Todestage haben eine eigentümliche Magie, eine Magie, von der die Lebenden profitieren, wenn sie jene zelebrieren. In 2004 jährt sich der Tod Immanuel Kants zum zweihundertsten Mal und das gibt Anlass zu Würdigungen und Tagungen, zu Diskussionen und Publikationen weltweit, von Berlin bis Los Angeles, von Kaliningrad und Moskau bis Bangkok, Taipeh und Tokio. Dies allein weist über das bloße Ritual, das sich gewöhnlich erst innerkulturell voll erschließt, hinaus auf seinen tieferen Grund: die ›weltbürgerliche‹ Bedeutung der Philosophie Kants, die sich jenseits aller vordergründigen kulturellen Differenzen erhebt. Über diese ist kaum noch Streit, seitdem man sich auch im angelsächsischen Sprachraum, der über Jahrzehnte hinweg von der Analytischen Philosophie mit ihrem ausgeprägten Antiidealismus, Antitranszendentalismus und Antikantianismus dominiert war, zu der Einsicht bequemt hat, dass Kant »der Größte« ist (John McDowell), und der (gleichfalls antikantianische) Marxismus-Leninismus als Staatsdoktrin und allein zulässige Philosophie im vormaligen Ostblock abgedankt hat. Strittig ist nur noch die Auslegung, die Auslegung nicht nur diesen oder jenen einzelnen Lehrstücks (etwa des Dualismus von Erscheinung und Ding-an-sich oder der transzendentalen Deduktion der Kategorien), sondern auch ihrer globalen Stoßrichtung und Tendenz: Ist die Philosophie Kants, speziell die theoretische, primär Theorie der wissenschaftlichen Erfahrung (wie etwa im Marburger Neukantianismus postuliert) oder ist sie primär Neubegründung der (bzw. einer kritischen) Metaphysik (eine Lesart, die so unterschiedliche Denker wie Heidegger und Peter F. Strawson vertreten)? Ist sie womöglich beides in Einem, eines durch das andere, oder ist sie vielmehr erst dann ganz erfasst, wenn man sie mit Dieter Henrich u. a., die darin an Fichte, Schelling und Hegel anknüpfen, primär als Theorie des Selbstbewusstseins deutet? – Hinter derartigen Auslegungsdifferenzen, zu denen die Kantischen Texte selbst Anlass geben, steht zuletzt die Schlüsselfrage: Was ist Transzendentalphilosophie?
Unter dem Titel Die Idee der Transzendentalphilosophie. Immanuel Kant übergibt der Würzburger Emeritus Werner Flach aus Anlass des bevorstehenden Jahrestages seine »eigene Darstellung wie Würdigung des leitenden Gedankens der theoretischen Philosophie Kants der Öffentlichkeit« (9). Diese Darstellung verdient schon deshalb besondere Beachtung, weil der Autor zu den wenigen deutschen Gegenwartsphilosophen gehört, die nicht im breiten Fahrwasser je aktueller Moden (in loser Folge: Hermeneutik, Analytische Philosophie, Sprachpragmatik, Diskurstheorie, Dekonstruktivismus etc.) segeln, sondern denen Kants »habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen« zugleich Verpflichtung und Quelle ihres Denkens ist. In den beiden Hauptwerken, mit denen Werner Flach sich als systematischer Denker kat’ exochen profiliert hat – die großen Grundzüge der Erkenntnislehre von 1994 und die Grundzüge der Ideenlehre von 1997 – hatte er sich in aller Ausdrücklichkeit zu einem »konzeptionelle(n) Zusammenhang (...) eigentlich nur mit dem, was man das kantische Konzept theoretischer Philosophie nennen kann« (Erkenntnislehre, 9; analog zur Praktischen Philosophie vgl. Ideenlehre 77) bekannt. Das nunmehr vorgelegte Kant-Buch ist daher nicht allein als Interpretation der Philosophie Kants (unter beliebigen anderen) von Interesse, sondern auch, weil es unzweideutig in der Sache Position bezieht und zudem im Nachhinein Rechenschaft ablegt über das Kant-Verständnis, das den beiden genannten systematischen Werken zugrunde liegt. So verwundert es denn auch nicht, wenn Flach in der ihm eigenen Entschiedenheit und Gradlinigkeit resümiert: »Das von Kant mit der Idee der Transzendentalphilosophie entwickelte Konzept von Philosophie ist das überlegene Philosophiekonzept. Noch zweihundert und mehr Jahre nach seiner Ausbildung erweist es sich in allen relevanten Punkten als tragfähig und vor allem auch als prospektionsfähig (...). Gemäß der Idee der Transzendentalphilosophie ist die Philosophie problem-, methoden- und argumentationsreferente Aufklärung. Ziel dieser Aufklärung ist die Sicherheit bezüglich der Verfassung und des Ganges der Wissenschaft, der positiven Wissenschaften und der von diesen klar und deutlich unterschiedenen wie mit ihnen zusammenhängenden Grundlegungswissenschaft.« (193) Wer wollte dem widersprechen?
Widerspruch oder besser, Einspruch kann sich auf der globalen Ebene, also noch diesseits spezifischer Auslegungsfragen einzelner Lehrstücke, nur auf zwei Aspekte beziehen. Da ist zunächst die Begründung seines Vorhabens, mit der Flach das Buch eröffnet: »Es gibt viele Darstellungen der Kantischen Philosophie. Nicht wenige verstehen sich als Kommentar. Insbesondere das Hauptwerk der theoretischen Philosophie Kants, die Kritik der reinen Vernunft, wird kommentiert. Meine Meinung ist, die vielfältige Anstrengung hat gleichwohl zu wenig erbracht. Nicht einmal der Leitgedanke der Philosophie Kants ist in voller Bestimmtheit erfaßt.« (9) Den ersten drei Sätzen ist nicht zu widersprechen, die beiden letzten aber, insbesondere der letzte, müssen Bedenken erregen. Mehr als zweihundert Jahre interpretatorischer Bemühung um die Philosophie Kants sollten zu wenig erbracht, so prominente Interpreten wie die Neukantianer Hermann Cohen und Ernst Cassirer, Alois Riehl und Bruno Bauch sollten nicht einmal den Leitgedanken der Philosophie Kants voll erfasst haben? – Es ist verständlich und liegt in der Natur der Sache, dass jeder Interpret eines philosophischen Textes (bzw. einer Theorie) den Anspruch erhebt, alle bis dato vorliegenden Interpretationen zu überbieten. Aber einem systematischen, mit hohem Methodenbewusstsein ausgestatteten Denker kann das Dilemma der Konkurrenz der Interpretationen (der schlichte Umstand, dass über die Triftigkeit und Reichweite, über die ›Wahrheit‹ einer Interpretation eben nicht der nackte Textbestand selbst und als solcher, der in Begriffe, Sätze, Absätze und Kapitel zerfällt, sondern zuletzt doch immer wieder nur eine Interpretation entscheidet, die allererst ihren Zusammenhang herstellt) nicht verborgen geblieben sein. Insofern ist es bedauerlich, dass die Auseinandersetzung mit konkurrierenden Interpretationen nur sehr sporadisch und zudem anonym bleibt (vgl. etwa 112). Man muss sich sehr genau in der Kant-Literatur auskennen, um etwa Flachs Stellungnahme zum und Auflösung des Problems der Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel (96) hinreichend zu verstehen und zu würdigen, oder auch seine These, dass »(d)as Bewußtsein unserer selbst qua Person« mit dem »transzendentallogischen Selbstbewußtsein (...) überhaupt nichts zu tun« habe (117), oder schließlich auch sein Plädoyer dafür, dass die transzendentale Deduktion der Kategorien weder in zwei Abschnitte noch gar in zwei Deduktionen auseinanderfällt, sondern einen einzigen, in sich konsistenten Argumentationsgang präsentiert (vgl. 129 f.).
Der zweite, wichtigere Aspekt, der Einspruch oder doch zumindest Bedenken hervorruft, ergibt sich aus Flachs Hauptthese selbst. Sie besagt ein Dreifaches: 1. »daß es einen durchgehenden transzendentalen Gedanken gibt« (12), 2. dass der »Philosophie (...) nach Kant die Verständigung mit sich selbst über sich selbst immanent« ist und sie darin »ihre Grundlegung« hat (ebd.), 3. dass Philosophie so »Letztbegründungslehre« ist, die sich als »Wissenschaft der Geltungsqualifikation« des Wissens (13) konkretisiert. Den letzten beiden Teilthesen kann man nur zustimmen, wenn man einmal davon absieht, dass das Vokabular nicht originär Kantisch ist (wie überhaupt die operativen Begriffe, mit denen Flach seine Interpretation organisiert, so die das Buch insgesamt aufgliedernde Unterscheidung zwischen Problemgehalt (1. Teil, 25-42), Methodengehalt (2. Teil, 43-67) und Argumentationsgehalt des transzendentalen Gedankens (3. Teil, 68-192), aber etwa auch die Rede von Geltungsrelevanz, Geltungsvalenz, Geltungsbestimmtheit etc.) bei Kant selbst nicht zu finden sind, sondern Flachs eigener Systematik entstammen). Wenn Flach aber postuliert, dass »das ganze Kantische Lehrgebäude als Ausformung des Gedankens der Letztbegründung zu begreifen« sei (15), dann verliert dieser Gedanke eben jene Bestimmtheit und Kontur, die Flach herauszuarbeiten gerade bemüht ist, dann wird, anders gewendet, das Kantische Œuvre, dann wird der Kantische Textbestand mit all seinen »possesive(n) Inszenierung(en)«, die Flach keineswegs leugnet (vgl. 34), salopp gesprochen zu einer Bibel, zu einer Verabsolutierung, die philosophische Letztbegründung nach Flach doch gerade nicht ist (31).
Flach insistiert darauf, dass die Kantische Theorie »als solche keine anthropologische (...) sondern eine rein geltungstheoretische Argumentation« sei (34), und er gibt sich alle Mühe, den transzendentalen Gedanken rein geltungstheoretisch, d. h. zuletzt urteils- und bestimmungslogisch zu entfalten (insofern ist die Vernachlässigung der A-Redaktion der transzendentalen Deduktion der Kategorien durchaus begründet). Aber der Kantische Theoriebestand lässt sich um die anthropologische, d. i. die transzendental-subjektive bzw. vermögenspsychologische Dimension doch nicht bringen. Schon die Grundunterscheidungen von Sinnlichkeit und Verstand, von Gegebensein und Gedachtwerden, von Anschauung, Empfindung und Begriff sind ohne Rekurs auf das Erkenntnissubjekt ›Mensch‹ und die spezifische Verfasstheit seines kognitiven Apparates nicht zu gewinnen. Das ist bei Flach auch ausdrücklich anerkannt, wenn er konzediert, dass die sinnliche Anschauung des Menschen eine »organbedingte« ist (132), weshalb die konkret-jeweilige Erkenntnis »an das Funktionieren von Sinnesorgangen gebunden« und »in dieser Rücksicht logisch kontingent« ist (132), und wenn er schließlich betont, »daß mit Beginn des § 22 die Position des hyletischen Sensualismus der Vergewisserung der Geltungskonstitutivität der Kategorien integriert wird« (133). Über die subjektive Klammer, in welche die transzendentallogisch zu begründende Objektivität der Erkenntnis bei Kant selbst kraft seines Rekurses auf den kognitiven Apparat des Menschen gesetzt bleibt, führt auch Werner Flachs Auslegung nicht hinaus.
Diese Beobachtung tut dem hohen Rang dieser strikt systematisch-geltungstheoretischen Auslegung keinen Abbruch, so wenig, wie die zuvor genannten Bedenken, die lediglich mögliche Diskussionspunkte namhaft machen, die im Fachpublikum, an das sich das Buch wendet, erörtert werden mögen. Auf Detailfragen der Interpretation diesen oder jenen Lehrstücks, diesen oder jenen Satzes kann hier nicht näher eingegangen werden, zumal dies das oben genannte Dilemma der Konkurrenz der Interpretationen nicht auflösen, sondern nur reproduzieren würde. Dessen eingedenk kann man insgesamt resümieren, dass Flach seinen Anspruch, »peinlich am Text der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft die Idee herauszuarbeiten, die Kants Philosophie durchweg leitet« (9), in einer Weise eingelöst hat, die alles übertrifft, was seit Dekaden zur Philosophie Kants geschrieben worden ist. Wer akzeptiert, dass Kants »systematische Valenz« ihm »den Status des uneliminierbaren Diskussionspartners« sichert (11), kommt um eine gründliche Auseinandersetzung mit Werner Flachs Auslegung nicht herum.
Geert Edel