Öffentlichkeit und Intimität
Der Begriff der Individualität berührt unterschiedliche
gesellschaftliche Felder, an deren Kreuzungspunkt er sich
konstituiert. Dazu gehören rechtliche, ökonomische, aber auch
ästhetische und diskursive Bedingungen. Als einer der mächtigsten
Taktgeber der Selbsterfindung des Menschen als Individuum im
Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts fungierte allerdings die
Ästhetik. Sie operierte an der Grenze zwischen dem Allgemeinen und
dem Besonderen, insofern sie es mit jenem Einzigartigen zu tun
hatte, das zugleich für sich einen Allgemeinheitsanspruch erhebt.
Kunst ist das Werk eines Schöpfers, der im gleichen Maße Schöpfer
seiner selbst wird, indem er ein Werk hervorbringt, dem er das
Siegel seiner unverwechselbaren Originalität aufprägt und dadurch
eine Gestalt verleiht. Der Begriff der Individualität erfährt darin
sein besonderes Pathos. Essentiell weist er auf
Singularität. Doch erweist sich das In-Dividuum dergestalt
als ein Nicht-Teilbares, das sich gleichzeitig durch eine Reihe
ursprünglicher Teilungen erzeugt. Einerseits gelingt diese
Selbsterzeugung durch die Behauptung einer diskursiven
Allgemeinheit, die es sich selbst zuschreibt, andererseits
durch die Abgrenzung gegen anderes, von dem es sich abhebt –
nicht nur von anderen Individuen, sondern von Anderem überhaupt,
vom Gesellschaftlichen wie der Zivilisation oder Natur. Seine
diskursive Universalität meint dabei seine
Vernunftfähigkeit, wodurch jeder prinzipiell als der gleiche
ausgewiesen ist und für sich gleiches Recht reklamiert: Sie
formuliert zugleich das Format des Humanum, das die Semantik
der Individualität seit der Aufklärung durchzieht und den Menschen
als Vernunftwesen auszeichnet. Seine Abgrenzung gegen
anderes wiederum begründet sich aus der Figur des
Selbstbesitzes, die in einer Eigentumslogik verankert ist, die ihre
Rechtfertigung aus einer Reihe von Differenzen bezieht, die
sämtlich um die Begriffe der Autonomie, der Freiheit und der
Selbstbestimmung kreisen. Zu ihren zentralen Unterscheidungen
gehört die Distinktion zwischen Öffentlichkeit und
Privatheit.
Ihr Antagonismus bestimmt das Verhältnis des Individuums zum
sozialen Raum. Die Intimität der Person im Sinne eines
Selbstbesitzes war gegen das Allgemeine, das Öffentliche und damit
Soziale geschützt. Recht und Gesetz umgrenzten vor allem die
letztere Sphäre, unterwarfen sie der Ordnung einer Macht, worin die
Freiheiten weniger gebändigt und geregelt als allererst gebildet
wurden. Dagegen hielt sich ein fiktionaler Raum, der scheinbar der
Observation der Macht entzogen, jedoch insofern fiktional blieb,
als er den Ort oder die Folie des Privaten abgab, das sich selbst
allererst im Unterschied zum Öffentlichen und in Opposition zu
dessen Institutionen und Gesetzen erfand. Nicht minder der
Beobachtung durch die Macht ausgesetzt, blieb es deren andere Seite
und Entsprechung: ein durch die Macht gleichermaßen bewachter wie
entzogener Bereich. Seine Ausnahme wurde, gegen die Sphäre der
Öffentlichkeit, durch rigorose, aber nirgends kodifizierte
Barrieren gesichert und aufrechterhalten. Auf die Person bezogen
hatten diese den Charakter von Tabus. Betrafen sie die Kluft
zwischen Innen und Außen, waren sie zugleich mit der Schwelle des
Hauses assoziiert, zu deren Schutzraum eine Reihe hart erkämpfter
›Geheimnisfreiheiten‹ wie das Brief- und Bettgeheimnis oder die
ärztliche und geistliche Schweigepflicht zählten, deren Schauplätze
gleichwohl aber mannigfache Abgründe bereithielten, in die zu
dringen die Brechung eines Sakrilegs bedeuten konnte. Jemandem zu
nahe zu treten, bezeichnete eine Formulierung, die nicht nur die
Grenze zum gesellschaftlichen und politischen Sein markierte,
sondern auch die Grenze der Subjekte zueinander, ihre Demarkation,
wie sie sich in den Gefühlen des Takts, der Scham und der
Unverletzlichkeit der Körper ausdrückte und denen, stärker noch als
alle juristischen Unterscheidungen zwischen dem Privaten und dem
Öffentlichen, der Begriff der Intimität entsprach.
Obwohl vielfältigen Einschränkungen und Zurichtungen ausgesetzt,
wie sie Norbert Elias und Hans Peter Dürr rekonstruiert haben,
beinhaltete das Intime in erster Linie das ebenso Vertraute wie
Verhüllte oder Verborgene, das von Anfang an mit dem Körper
verbunden war und mit Sexualität konnotiert wurde. Spätestens seit
Freuds unzähligen wissenschaftlichen und philosophischen Diskursen
ausgesetzt, wurde es, wie Michel Foucault gezeigt hat, Gegenstand
eines Wissens, das es nachhaltig in die Öffentlichkeit zerrte, um
es zum Objekt gleichermaßen exhibitionistischer wie voyeuristischer
Zurschaustellungen zu machen. Seither hat sich die Grenzlinie
zwischen dem Öffentlichen und Privaten immer weiter verwischt.
Hatte der historische Prozess die Person und ihre Intimität in dem
Maße, wie er sie erzeugte, mit Maßnahmen ihrer Kontrolle und
Disziplinierung versehen und damit einzuhegen und zu versiegeln
versucht, zogen sie die Regime der Wissenschaften erneut ans Licht
und machten somit sichtbar, was sich der allgemeinen Sicht
versperrte. Die totale Mobilisierung des medialen Auges hat ihr
übriges hinzugefügt und die Ausleuchtungen gleichzeitig forciert
und popularisiert. Kein Diskurs, der heute nicht die geheimsten
Wünsche von Männern und Frauen ausforschen oder ihre Triebregungen
am erhöhten Pulsschlag oder an Hautabsonderungen bemessen würde,
der nicht die Entstellungen der Körper zählen und begradigen
wollte, keine Zeitschrift, die nicht bereitwillig die Beichte
Prominenter oder Jugendlicher veröffentlichte, und keine Sendung,
die nicht die ausgefallensten Vorlieben oder Perversionen
thematisierte wie befriedigte. Die Markierungen zwischen dem
Intimen und dem Öffentlichen haben sich auf diese Weise nicht nur
verschoben, sondern überhaupt entgrenzt: Was einst seine Bedeutung
aus der Trennschärfe, dem Gegensatz zum jeweils anderen bezog,
scheint auf diese Weise jede Funktion eingebüßt zu haben.
Die Entgrenzung zeichnet sich dabei auf doppelte Weise ab: Einmal als Ausweitung des privaten Raums in den öffentlichen durch seine Verwendung als Schauplatz, auf der sich die einzelnen preisgeben, sei es in Form eines reizlosen Erotismus der Körpers, des inszenierten Bekenntnisses oder der mobilen Kommunikation an jedem beliebigen Ort oder Platz der Öffentlichkeit, zum anderen aber durch die umgekehrte Bewegung, die Verlegung des Öffentlichen in die Sphäre des vormals Privaten, wozu die tägliche Berichterstattung des Fernsehens in den Wohnzimmern ebenso gehört wie die Chatrooms des Internets, die einer virtuellen Agora gleichen, auf denen sich zu jeder Zeit jedermann begegnen kann – worin die Akteure freilich ganz anders ›im Spiel‹ sind als in der Öffentlichkeit, insofern sie ihre körperlosen Kontakte mit den Schatten der Anonymität und der Einsamkeit bezahlen. Wir haben es folglich mit einer gegenseitigen Durchdringung zu tun, die beide einstmals getrennten Regionen aufeinander bezieht und darin gegeneinander unkenntlich werden lässt. Das hat Folgen für die Subjekte selber. Denn die Rückseite der Entwicklung, ihr buchstäblicher Ab-Grund ist die Erosion ihrer Identität. Nicht länger findet sie ihre Kontur im Schnitt, in der Differenz, die das Innere vom Äußeren abschirmte, vielmehr gibt es nur mehr das Äußere, die Bühne, die Szenarien der Selbstdarstellung. Sie zwingen die einzelnen ins Bildliche. In diesen Imagines des öffentlichen Selbst, die nirgends ihren Halt im Handeln oder dem, als was sich die Subjekte verstehen, haben, ist zugleich der Widerspruch eingefangen, dass zwar die Kraft der Individualität, der einmal mit ihr verbundene Autonomie- und Selbstbehauptungsanspruch sich fortschreitend auflöst, dass gleichwohl aber soziologisch weiterhin von einer gesteigerten Individualisierung gesprochen werden kann. Diese trifft weder die Individualität noch das Individuum, sondern seine Streuung, seine Fragmentierung, die der Konstruktion der Bilder konform geht.
Bild und Selbst
Bis ins späte 19. Jahrhundert war der Ort des Individuums die
Person, und seine Bestimmung an Prinzipien der Souveränität,
der Freiheit und Selbstbestimmung gebunden, deren Geschichte ein
fortgesetztes Werden beinhaltete, das durch Erinnerung
zusammengehalten wurde. Identität bezeichnete deren Funktion. Sie
war das Produkt einer kohärenten Narration, wodurch sich die
Subjekte ebenso stilisierten wie nachträglich konstruierten. Jedoch
zunehmend von Brüchen und Vergeblichkeiten heimgesucht, wovon die
Zeichnungen, Risse und Beschädigungen moderner Subjektivität
zeugen, bilden ihre Male Symptome einer Krise, wie sie durch die
Diagnose vom »Verschwinden des Subjekts« markiert ist, die Foucault
ans Ende seiner Reise durch die Geschichte der Episteme platzierte,
die zugleich die Schwelle zum 20. Jahrhundert berührt. Verdankte
sich dabei das Selbstverständnis des klassischen Individuums einer
reflektierten Selbstsetzung, entspringt der Prozess der
›Individualisierung‹, der bereits eine Schwundstufe beschreibt,
einer Visualität, worin der Ausdruck vom ›Selbst-Bild‹ seine
inszenatorische Realisierung findet. Das moderne Subjekt ist vor
allem eine ›Bildgestalt‹. Ihm ist das Spiel seiner
Sichtbarkeit wesentlich. Sichtbarkeit betrifft hier nicht den
Blick, sondern die Wahrnehmung im weitesten Sinne des Da-Seins, der
auffälligen Anwesenheit, des Spektakels. Das dabei das
Sehen, die ›Schau‹ eine prominente Rolle spielt, liegt auf der
Hand. Dazu gehört auch der Zusammenhang von Darstellung, Medialität
und Performanz, der die Subjekte von vornherein als Teil einer
Medienkultur ausweist. Liegt in der theatralen Evidenz ihres
›Schauspiels‹ die Überzeugungskraft des soziologischen
Rollenkonzepts, wie es Erwin Goffman entwarf, entlehnt sich
allerdings seine Metapher immer noch einer Vorstellung vom Theater,
die den Selbstentwurf ans Narrativ bindet: Das öffentliche Selbst
erfindet sich als seine eigene Dramatisierung, als Text und Regie
in einem. Die Beschreibung wiederholt damit den Vorrang des Textes,
der in seiner strukturalen Ordnung das Postulat der Kohärenz wahrt
und damit verfehlt, was die Titel der Inszenierung und der
Visibilität aufzuweisen suchen: die Herrschaft der
Effekte. Nicht die Rolle wäre dann entscheidend, sondern die
Erzeugung von Wirkungen, wie sie durch Bilder evoziert werden.
Ihnen korrespondiert ein okkasionelles Repertoire wechselnder
›Auftritte‹, wie sie Situationen angemessen scheinen. Das bedeutet
auch: Nicht die Selbst-Behauptung entscheidet, sondern die Szene
und ihre Anschauungen.
Wenn vom Theater und einer theatralen Praktik der Persönlichkeit
die Rede ist, wäre deshalb weit eher auf den ursprünglichen Sinn
des Theatralen als Aufführung oder Zurschaustellung
zu achten. Der Vorrang der Bildlichkeit in der Konstitution der
Subjekte ist in dieser Hinsicht zu verstehen: Bilder sind in erster
Linie aufs Zeigen bedacht. Ihnen eignet ein präsentischer
Status, wie Susanne K. Langer herausgestellt hat. Zugleich
figurieren sie im Szenischen als Medien eines ›Settings‹, eines
Arrangements von Assoziationen. Sie erzeugen und multiplizieren
Analogien. Dabei genügt das Zeigen einer anderen Logik als der
Diskurs, die Erzählung oder die Selbstbeschreibung: Es stiftet
andere Zusammenhänge und Bezüge, bezieht seine Mächtigkeit aus
seiner direkten, zunächst nur die Wahrnehmung ansprechenden
Wirksamkeit. Insbesondere duldet es keine Verneinung, keine
Reflexion, die von sich zurückträte und sich als anderes
thematisierte oder von anderem abgrenzte. Vielmehr kommt dem Zeigen
ein genuin affirmativer Charakter zu: Bilder stellen sich
aus, führen vor, ohne sich zurückzunehmen. Was ins Bild gesetzt
ist, ist da, hält sich uneingeschränkt im Modus von Präsenz
und Präsens, drängt sich auf. Folglich verharrt die Identität als
Bild in der Evidenz einer Gegenwärtigkeit und verwehrt damit
die zu Personalität und Individualität gehörende Leistung des
Selbst-Bewusstseins und der Autonomie, die konstitutionell auf
Zäsuren, auf Selbstdistanzen fußt. Deren Voraussetzung bildet die
Negation, wohingegen das Bildliche in keine Abständigkeit oder
Unterscheidung ruft, sondern an der Performativität von
Verkörperungen partizipiert, die auf die Gegenwart von
Selbstdarstellungen zielen. Für ihr Gelingen sind ›Augen-Blicke‹
maßgeblich. Entsprechend geht es auch nirgends um Ausbildung
kritischer Re-Flexionen, um Geschichtlichkeit oder Gedächtnis sowie
um die in Erinnerungen verbürgte Kontinuität des Selbst, sondern um
die Kraft situativer ›Marker‹, die wie Signifikanten funktionieren,
welche Positionen besetzen, nicht Bedeutungen fixieren oder ›etwas‹
repräsentieren. Das Bild als Substitut für Identität fordert
vielmehr zur fortwährenden Produktion von Momenten ohne Referenz.
Diese wurzeln - wörtlich – im Spektakulären: im Sehen und
seiner spezifischen ›Augensucht‹.
Das ist besonders in Ansehung der Figur des Narziß
psychoanalytisch untersucht worden. Weniger entscheidet dabei das
Etikett des Narzissmus, als vielmehr die durchs Bildliche
determinierte Selbstwahrnehmung, die das Selbst zum Mimen
macht. Identität gewinnt damit eine – im Wortsinne – ebenso
›dramatische‹ wie mimetische Struktur: Das Gesicht ist nicht
Antlitz, sondern szenisches Imago: Maske. Die
Maske wiederum bezeichnet gleichermaßen ein ›Aussehen‹
(eidos) wie ein Versteck: Sie präsentiert sich dem fremde
Blick, um ihm auszuweichen. Wie darum das stets öffentliche
›Gesicht‹ als ›Gesehenes‹ das ›Antlitz‹, das eigentlich
›Entgegenblickende‹, verhüllt und ent-stellt, bedeutet die
Bildwerdung des Subjekts kein Sichzeigen im Sinne des
Aussetzens, sondern ein Ausstellen und Vorführen im Sinne
szenischer Gewalt. Sie untersteht grundsätzlich, wie alles Theater,
in dessen Wortbedeutung gleichfalls der Sinn von
Sichtbarkeit eingeht, der Dialektik von Zurschaustellung und
Angeschautwerden. Denn der Sichtbarkeit, die dem Bildlichen
eigentümlich ist, korrespondiert der Widerschein einer Spur, die in
die Sicht zwingt und aus dem Sehen ein Begehren macht. Die
Szene wird daher weniger von den Akteuren determiniert, als
vielmehr von ihren Zuschauern konditioniert.
Diese Umkehrung, die noch im Ausdruck ›Ansicht‹ anklingt, verwandelt schließlich das Bild in eine Unterwerfungs- und Abrichtungsagentur, die seine Betrachtung zuletzt dem Blick des anderen subordiniert. Wie dieser die Wirkung ›vor-gibt‹, weil deren Glücken seinem Kriterium unterliegt, bleibt die Bildproduktion, wie perfekt auch immer, von der Fessel permanenter Selbstkontrolle begleitet. Denn keineswegs gehorcht sie den Regien des Selbst, das sich ihrer souverän zu bedienen weiß, vielmehr folgt sie, hervorgebracht durch das Auge des Betrachters, seinem Diktat und richtet sich damit insgeheim nach demjenigen, den sie zu affizieren trachtet. So nistet in der Bildidentität der Zwiespalt zwischen Selbstausstellung des Ich, das ›sich‹ als Subjekt kreiert, indem es sich zeigt, und dem unvermeidlichen Umstand, dass sie sich im selben Moment zum Objekt eines fremden Blicks macht, der ihm eine Selbstbeobachtung auferlegt, die die Affektion zu meistern sucht. Sie sistiert das Selbst im Bildlichen in dem Maße, wie es dadurch zum Subjekt und Objekt der eigenen Selbstkontrolle gerät.
Körperbilder und genetische Schemata
Erzwungen ist auf diese Weise eine Inversion der Visibilität,
eine Umkehrung der Zurschaustellung, die ebenso sehr auf den
anderen zielt, wie sie von seiner Betrachtung gefangen genommen
wird. Nicht das Selbst ist der Herr, sondern das Bild, mit dem es
sich bekleidet und dem es verzweifelt zu entsprechen sucht. Sie
macht ihn zum Knecht seiner eigenen Verbildlichung. Wo mithin das
Authentische brüchig und die Selbstbestimmung obsolet geworden sind
und das Bild mit dem Versprechen einer Rettung verlorener Ganzheit
auftritt, bleibt es um so eindringlicher von demjenigen abhängig,
dem es seine Macht leiht. Folglich entspringt seine Orientierung
dem Phantasma eines Anderen, der zu garantieren scheint, was es als
öffentliches Selbst nirgends zu halten vermag. Doch entstammt er
als Anderer selbst dem Bild, das er präformiert. Stürzte die
Frage nach der Identität einst in die Paradoxie der
Selbstreflexion, die sich schon gewusst haben muss, um sich wissen
zu können – eine Paradoxie, die die Logik der Selbstbeschreibung
seit je beunruhigte -, so gerinnt sie im Bildlichen zu einer
endlosen Kette aus lauter wechselnden Imagines, die auf
nichts als ihre Oberfläche verweisen und ihren Ursprung verweigern.
Die Wechselseitigkeit oder Dialektik, die dem Sehen und der
Sichtbarkeit innewohnen und ein ständiges Oszillieren zwischen
eigenem und fremdem Blick erzeugt und in der Oszillation zwischen
Selbstdarstellung und Selbstkontrolle ihre Entsprechung findet, ist
deshalb vor allem eine der Bilder selber. Nicht nur handelt es sich
um idealisierte Formate, wie sie der Held verkörperte und wie sie
sich in der Verehrung der Stars und Idole fortsetzte, sondern auch
um virtuelle Konstrukte, die selbst schon einer Medienkultur
entstammen, die ihre Produkte ausschließlich im Fiktionalen siedeln
lässt. Ihnen hängen Attribute an, die das öffentliche Selbst im
gleichen Maße aus seinem imaginären Schein erlösen sollen, wie sie
es um so nachhaltiger ins Imaginäre zurückstoßen.
Man kann insofern von einer doppelten Verschiebung
ausgehen, worin sich das Schicksal der bildgewordenen Subjekte
besiegelt: Erstens ihre Selbstpräsentation im Ikonischen,
der Verzauberung ihrer Fragmentarität in den Regimen des
Imaginären, sowie zweitens das Bild selbst als
Simulakrum, als ›Trugbild‹, das seine Herkunft aus medialen
Erfindungen bezieht. Es begegnet überall und schreibt der
Selbstverbildlichung ihre Norm vor: Ebenmäßige, von keinem Leiden
gezeichnete Gesichter im Film, Hochglanz designte Mannequins als
Kunstpuppen, digitalisierte Figuren auf Plakatwänden, chirurgisch
konstruierte Körper, die an Plastiken aus Comic Strips
gemahnen. Sie gerinnen zu Projektoren, worin sich Körperbilder,
Schönheitsbilder, mediale Fiktionen, Mythisierungen und ihre
Rekombination in Kunst und Film überschneiden. Überhaupt lassen
sich die Medien als gewaltige Produktionsmaschinen der Übertragung
und Vervielfältigung artifizieller Bilder identifizieren. Ihre
Gegenwart ist universell, ihre Anwesenheit repressiv. Doch bleibt
ihr Schein Verheißung, die nicht eingelöst werden kann, weil sie
ein Phantasmatisches bergen, worin sich die Wunschökonomien eines
ebenso deformierten wie rudimentären Selbst spiegeln, das an ihnen
seine Kränkungen ebenso bestätigt wie auszugleichen sucht. Sie
schlagen als Ideale abermals zurück und verhängen über die
Subjekte eine gewaltsame Struktur, weil sie sich einerseits ihrem
unzureichenden, stets paßungenauen Körperschema als Maß
imprägnieren, andererseits erst dadurch die Kränkung hervorbringen,
weil in Relation zu ihnen jeder Körper als imperfekt erscheinen
muss. Implizieren somit die Bilder eine nicht zu verwirklichende
Idealität, geraten ihre Verlockungen umgekehrt zum Götzendienst,
tendenziell zu Theologie.
Das ist vor allem dem Körperkult zu entnehmen, der die
Makellosigkeit der Gesichtsmasken buchstäblich in den Leib
inskribiert und auf diese Weise weiter veräußerlicht. Träger der
Bilder wird so der stilisierte, der technisierte Körper.
Life-Sciences, Technowissenschaften und Computerprogramme
arbeiten Hand in Hand an seiner Erstellung. Ihm eignet eine ebenso
utopische wie suggestive Kraft, die eine im Bildlichen verankerte
Normativität terminiert. Ihr Spiegel ist die inszenierte
Attraktivität der Körper in der Mode, ihre entsprechende Aufrüstung
in den Trainingslagern der Fitnessindustrie und des Breitensports,
ihre Pflege im Wellness, das die Reinheit der Traumgestalten bis
ins Ambiente fortsetzt, oder ihre wunschgemäße Modellierung in der
Schönheitschirurgie, deren Schnitt durchs Fleisch den Schnitt der
Technik offenbar macht. Ihre technische Manipulierbarkeit scheint
grenzenlos. Entsprechend erscheint der Körper als Schlachtfeld und
Projektionsfläche zugleich. Er wird zugeschnitten, geschunden und
verletzt, um letztlich - wie eine Skulptur – wieder neu
aufgerichtet zu werden. Nannte Martin Heidegger die Sprache das
»Haus des Seins«, wird heute der Körper zum ›Haus des Selbst‹, zum
Gefäß, das nahezu beliebige Bildentwürfe in sich aufzunehmen
vermag. Und hielt einst die Natur den Leib und seine Gestaltbarkeit
in Schranken, indem seine Hinfälligkeit allen Technologien des
Körpers trotzte, avanciert er gegenwärtig zum technologischen
Hybrid, der von Konstruktionsszenarien besetzt nach technischen
Maßgaben frei modelliert werden kann. Deren Folie sind virtuelle
Imagines, die dem Leiblichen seine Form, sein
Experimentalschema vorgeben. Erweist sich somit, was mit dem Körper
zu tun hat, als nirgends selbstverständlich, wie Philipp Sarasin
gesagt hat, gibt sich der Leib umgekehrt als ein Kunstobjekt zu
erkennen, das sich nicht nur mit zahlreichen narzisstischen
Fetischismen und Idiosynkrasien ausgestattet darbietet, sondern das
von Anfang an auch einer strengen Beobachtung und Bewertung
unterliegt, die jede Abweichung, jede Varianz rigoros verfolgt und
ausschließt und auf diese Weise den bildgewordenen Idealmaßen
anzugleichen sucht.
Insonderheit lassen sich gegenwärtig drei dominante
Technologien des Leibes unterscheiden, die freilich
zusammengehören und den Körper gleichermaßen zum Werk wie zum
Werkzeug machen: die Technologien des Sports und der
Mode, die Technologien der Medizin und der
Life-Sciences, ein Begriff, der nicht umsonst die
Assoziation an Life-Style weckt, sowie die Technologien der
Biogenetik. Allen dreien sind Ästhetisierungsverfahren
immanent, die sich am Bild orientieren. Dazu gehören die
Traumstätten der Fitnessparks und des Extremsports, die den Körper
durch exzessives Training ebenso einer erotischen Disziplin
unterwerfen, wie sie aus seiner Kasteiung, die den christlichen
Übungen der Askese nicht nachstehen, den Triumph der Neuschöpfung
beziehen. Ihnen entspricht eine Herrichtung und Ausstattung, die
mit minutiöser Planung und Zeitaufwendung die ›kosmetische‹
Bildwerdung in Szene setzen, um ganz dem Blick des Begehrens zu
genügen. Beides weist auf den selben Punkt: die Dominanz des
ästhetischen Prozesses, die die einstige Selbststilisierung des
Individuums als Demiurg, als alter deus in der Kunstwerdung
des Körpers restituieren und damit restlos auf den äußeren Schein
verlegen.
Entsprechend zielen die imaginären Bildordnungen auf die Erfindung seiner selbst als Aussehen (eidos), als Form. Ihr Korrelat ist eine medizinische Technik, die die Leiblichkeit unablässig bearbeitet, um sie ebenso sehr zu verbessern und zu verschönern wie ihr langsames Sterben aufzuhalten: Die Modellierung von Gesundheit beruht nicht so sehr auf der Herstellung einer inneren Balance oder Angemessenheit, sondern klebt an den Ideologien ewiger Kraft und Jugend, die ihre Suggestibilität vor allem im Bildlichen wahren. Waren diese einstmals mit politischer Barbarei verschwistert, werden sie derzeit allein auf der Ebene des Konsums verhandelt. Durch Einschluss in einen kompletten Kreis von Diagnostik und Präventivmaßnahmen löschen ihre Maßnahmen am Körper die Spuren der Zeit und der Sterblichkeit, indem sie gleichzeitig am Leiblichen die Erfahrungen des Schmerzes, der Fragilität und Verletzbarkeit und damit die spezifischen Residuen seiner Existenz tilgen. Alter, Krankheit und Tod, die dem Leiblichen inskribierten Formen der Endlichkeit, geraten auf diese Weise in ihre Verdrängung. Sie wirken obszön. Folglich gehen die Körperpraktiken der Prophylaxe und der Diätetik wie ihrer therapeutischen Techniken mit einer latenten Entkörperung einher. Sie gerieren sich zuletzt als Technologien der Unsterblichkeit, die umgekehrt ihre Herkunft aus der Angst, dem Skandalon des Todes beziehen, der nicht sein darf, den sie beständig zu überwachen, abzuspalten und unkenntlich zu machen versuchen, auch wenn sein Vorschein überall aus der zur Leichenstarre gefrorenen Bildlichkeit entgegenblickt.
Ästhetik und Dehumanisierung
Diese ›Bildfrömmigkeit‹ gilt um so mehr für die anstehenden
biotechnologischen Neuerfindungen des Menschen, wozu eine ganze
Armada aus Reproduktions- und Transplantationsmedizinen,
In-vitro-Befruchtungen, Keimbahntherapien und Retortengeburten bis
zu den Drohungen des Klonens bereitstehen. Ihre Techniken werfen
ihre Zeichen wie Menetekel in eine noch kaum absehbare Zukunft. Das
Unheimlichste ist darin vielleicht die in ihnen wiederkehrende
Feier einer längst schon diskreditiert geglaubten Eugenik und der
damit verbundenen Idee der Menschenzucht. Doch besitzt sie ihre
vorzüglichste Quelle heute abermals im Bildlichen. Denn signifikant
dafür ist vor allem das Klonen. Die Reduplikation des Exemplars,
seine Ersetzung durch Verdopplung, orientiert sich am Bild, bezieht
aus ihm ihr Bedürfnis. Nicht nur zu fragen wäre daher nach der
moralischen Legitimität des Klonens, wogegen eine Reihe von Gründen
spricht, vor allem die Instrumentalisierung sowohl des Klons als
auch des Klonierten, die dem Gebot der Menschenwürde widerspricht –
zu fragen wäre vielmehr auch nach seinem spezifischen Begehr, der
Schaffung von Ebenbildern. Als Technik nämlich entspringt
die Klonierung selbst schon dem Verlangen nach der Kopie,
der Vermehrung von Bildern, der Verdopplung und Speicherung des
Perfekten, schließlich der Auslöschung des Originals. Dem
korrespondieren die gleichermaßen an Idealbilder geknüpften
›Gentherapien‹. Aus diesem Grunde handelt es sich weniger um die
Instituierung einer »liberalen« Eugenik, wie Jürgen Habermas
formuliert hat – der Ausdruck reflektiert einzig den Standpunkt des
Rechts -, sondern um eine ästhetische. Sie löst die alte,
evolutionstheoretisch und rassistisch begründete Eugenik des frühen
20. Jahrhunderts ab, obgleich sie auf erschreckende Weise
mannigfache Züge mit ihr teilt. Erschien damals die Natur als
Utopie, verbunden mit monströsen Vorstellungen von einer
Überlegenheit der nordischen Rasse, regiert jetzt das Bildliche,
die Imagines körperlicher perfectio und ihrer virtuellen
Produktion und besetzt auf diese Weise die vakant gewordene Stelle
des Utopischen mit allen Konsequenzen einer ݀sthetisierung des
Bios‹.
Das Bild und seine Wirkkraft tritt damit in den Rang eines
biotechnologischen Imperativs. Zu nicht unerheblichem Grade
diktiert es das genetische Design. Es steht unter der Ägide
körperlicher wie geistiger Optimierungen. Ihr Kriterium ist, im
Unterschied zur historischen Eugenik, dem Technischen wie
Ökonomischen entlehnt, ihre Orientierung am Ästhetischen. (Dass
unterhalb technischer Idealisierung die unerbittliche Dramatik der
Ökonomisierung spielt, worin Krankheit und Gesundheit zu einem
mächtigen Markt geworden sind, darauf hat vor allem Rifkin
hingewiesen. – Jeremy Rifkin, Das biotechnische Zeitalter. Die
Geschäfte mit der Gentechnik, München 1998, S. 42ff., 72ff., sowie
ders., Wir werden Kriege um Gene führen, Gespräch in: Schirrmacher
(Hg.), Die Darwin AG. Wie Nanotechnologie, Biotechnologie und
Computer den neuen Menschen träumen, Köln 2001, S. 285-292.) Nicht
länger geht es folglich um staatlich geregelte Hygieneprogramme,
deren Subjekt die Rasse und deren Objekt das Exemplar bildete,
sondern um die technizistische Manipulation am Organismus selber,
deren Produkt die Fiktionalisierung des Individuums nach
Maßgabe eines tief in die kollektive Geschichte eingelassenen
Bildgedächtnisses darstellt. Trägt der Code, der Schriftzug der DNA
mit ihrer präzisen Textur der Basenreihen die Logik der Vererbung
aus – auch wenn alles dafür spricht, dass dieses biogenetische
Dogma zu kurz greift -, bildet umgekehrt die Imagination, die
Bilderzeugung die Grundlage des technischen Eingriffs und seiner
Gestaltung. Nicht der Zweck, der instrumentelle Nutzen allein
forciert, wie man meinen könnte, die Entwicklung und Errechnung
digitaler Skripturen, die den genetischen Code ebenso aufbrechen
wie weiterschreiben und die Welt in Form bislang unbekannter
Hybriden, Chimären und Modelltiere bevölkern, sondern die
hartnäckigen Phantasmen einer Überwindung von Natur und Tod, um die
vermeintlichen Mängel des Menschen, seine Defizite in der
Intelligenz oder seine körperlichen Unzulänglichkeiten nach dem
Gesichtspunkt ikonischer Idealität auszumerzen.
Zwar wird der Segen des ›biotechnologischen Zeitalters‹ in
hymnischen Metaphern beschworen, der medizinische Nutzen der
Gentechnik, ihre Chancen für Heilung und Gesundheit vehement
herausgestrichen, ihre Bedeutung daran ebenso emphatisch bemessen
wie gerechtfertigt, doch geht in das technizistische
Homunkulusprojekt des ›machbaren Menschen‹ gleichermaßen eine
Bildmacht ein, die sich aus ebenso unbewussten wie mythischen
Assoziationen speist. Sie besorgt dabei gleichzeitig eine
De-Naturalisierung der Natur wie eine De-Humanisierung des
Menschen. Beide entsprechen einander und lösen das klassische, an
Identität und Selbstbestimmung orientierte Humanum zugunsten
einer ›post-‹ oder ›transhumanistischen‹ Überschreitung des
Menschen ab. Deren Basis bildet eine ›Ästhetik des Bios‹, die die
Erscheinung des Menschen in dem Maße mit Magie ausstattet,
wie sie aus einem unreflektiert bleibenden Bildspeicher schöpft.
Das Bild fungiert dabei als Typus; es bricht mit der
Singularität des Individuums, seiner Kontingenz, verleiht ihm
vielmehr eine Gestalt noch bevor es Gestalt geworden ist, gibt ihm
ein ikonisches Gepräge, das den Zu-Fall seiner Geburt und seines
›Antlitzes‹ von Anfang an mit seinen Konturen überschrieben hat.
Der Begriff der Individualität verliert dann jeglichen Sinn. Seine
Semantik wird vielmehr durch eine Typologie der Bilder ersetzt. Sie
wird in dem Maße, wie sie ihre stets schon kulturalistisch
sanktionierte Ikonizität in den Boden einstiger Natürlichkeit
versenkt, selber zur Natur, die ihr ihre Muster und Stereotype
vorschreibt.
Keinesfalls darf deshalb die Ästhetisierung des Bios mit der
konkurrierenden ›Ästhetik der Existenz‹, der ›Sorge um sich‹,
verwechselt werden – diese schließt mit der Idee der ›Lebenskunst‹
die Ethik ein, während die ›Ästhetik des Bios‹
ausschließlich auf der Ebene der Wirksamkeit der Bilder und der
Performanz ihres ›objektiven Scheins‹ verbleibt. Die Effekte ihrer
Evidenz, ihr immanent affirmativer Charakter, wie er in bezug auf
die Logik der Bildlichkeit herausgestellt worden ist, lassen die
Frage des Wertes, auch des Selbstwertes und der Würde des
Individuums nicht mehr zu, weil ihnen kein Bild zugeordnet werden
kann und ihre Begründung außerhalb ästhetischer Kategorien erfolgt.
Die ›Ästhetisierung des Bios‹ operiert darum unabhängig von jeder
Moral und Verantwortung. Entsprechend kennt sie auch keinen Entwurf
eines Sozialen. Ihre Naturalisierung der Bildlichkeit schließt
vielmehr jeden Widerspruch und jeden Diskurs aus. Sie entlarvt
darin ihr Tyrannisches. Zwar kontinuiert sich mit ihr die alte
Vorstellung vom Menschen als eines Selbstschöpfers und Künstlers,
wie sie seit der Renaissance überliefert worden ist, doch bezog
diese ihre Plausibilität aus der Bildung der Persönlichkeit, d.h.
der Selbstgestaltung seines Charakters und der Entfaltung und
Steigerung seiner intrinsischen Eigenschaften, wohingegen die
bildgewordene ›Ästhetik des Bios‹ ausschließlich an äußere
Merkmale appelliert, sich einer Bildtradition bedient, ohne sich
ihrer bewusst zu sein.
Folglich verbleibt ihre Ikonologie ganz im Banne des Mythos.
Deshalb werden die nach ihr gestalteten Subjekte ihre Autonomie
nicht mehr aus ihrem Selbst-Bewusstsein, ihrer Selbst-Erkenntnis
oder Selbst-Reflexion, auch nicht aus sozialen Distinktionen, ihrer
Unterscheidung von anderem beziehen, wozu Gesellschaftlichkeit,
Sprache und Schriftmedien gehören, sondern allein aus solchem
mythischen Repertoire, dessen Bilder ihnen wie Prägungen ins
Fleisch graviert sind. Sie errichten zwischen ihnen neue Barrieren,
neue Trennungslinien und Hierarchien, die wohl totalitärer und
gewaltsamer ausfallen werden, als die einstigen es je waren.