre Reisewarnung für Taiwan auf. Nach Auskunft der BBC sind weltweit 812 Menschen an Sars verstorben, 84 davon in Taiwan. Am 15. September beginnt das Semester. Neubeginn. Aber daran ist man in Taiwan gewöhnt.