Vorwort

Ob das amerikanische Militär gut beraten war, in seinem letzten Krieg die Metaphorik der Bühne auszuweiten und dem Kriegstheater mit ›shock and awe‹ auch verbal die klassische Dimension der aristotelischen Tragödientheorie hinzuzufügen, muss wohl dahingestellt bleiben. Schon die aristotelische Theorie folgt, wie man weiß, einer Praxis, anstatt ihr vorauszugehen. Nun ist, wie ebenfalls bekannt, Aristoteles ein Klassiker nicht nur des europäischen, sondern auch des arabischen Kulturraums. Vielleicht hoffte man auf diese Weise auf ein geneigteres Publikum diesseits und jenseits des Grabens der unterschiedlichen Fundamentalismen. Die Rechnung scheint nicht aufgegangen zu sein. Dass ungeachtet solcher Unstimmigkeiten Krieg und Öffentlichkeit enge Beziehungen zueinander unterhalten – so eng, dass man den Krieg mit Fug den öffentlichen Ernstfall nennen könnte –, wirft die Frage auf, ob Kriege nicht Züge von Öffentlichkeit ins Licht rücken, die ansonsten zwar nicht unsichtbar bleiben, aber wenig aufregend scheinen, so dass man über sie zur Tagesordnung übergehen kann.

Die Bühnenmetapher stellt Öffentlichkeit in einen Raum, innerhalb dessen sich Schauspieler und Zuschauer die Plätze teilen. Öffentlich ist das Tun und Lassen der ausgestellten Akteure, weil es vor den Augen des Publikums und damit tendenziell vor aller Augen geschieht. In einer Welt, in der – außer dem Gerücht – kein Medium existiert, das Abbilder des Geschehenen, sei es an der Spitze der Gesellschaft, sei es an den üblichen Sensationsorten, zeitnah für jeden zugänglich macht, funktioniert Öffentlichkeit völlig nach diesem theatralischen Muster. Der physische Bezug zwischen Schauspielern und Zuschauern bildet die Voraussetzung für die Diffusion einer Botschaft, die, als Nachricht getarnt, den Kern der Aufführung darstellt. Die Schauspieler mögen in Wahrheit Könige und Heerführer sein, das Publikum bleibt immer Publikum, solange es sich das leisten kann und ein Stück weit vergisst – oder beiseitelässt –, dass es ›in Wahrheit‹ Untertan und Soldat, Häftling oder Günstling ist.

Mit den Medien wächst die Zahl der Zwischenglieder, sie wächst infinitesimal, was dem Gefühl der Unmittelbarkeit seltsamerweise keinen Abbruch tut. Die Mattscheibe trennt die öffentlichen Chargen vom Publikum, aber sie holt sie ins Wohnzimmer des Einzelnen, den kein kollektiver Verhaltenskodex bremst oder beflügelt. Die wechselseitige Verfügung wirkt auch auf Zeitgenossen bizarr. Der Froschkönig klopft an die Scheibe und ihm wird aufgetan: Muppets, Dianas, Rumsfelds – alle sind sexy, werden ans Herz gedrückt und mit ins Bett genommen. Der angekündigte Krieg macht keine Ausnahme; er ist ein Straßenfeger, wie man die frühen Krimi-Serien nannte, oder wäre es, wenn man nicht wüsste, dass er auf allen Kanälen beliebige Sendezeiten eingeräumt bekommt. Man versäumt also nichts, wenn man säumig ist. Man kann die Erwartung für sich selbst regulieren, indem man entscheidet, sich nicht jetzt, sondern erst in zwei Stunden oder in zwei Tagen die neuesten Entwicklungen zuzuführen – ein Privileg, das erkennbar mit der Entfernung zum Kriegsschauplatz zusammenhängt und deshalb relativ genannt werden kann. Die relative Freiheit schwindet aber mit dem Grad der Erregung, den die Pentagon-Formel verspricht. Das aristotelische Kriegstheater zwingt den, der es über eingebetteten Journalismus, freie Internet-Recherche und blogs in den Blick nimmt, derart in seinen Bann, dass es sich seiner Zeit und seiner inneren Zustände umstandslos bemächtigt.

Die Formel, die aus solchen Ereignissen gezogen werden kann, lautet: Öffentlichkeit ist Erregung, in Zeiten der Flaute zerfällt sie in Teilaktivitäten und –aufmerksamkeiten, die ihrem Begriff eher widersprechen. Da diese Erregung das in eigener Sache agierende Individuum streckenweise blockiert, gilt sie nicht unumschränkt als positiver Wert. Die Fesselung des Ego durch das Theater der Öffentlichkeit produziert Formen der Gereiztheit, die von unbedarften Gemütern leicht als Kritizismus (im positiven wie im negativen Sinn) missverstanden werden. Das gereizte Gemüt lässt sich kein X für ein U vormachen, davon ist es überzeugt, so wie es davon überzeugt ist, dass genau dies ununterbrochen geschieht. Sicherheitshalber hält es jedes X für ein U und umgekehrt. Der Umstand, dass die enorme Ko-Präsenz menschlicher Intelligenz und Wahrnehmung es praktisch unmöglich macht, spontan Hypothesen über den Gang des Geschehens und Urteile über die Validität des Gesprochenen zu produzieren, die nicht echoartig vervielfacht auf den, der da wahrnimmt und urteilt, zurückfluten, drückt den mündigen Zuschauer zurück in den Sessel, soll heißen, zurück in die Wahrnehmungsweise dessen, der körperlich empfindet, was es heißt, abwesend Mensch unter Menschen zu sein. Alles ist jetzt, alles ist anders, alles ist dort draußen und hier drinnen zugleich. Ich ist nicht gemeint.

Erregung, jede Erregung drängt zum Ritual. So auch Öffentlichkeit: private Rituale sind schwer vorstellbar, noch der seltsamste Tick schließt sich an etwas an. Öffentlichkeit macht sichtbar, aber nur für den, der auf der richtigen Seite teilnimmt, den Zuschauer. Der Zuschauer weiß Bescheid, der Exponent der Macht, der glaubt, der Öffentlichkeit etwas zu verschweigen, ist hingegen ein armes Würstchen, das nicht versteht, dass die Macht der Unterstellung auf der anderen Seite, der Seite der Erregung, über alles hinausgeht, was er ›zugeben‹ könnte, wenn er es dürfte. Das konnte der stellvertetende amerikanische Verteidigungsminister Wolfowitz erfahren, als er in einem viel beredeten Interview den offiziellen Kriegsgrund der Vereinigten Staaten als »bürokratisch« abtat. Die Aufklärung der Öffentlichkeit ist nicht Sache der Akteure, sie ist Sache der Öffentlichkeit selbst, die sich dafür ihre Arbeiter – Vor-Denker, Vor-Sprecher, Vor-Halter, Vor-Tänzer – hält. Für die mediale Öffentlichkeit (ein ebenso realer wie paradoxer Singular) sind Aufklärung und Ritual ein und dasselbe. Vielleicht vollendet sich in ihr die Idee der Freiheit, die zu groß ist, um im Kopf eines Einzelnen Platz zu finden. Alle sind Publikum, das macht den Schrecken groß. Alle minus x.

Juni 2003
Die Herausgeber