Jörg Büsching
Die antiquierte Menschenwürde
Neues Wissen zeugt neue Normen

Solange die naturwissenschaftlichen Erklärungsmodelle noch nicht bis zu den molekularen Dimensionen der Lebensprozesse vorgedrungen waren und ein Rest von Geheimnis den Übergang vom Unbelebten zum Lebendigen umgab, wirkte die religiös-mythische Anschauung fort, nach der eine höhere Macht, sei es nun ein göttlicher Atem oder einfach die schöpferische Natur, an der Entstehung und Erhaltung des Lebens beteiligt war. Dem Leben wohnte eine ›Heiligkeit‹ inne, die selbst dort noch in die Setzung und Begründung von Normen hineinwirkte, wo sie keine explizite Erwähnung mehr fand: in der praktischen Philosophie der Aufklärungszeit. Die unveräußerlichen Menschenrechte, wie sie bis heute in den Verfassungen zivilisierter Staaten und der internationalen Menschenrechtskonvention der UNO formuliert sind, unterstreichen die Einzigartigkeit der menschlichen Würde, indem sie sie über alle anderen Belange stellen und zumindest de jure jegliche Relativierung verbieten. Keine noch so große Missachtung der Menschenrechte durch Regierungen, Armeen oder sonstige militante Organisationen konnte bewirken, dass der Begriff der Menschwürde in Frage gestellt wurde. Im Gegenteil: Von der Gründung des Roten Kreuzes durch Henry Dunant bis zur Einsetzung des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag reichen die Anstrengungen, ihrer Unverletzlichkeit eine institutionelle Basis zu verschaffen.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die größte Herausforderung für den klassischen Menschenwürdebegriff ausgerechnet von einer Wissenschaft ausgeht, deren Vertreter sich dem Schutz und der Verbesserung des Lebens verschrieben haben: der Biomedizin. Die Vorstellung, mit der entschlüsselten DNS gewissermaßen das ›Geheimnis‹ des menschlichen Lebens in Händen zu halten, und die Merkmale eines jeden Individuums von der Augenfarbe bis zu Verhaltensdispositionen ›vorprogrammieren‹ zu können, hat unser Selbstbild stärker beeinflusst als jede andere wissenschaftliche Errungenschaft bislang – auch wenn die Genforscher und ihre publizistischen Adlati zugeben müssen, dass die meisten ihrer Verheißungen auf absehbare Zeit unerfüllt bleiben werden.

Immerhin ermöglichen es die Erkenntnisse von Genforschung und Molekularbiologie heute schon, bestimmte Krankheiten auf genetische Ursachen zurückzuführen und Wahrscheinlichkeiten für deren Auftreten zu berechnen, noch ehe der betreffende Mensch geboren, ja, ehe er überhaupt gezeugt wurde. Damit ist eine Erbkrankheit kein unabwendbares Schicksal mehr. Die Entscheidung, ein Kind mit genetischen Schäden zur Welt kommen zu lassen, fällt in die Verantwortung der Eltern. Dass Wahrscheinlichkeit nicht mit Gewissheit gleichzusetzen ist und die Komplexität biologischer Abläufe nicht auf das Kausalitätsmuster einfacher chemischer Reaktionen zurückgeführt werden kann, hat auf die Erwartungen, die sich mit der genetischen Diagnostik verbinden, keinen Einfluss, denn diese verdanken sich weniger der Einsicht in deren tatsächliche Reichweite und Leistungsfähigkeit als vielmehr dem Umstand, dass es sich um wissenschaftlich begründete Erkenntnisse handelt. Was es mit solcherlei Erwartungen auf sich hat, formulierte Max Weber bereits 1917 in seinem Vortrag Wissenschaft als Beruf:

»Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr die Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne [Hervorhebungen im Original, J. B.].«

Was Weber ›Wissenschaft als Beruf‹ nennt, könnte man auch unter dem Stichwort ›Institutionalisierung‹ diskutieren. Dadurch verlöre das, was er ›Glauben‹ nennt, ein wenig von seiner Irrationalität, denn die Basis wäre nicht mehr der einzelne Mensch, sondern eine gesellschaftliche (wenn nicht gar allgemeinmenschliche) Einrichtung, deren Zweck gerade in der Perpetuierung ihrer Methoden und Ziele liegt. Gleichzeitig jedoch wäre die mit dem Begriff ›Rationalisierung‹ sich verbindende Ausbreitung des ›wissenschaftlichen Weltbildes‹ nicht mehr ohne weiteres mit einer zunehmenden Herrschaft der Vernunft zu identifizieren, denn die Stabilisierungsfunktion von Institutionen basiert darauf, dass sie die unter ihr zusammengefassten Vorgehensweisen und Regeln dem kritischen Diskurs entzieht, sie in den »Modus der Selbstverständlichkeit« (Fischer, S. 75) überführt. Nicht mehr die Aussagekraft wissenschaftlich begründeter Erklärungsmodelle wird in Zweifel gezogen, sondern die Geltung der ethischen Begriffe, auf denen unsere demokratische Gesellschaft fußt, so z. B. in dem Spiegelartikel Die überforderte Menschenwürde von Bernhard Schlink. Der Autor sieht die traditionellen »Gewissheiten« durch die Fortschritte der Biowissenschaften aufgehoben und fordert daher neue Grenzziehungen beim Embryonenschutz, die in der Konsequenz auch die verbrauchende Embryonenforschung erlauben würden. Ganz im Sinne der Empfehlungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Forschung mit menschlichen Stammzellen plädiert er für die freiwillige Spende überzähliger Embryonen, die bei der In-vitro-Fertilisation gewonnen und bislang eingefroren oder verworfen werden.

Wie sehr das reduktionistische Menschenbild der Biologie bereits das Denken beherrscht, kann man daran erkennen, dass der Streit zwischen Befürwortern und Gegnern der Embryonenforschung sich häufig auf die Frage fokussiert, ob der Embryo in seinem Frühstadium bereits ein Mensch sei, und damit den vollen Schutz des Grundgesetzes genieße oder nicht. Gegen diese verfehlte Frontstellung versucht Kathrin Braun den klassischen Begriff der Menschenwürde stark zu machen, indem sie die transzendentale Kategorie der Menschheit als Gattung freier, gleicher und vernunftbegabter Wesen hervorhebt. Ansätze, die darauf verzichteten, wie die durchweg utilitaristisch geprägten Bioethiken, müssten letztlich immer auf »Macht und Willkür« zurückgreifen, um sich Geltung zu verschaffen.

Die Hannoveraner Politikwissenschaftlerin bedient sich in ihrer Untersuchung des Foucaultschen Begriffs einer produktiven, positiv vermittelten ›Biomacht‹, die durch Entwicklung sozialer, medizinischer und psychologischer Praktiken bereits seit dem 18. Jahrhundert im Entstehen begriffen sei. Was der Biomacht bislang gefehlt habe, sei das Recht, Leben zu nehmen. Diese Lücke werde durch die moderne Bioethik, wie sie in den USA seit Ende der sechziger Jahre sich herausbilde, geschlossen. Durch die Biomedizin wird das Leben von der befruchteten Eizelle bis zum letzten Atemzug der Verwaltung und Bewirtschaftung unterworfen. Sowohl für den Beginn als auch das Ende des Lebens werden rechtsverbindliche Definitionen eingeführt, die vor allem dazu dienen, der medizinisch-technischen Industrie neues Material, sei es in Form von Stammzellen oder transplantationsfähigen Organen, zuzuführen. Sind solche Praktiken erst einmal in großem Stil etabliert, so wird aus dem dringenden Bedürfnis nach einem neuen Organ ein Anspruch und aus der freiwilligen Spende eine moralische Pflicht.

Diese Entwicklungen nehmen die utilitaristischen Bioethiken vorweg, wenn sie den absoluten Begriff der Menschenwürde relativieren, Abstufungen zulassen, je nachdem wie autonom der einzelne Mensch tatsächlich ist. Maßstab für ethisches Handeln ist dabei »das größte Glück der größten Zahl« (Bentham) oder, negativ gewendet, die weitestmögliche Vermeidung von Leid bei der größtmöglichen Zahl von Menschen. Sowohl in der positiven wie in der negativen Variante ist der Utilitarismus demnach kollektivistisch. Die Freiheit des Einzelnen beschränkt sich auf die Entfaltungsmöglichkeiten im vorgegebenen institutionellen Rahmen der jeweiligen Gesellschaft. In Zeiten der Globalisierung wird dieser Rahmen freilich weniger durch demokratische Prozesse definiert als durch die Strukturen, deren sich das frei flottierende Kapital bedient. Und das fließt nun einmal dorthin, wo wissenschaftlich-technische Innovationen ordentliche Profite verheißen. Der ›Glaube‹, von dem Max Weber spricht, liefert den Antrieb, der über die Hydraulik der internationalen Kapitalströme die Dynamik des Komplexes aus Wirtschaft und Wissenschaft immer weiter treibt. Ethische oder gar rechtliche Grenzen umgeht dieses System oder reißt sie einfach ein. Das Ziel (wenn man überhaupt von einem ›Ziel‹ im Sinne eines von der menschlichen Vernunft gesetzten zu erreichenden Punktes der Entwicklung sprechen kann) ist die, wie Karl Polanyi es nennt, »Great Transformation«, die Umwandlung der menschlichen Gesellschaft in eine Marktgesellschaft. Hierzu ist erforderlich, dass die Faktoren ›Geld‹, ›Mensch‹ und ›Land‹, die im eigentlichen Sinne keine Waren sind (und auch nicht sein können) nach und nach in ebensolche umgewandelt, d. h. vollständig in den wirtschaftlich-wissenschaftlichen Komplex einbezogen werden. Durch die Liberalisierung der Kapitalmärkte ist dieser Prozess für das Geld weitgehend vollzogen. Der Faktor Land ist bei der heute erreichten Mobilität vielleicht nicht mehr so aussschlaggebend. Durch die utilitaristischen Bioethiken, die in den internationalen Konventionen der UNO und der europäischen Union ihre institutionelle Verankerung gefunden haben, ist nun auch der Mensch, nicht allein als Arbeitskraft, sondern schon in seinem materialen Dasein als Ressource für den unersättlichen Markt erschlossen. Die Politik hatte nach Polanyis Analyse bislang die Aufgabe, die Transformation für die Menschen erträglich zu gestalten, indem sie immer wieder versuchte, die Dynamik zu verlangsamen. Einer Politik indes, die sich am »Machbaren« orientiert, ist dies in Zeiten, da der klassische Begriff der Menschenwürde wegen »Überforderung« selbst zur Disposition steht, nicht mehr möglich. Und wer weiß, vielleicht sehen wir, ist die Transformation erst weit genug fortgeschritten, auch gar keine Notwendigkeit mehr dazu.

Literatur:

BRAUN, KATHRIN: Menschenwürde und Biomedizin. Zum philosophischen Diskurs der Bioethik. Frankfurt/Main 2000
DFG (Hg.): Empfehlungen der deutschen Forschungsgemeinschaft zur Forschung mit menschlichen Stammzellen. Bonn 3. Mai 2001
ENGELS, EVE-MARIE: Biologie und Ethik. Stuttgart 1999
FISCHER, PETER: Philosophie der Technik. München 2004
POLANYI, KARL: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Frankfurt am Main 1995
ROCK, MELANIE: Genetic norms, eugenic logic and UNESCO’s International Bioethics Committee. In: Eubios Journal Asian and International Bioethics 7 (1997), 108-110
SCHLINK, BERNHARD: DER SPIEGEL Nr. 51/2003 S. 50-54
Weber, Max: Wissenschaft als Beruf. Berlin 1967