»Kein Geistlicher hat ihn begleitet.« Mit diesem Satz enden Die Leiden des jungen Werther. Goethe hat in diesen wenigen Worten eine Problematik konzentriert, die auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nichts von ihrer Brisanz verloren hatte. Immer noch wurden die Selbstmörder geächtet und von einem christlichen Begräbnis ausgeschlossen. Es ist nur dem Entgegenkommen des Amtmanns zu verdanken, dass Werther an der Stätte begraben wurde, die er sich erwählt hatte und dass ihm ein schimpfliches und unehrliches Begräbnis erspart blieb.
Diskutiert wird der Selbstmord im 18. Jahrhundert mit Vehemenz, und Goethes Roman hat einen nicht unerheblichen Teil zu der Heftigkeit der Diskussion beigetragen. Nicht nur die Theologie und die Philosophie nehmen sich des Themas an, sondern ebenso die Medizin und die Psychologie. Es geht um Reformen in der rechtliche Bewertung eines Suizids, aber immer auch um die Frage: Warum nimmt sich jemand das Leben? Mag die Vorstellung, bei der Selbsttötung handle es sich um ein schweres, irreversibles Vergehen, ja um eine Todsünde, die ewige Verdammnis nach sich zieht, nicht mehr im Vordergrund stehen; so bleibt unter anderem die Provokation, dass ein Mensch das philosophisch-theologische Angebot, sich in der besten aller möglichen Welten zu befinden, ausschlägt. Es liegt nahe, hier Störungen im Seelenhaushalt zu vermuten, Gemütskrankheiten, Melancholie.
Das Thema hat immer wieder, gerade auch in jüngerer Zeit, zu eingehenden historischen, literaturwissenschaftlichen oder philosophischen Untersuchungen herausgefordert. Wie intensiv die Beschäftigung mit der Geschichte der Selbsttötung war, dokumentiert das Literaturverzeichnis der umfangreichen Studie von Andreas Bähr. Nun liegt es nahe zu fragen, warum sich Bähr angesichts der Forschungslage des Themas angenommen hat. Sein Unternehmen rechtfertigt sich durch den originellen Ansatz, den er mit sehr intensiven Detailanalysen verifiziert. Es sei allerdings auch am Rande bemerkt, dass der Aufwand, der mit und in diesen Analysen getrieben wird, die Lesbarkeit nicht immer erleichtert.
Unter den Texten, die Bähr analysiert, finden sich eher unbekannte, wie die Selbstzeugnisse des Studenten Christian Friedrich Illing, aber u. a. auch Briefe Carl Wilhelm Jerusalems und Gotthold Friedrich Stäudlins und schließlich Goethes Werther. Bähr nähert sich den Vorstellungen der Aufklärung von Moralität und Gewissen von der Grenze her, die durch das Problem der Selbsttötung markiert ist. Er untersucht mit Akribie die Selbstaussagen von Menschen, die sich das Leben genommen haben. Es geht ihm darum zu klären, wie Menschen, die sich selbst als aufgeklärt verstanden, ihre Ausweglosigkeit und Verzweiflung, die notwendig zur Selbstentleibung führte, begründeten. Und seine Pointe ist, dass es nicht die Krankheit der Melancholie war, die zur Selbsttötung geführt hat und dass es sich auch nicht um den demonstrativen Akt einer kritischen Reaktion auf die Gesellschaft handelt, die den Selbstmördern ein glückliches Leben ebenso verweigert wie einen selbst gewählten und bestimmten Tod. Aus Bährs Analyse von Abschiedsbriefen und vergleichbaren Texten ergibt sich, dass die Selbsttötung aus einer Selbstverurteilung hervorging: Die Verfasser der Briefe waren sich einer unauslöschlichen Schuld bewußt, auf die sie moralisch angemessen durch die Selbsttötung reagieren wollten. In diesem Akt konnten sie, indem sie sich einer selbst geschaffenen Ordnung unterwarfen, ihre Würde erweisen und bewahren. Die konsequente Haltung der Selbstmörder, die ihr Handeln nicht als Mord, sondern als Tötung empfanden, läßt Einflüsse der Philosophie Immanuel Kants vermuten, auch wenn dieser das Recht zur Selbsttötung bestritten hat.
Interessanterweise spielt die Melancholie, die die Außenstehenden bei einer Selbsttötung als Erklärung ins Spiel brachten, auch für diejenigen, die sich töteten, eine zentrale Rolle, allerdings nicht als Entschuldigungsgrund, sondern als Bedrohung, auf die reagiert werden musste. Die Betroffenen sahen sich der Gefahr einer ›Krankheit zum Tode‹ ausgesetzt, von der Werther gesprochen hatte. »Eine moralisch notwendige Handlung war die Selbsttötung [...] allein angesichts eines moralischen Versagens, eines Versagens, das das erwachende Gewissen feststellte. Dieses Versagen wiederum manifestierte sich in der melancholisch-hypochondrischen Krankheit. Selbsttötung war moralisch notwendig, weil sie die letzte Möglichkeit war, die krankhafte tödliche Zwangsläufigkeit des moralischen Verfalls zu unterbrechen«. (S. 392)
Der Leser empfindet Beklemmung angesichts der von Bähr ausgebreiteten und analysierten Texte, in denen der verzweifelte Versuch von Menschen dokumentiert ist, ›trotz allem‹ Würde zu wahren. Und er wird darüber belehrt, dass sich der aufklärerische Diskurs über den Selbstmord keineswegs in den Alternativen der Verurteilung oder der Apologie erschöpft hat.
Ulrich Kronauer