Die gegenwärtige russische Philosophie ist ein noch junges, in seinen Formen instabiles Phänomen, das deshalb auch sehr unterschiedliche Einschätzungen hervorruft, bis hin zu jener, welche diese Instabilität lediglich auf die Kompliziertheit der Innenausgliederung klarer Strukturelemente zurückführt. Dieser Auffassung kann man jedoch nur partiell zustimmen. In dem Maße, in dem die russische Philosophie, wie das Land insgesamt, den Innovationsprozessen des Übergangs vom Totalitarismus zur Demokratie, vom harten Ideendiktat des marxistischen Paradigmas zum Pluralismus und zu geistiger Toleranz unterworfen ist, in dem Maße auch, in dem sie vom weltweiten Prozess der Globalisierung und des Aufbaus einer Informations- und modernen Industriegesellschaft betroffen ist, kommt sie tatsächlich nicht in einem stabilen Rahmen spezifischer Schulen und Ideen zur Geltung. Aber in dem Maße, in welchem sie eine Nachfolgerin der sowjetischen Philosophie ist, setzt sie die Entwicklung dessen fort, das früher angesammelt wurde.
In Bezug auf die Einschätzung der Philosophie der sowjetischen Zeitperiode ist zunächst klarzustellen, dass auch hier sehr unterschiedliche Ansichten anzutreffen sind, die sich im Spektrum zwischen einer negativen und einer gemäßigt-positiven Bewertung bewegen. Die negative Bewertung ist jedoch nicht minder einseitig wie jene, welche die Philosophie auf irgendeine Tendenz, speziell eine religiöse, beschränkt oder auch jene, die annimmt, dass es möglich sei, die Philosophie insgesamt einem ideologischen Diktat, konkret also dem marxistisch-leninistisch-stalinistischen, zu unterwerfen. Zweifellos war die russische Philosophie in ihrer spezifischen Eigenart hauptsächlich religiös, aber sie war doch nicht auf die religiöse Tendenz beschränkt: Die russischen Philosophen entwickelten ihre Ideen praktisch innerhalb ihrer zeitgenössischen philosophischen Strömungen (Materialismus, Positivismus, Neukantianismus, Neohegelianismus, Phänomenologie, Existentialismus etc.). Nicht minder unbezweifelbar ist jedoch auch, dass sich die sowjetische Philosophie in den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts institutionell in eine ›ideologische Zugabe‹ zum Parteimechanismus verwandelte: Alle, die den harten Normen nicht entsprachen, welche durch die Partei, genauer, durch die stalinistische Formel des dialektischen und historischen Materialismus, der Philosophie gestellt waren, konnten nicht publizieren und wurden verfolgt und bestraft, bis hin zur physischen Vernichtung (P. Florenski, L. P. Karsawin, G. G. Spät). Aber das bedeutet andererseits nicht, dass philosophischer Dissens nicht existierte. Per Definitionem ist die Philosophie nicht völlig an konkrete historische Ereignissen fest anzubinden, nicht völlig und endgültig zu institutionalisieren. Sogar in der Periode offener und schwerster stalinistischer Repression gegen geringfügigste Abweichungen vom Parteikurs setzten P. Florenski, L. P. Karsawin, A. F. Losew selbst unter KZ-Lagerbedingungen ihre philosophische Arbeit fort, fuhren M. M. Bachtin, E. W. Iljenkov und M. K. Mamardaschwili fort, ›für die Schublade‹ zu schreiben.
Meiner Meinung nach ist die russische Philosophie nicht auf die offizielle Staatsfassung zu beschränken, die der Fachterminus ›sowjetische Philosophie‹ bezeichnet. In der sowjetischen Zeitperiode war sie einem wachsenden Prozess der Marginalisierung unterworfen; sie durchlief, um einen Terminus M. Bubers zu verwenden, eine Epoche der ›Obdachlosigkeit‹: bei äußerlicher Ordnungsmäßigkeit und Schuleinheitlichkeit (marxistisch-leninistisch) existierte auch innerer Wiederstand gegen dieses geistige Diktat. Tatsächlich bildeten sich attraktive philosophische Konzeptionen gerade ›an den Rändern‹ der sowjetischen Philosophie heraus.
Im Großen und Ganzen lassen sich drei Perioden der Entwicklung der gegenwärtigen russischen Philosophie unterscheiden: zunächst die Periode der ›Hegemonie‹ marginaler Philosophie, wobei ihre ›weiche‹ Variante (die Philosophie von E. W. Iljenkov) und ihre ›harte‹ Variante (A. F. Losew, M. M. Bachtin, M. K. Mamardaschvili) zu unterscheiden sind; sodann die mit einer gewissen Dominanz des Postmodernismus verbundene Übergangsperiode von der marginalen zur tatsächlich pluralistischen Philosophie (Podoroga, Ryklin, Pelevin); und schließlich die aktuelle Zeit der allmählichen Gründung philosophischer Schulen, die das weite Spektrum philosophischer Probleme von verschiedenen weltanschaulichen Standpunkten her entwickeln. Im Vordergrund stehen dabei komparatistische Forschungen zur Geschichte der Philosophie, Forschungen zum Prozess der Globalisierung sowie der mit ihm verbundenen Zivilisationskrise und der Bedeutung, die Russland dabei zukommt, sowie schließlich wissenschaftstheoretische und wissenschaftshistorische Bemühungen.
1. Marxismus und Dialektik in der Philosophie von E.W. Iljenkov
Evald Wassiljewitsch Iljenkov (1924-1979) entwickelte eine selbständige und originelle marxistische Konzeption, oft am Rande des ›ideologischen Fouls‹, manchmal geradezu gegen das abgestandene Schema des sowjetischen dialektischen und historischen Materialismus. Sein Grundverdienst besteht darin, unter Verweis auf die Bedeutung Hegels das Wesentliche einer dialektisch-materialistischen Auffassung der Idealität erläutert zu haben. In seiner bekannten Polemik über die Natur der Idealität äußerte er den damals (in den 70er Jahren) in der Sowjetunion aufrührerischen Gedanken, dass die idealistische Dialektik viel wichtiger und nützlicher als jener schematische Materialismus sei, der sich in einen ideologischen Fetisch verwandelt habe. Dabei trat er speziell einer vulgär-materialistische Auslegung der Idealität entgegen, wonach diese etwas bloß Subjektives, Psychisches, lediglich ein Produkt der Arbeit des menschlichen Gehirns sei. In dieser Haltung kommt eine gerade und harte Gegenüberstellung zweier Phänomene, des materiellen und ideellen, zum Ausdruck, wobei es zuletzt um die komplizierte Dialektik ihres Ineinanderwachsens zu tun ist, da beide wissenschaftliche Abstraktionen sind. Da der ›Schoß‹ dieser Dialektik nur die gesellschaftlich-menschliche Lebenstätigkeit sein kann, ist Iljenkov zufolge Idealität nicht nur etwas Individuell-Psychologisches, sondern das sozial Wesentliche und sozial entstanden.
Tritt Iljenkov bei der Definition der Idealität hauptsächlich gegen den primitiven Materialismus auf, so fasst er in der Dialektik des Abstrakten und Konkreten den Empirismus als Hauptgegner auf. Dieser gebe dem Privaten, Einzelnen, vor dem Ganzen, Allgemeinen den Vorzug des Primären und könne deshalb die Dialektik, sofern sie Aufdeckung der internen Widersprüche ist, die einen Gegenstand oder eine Erscheinung zur Selbstentwicklung und Selbstentfaltung bringen, nicht wirklich als Dialektik der Grundmethoden logischer Untersuchung (der Analyse, Synthese, Induktion und Deduktion) erfassen. Der Empirismus irre, wenn er das Konkrete durch den realen Gegenstand ersetzt und von dort her das Abstrakte als etwas psychisch Abgeleitetes auslegt. Beides sind nach Iljenkov Begriffe, logische Gedankenkonstruktionen, und die Dialektik kann als Logik nur gerechtfertigt werden, wenn sie in rein Hegelscher Gedankenfolge das logisch Konkrete als Einheit in der Vielfältigkeit, das Abstrakte als das Theoretische fasst und die Gedankenentwicklung auf dem Weg des Aufstiegs vom Abstrakten zum Konkreten verwirklicht.
Wie Hegel und Marx insistiert auch Iljenkov auf dem Primat des Ganzen vor den Teilen, des Konkreten vor dem Abstrakten und des Logischen vor dem Historischen – was allerdings nicht als Antigeschichtlichkeit zu werten ist. Denn nur auf diese Weise kann Iljenkov zufolge die Dialektik als Selbstentwicklung bewährt werden, die den historischen Wechsel ökonomischer Gesellschaftsformationen aus der Überwindung der ihnen immanenten Widersprüche heraus erklärt. Der Marxismus, so die in seinen Arbeiten vorherrschende Haltung, ist nicht mittels eines primitiven Materialismus und Empirismus zu entwickeln, sondern mittels einer richtig begriffenen idealistischen Hegelschen Dialektik, die lediglich ›auf die Füße zu stellen‹ sei.
2. Philosophie eines verantwortlichen Schrittes
Michail Michailowitsch Bachtin (1895-1975) setzte die Tradition der originellen russischen Philosophie der ›Silberzeit‹ fort, die breiter auszulegen ist als nur im Sinne der religiös inspirierten Metaphysik der Allgemeinheit. Zwar gibt es in seinem Schaffen auch fundamentale Wesenszüge dieser Richtung – wie etwa die Auffassung, dass der einzelne Mensch nicht allein aus sich selbst heraus zum Leben befähigt, sondern absolut abhängig von anderen sei, verantwortlich für die Wahl seiner Schritte wie auch für die Existenz eines intersubjektiven Raums der Vernunft. So findet man in seiner Position unschwer Merkmale, die für den Existentialismus, die Hermeneutik, den Neukantianismus etc. bezeichnend sind. Aber wie jeder originäre Denker sagt er sein eigenes Wort, das sich nicht in den engen Rahmen solcher kraft Definition beschränkten Richtungen drängen lässt.
Bachtin suchte nach jener Urwirklichkeit, die eine Wirklichkeit für einen Menschen wäre, ihm aber doch nicht völlig eigen, zur willkürlichen Verfügung stehend, so dass er schlechterdings alles tun könne, was ihm beliebt. Er suchte nach einem Dasein, das dem Menschen kein Alibi gäbe, kein fertiges Handlungsschema, das die ursprünglichen Intentionen der echten Erfahrung verberge. Folgt man ihm, so kann es sich dabei nur um ein Geschehnis handeln, in dem der Mensch sich dem anderen Dasein öffnet, von ihm abhängig und hilflos wird, allem beliebigen Vorkommen unterworfen. Dieses Geschehnis ist jener Grenzraum – genauer gesagt, kein Raum, sondern nur ein Strich, eine Kontur –, wo sich das Innere und das Äußere eines Menschen treffen, wo seine Seele und sein Leib sich zusammenschließen und zugleich seine ganz persönlichen Grenzen entblößen. In dieses Geschehnis tritt der Mensch, um eine im Russischen vorhandene Wortverbindung zu verwenden, mit ›entblößten Nerven‹ ein. Wenn kein Anderer im Geschehnis anwesend wäre – eine Voraussetzung, die in der Bedingung eine Inkonsequenz enthält –, so ›müsste‹ der Mensch ›zerfallen‹, in den unendlichen Raum verteilt. Buchstäblich schafft, modelliert und meißelt der Andere, der im Geschehnis als Künstler erscheint. Deswegen enthält das Geschehnis in sich selbst nicht schon einen ethischen (in diesem Fall käme eine ›Intervention‹ dem Anderen gegenüber vor), sondern nur einen ästhetischen Sinn. Daher betrachtete Bachtin die ästhetische Position als neutraler, natürlicher und weniger aggressiv als die ethische.
Der ursprünglich interpersonale Geschehnisraum ist der ›Karnevalsraum‹. Diese Metapher verwendet Bachtin zur Erläuterung der These, dass der ursprüngliche Persönlichkeitsraum von nirgendwo her vorgegeben ist: weder existential (vom Dasein zum Tode, von der Angst vor Abgrund, Scheitern, Finsternis), noch sozial (Verkleidung eines Grundherrn als Narr, eines Bauern als Würdenträger usw.), noch ethisch (ein Heiliger könnte sich und müsste sich gemäß dem Karnevalswesen zeitweilig in einen Räuber verwandeln, ein Ehrlicher in einen Lügner, ein Gerechter in einen Vergewaltiger usw.).
Das Hauptproblem, das Bachtin beschäftigte, ist das ewige Problem jeder Philosophie, das aber mit der Bezeichnung des Urwirklichkeit-Geschehnisses eine spezifische Nuance bekam: das Problem der Überwindung der Dualität des menschlichen Daseins in jeder seiner Offenbarungen. Diese Überwindung soll nicht auf monistische Weise erfolgen, sondern dialektisch, entweder durch Aufhebung der Gegensätzlichkeiten in etwas Höherem oder durch ihre Verabsolutierung. Sie setzt voraus, dass die dualen Gegensätzlichkeiten aus ihrer gegenseitigen widersprüchlichen Eigengeschlossenheit herausgelöst werden und zugleich ihre nicht widersprüchliche Selbständigkeit bewahren. Es ist bemerkenswert, dass Bachtin dabei den geistigen Raum und jene Ideen selbst wieder entdeckt, die das Werk Dostojewskis charakterisieren. Was dieses implizit in künstlerischer Form enthält, das expliziert Bachtin in wissenschaftlicher Sprache.
Der anregendste russische Denker der sechziger bis achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, der deshalb auch in der Einheitskohorte marxistischen Philosophen keinen Platz hat, war ohne Zweifel Merab Konstantinowitsch Mamardaschwili (1930-1990). Obschon er manchmal als Phänomenologe bezeichnet wird, ist es doch schwer, ihn irgendeiner bestimmten philosophischen Richtung zuzuordnen. Denn zum einen hat er selbst seine diesbezüglichen Prioritäten nicht gekennzeichnet, zum anderen ist er der Auffassung, dass die Existenz für den Menschen das Denken zu bedeuten hat, und dass der Mensch im Denken unendlich einsam und absolut souverän dasteht. Nur durch Gedanken kann er sich selbst entäußern, zur verantwortlichen Persönlichkeit werden. Nur vermöge der Gedanken kann man Selbständigkeit erreichen und nur diese Selbständigkeit ist das Zeichen dafür, dass man denkt. Die Philosophie existiert recht eigentlich nur, um die Wahrheit zu bestätigen: man kann und darf nur selbständig denken. Da das Denken ein tief persönlicher, verantwortlich-selbständiger Akt ist, so sind auch seine Intentionen tief persönlich. Es ist unmöglich, jemanden denken zu lehren, die Philosophie zu lehren. Die Philosophie ist kein Beruf: sie ist ›das Los‹, Schicksal, Fatum, Fall. Sie hat einem Menschen nur zu weisen, zu zeigen, zu helfen; sie hat ihn zum Denken anzuregen, aber zu denken beginnen kann er nur selbständig; da der Gedanke ein Bereich des Selbst eines Menschen ist, kann außer ihm niemand darin eindringen. Man kann nur den Menschen konzentrieren, auf dass er ›weltentfremdet‹ wird, d. h. die Bedingungen schaffen, unter denen der Gedanke entstehen kann: Bin ich das oder ist es ein Menschenstrom, der irgendwohin fließt und mich mitzieht? Es ist nur eine Frage zu stellen, in der Hoffnung auf eine ungezwungene Antwort: Was tust du? Bist du es, der das tut? – Nicht zufällig nannte man Mamardaschwili einen ›grusinischen Sokrates‹, weil Sokrates wohl die ihm nahestehendste Figur der philosophischen Tradition ist. Was andere philosophische Traditionen betrifft, so ist seine Selbständigkeit zugleich seine Traditionalität. In der Selbständigkeit seiner philosophischer Haltung entdecken wir das Platonische ›Zurückschwimmen‹, das ›Cogito ergo sum‹ Descartes’, den kategorischen Imperativ Kants, das Befragen Heideggers u. a.
In traditioneller philosophischer Sprache kann man sagen, dass alle Überlegungen Mamardaschwilis auf die Lösung eines Problems abzielen – des Bewusstseinproblems, in dem das Rätsel des menschlichen Daseins verborgen ist. Das Bewusstsein erweist sich als jenes wichtigste Phänomen des menschlichen Daseins, das allein vom menschlichen und nicht vom tierischen Niveau dieses Daseins zeugt. Doch darin liegt nicht zugleich eine Garantie dafür, dass das Niveau des menschlichen Daseins von der Menschheit ein für allemal erreicht ist. Vielmehr ist das Bewusstsein kein Vorhandensein, sondern eine Gegebenheit, es kann stattfinden oder auch nicht. Nur durch unsere persönliche, individuelle Mühe, selbständig zu denken, können wir uns zu Ursinnen durchschlagen, wo Platon und Descartes, Kant und Freud, Kafka und Proust, Husserl und Marx unsere Gesprächspartner werden. – Als Phänomenologe ist Mamardaschwili nur aus einem Grunde zu bezeichnen: aufgrund der Einmaligkeit des Bewusstseins. Es ist ihm zufolge die Zusammenlegung zweier Momente, Gedankenwesentlichem und Gedankengeschehnis. Und wenn das Gedankenwesentliche nicht meines sein könnte, sondern, angenommen, dasjenige Platons, Augustins, Hegels, so wäre niemand in der Lage, das Gedankengeschehnis, den Gedankenakt selbst an meiner Statt auszuüben.
Zum Schluss dieses flüchtigen Überblicks möchte ich noch auf ein wichtiges Moment aufmerksam machen, genauer sogar auf zwei verbundene Momente in Mamardaschwilis Charakteristik des Bewusstseins. Das Bewusstsein ist ihm zufolge nicht einfach eine intellektuelle abstrakte Beschäftigung, sondern ein Persönlichkeitsschritt, ein Schritt in der Verantwortung. Deshalb kann es nicht irgendein Beliebiges von etwas Beliebigem sein: das Bewusstsein ist ursprünglich moralisch (Kants Primat der praktischen Vernunft). Das zweite Moment ist mit der Offenbarung der menschlichen Ganzheit im Bewusstsein verbunden: hier betätigt sich nicht nur die Vernunft, sondern auch – in gleichem Grad – Gefühl und Wille. Diese beiden Momente sind schon im ursprünglichen Akt des Denkens enthalten, der, um Mamardaschwilis Terminus zu verwenden, nach Gesetzen der ›Großmut‹ verläuft, insofern ›die größere Seele‹ eines Menschen das Dasein eines Anderen einräumt, da nicht anzunehmen ist, dass die Welt nur unseren eigenen Vorstellungen und Wünschen entspringt.
Bachtin und Mamardaschwili vertraten ein Personenkonzept, das in der individuellen Person nicht eine auf ihre Funktion reduzierte Zelle in einem großen Organismus, nicht ein Schräubchen im gesellschaftlichen Mechanismus sieht, sondern eine selbst-hinreichende Größe und die Vollendungsform des Menschen, der für seine eigenen Schritte und in dieser Selbstverantwortung zugleich auch für das Schicksal der Zivilisation insgesamt verantwortlich ist.
3. Philosophische Forschungen in der postsowjetischen Periode
Alle Gestalten der russischen Gegenwartsphilosophie verbinden sich mit der Krise, die sämtliche Lebensbereiche der westlichen Gesellschaft erobert hat. In Russland kommt die Identitätskrise aufgrund der langjährigen Hegemonie des marxistischen Paradigmas in der russischen Gesellschaft und ihrer vollständigen Abhängigkeit davon in weltanschaulicher Hinsicht hinzu. Die der Philosophie äußerlichen Krisen verstärken die Krise der russischen Philosophie, die sich lange Jahre von den Hauptwegen der Entwicklung des philosophischen Gedankens entfernt hatte und deshalb zur Zeit unter einen gewissem Minderwertigkeitskomplex der modernen westlichen Philosophie gegenüber leidet, welche die bedeutenden philosophischen Tendenzen des zwanzigsten Jahrhunderts (wie Fundamentalontologie, Phänomenologie, Hermeneutik, Strukturalismus, Postmoderne u. a.) hervorgebracht und rezipiert hat.
Meiner Meinung nach bietet die gegenwärtige russische Philosophie drei Varianten einer radikalen Lösung aller drei Krisen an: die erste Variante stützt sich auf eine naturwissenschaftliche Basis, die zweite auf eine geopolitische, die dritte auf eine religiös-philosophische. Die erste Variante ist unter Vorbehalt als szientistisch zu bezeichnen, weil sie die Welt- und Menschheitsentwicklung an den Gang der wissenschaftlichen Erkenntnis bindet. Alle Hoffnungen der Vertreter dieser Position sind mit der Synergetik verbunden. Nachdem der Stuttgarter Laserphysiker Hermann Hacken 1978 diesen Begriff in Umlauf gebracht hat, drang er rasch alle Sinnbereiche ein und erhebt jetzt Anspruch auf die Rolle nicht nur des neuen Wissenschaftsparadigmas, sondern, darüber hinaus, einer neuen weltanschaulichen Einstellung des Menschen in der post-nichtklassischen Epoche.
Synergetik oder, weiter gefasst, nicht-lineare Wissenschaft – ›non linear science‹ –, lässt sich als Theorie der Systemselbstorganisation bezeichnen. Sie ist auf der Suche nach universellen Mustern (Pattern) der Evolution und Selbstorganisation der komplex organisierter Systeme. Sie beschäftigt sich mit der Entwicklung mathematischer Computermodelle für Verläufe in Systemen jeder Art, mit der Erforschung der einheitlichen Grundlage der verschiedenen Erscheinungen, Bedingungen, Mechanismen der Übergänge von Chaos und Struktur, mit der Aufklärung der Eigenschaften von Struktur und Chaos, ihrer Verbindung mit Verfahren der Informationsverarbeitung, der Untersuchung der Leistungsfähigkeit zusammengesetzter Systeme mittels Stimulierung von Optimierungsprozessen im Bereich der Selbstorganisation. Die konzeptualisierten Grundbegriffe und -Ideen der Synergetik sind: offenes Milieu, Nichtlinearität, Nichtgleichschwerheit, Lokalisation, Strukturen-Attraktionspunkte, Zustände mit Verschärfung. Die Synergetik wird fast zeitgleich zur polydisziplinären Wissenschaft. Wie eine der kompetentesten einheimischen Erforscherinnen des Synergetikphänomens, E. N. Knjaseva, betont, wird die Universalität der Synergetikmethoden in modernen Wissenschaftsbereichen durch ihre Interdisziplinärität bestimmt, die Kooperation verschiedener Disziplinen bei der Erforschung einzelner Phänomene, durch Polydisziplinärität, das heißt durch gleichzeitige Teilnahme verschiedener Disziplinen an diesem Prozess, sowie durch Transdisziplinarität, soll heißen die Übertragung von Kognitionssschemata und Modellen aus einem Bereich in einen anderen. Hinzuweisen ist auch auf die Metasprache der Synergetik, die die Erforschung der Evolution allerlei komplizierter offener, nichtlinearer, dissipativer dynamischer Systeme unabhängig von ihrer besonderen Natur ermöglicht.
Die reale Aufgabenstellung der Synergetik ist einerseits einfach, andererseits prätentiös. Keineswegs handelt es sich um eine Panazee für die Nöte der modernen Menschheit. Das heißt, man sollte sie erstens nicht für das Paradigma halten, in dessen Rahmen die Antwort auf alle Fragen der Gegenwart zu finden ist. Zweitens bietet sie letzten Endes keine wirklich neuen Lösungen – ich erinnere an den russischen Kosmismus sowie an den Platonismus mit seiner Überzeugung von der Transformation des Chaos in den Kosmos als einem notwendigen Entwicklungsschritt. Im Rahmen der Synergetik handelt es sich um eine Akzentverschiebung in Bezug auf alte Probleme, die nicht geeignet ist, aktuelle Probleme, die z. B. Die Stellung von Subjekt und Objekt in der Wissenschaftstätigkeit betreffen, von der Tagesordnung abzusetzen.
Gewiss gibt es Ursachen für den schnellen und allgemeinen Erfolg der Synergetik und ihrer Zugriffsweise:
Die Krise der neu-europäischen Wissenschaft mit ihren lebensbedrohlichen Globalkonsequenzen fordert zur Suche nach weltanschaulichen Alternativen heraus, die der wissenschaftlichen Rationalität und den Strategien technologischer Aktivität Widerstand leisten. Hier stehen in erster Linie die in den Traditionskulturen des Orients entwickelten Vorstellungen von Mensch und Welt: das Ideal minimaler Einmischung in natürliche und soziale Prozesse und das Verständnis für ›Dao‹ als Einheit von Wahrheit und Moral.
Die Synergetik besitzt fundamentalen Charakter: ihre Ideen sind auf Änderung der Grundlagen der Wissenschaftlichkeit, auf Objektivität und Allgemeinheit gerichtet. Im Zusammenhang der ›Naturpersonifizierung‹, der Adressierung der Fähigkeit von Dingen und Körpern an Empfindung und ›Auffassung‹ transformieren sich die Begriffe des Objekts und Subjekts wissenschaftlicher Produktion, und die Entwicklung, deren Vektor zufällig im Punkt der so genannten Bifurkation aus zahlloser Menge von Aussichten gewählt wird, stellt die Produktivität der Axiomatik und Deduktion in Frage, die die Prinzipienkomponenten von Allgemeinheit bestimmen.
Die weltanschaulichen Ansprüche der Synergetik entziehen sich der Begründung; in vielem verdanken sie sich der angetroffenen Konstellation:
Von den drei wissenschaftlichen Revolutionen des zwanzigsten Jahrhunderts, Wahrscheinlichkeitstheorie, Quantenmechanik und Chaostheorie lässt sich nur die letzte auf die Welt anwenden, die wir beobachten und empfinden können.
Endlich liegt eine auf den ersten Blick paradoxale Ursache in der ziemlich ernsten Formlosigkeit und Unbestimmtheit des neuen Paradigmas – in diesem Falle sind die Mängel die Fortsetzung der Vorzüge. Einige Forscher meinen, dass viele Grundbegriffe der Synergetik, wie Attraktor, Bifurkation, Fraktal nicht hinreichend geklärt sind, dass es keine allgemein angenommenen Gesetze für Systeme mit determiniertem Chaosverhalten gibt und endlich, dass keine einheitliche Meinung gilt, welche Chaosregime als wahr zu betrachten sind.
Zu den hier hervorgehobenen gesellen sich andere, mit dem Entwicklungscharakter der russischen Philosophie zusammenhängende spezifische Ursachen. Unter ihnen wären folgende zu erwähnen:
– Unter ehemaligen und jetzigen Marxisten findet die Synergetik Zuspruch, weil sie in ihr ein neues Wissenschaftsparadigma finden, das mittels Einheitsschema sowohl Natur (dialektischer Materialismus) als auch Gesellschaft (originaler historischer Materialismus) zu beschreiben erlaubt.
– Einige orthodoxe Wissenschaftler liebäugeln mit der Synergetik, weil sie glauben, dass ihre Grundideen mit dem christlichen Prinzip des Synergismus und dem orthodoxen Prinzip ›Sobornost‹ in Einklang stehen.
– Das in der Synergetik realisierte Einigkeitsprinzip wird aktiv auch von der russischen religiösen Philosophie benützt, sobald der Glaube als notwendige Komponente menschlicher Weltanschauung ins Spiel kommt.
– Einen reichen Fundus an Argumenten gegen die Herrschaft des physikalischen Denkens finden einheimische Forscher in einer genuin russischen philosophischen Tradition wie dem Kosmismus, der dank seiner Ideen der Noosphäre, der Komplementarität vom Künstlichen und Natürlichen und der Ökoethik aufs Beste mit den modernen Suchbewegungen nach neuen Wertigkeiten korrespondiert.
Die geopolitische Beilegungsvariante der drei genannten Krisen verbindet sich mit der Suche nach einem spezifischem Weg Russlands, die sich ihrerseits auf die Besonderheiten der historischen und kulturellen Entwicklung, auf die geographische Lage des russischen Ethnos und den Charakter der infolge dieser Entwicklung sich ausbildenden politischen Ideologeme stützt. Die Möglichkeit einer Eingliederung Russlands in die zivilisierten europäischen Völker ausschließlich nach westlicher Art wird dabei eindeutig negativ eingeschätzt. Laut dieser Variante verleiht der in Westeuropa und Amerika nicht nur von einer einzigen Generation erarbeitete westliche liberale Standard Russland den Status eines Landes, das zu den Entwicklungsländern der so genannten Dritten Welt gehört, denen unter den Bedingungen der Globalisierung das Schicksal des bloßen Rohstofflieferanten verbleibt. Der Versuch, westliche Muster im wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bereich einzuholen, scheitert an der ungeheuren Schnelligkeit des Veränderungstempos in der Welt, weshalb die russische Zivilisation zur Rolle des ewigen Stiefkindes verurteilt ist. Die Schlussfolgerung der Anhänger der geopolitischen Variante lautet: In der Aufholjagd zu den Spitzenländern kommt Russland immer schon zu spät.
Eben weil der gerade Weg zum Erfolg verschlossen ist, wird die Suche nach anderen Wegen zur Erreichung des Entwicklungsniveaus der westlichen Spitzenländer aktuell. Dabei stützt sich diese Suche auf die historischen Erfahrungen solcher Länder wie Japan, Südkorea und China, in denen sich der Verwestlichungsprozess unter Berücksichtigung der örtlichen Spezifika realisiert. Eine Nachahmung westlicher liberaler Ideen und ihrer Realisierung, die sich nicht auf eine blinde Weise vollzieht, zielt auf Verstärkung des Wachstumstempos bei gleichzeitiger Erhaltung der psychologischen und sozio-kulturellen Stabilität. Russland besitzt eine spezifische, ihm ganz eigene ideelle Quelle, deren Nutzung seiner Entwicklung eine Tendenz geben könnte, die nicht eine nur äußerlich entlehnte ist, sondern innere Reserven und Kräfte anwendet, welche diese Entwicklung forcieren und gleichzeitig weniger abhängig von der äußeren Konjunktur macht. Diese Quelle ist das ostslawische Christentum bzw. die orthodoxe Religion.
Gerade durch das Prisma der Leitsätze der orthodoxen Religion, die für die Bildung der russischen Mentalität von größter Wichtigkeit waren, lassen sich die Hauptwendepunkte in der historischen Entwicklung Russlands, die Bildung der Leitideologeme, unter deren Einfluss sich die Innen- und Außenpolitik des Russischen Staats herausbildete, prüfen und einschätzen. Als höchst bedeutende und mehrdeutige Ereignisse (und, entsprechend, als Ideologeme) sind zu nennen: die Einladung an die Waräger und der Anfang der Einheit der slawischen Stämme, die Tatarenherrschaft und Befreiung von ihr, die Gründung des russischen Staates und das In-Erscheinung-Treten der Konzeption ›Moskau ist das dritte Rom‹, die russischen Reichsambitionen bis zur Oktoberrevolution von 1917 und die kommunistische Utopie des Exports kommunistischer Ordnungen nach dieser Revolution.
In allen diesen Ereignissen und ihren ideologischen Gestaltungen sehen die Befürworter einer ›geraden‹ Verwestlichung Russlands einerseits Äußerungen einer fundamentalen Unfähigkeit der slawischen Völker, insbesondere des russischen, zur Erzeugung staatlicher Ordnungen aus ihrer Wesenstiefe, andererseits die Äußerung archetypischer Aggressivität, entstanden infolge der Vermischung von Slawen und barbarischen Warägerstämmen und Nomaden-Tataren, sowie Anzeichen des messianischen Syndroms, das (entweder mittels orthodoxer Religionsideen oder mittels utopischer Ideen des Kommunismus) nach weltweitem Einfluss strebt. Ein abgewogenes Urteil über russische Geschichte und die historische Rolle des orthodoxen Christentums für Russland ergibt keine Gründe für solche eindeutig negativistischen Ansichten. Der Waräger-Anteil an der Staatlichkeit Altrusslands lässt sich nicht verabsolutieren: einen Staat auf eine Leerstelle gründen ist unmöglich; weder Schweden noch Finnland wurden ja orthodox. Aus demselben und vielen anderen Gründen – kulturellen, wirtschaftlichen, sozialen – lässt sich auch der starke Einfluss der Tatarenhorde auf staatliche und mentale Strukturen der slawischen Stämme bezweifeln. Was die Ambitionen auf weltliche Herrschaft im orthodoxen Christentum und die daraus resultierenden Reichsambitionen des russischen Staates betrifft, so waren sie eher die Antwort auf aggressive Vorhaben und Schritte seitens westlicher und östlicher Nachbarn Russlands. Das orthodoxe Christentum gründet in der spezifisch geistlichen, keineswegs in der politischen Mission, und seine Grundintentionen sind eher auf die Selbstverständigung des russischen Volkes als auf politische und kulturelle Expansion gerichtet. Deswegen verbanden sich auch die Revolutionsaufrufe zum Export des Sozialismus und Kommunismus mit Aufrufen zur Beseitigung der Kirche und zur Ausrottung der orthodoxen Religion. Die kommunistische Ideologie wiederholt nur bei minderer Approximation die märtyrer-messianische Ideen der orthodoxen Religion und betreibt im Wesentlichen die gewaltsame Einführung des westeuropäischen Aufklärungsgeistes auf orthodox-religiösem Grund.
Drei geopolitische Hauptgründe dienen dem Postulat eines alternativen Entwicklungswegs Russlands als Basis:
1. Die Unmöglichkeit einer positiven ›nachholenden‹ Entwicklung. Demnach steht die russische Nation nicht vor der Wahl, nachzuholen oder nicht nachzuholen, sondern vor der viel wichtigeren, zu sein oder nicht zu sein: entweder nehmen wir die Herausforderungen der Geschichte an und bleiben als Russland erhalten oder wir verschwinden aus der Geschichte; entweder entscheiden wir uns für die Formationsmodernisierung aus Gründen der Erhaltung und Selbstentwicklung im Namen nationaler Identität oder wir verwandeln ihre notwendige Realisation in ein Mittel zu ihrer Überwindung; entweder sind wir Großrussland oder wir sind Nichts. Es gibt kein Drittes, da uns Großrussland vorherbestimmt ist.
2. Die Änderung des westlichen Musters selbst. Seit der Aufklärungszeit, als die Grundparameter moderner westlicher Lebensart in ihrer klassischen Variante entstanden, änderte sich vieles, auf das der Westen nach wie vor stolz ist, bis zum Nichtwiedererkennen. Zum Beispiel führen wesentliche Änderungen am Fundament der kapitalistischen Ordnung, dem Privateigentum, zu wichtigen Modifikationen seiner Ausgangseigenschaften: die meisten kleinen Besitzer können die Entwicklung ihres Eigentums nicht beeinflussen (wenn es eine große Firma oder Gesellschaft ist), solche Funktionen konzentrieren sich in den Händen einer geringen Anzahl von Großaktieninhabern. Andererseits wächst die Anzahl der Staatsbetriebe, was wesentlich die Sphäre des Privateigentums beschränkt. Die verstärkte staatliche Regelung zeigt sich auch in der Sphäre so genannten ›freien Marktes‹. Zudem werden die Erfolge des ›neuen Kapitalismus‹ durch ernste Belastungen der menschlichen Psyche erreicht.
3. Der Globalisierungsprozess. Die Befreiung von nationalen protektionistischen Barrieren führt zur absoluten Weltherrschaft dessen, der zur Zeit am mächtigsten ist. In dieser Spezifik findet die geopolitische Alternative zum westlichen Weg, die zeitgenössische russische Gesellschaft aus allen lokalen und Weltkrisen herauszuführen, indem man Russland in Rahmen der Zivilisationsentwicklung aufhebt, ihren ›Ariadnefaden‹. Die Schlussfolgerung, zu der ihre Anhänger kommen, besteht darin, dass die geistliche Reformation der Zukunft sich mit den ethikzentrischen Traditionen der Weltkultur verbinden müsse. Unter diesen Traditionen besitzt auch unsere – ostchristliche, orthodoxe – ihren berechtigten Platz.
Hebt die geopolitische Variante hauptsächlich den moralischen Aspekt der orthodoxen Religion hervor, so rechtfertigt gemäß der religiös-philosophischen Variante die Besonderheit der orthodoxen Religion eine spezifische Entwicklung der russischen religiösen Philosophie. Laut W. N. Losski sind es vor allem zwei miteinander verbundene Merkmale der orthodoxen Religion, die sie von den westlichen Konfessionen des Christentums unterscheiden:
– erstens die Einheit von Theologie und Mystik mit dem Vorzug apofatischer Gotteserkenntnis gegenüber der katafatischen;
– zweitens die fehlende Unterscheidung der kontemplativen und tätigen Wege der Gotteserkenntnis im östlichen Mönchswesen (anders als im westlichen).
Diese, wie es scheint, rein theologischen Charakteristiken stehen in unmittelbarster Beziehung zur Eigenart russischer religiös-philosophischer Ideen. Wie derselbe W. Losski betonte, wurde die Frage der Wechselbeziehung von Philosophie und Theologie im Osten niemals in solch scharfer Form wie im Westen gestellt. Das führt dazu, dass die verschiedensten Fragen der Ontologie, Gnoseologie, Anthropologie und Sozialphilosophie in Rahmen der russischen religiösen Philosophie anders gestellt und gelöst werden. Gleichzeitig erweisen sich philosophische Gliederungssysteme im Rahmen des orthodoxen Denkens als höchst bedingt. Aus dieser Lage resultiert der für östliche Philosophien und Religionen bezeichnende Charakter der Einigkeit, auch wenn das orthodoxe Denken im Vergleich mit den orientalischen Lehren des Buddhismus, des Hinduismus und Daoismus ihre eigenen Wurzeln, ihre Tradition und ihren Entwicklungshorizont besitzt.
S. S. Chorushij stellt die Entwicklungswege westlicher klassischer Tradition und ost-orthodoxer Tradition folgendermaßen dar:
– Gründer des IV. Jh. – Augustin – Thomas – Descartes und säkularisierter Idealismus,
– Gründer des IV. Jh. – Maxim – Palama – orthodoxer Energetismus des XX. Jh.
Bei aller Bedingtheit der Etappengliederung und Hauptfiguren wird hier das Wichtigste betont: der Westen überlässt den mittelalterlichen Glauben der Theologie und konzentriert sich auf die Entwicklung und Stärkung des reinen Intellekts sowie der Vernunft; zur gleichen Zeit wählt der orthodoxe Osten den Weg einer ›unendlichen Patristik‹ (Chorushij) und widersetzt sich der Verselbständigung und Dominanz der Vernunft zwecks Wahrung der Unteilbarkeit des Menschen und seiner Beziehung zur Umwelt.
Das Kern des orthodoxen Denkens liegt im orthodoxen Energetismus, das heißt, in der Lehre von der Vergottung des Menschen als seiner Bestimmung. Als Hauptprinzip des orthodoxen Energetismus fungiert das Prinzip der Synergie, soll heißen, das Prinzip der Vereinigung menschlicher freier Energie und segensreicher göttlicher Energie. Menschliche Transzendenz, die auch das Erkenntnismoment einschließt, ist untrennbar mit der Transformation des Menschen, der Umwandlung seines menschlichen Wesens ins göttliche verbunden. Es ist bezeichnend, dass nicht das philosophische Staunen, nicht der Zweifel usw., sondern die auf ›Änderung des Sinnes‹, auf Sammlung und Erreichung seiner Fülle und Offenbarung in Gott gerichtete Beichte als ›Hauptinstrument‹ des orthodoxen Denkens gilt.