Johannes Schnurr
›Eine Figur, welche keine Abnehmer findet, wird Fehler‹
Gedanken am Rande des bedeutsamen Werks

1.

Was ein Bestseller sei, darauf lässt sich eine so rasche wie eindeutige Antwort finden. Wir müssen einzig und allein das von der Marktforschung präzise ermittelte Wochen- und Monatsranking in den einschlägigen Zeitschriften und Branchenpublikationen begutachten. Die Verkaufszahlen der meisten neueren Werke finden sich dort nach Kategorien gelistet, präsentieren sich hierarchisch und thematisch systematisiert, sind etwa in profanere Belletristik und Anspruch machende – oder machen sollende – Sachliteratur geschieden. Sie weisen aus, was gegenwärtig als Lektüre beim Leser gefragt ist und auch was schon nicht mehr, geben uns Auskunft darüber, was in Inhalt, an literarischer Form, als Produkt und Produktion gleichermaßen die Wahrnehmung der Öffentlichkeit in weiten Teilen bestimmt.

Die Macht der Zahl schafft hier eine zugleich organische Eindeutigkeit wie eine klar strukturierte Gegenwärtigkeit, welche wir ansonsten in vielen literaturtheoretischen wie literarhistorischen Zusammenhängen nachgerade schmerzhaft vermissen. Zwar vermuten wir, dass es ganz so einfach nicht sein mag, doch finden wir uns in der unabweislichen Versuchung, dieser überwältigenden numerischen Realität zuzugestehen, dass sie als schiere Masse, als konkreter unbezweifelbarer Verkaufserfolg auch de facto in der Lage sein muss, uns über die umgebende literarische Wirklichkeit in besonderer Weise zu informieren. Kein anderes Kriterium scheint in der Lage, eine auch nur annähernd vergleichbare Objektivation über Wert und Bedeutsamkeit des geschriebenen Wortes zu leisten. Was wirkt, weshalb etwas wirkt, welches Werk sich Bahn bricht und sich Gehör verschafft, wird in diesen Listungen gewissermaßen schwarz auf weiß kenntlich, wie auch der Umkehrschluss gelten muss, dass, was erst einmal in solcher Zahl auf dem Markt angekommen ist und weiter auf ihn drängt, ganz unweigerlich dynamisch wirkt, nachhaltig ausstrahlt. Dass jeder Beststeller, jeder Klassiker die Gesellschaft anregt, sich selbst in einer ganz bestimmten rhetorischen Art und Weise zu reflektieren.

Eng verbunden mit diesen Umständen erscheint uns denn auch das implizite Werturteil, welches der Bestseller konstituiert. In planer Analogie zu jeder Art von Evolution steht hinsichtlich seines pulsierenden Wesens zu vermuten, dass auch auf dem Buchmarkt sich nur das inhaltlich Beste, das Interessanteste, die Qualität schlechthin durchsetzt. Freilich nicht immer auf Anhieb, so aber doch sicherlich vor einem gewissen Zeithorizont. Günther, Lenz und Hölderlin seien als Garanten dieses oft langwierigen und heimlichen Prozesses berufen. Bedeutsame Werke mäandern oft still unter der Oberfläche des Vergessens, wie uns die Literatur- und Philosophiegeschichte immer wieder lehrt. Das Gute und Wahre kommt jedoch unweigerlich ans Licht, es findet, auch wenn es lange währen mag, das Ohr und Auge der Nachwelt. Was hingegen nicht taugt, Stoff der langweilt, der schlecht informiert, ein Werk, welches nur Marginalien ausspricht, das Epigonales und wenig Markantes zu bieten hat, fällt immer unter den (Laden-)Tisch. Treibt auch nicht wieder, treibt so oder so niemals aus. Mit anderen Worten: Die Seitenzweige der literarischen Entwicklung sterben gründlich ab, zeigen sich dem immer virulenten Prozess der Verdrängung durch Anerkanntes nicht gewachsen. Offenbart sich in Achsenzeiten die epochale Krisis des hergebrachten Denkens, stehen daher stets Atavismen genug bereit, um rasch alte Formen zu überlagern, um aus den in Archiven und Dachgeschossen erhaltenen, halberstarrten Archetypen umgehend brauchbare und bessere Muster zu prägen. Auch wenn wir nicht leichtfertig von objektiven, zugleich entwickelnden wie scheidenden Prozessen sprechen mögen, so wird hier doch unzweifelhaft ein erstaunlicher Grad an Übereinkunft, an sozikultureller Repräsentanz erreicht. Das Werk betritt eine Bühne, auf der in gelegentlich dramatischen Umschwüngen sich die eklektizistische Spreu zuverlässig vom originalen Weizen scheidet. ›Survival of the fittest‹, dieses Prinzip gilt auch für alle Arten der Schriftstellerei, sonst wäre ein solcher Erfolg bei den Lesern doch völlig undenkbar. Oder? Der Spannungsbogen muss in jedem Moment vor dem Auge des Publikums gehalten werden, und nur ein motivisch starker Text vermag dies dauerhaft zu leisten. Nur die echte innere Anlage, die originale Konzeption kann eine starke und dauerhaft ins Zentrum weisende Kraft entwickeln. Den Wert eines Werks können und dürfen wir damit zunächst immer nur als den Wert einer konkreten Wirkung begreifen. Dieser Wert, diese Vorgabe geht auf den Lesenden über. Er erfährt seine affirmative Bestätigung oder eine endgültige Restriktion. Er erweist sich weitergehend in einem Aufnahmeprozess als resultierende Rückwirkung auf den Markt, als Verkaufserfolg oder als publizistischer Fehlschlag, verschafft ihm damit immer wieder erneuerte und erweiterte Breitenwirkung, hebt oder senkt es fortwährend in seiner Bedeutung, leitet eine nachhaltige Aufnahme ein oder unterbindet sie a priori.

2.

Dass es sich jedoch nicht immer ganz so gerade und gerade so im weiten und bunten Lande der dichterischen Einfälle und kreativen Schübe verhalten mag, und dass uns damit bei aller kritischer Bemühung bereits an dieser Stelle einige Begriffe allem Anschein nach gründlich durcheinander geraten sind, dies wird zunehmend deutlicher. So sei hiermit die so prägnante wie suspekte These über die Eindeutigkeit des Wesens des Bestsellers verabschiedet: Ich gestehe, ich weiß es nicht, was es mit diesen eigentümlichen literarischen Produktionen auf sich hat. Ich staune ihre Zahlenmagie zwar an, wie viele andere Lesende und Schreibende auch, aber zu erklären vermag ich mir diese geradezu wundersam scheinenden Vorgänge und Wirkungen mit alle ihren Folgen, Fernwirkungen und Umlenkungen keineswegs.

Doch um weiter bei der Wirkung eines Werks zu bleiben, die meisten dieser Bestseller interessieren mich persönlich in keiner Weise. Es steht, so weit ich dies zu beurteilen mag, herzlich wenig in ihnen, das in mir beim Lesen eine Resonanz, eine Überraschung, ein frohes Erstaunen hervorriefe. Was in meinem persönlichen literarischen Universum Rang und Namen hat, wäre für die meisten Konsumenten belletristischer Texte jedoch ebenso sehr schiere Qual. Diese Behauptung sei ohne alle Wertung vorgebracht, sondern zunächst einzig als eine Fixierung und Feststellung des je Gelesenen. Der Kanon des so genannten Bedeutsamen erweist sich keineswegs als so eindeutig und so fest, als es auf den ersten und vielleicht auch auf den zweiten Blick scheinen mag. Alles Sprechen über bedeutsame Werke bleibt brüchig, gefärbt, subjektiv. Was heute gilt und gelesen wird, ist morgen vergessen, innerhalb der Gesellschaft wie der eigenen Biografie finden rasche und abrupte Wechsel statt. Dies meint der Gedanke über die Macht der Definition, über den subtil freisetzenden Charakter, der ihrem ›Muss‹ entspringt. Er offenbart sich als eine vielgestaltige und restriktive Unzulänglichkeit mit eminent unterschiedlichen Anknüpfungspunkten für das Künftige. Das Geschmacksurteil ist ein je einzigartiges, in seiner Rede auf ein Allgemeines übersteigt es und überhebt es sich stets und immerzu. Es wird sich dessen jedoch meist nur schwach bewusst, wird durch seinen globalen Anspruch immer wieder erneut unwahr, verengt den forschenden Blick durch seine Natur unweigerlich doppelt. Ich möchte diesen so benannten Umstand in der Summe seiner Beziehungen, Besitzungen, Mängel wie konstitutionellen Lücken als die erste Ambivalenz des bedeutsamen Werks bezeichnen.

Goethes Werther endet mit einem lapidaren Satz: »kein Geistlicher hat ihn begleitet«. Gelehrte Interpretationen versuchen ihn aus dem vorausgegangenen Geschehen zu deuten, sei es als Absage an jene normierte Gefühllosigkeit der aufgeklärten Epoche, wie sie sich in den eher pragmatischen denn erotischen Eheverhältnissen konstituierte, als religionskritische Aussage gegenüber einer dogmatischen Glaubensgemeinschaft, welche dem Selbstmörder das letzte Geleit verweigert oder als exemplarische Konsequenz einer die Gesellschaft durchherrschenden Ungeistigkeit, die die disparaten Momente ›Herz‹ und ›Verstand‹, ›Seele‹ und ›Gefühl‹ nicht zu vereinigen wusste und die dem wahrhaftigen Individuum ein solches Opfer verzweifelt notwendig werden lässt. Dies sind nur einige der in diesem Zusammenhang möglichen Interpretationen und sie stehen unter den Vorzeichen einer vielfach reflektierenden geschichtlichen Distanz.

Wichtig wird im Zusammenhang des ›Werther‹ aber vielmehr zunächst dessen Wirkung auf die Zeitgenossen. Das Publikum verstand den jungen Goethe unmittelbar. Im Frühjahr 1774 in kurzer Zeit niedergeschrieben, im Sommer bereits zur Michaelismesse in Leipzig veröffentlicht, wurden noch im selben Jahr aufgrund des reißenden Absatzes zwei weitere Ausgaben des kleinen Briefromans notwendig, im Jahr darauf sogar eine dritte und ebenfalls ab 1775 kursierten bereits die ersten Raubdrucke. Das ist der Stoff, aus dem Bestsellerträume gemacht sind: Ein anonymes Werk begeistert die Jugend massenhaft, trifft den Nerv der Zeit und legt ihn aufs Empfindlichste bloß. Es hebt seinen Autor mit einem Donnerschlag aus völliger literarischer Bedeutungslosigkeit ans Licht und in das Bewusstsein der Öffentlichkeit, schafft ihm Verleger und ein erstes Auskommen. Nicht unbedingt mit erwünschten Folgen. Der bewegende Charakter der ›Leidensgeschichte‹ ruft eine dem Autor bei allem Erfolg unliebsame Reaktion hervor. Das hohe identifikatorische Potenzial überträgt sich höchst virulent aus dem Bereich der dramatischen Gestaltung in jenen der tragischen Wirklichkeit. Das so genannte ›Wertherfieber‹, eine ungebührliche Vermengung von Phantasie und Tathandlung, führt zu mehreren spontanen Selbstmorden aus unerfüllter Liebe. Goethe hat angeblich nie wieder aus dem Werther vorgelesen. Noch in Dichtung und Wahrheit beklagt er die unselige Wirkung seines ersten großen Werks: »Wie ich mich nun aber dadurch erleichtert und aufgeklärt fühlte, die Wirklichkeit in Poesie verwandelt zu haben, so verwirrten sich meine Freunde daran, indem sie glaubten, man müsse die Poesie in Wirklichkeit verwandeln, einen solchen Roman nachspielen und sich allenfalls erschießen; und was hier im Anfang unter wenigen vorging, ereignete sich nachher im großen Publikum…«

Die frenetische Aufnahme wie auch die damit zusammenhängende geistige Erschütterung, die gerade in ihrer Zweischneidigkeit ihr völliges Ausmaß zeigt, sind es also, welche hier den Wert des bedeutsamen Werks bestimmen und ihm auch bis heute einen nahezu unbezweifelten Rang einräumen. Mag die ablehnende Haltung des Autors im Nachhinein gedeutet werden wie sie mag, dieser erste Roman blieb für Goethes literarische Karriere bestimmend. Ob ohne diesen Erfolg sein Lebenswerk in vergleichbarer Weise Annahme und weiter Anerkennung gefunden hätte, darf bezweifelt werden.

3.

Neben dieser besonderen Form einer je und je zeitgemäß positiven Rhetorik, einer Sprache aus dem Zentrum der Gegenwart an die Gleichzeitigen, welche unmittelbar verstanden und aufgegriffen wird, gibt es den Fall des historisch mittelbaren Zugriffs, der literarischen Unzeitgemäßheit, in der das Werk erst im Nachhinein erkannt und vernommen wird. Meistens hat diese Art von Erfolg keinerlei Auswirkung mehr auf die Biografie des Autors – auch nicht auf die schriftstellerische. Nicht zu Unrecht beklagt Hannah Arendt, die traurigste Form allen Ruhmes sei der Nachruhm. So manches Buch wurde niemals geschrieben, weil der Autor sich als gescheitert empfinden musste, weder die ökonomische noch die energetische Reserve hatte, seine Produktivität gegen die Hemmnisse einer feindlichen oder zumindest pragmatischen Außenwelt dauerhaft aufrechtzuerhalten.

In diesen Zusammenhang, das Beispiel Goethes unmittelbar ergänzend, fällt der Werdegang Arthur Rimbauds. Die Frage, inwiefern Rimbauds Abkehr von der Schriftstellerei – er entwarf sein dichterisches Programm im wesentlichen zwischen dem 16. und dem 18. Lebensjahr – durch die ihn nachhaltig frustrierenden Erfahrungen mit der Pariser Szene und dem Scheitern seiner bewusst stilisierten wie höchst sensibel empfundenen Künstlerexistenz motiviert ist, kann nicht abschließend beantwortet werden. Wichtig bleibt jedoch das Typische seines Weges zum Muster, welcher in seinen Verschlingungen und Exaltationen schicksalhaft und grotesk zugleich anmutet. Kaum ein anderer Schriftsteller erfuhr das Ignoriert- und Totgeschwiegenwerdens im Künstlerischen zu ›Lebzeiten‹ in Verbindung mit einer plötzlichen Kehre des literarischen Geschmacks so deutlich wie Rimbaud. Zunächst gar nicht oder nur von wenigen überhaupt als Literat wahrgenommenen und auch wegen seines oft überspannten Verhaltens aus den maßgeblichen Künstlerzirkeln der Metropole ausgeschlossen, wird er bald jäh hofiert, bejubelt, emphatisch in den Himmel gehoben. Das einzige Buch, welches Rimbaud publizierte, selbst und auf eigene Kosten, Une Saison en Enfer, verstaubte beinahe 30 Jahre lang in einer Brüsseler Druckerei. Dort hatte man es einbehalten, da der Dichter nicht für die Druckkosten aufzukommen vermochte. Dann, in seiner Abwesenheit – Rimbaud vagabundierte durch Europa und durch den Orient, war im Waffengeschäft tätig, vielleicht sogar im Sklavenhandel engagiert – erfuhr sein Werk, nicht zuletzt durch die Förderung Verlaines, eine unerhörte öffentliche Resonanz. Plötzlich wollte das Publikum des Autors, seines Autors habhaft werden,sich seiner Person versichern, ihn öffentlich und leibhaftig vor Augen haben – doch niemand wusste, wo sich das Genie aufhielt, geschweige denn, ob es überhaupt noch lebte.

Genau dieser Umstand erscheint als die einmalige Konstellation dieses Falles: Als einem von wenigen Schreibenden war es ihm vergönnt, das Drama der öffentlichen Wirksamkeit seines Werkes gleichsam als Verschiedener – der eigentlich doch nur ein örtlich Abgeschiedener war – erfahren und werten zu können. 1886 schrieb ihm ein Journalist nach Kairo, wo er Rimbaud endlich nach einiger Recherche aufgespürt hatte: »Sie wissen wahrscheinlich nicht, da Sie so fern von uns leben, dass Sie in einem kleinen Kreis in Paris eine Art legendärer Gestalt geworden sind, einer von jenen Menschen, die bereits als gestorben gelten, an deren Erdendasein jedoch getreue Anhänger hartnäckig glauben und deren Wiederkehr sie erwarten.« Rimbaud erwies den enthusiasmierten Jüngern jedoch nicht die Ehre der Auferstehung. Er verweigerte jeden Kommentar zu seinem nachgetragenen Dichterruhm. 1891, am 19. Februar, verlautbarte die Zeitschrift ›La France Moderne‹: »Jetzt haben wir ihn! Wir wissen, wo Rimbaud ist, der große Rimbaud, der einzig wahre Rimbaud, der Rimbaud der ›Illuminations‹. Wir erklären hiermit, dass wir das Versteck des Vermissten kennen.« Diese auf den Autor fokussierte Begehrlichkeit des Publikums weicht nun allerdings hart von allem ab, was er je als Lebenswirklichkeit empfand. Während er in Marseille auf Leben und Tod darniederliegt, der Arzt ihm soeben das Bein abnimmt, wächst sein Ruhm unaufhörlich. Der sterbende Rimbaud erlangt literarische Bedeutung, man erhebt den Amputierten zur Galionsfigur einer Bewegung, stellt ihn ohne sein Zutun an die »Spitze der ›école décadente et symboliste‹«. Alles, was von ihm aus jenen Tagen an Stellungnahme zu seinem Werk überliefert wird, ist ein schlichter Satz: »Je ne pense plus à ça« – »Ich denke überhaupt nicht mehr daran«. Er kann oder mag diesen obskuren Geschehnissen um sein Bild nicht einmal mehr die Basis entziehen. Die eklatante Differenz zwischen dem Gültigwerden des Rimbaudschen Konzepts moderner Dichtung und seiner persönlichen Unbetroffenheit im Angesicht der Ehrung zeigt, dass der Text durchaus eine Art von Eigenleben zu entwickeln vermag, selbst zur ›Legende‹ im ursprünglichen Wortsinne wird. Offenbar gelingt es in einigen Fällen dem Autor sogar, seine Person aus dem Prozess der literarischen Bedeutsamkeit nachträglich zu eliminieren. Es ist auch das Modische, eine Art von unkritischer Hysterie, zumindest in winzigen Nuancen, welche sich hinter aller Bewunderung und Anerkennung für den außerordentlichen, den treffenden Gedanken verbirgt. Das Wort, einmal ergangen, kann im Extrem eine schwer nachzuvollziehende Transsubstantiation erfahren. Solche Haltungen und Lesarten später zu revidieren, fällt schwer, wird mitunter unmöglich. Dem Autor widerfährt damit bei aller Huldigung in den seltensten Fällen das rechte Maß der notwendigen Anerkennung. Zwar mag sich jede Generation ihre eigenen Klassiker suchen, zumeist aber bleiben es doch die bereits bekannten und gut kommentierten. Bereits Änderungen des Kanons en detail provozieren in der berufsmäßigen Zunft erbitterte Glaubens- und Grabenkriege für Jahrzehnte, Innovationen der Retrospektive bleiben rar. Aber – sie kommen doch hin und wieder vor.

4.

Das in den angeführten Beispielen Benannte mag als die passive Dimension der Wahrnehmung des bedeutsamen Werks gelten. Vieles wird ihm zugetragen, was immer es auch innovativ leistet oder leistete. Doch noch eine weitere Dimension muss in diesem Zusammenhang zur Sprache kommen, nämlich die aktive. Anders gefragt: Was macht einen Bestseller, wenn und obwohl er ein Massenerfolg ist, wenn er als historische Maßgabe erkannt wurde, selbst aus, worin liegt die zweite Ambivalenz? Ich hatte eingangs das unzureichende Analogon der Evolution bemüht. Hier nun zeigt sich noch einmal das zugleich Treffende wie Hinkende dieser Vorgabe. Es muss aus rückwärtiger Sicht keineswegs das Beste und schon gar nicht das Einzige sein, was da anerkannt und auf den Thron gehoben wurde. Aber sitzt es einmal dort, so wird sein Schatten lang und wenig kann neben ihm aufschießen,sich neben seinem Maß behaupten. Ein anderer Autor, der wie Rimbaud von seinem Werk gleichsam maskiert wurde, der hinter einer willentlichen und parteiischen Auslegung a posteriori gänzlich zu verschwinden drohte, war Friedrich Nietzsche. Er erfuhr in der Rezeption ein Schicksal, welches sich durchaus an die genannten anschließt, das er jedoch in grundsätzlich anderer Weise reflektierte und zwar bereits zu einem Zeitpunkt, als von Ruhm und blinder Gefolgschaft für Teile seiner Philosophie und Dichtung noch keine Rede war.

Seinen wissenschaftlichen Werdegang begann Nietzsche als Professor für Griechische Sprache und Literatur an der Basler Universität mit Studien zur antiken Rhetorik. Diese ersten sprachkritischen Untersuchungen wurden für sein gesamtes weiteres Verständnis, was Poetik, was Sprachschaffen in nuce sei, wegweisend. Die aus diesen Studien gewonnen Erkenntnisse führten zu der Vorstellung, dass der epistemische Möglichkeitscharakter des Wortes in seiner grundlegenden Bedeutung und Radikalität innerhalb der abendländischen Tradition noch gar nicht aufgespürt worden sei. Ein Text setzt sich nach Nietzsches These nicht aus echten Sachaussagen zusammen, die strenge Richtigkeit oder auch entgegen liegend eine logisch bedingte Inkonsistenz, also Falschheit, mit sich führen könnten. Diese landläufige Vorstellung einer, wenn man sie so nennen mag, ›wirklichen‹ Wirklichkeit, über welche sich die Individuen sprachlich neutral auszutauschen in der Lage wären, sei keineswegs gegeben. Vielmehr gebe es überhaupt keinen fasslichen Unterschied zwischen einer »regelrechten Rede und den sogenannten rhetorischen Figuren«. Was dies für den Prozess der literarischen Produktion bedeutet, liegt auf der Hand: Eine im ursprünglichen und vollen Wortsinne poietische Funktion kann dem Autor damit gar nicht zukommen. Er muss immer und zwangsläufig auf das Repertoire einer überlieferten Richtigkeit zurückgreifen. Diese Richtigkeit bestimmt die Form seines Gedankengangs, umreißt und begrenzt die Form all seiner Aussagen ab ovo. Bis hin zu demjenigen inhaltlichen Bestand, welcher später schließlich als sein Potenzial begriffen werden mag, als die Novität seiner geformten Sprache allgemein bekannt wird. Wir bemerken, dass sich hier eine Paradoxie abzeichnet, welche wir in ihrem Ursache-Folge-Verhältnis nur noch graduell bedenken können, die einer Analyse nicht mehr recht zugänglich ist.

Kommt alles Neue solcherart nur aus dem Angestammten her, so zeichnet sich weiter im Umschlag einer erfolgreichen Variante von ihrer ersten formalen Möglichkeit, denn so darf man Poetik in vielerlei Hinsicht von ihrer Herkunft her betrachten, hin zur späteren Kanonisierung ein immer gleichgelagertes Geschehen ab: der ›Geschmack der Vielen‹ trifft unter den gegebenen Werken eine Auswahl, erhebt das eine zur Norm, lässt ein anderes durch das Raster fallen. Ist ersteres aber erst einmal in seinem Rang bestätigt, so ist es genau seine besondere Interpretation von Wort als Sinn, welche nun durchdringend als ›Wert‹, als ›Richtigkeit‹ verstanden wird. Es ergänzt das Bestehende und sei es in der Form gedanklicher Negation und Konfrontation, es wird so oder so selbst autoritativ.

Diese Weise des bedeutsamen Werks, Norm stiftend zu agieren, zeigt eine notwendige Konsequenz für konkurrierende Denk- respektive Sprachsysteme. Nietzsche stellt in dieser Entwicklung zur rhetorischen Institution den radikalen Nebeneffekt subtil fest. Für alle weiteren Werke, welche nun eben nicht mehr diese Bedeutsamkeit erringen können, lautet seine Feststellung konzis: »Eine Figur, welche keine Abnehmer findet, wird Fehler«. Dieser Gedankengang ist allerdings von großer Bedeutung und Tragweite. Er geht zentral auf das zu, was wir als die zweite Ambivalenz des bedeutsamen Werkes erkennen. Hier nun findet nicht nur die bereits angesprochene subjektive Normierung von Seiten des Lesers als Geschmacksurteil statt, die Entscheidung geht aus dem, was bereits historisch als werthaltig gilt und gerade deshalb gegenwärtig Norm wird, hervor. Soll Literatur Beachtung finden , kann sie es nur aus dieser Perspektive. Sie kann niemals wertfrei betrachtet werden, ihre Position bestimmt sich immer und ausschließlich relativ auf das Bestehende.

Für den Autor ergibt sich hier im weiteren Kreis eine prekäre Verbundenheit von Leben und Literatur. Er versucht sich zwischen den rhetorischen Fronten zu behaupten, alles Urteil über ihn bleibt dennoch jenen Linien verhaftet. Sein Vorankommen oder Scheitern ist nur aus der unablässigen Wirksamkeit ihrer gesetzgebenden Natur angemessen zu verstehen. Dass diese Kritik in höchstem Maße existentiell bedrohlich sein kann, ist evident. Als er mit seiner ersten größeren Schrift, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, an die Öffentlichkeit tritt, erfährt Nietzsche in Fachkreisen entschiedene Ablehnung. Den eklatanten Verstoß gegen die Schreibregeln der Zunft kommentiert sein Kollege Hermann Usener in einer Rezension wie folgt: »Jemand der so etwas geschrieben hat, ist wissenschaftlich tot.« Nietzsche nimmt Abschied aus dem Lehrbetrieb und widmet sich trotz des Misserfolgs weiter mit vollem Einsatz einem literarisch-philosophischen Lebenswerk. Um die Jahrhundertwende, der Autor ist mittlerweile in Demenz verfallen, setzt wieder einmal eine schlagartige Rezeption ein, deren Strömungen und Ausuferungen sich nicht wesentlich von den bereits angeführten Beispielen unterscheiden. Gottfried Benn skizziert die epochale Auswirkung Nietzsches auf die jungen Schriftsteller schließlich als eine rezeptionsästhetische Totale: »Eigentlich hat alles, was meine Generation diskutierte, innerlich sich auseinandersetzte, man kann sagen: erlitt, man kann auch sagen: breittrat – alles das hatte sich bereits bei Nietzsche ausgesprochen und erschöpft, definitive Formulierung gefunden, alles Weitere war Exegese. Er ist, wie sich immer deutlicher zeigt, der weitreichende Gigant der nachgoetheschen Epoche«.

Eine unüberbrückbarere Spanne zwischen Ablehnung und Anerkennung als sie Nietzsche hier erfährt, ist kaum denkbar. Der Weg vom Status einer persona non grata des Wissenschaftsbetriebs hin zur Aufnahme in das Pantheon philosophischer Klassiker scheint sich in einem kühnen Sprung zu vollziehen, gerade einmal 30 Jahre liegen zwischen den Polen. Dieser besondere Zeitraum allerdings, er mag nun im einzelnen biografischen Fall kürzer oder länger sein, ist es, der unsere Aufmerksamkeit auf die dritte und abschließende Ambivalenz des bedeutsamen Werks lenken will. Jene in der Vogelperspektive der epochalen Betrachtung verschwindend geringe Distanz dreier Jahrzehnte bleibt für die Lebensumstände des Autors Nietzsche allerdings prägend. Diese Phase, welche nahezu die Gesamtheit seines arbeitsfähigen Daseins ausmacht, ist durch tiefe Vereinsamung, durch phasenweise Depression und das Gefühl verkannt zu sein geprägt. Es bildet sich das zunehmende Bewusstsein heraus, völlig vergeblich zu arbeiten, sich in einem nur begrenzten, zunehmend solipsistischen Horizont zu verfangen. Das immer produktiv geführte Leben, welches aber auch unter dem Aspekt seines Dauerns keine Anerkennung erfährt, gerät anhand dieser wachsenden und chronifizierten Spannung zwischen faktischer oder vermeintlicher Erfolglosigkeit und vor allem einem dialogischem Selbstanspruch des Werks in eine entschiedene Distanz zu sich selbst. Das Hinwerfen des ganzen persönlichen Vermögens auf das eigne Wort ist zweifelsohne notwendig, wenn die geistigen Möglichkeiten des Schaffenden auch ihre konzeptionell und material verwirklichte Gestalt finden sollen. Zugleich aber steht der Autor in der Gefahr, an diesem fortlaufenden Akt der Entäußerung Schiffbruch zu erleiden, sein poetischer Enthusiasmus kann ihn geradewegs in den ganz realen ökonomischen und sozialen – und damit wieder in den geistigen – Abgrund führen.

5.

Haben wir das bedeutsame Werk zunächst unter dem Gesichtspunkt der passiven wie daraus folgend der aktiven Dimension ausgemacht, so möchte ich diese abschließende Dimension, welche mit den beiden ersten in enger Verschränkung steht, die optionale nennen. Sie ist nicht mehr im Wesentlichen durch die äußere Relation geprägt. Sie ist vor allem weiteren Geschehen zunächst nur in der Sicht des Schreibenden aufzufinden: Das bedeutsame Werk ist seine allererste Reflexion. Nach der Terminologie der ersten beiden Betrachtungsweisen wäre sie als die ›Unausgemachtheit‹ des Wortes zu charakterisieren. Als sein ›Noch-nicht-Festgestelltsein‹ in der Beziehung auf andere Texte, auf mannigfaches anderes (und damit auch auf künftiges eigenes als eben unentschiedenes) Gedankengut. In diesem Moment des ersten Versuchs, noch weit vor aller Kritik, trägt das bedeutsame Werk das Gesamt seiner Möglichkeiten noch ganz in sich. So auch diejenige, unentdeckt, unbekannt, ja vielleicht sogar verlacht, unverständig angestaunt oder unausgeführt zu bleiben. Es trägt die flüchtigsten Hoffnungen und stärksten Impulse des Autors, wie es dessen faktische Krisis zu sein vermag. Es könnte dessen allgemeine Anerkennung herbeiführen, sein Wort Maßgabe und Bestseller werden lassen, wie es zugleich dessen Existenz fruchtlos vor allen anderen ebenfalls essentiellen Tätigkeiten eines nicht-literarischen Lebens abzuschließen vermag.

An sich und für sich hat das Werk damit noch keinen ›Wert‹. Dieser mag ihm später zukommen, vorab kann es sich jedoch mit nichts messen als mit sich selbst und dem, was es und wie es etwas reflektiert. Hier zu urteilen macht damit keinen ›wirklichen‹ Sinn: Das Wort ist nur vage durch eine Tradition ausgemacht, welche der Perspektive des Autors entspringt, aber eben noch keinem vielstimmigen Publikum verpflichtet ist: In dieser allerersten noch nackten und blinden Hermetik, macht es zugleich auch noch nichts Fremdes aus, gibt selbst keine Norm. Ich möchte aber an dieser Stelle dennoch behaupten, dass es solcherart eine ganz andere, nicht weniger entschiedene, eine primäre und persönliche Bedeutsamkeit in sich trägt, welche allerdings nicht vollständig im Rahmen eines herkömmlichen Verständnisses von Qualität und Anspruch auflösbar erscheint. Es weist in und aus jener dritten Ambivalenz auf die Relevanz des schriftstellerischen Tuns, indem das ›neue‹ oder unbekannte Werk immer in der benannten Gefahr steht, keine ›Abnehmer‹ zu finden und damit ›fehlerhaft‹ zu sein. Aber eben nicht fehlerhaft per se, unpassend jedoch in den Strukturen einer literarischen Landschaft vielleicht, unter deren Gesetze es sich aus Gründen oder auch Zufällen nicht fügt.

Deshalb kann unser Denken über das, was ein wahrhaft bedeutsames Werk sei, oder auch ein Bestseller, nicht abgeschlossen, nie definitiv sein. Unser Blick muss sich nach vorn wie nach hinten offen halten, in der Gegenwart wie in der Vergangenheit nach zukünftigen Texten, nach möglichen Formen, nach Seitenzweigen der literarischen Entwicklung Ausschau halten. Deren unerkannter Status ist es, welcher unser ungeteiltes Interesse gleichfalls und gleich-gültig verdient. Denn erst aus jener personalen und inhaltlichen Negativität des Möglichen, die ein bedeutsames Werk am Anfang, vor allem Erfolg, aller öffentlichen Präsenz wesentlich mit ausmacht, vermag so etwas wie eine allgemein anerkannte Figur, eine überindividueller Sinn zu entstehen, dessen Wortlaut wir uns skeptisch und affirmativ zugleich, also ambivalent fortdenkend, anschließen können.