Das Obligo, das der Lehre von der Erkenntnis eigentümlich ist, bildet das zentrale Charakteristikum der Philosophie. Deshalb spielt dieses Obligo in den Überlegungen all der Philosophen eine Rolle, denen die Etablierung der Philosophie nicht nur eine faktische, sondern eine argumentative Angelegenheit ist. Während der sowohl sachlich wie politisch bedingten Niedergangszeiten der Philosophie in Deutschland in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gibt es nur wenige Vertreter des Faches, die jener Gruppe zuzuzählen sind. Theodor Litt ist einer von ihnen. Er ist zudem einer aus der besagten Gruppe, mit dessen Namen sich relativ eigenständige Bemühungen verbinden. Es sind Bemühungen, die vor allem dadurch ausgezeichnet sind, dass sie sich nicht mehr in der Konkurrenz der transzendentalphilosophischen Schulen der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts befangen finden. Sie erzielen vielmehr ein gewisses Zusammendenken der konkurrierenden Ansätze und Ausarbeitungen. Wenn man diese grob als Ansätze und Ausarbeitungen des Gedankens der Begründung, des Reflexionsgedankens und der Lehre vom Bewusstsein kennzeichnen darf, so lassen sich Litts Bemühungen ebenso grob als die Zuspitzung der diesem Zusammendenken eigenen Tendenz in der Weise der Selbstanalyse des Denkens auffassen. Die Selbstanalyse des Denkens wird hierbei als Geltungsanalyse verstanden. Genau dieses Verständnis soll die tragfähige Vorstellung von Letztbegründung gewährleisten.
Auch wenn an dieser Position vieles herkömmliche transzendentalphilosophische Lehre ist, so ist doch der eigene Akzent so unverkennbar, dass es sich lohnt, den Ansatz und die Ausarbeitung dieser Position genauer zur Kenntnis zu nehmen. Es lohnt sich nicht zuletzt, weil dies bislang noch nicht mit der erforderlichen Sorgfalt geschehen ist. Litts grundlegungstheoretische Position ist eine in der gegenwärtigen einschlägigen Diskussion beinahe völlig vernachlässigte Position (vgl. hierzu W. K. Schulz: Zur Situation der Theodor-Litt-Forschung, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 78. Jg. 2002, 239-246). Ich meine, das gereicht der Diskussion nur zum Nachteil. Deshalb also der Versuch ihrer Würdigung.
Litts Überlegungen setzen beim Selbstverständlichen an. Sie konzedieren, dass der Mensch jeweils über eine Weltsicht verfügt. Diese Weltsicht begründet ohne Zweifel eine gewisse Befangenheit. Es ist die Befangenheit des geschlossenen Horizontes. Diese zeichnet sich durch naive Fraglosigkeit und unbeschwerte Zuversicht aus. Der Mensch ist in der »Hülle seiner Weltanschauung geborgen« (Von der Sendung der Philosophie, 41). Diese Geborgenheit ist jedoch nichts Unverletzliches. Sie zerbricht an der Kollision der Weltanschauungen. Der Mensch lernt daraus, dass die fragliche Geborgenheit immer auch eine Verleugnung ist, die Verleugnung der Jeweiligkeit seiner Weltsicht. Mit diesem Lernerfolg entdeckt der Mensch das Privileg, das ihn auszeichnet. Ihm kommt das Privileg zu, »zugleich in und über seinem Horizont zu stehen« (a.a.0. 39 f.). Er ist »das Wesen, das nicht nur in weltanschaulicher Bindung steht, sondern auch um diese seine Bindung wissen kann« (ibid.). Dieses Privileg, diese Auszeichnung wahrzunehmen, heißt den Schritt in die Philosophie vollziehen. Diese ist Rechenschaftslegung über diesen Sachverhalt. Und indem sie dies ist, versichert sie den Menschen »seiner Teilhabe an der Wahrheit« (40).
Diese Teilhabe stellt sich zunächst so dar, dass »das Antlitz, mit dem die Welt mich anblickt, sich zusehends verwandelt, wenn es für mich das einzig denkbare zu sein aufhört« (43). Dann aber stellt sich heraus, dass der »Scheinwerfer der Reflexion« (29) die Wahrheit als irrelative, in sich gegründete Instanz auf den Plan ruft. Die Wahrheit ist als die Idee zu begreifen, die das »allumfassende Prinzip hergibt, das über allen besonderen Wahrheiten steht und ihnen allen als beseelende Macht innewohnt« (22). Die Philosophie ist die »Hüterin und Wahrerin« dieser Idee.
Hierzu bestellt, kann sie sich nur als das »denkende Bestreben [organisieren], das sich um keinen Preis dazu bringen lässt, beim Vorletzten stehen zu bleiben« (ibid.). Die Philosophie ist, prägnant gesagt, Letztbegründungslehre. Sie entwickelt den Gedanken letzter Begründung, und sie entwickelt ihn als wahrheitsorientierten, d. h. als geltungstheoretischen Gedanken. Somit ist die Philosophie als geltungstheoretische Letztbegründungslehre aufgefasst.
Wie schon angedeutet, ordnet sich Litt mit dieser Auffassung in die von Kant begründete geltungstheoretische Tradition der deutschen systematischen Philosophie ein. Er ordnet sich dieser, wie ebenfalls schon angedeutet, nicht ohne die Setzung eines eigenen Akzentes ein. Die Aufgabe der Darstellung der Littschen Grundlehre besteht somit darin, deren geltungstheoretische Grundaussage in ihrer Akzentuierung hervortreten zu lassen.
Litts Akzentuierung der geltungstheoretischen Grundaussage ist darin zu finden, dass diese Aussage die anthropologische Rücksicht wahrt. Dadurch deckt die geltungstheoretische Grundaussage die ganze Breite des Humanum ab. Das Ich als Person ist ebenso einbezogen wie die Menschheit.
Selbstverständlich gibt es für das Gelingen dieser Akzentuierung die ausschlaggebende Bedingung. Sie ist eine ganz bestimmte Herangehensweise an das Problem. Litt nähert sich dem Problem in der Weise der Selbstbesinnung des denkenden Menschen. Sein das Problem erschließendes Thema ist der Erkenntniswert der Selbstbesinnung. Diese wird also der Geltungsanalyse unterworfen. Im Zuge dieser Geltungsanalyse gewinnt Litt einen Begriff der Reflexivität, der sowohl deren geltungstheoretische Distinktheit wie deren Konkretheit fasst.
Zunächst zur geltungstheoretischen Distinktheit. Dem Menschen, der als in seiner Welt agierend und hierbei Macht über sich habend seiner sich bewusst ist, ist gerade unter Berücksichtigung dieses Bewusstseins die Funktionalität der Intentionalität zuzuerkennen. Er denkt, und er denkt etwas. Das Denken wechselt und das Etwas wechselt. Die Intentionalität ist also eine stetig sich verändernde Funktion. Sie ist in permanenter Selbstgestaltung begriffen. Aber dessen ungeachtet ist eben darin gleicherweise und gleichermaßen die »Selbigkeit« des Subjektes wie die »Dieselbigkeit« des Objektes festgehalten (Die Selbsterkenntnis des Menschen, 34). Das eine wie das andere ist so und nur so präsent. Es gibt das Subjekt und es gibt das Objekt. Sie sind als Intentionalitätsfaktoren identische Faktoren. Und sie sind in ihrer Identität aufeinander bezogen. Es gehört zu ihrer eigenen Bestimmtheit, derart aufeinander bezogen zu sein. Dank dieser Beziehung kann von der Erkenntnisvalenz der Intentionalität geredet werden. Die Intentionalität hat durch all die Gestalten ihrer Selbstgestaltung hindurch je einen Erkenntniswert. Diesen Erkenntniswert zu thematisieren, ist gleich Reflexivität. Reflexivität heißt also, dem Denken die funktionale Qualifikation von Subjekt und Objekt und deren Bezogenheit aufeinander einschließlich der Einschätzung derselben immanent sein lassen. Das ist eine durch und durch geltungsanalytische Qualifikation. Es ist eine, die an Distinktheit nichts zu wünschen übrig lässt. Sie lässt vor allem angesichts dessen an Distinktheit nichts zu wünschen übrig, dass Litt es nicht versäumt, das ganze funktionale Gefüge, das diese Qualifikation umschließt, genau auszubreiten. Das Resultat ist seine Lehre von der Klimax der Reflexion. Da die Ausgestaltung dieser Lehre ohne Einfluss auf die spezifisch Littsche Akzentuierung der geltungstheoretischen Grundaussage ist, muss diese Lehre hier nicht ausgebreitet werden.
Dargelegt werden aber muss noch der Punkt, dass der Focus all dieser Reflexivität die Sicherung der Geltungsbestimmtheit des Wissens ist. Erkenntnis ist geltungsvalentes und geltungsdifferentes Wissen. Durch die Reflexivität des Denkens ist diese Qualifikation präsent. Sie ist präsent als eine Versicherungsangelegenheit. Alle Versicherung kann also auch nur dank der Reflexivität des Denkens gewonnen werden. Sie wird gewonnen, indem aufgedeckt wird, dass und wie die Subjekt-Objekt-Bezogenheit dem Wissen in aller Unbedingtheit eine Struktur oktroyiert, der dieses als universalem Obligo unterliegt. Es ist die Struktur, die mit der internen Differenzierung des Logischen und des Methodischen wohlbekannt und im Wissen eben als Obligo akzeptiert ist. (Nur das unkontrollierte Wissen verweigert sich der Anerkennung dieses Obligo. Es wird deshalb auch als irrational beurteilt.) Die Reflexivität des Denkens treibt eben hiermit mit Notwendigkeit die Logik und die Methodik hervor. Sie treibt diese als Bürgen der Geltungsbestimmtheit des Wissens hervor. Logik und Methodik bzw. Methodenlehre sind deshalb refIexivitätsbedingte Fundamentalwissenschaften. Litt hat sie in seiner Systematik (Einleitung in die Philosophie, 1949; Denken und Sein, 1948; Mensch und Welt, 1948) entsprechend gewürdigt. Ein Manko ist es freilich, dass er der entsprechenden Würdigung nicht die entsprechende Ausarbeitung zugesellt hat. Es darf vermutet werden, dass ihm die Aufdeckung der Konkretheit der Reflexivität des Denkens als die drängendere Aufgabe erschien. Dieser hat er sich nämlich intensiv und wiederholt gewidmet. Gleichwohl ist es ein sehr prägnanter Gedanke, den er hierbei strapaziert. Er lässt sich deshalb auch in großer Prägnanz darlegen.
Zuvörderst ist festzustellen, dass Litt im Punkte der Aufdeckung der Konkretheit der Reflexivität des Denkens in keiner Weise die geltungstheoretische Argumentation verlässt. Er argumentiert auch in diesem Punkte strikt geltungstheoretisch. Das lässt sich freilich nur ermessen, wenn klar gesehen wird, dass die Subjekt-Objekt-Unterscheidung wie deren Beziehung aufeinander eine Angelegenheit der funktionalen Qualifikation ist, die die Reflexivität dem Denken angedeihen lässt. Die Subjekt-Objekt-Relation als denkimmanente Bestimmtheit, die die Erkenntnisvalenz der Intentionalität bedingt, ist hinsichtlich eben der Erkenntnisvalenz funktional zu exhaurieren. Geschieht dies, so stellt sich die Sicherung des Geltungswertes selbst als eine funktionale Qualifikation dar. In dieser liegt Folgendes vor: Es werden eine »Leistung« und ein »Sach-Verhalt« unterschieden und aneinander gekoppelt (Die Selbsterkenntnis des Menschen, 40). Die »Leistung« wird dem Subjekt gutgeschrieben. Der »Sach-Verhalt« wird hingegen dem Objekt zugeordnet. Er ist der Gehalt des Wissens. Das Subjekt ist dagegen die »bildende Energie« des Wissens (44).
Diese Bestimmungen sind die für Litts Lehre von der Konkretheit der Reflexivität des Denkens die die Weichen stellenden Bestimmungen. Denn zum ersten ist in ihnen erreicht, die Reflexivität in eine Funktionsgleichung zu fassen. Darin ist sie definit zu machen. Denn es gehört zu dieser Funktionsgleichung, dass sie einen Funktor und ein zugehöriges Argument aufweist. Der Funktor ist hierbei die definierende (= Bestimmtheit garantierende) Größe. Das Argument macht die Größe aus, in der die Bestimmtheit sich vereinzelt. In der fraglichen Funktionsgleichung ist somit jeweilige Bestimmtheit zugänglich. Es ist voll und ganz den logischen und den methodischen Anforderungen genügt.
Originell ist dieser Punkt nicht. Die die Akzentuierung ermöglichende Pointe der Litt’schen Lehre von der Konkretheit der Reflexivität besteht in etwas anderem, weiteren. Sie besteht darin, dass die Leistung »nur zusammen mit der in ihr wirkenden Totalität des Selbst« (41) dem Subjekt gutgeschrieben wird. Die »bildende Energie« ist also eine, die sehr komponentenreich ist. Ja, sie verrät eine wirkende Totalität. Und die ist bzw. soll sein die des Selbst.
Mit dieser Bestimmung vollzieht Litt die entscheidende Spezifikation seiner Argumentation. Denn diese Argumentation erweist sich mit dieser Bestimmung nicht nur in der Lage, den primären geltungstheoretischen, d. i. noematischen, Anforderungen zu genügen; sie eröffnet auch die noetische Option. Und die Eröffnung dieser Option ist ausschlaggebend für die der Argumentation Litts eigentümliche anthropologische, in seiner Begrifflichkeit noologische Akzentuierung seiner Grundaussage. Diese ist nicht nur möglich; sie ist auch möglich in Übereinstimmung mit der Geltungsnoematik. Sie vermag das ganze Spektrum des Humanum in die Geltungstheorie hineinzuholen.
In der Ausführung seiner Lehre hat Litt denn auch sich gewillt und bemüht gezeigt, diesen Vorteil zu nutzen. Ausdrücklich ermahnt er den Forscher, sich zu hüten, »den Reichtum der hier vorliegenden Möglichkeiten schematisch zu verkürzen« (46). Die Forschungs- und Lehraufgabe der Philosophie hat sich ihm deshalb so dargestellt, wie eingangs angeführt. Es ist die Selbsterkenntnis des Menschen und auf deren Basis sein Verhältnis zur Welt zu ergründen. Es stellt sich heraus, dass hiermit ein geltungsreflexiver Bildungsprozess, d. i. die stetige GestaItungsarbeit an der Proportion von Unbedingtheit und Bedingtheit der Geltung, erfragt wird. Und es stellt sich heraus, dass in diesem Erfragen sämtliche geistphilosophischen Motive eingeholt werden. Sie werden zudem eingeholt in einem nahtlosen Übergang der Grundlehre in deren Erörterung. Es zeichnet sich eine im kantischen Verstande pragmatische Anthropologie ab. Was der Mensch aus sich macht, machen kann und machen soll, was er in seiner Welt aus sich macht, machen kann und machen soll, ist das Thema dieser Anthropologie. Litt kann dementsprechend guten Grundes »von der Sendung der Philosophie« reden, und er kann, wie eingangs dargelegt, diese Sendung der Philosophie darin sehen, dem Menschen das Privileg zu sichern, »in und über seinem Horizont zu stehen, aus ihm heraus zu leben und zu handeln und doch auch die Regsamkeit, mit der er ihn erfüllt, von höherer Warte aus zu betrachten«, wobei, wie ebenfalls eingangs ausgeführt, das Letztere dadurch möglich ist, dass sie (die Philosophie) ihn (den Menschen) qua Geltungsreflexion »seiner Teilhabe an der Wahrheit versichert« (Von der Sendung der Philosophie, 39 f.).