Sein »Geistliches Lied« beschließt unser Maragall mit einer Bitte, die seinen letzten Willen zum Ausdruck bringt:
»Siam la mort una major neixença«
– möge der Tod mir eine höhere Geburt sein.
Diese höchste Bitte sollte auch in das Grab des großen kastilischen Dichters, vor dem wir heute zusammengekommen sind, graviert werden, als Zeugnis unserer Achtung und Bewunderung – nicht nur der hier Versammelten, sondern auch im Namen all jener, die an Körper und Geist leiden, gelitten haben oder leiden werden: für Frieden, Gerechtigkeit, Liebe und die Würde des Menschen.
In Antonio Machado verwirklicht sich der unendliche Wunsch, der in dem Vers des großen katalanischen Dichters ausgesprochen ist – und so rufen wir an diesem Tag aus:
Antonio Machado ist nicht tot, er lebt mit uns. Seine Stimme, sein Wort singt und wird singen durch alle Zeiten als absoluter und offenbarer Ausdruck der Seele eines Volkes.
Durch seinen Lehrer Juan de Mairena unterrichtet er uns davon, dass »der Mensch, unweigerlich der Zukunft ausgeliefert, zugleich das einzige Tier ist, das eine Tradition ausbildet« und dass »die Vergangenheit für ihn ein seltsames Prestige erhalte«. Diesem Paradoxon des Meisters Machado, dass nämlich der zukunftsorientierte Mensch das einzige traditionsbewusste Tier sei, wagen wir den Gedanken gegenüberzustellen, dass jede Traditionspflege, indem sie Rechenschaft zu geben sucht über den zurückgelegten Weg, stets in der Absicht geschieht, neuen Schwung zu nehmen um des Kommenden willen, und dass die Verehrung der Vorfahren – nicht aller, aber doch einiger – sie uns als Lebende empfinden lässt, die unser Vorwärtsdrängen antreiben, wie ein Wolke oder Feuersäule, die einst die Söhne Israels durch die Wüste geleitete.
Ich möchte hier weder von Wundern reden, noch von der Unsterblichkeit der Seele oder des Vaterlandes (ein heute gängiger Topos), noch die großen, hohlen und schwülstigen Eigenschaftswörter gebrauchen, die sich so leicht vergeuden lassen, aber den Klang ausgehöhlter Kürbisse oder aufgeblähter Weinschläuche haben. Antonio Machado, der große Dichter Machado, verdient mehr und Besseres in dieser Stunde, indem man mit dem Herzen zu ihm spricht: tiefes Gefühl ohne Sentimentalität, klare, einfache Ideen und Gedanken, die wie seine Lyrik frei von Schnörkeln ist, wie die Wahrheit, die sie vorträgt. Mag es auch widersprüchlich klingen, so wage ich zu behaupten, dass stets die großen Dichter die höheren Wahrheiten ausgesprochen haben, wenngleich gefärbt durch das Farbenspiel der Poesie.
Deshalb spreche ich von dem Dichter nicht im Präteritum, sondern im Präsens. Sein ganzes Werk, sämtliche Gedichte, die er uns hinterlassen hat, sind lebendig und pulsierend, und obgleich sie ihrer Form und ihrem Gehalt nach klassisch sind, so leben sie doch in der Gegenwart und in der Zukunft. Um einen Dichter oder einen Schriftsteller als ›klassisch‹ zu bezeichnen, muss man zwischen seine Epoche und die unsrige das reinigende Sieb der Zeit legen. Was bedeutet es, wenn er sagt: »Das Morgen ist vergänglich«, da wir ihn doch lebendig und tätig unter uns fühlen? Der Zahn der Zeit hat seinem Werk keinen Schaden zugefügt, Machado ist für uns kein unwirkliches Echo aus weiter Ferne. Und trotz seiner großen Aktualität können wir ohne jegliches Bedenken, ohne den geringsten Vorbehalt sagen, dass er nicht nur ein Klassiker ist, sondern ein großer Klassiker – in der ganzen Bedeutung dieses Worts.
***
Antonio Machado war seiner Ausbildung nach Akademiker und Intellektueller. 1874 in Sevilla geboren, zog er im Alter von 8 Jahren mit seiner Familie nach Madrid. Hier besucht er die Institución Libre de Enseñanza [Freie Unterrichtsanstalt], deren Lehrern er »in Zuneigung und tiefem Dank verbunden« blieb, wie er in einer Kurzbiographie zu einem Auswahlband seiner Gedichte selber angab.
Ich versuche hier nicht, eine Biographie des Dichters zu geben, vielmehr möchte ich den Einfluss erwähnen, den diese Schule auf die 98er Generation gehabt hat, denn aus ihr gingen jene Männer hervor, die es unternahmen, die Geschichte und die Mentalität des Landes zu verändern. Erinnern wir uns an den Gründer und die Seele der Institución, Francisco Giner de los Ríos. Er war ein Erneuerer der Pädagogik, ein offener und großzügiger Geist mit menschlichem Empfinden und großer Bildung ... Machado besingt ihn bei seinem Tod mit folgenden Versen:
»Starb er? ... Wir wissen nur,
dass er uns auf einem hellen Pfad verließ
und zu uns sagte: erweist mir
die Totenehre mit Arbeiten und Hoffnungen.
Seid gut, mehr nicht, seid das, was ich war
unter euch: Seele.
[...]
Und zu einem anderen, reineren Licht
brach der Bruder der Morgendämmerung auf.«
Ein Bruder der Morgendämmerung, die den wunderbaren, ersehnten, erahnten Tag hervorbringen wird – das war Francisco Giner de los Ríos. Erinnern wir uns an seine Schüler und Freunde: an Miguel de Unamuno, den Erzähler, Dichter, Philosophen und Essayisten, und mit ihm an Ganivet, Picabia und Azaña– auch sie Essayisten; an Azcárate, den Soziologen; an Ortega y Gasset, den Philosophen; an Baroja, den Romancier; an Bello, den Journalisten; an Juan Ramón Jiménez, den Dichter, und an unseren Antonio Machado mit seinem Bruder Manuel. Dichter, Denker und Musiker wie Albéniz, Granados und Falla.
Diese Generation, die wichtigste seit dem Siglo de Oro, bricht mit der alten patriotischen Engstirnigkeit und einer Blaskapellen-Ästhetik, die eine hohle, folkloristische und prahlerische Gesellschaft geformt hatten. Die Zeit nach der Romantik bringt nur zwei bedeutende Personen hervor: Benito Pérez Galdós und Valera – geprägt ist sie durch die weinerliche Musik Arrietas oder die geckenhafte von Chueca und den Füllseln des Pseudo-Poeten Campoamor, von einer alten, mottenzerfressenen Scholastik, einer gebetseifrigen Monarchie mit urwüchsigen Königinnen und ausschweifenden Monarchen. All das geht unter mit dem Debakel des Kriegs von 1898 und lässt die weiter oben Erwähnten hervortreten, und mit diesen bilden sich der Geist, das Empfinden und die moralische Bedeutung unseres Antonio Machado.
Er lebt und studiert in Madrid, wird an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät promoviert und reist mit 24 Jahren nach Paris, wo er zwei große Literaten persönlich kennenlernt: Oscar Wilde und Jean Moreas. Er berichtet davon: »Paris war in der Politik noch die Stadt der Dreyfus-Affäre, des Symbolismus in der Dichtung, des Impressionismus in der Malerei, und in der Kritik die des eleganten Skeptizismus«. Es ist ein begeisternder und revolutionärer Moment der Geschichte, dessen Ausstrahlung und Nachhall in seinem Werk spürbar sind. Es war das Jahr 1899, ein Jahr nach dem Siegeszug des Impressionismus und nach der Katastrophe in Spanien. Unser junger Dichter spürte den Einfluss beider Strömungen, doch er schuf eine neue Dichtung ohne Nachahmungen.
Äußerlich ist sein Leben angenehm und ruhig. Er ist Französischlehrer an der Oberschule in Soria, danach in Baeza, es folgt eine zweite Reise nach Paris mit seiner jungen Frau, wo er Ruben Darío kennenlernt und die Vorlesungen von Henri Bergson besucht. Später unternimmt er Reisen in fast alle andalusischen Städte, dann auch in diejenigen Alt-Kastiliens. Ab 1919 verbringt er die Hälfte seiner Zeit in Segovia, die andere Hälfte in Madrid. Nach seinen eigenen Angaben sind seine Lieblingsbeschäftigungen spazieren und lesen.
Er war Dichter, Philosoph und Lehrer. Seine Philosophie hat er durch die Figur seines fiktiven Lehrers Juan de Mairena getarnt, der seinerseits Schüler eines weiteren alten Lehrers war, Abel Martín. In seinem ganzen Werk erblicken wir den modernen Humanisten, der spaziert und liest, der alles wahrnimmt und über alles nachdenkt, was ihn umgibt, vom Menschen bis hin zur Unendlichkeit. Er spürt in sich eine ausgesprochen schöpferische Kraft – ohne Pedanterie, aber auch ohne falsche Bescheidenheit. Er lebt harmonisch, wie man heutzutage sagt, in Frieden mit dem eigenen großzügigen Geist, ohne ihn zur Schau zu stellen. Für die Mitmenschen sucht er und bringt er die Wahrheit des menschlichen, gerechten Empfindens hervor vermittels der Poesie, die immer eine Botschaft des Friedens und der Gerechtigkeit enthält. Seine Form ist vollendet, ohne akademisch zu sein. Es geht ihm um das Empfinden, darum, das Land und die Menschen als Brüder ohne Hintergedanken und ohne larmoyanten Aufschrei zu spüren. Dichtung und philosophische Gedanken Antonio Machados verschmelzen in einer einzigen und einzigartigen Persönlichkeit.
Der Dichter
Der Titel seines ersten Buches – Soledades (›Einsamkeiten‹) – lässt uns bereits den Gefühlszustand des Dichters erkennen. Im Prolog dieses Bandes spricht er von Rubén Darío, der damals von der Tages-Kritik verurteilt, verspottet wurde, »während er das Idol einer ausgewählten Minderheit war. Auch ich bewunderte den bewunderungswürdigen Meister [...] Aber ich musste – und bitte nehmt zur Kenntnis, dass ich hier nicht mit Erfolgen prahle, sondern mit Absichten – einen völlig anderen Weg einschlagen.« Den einsamen Weg, auf dem der Widerhall der tiefen Herzschläge des Geistes vernehmbar ist, die Worte eines intimen Monologs, der die lebendige Stimme von den leblosen Echos scheidet. Weder der phonetische Wert, noch die Farbe, noch die Linie des Wortes noch die Verbindung von Eindrücken waren für ihn wesentliche Elemente. Indem er auf all dies verzichtete, entkleidete er seine Dichtung, um sie reiner zu zeigen, wie eine Aphrodite Andiomene, die nackt dem Meer entsteigt und nur von den Tropfen der Gischt bedeckt wird, die sich in irisierende Perlen verwandeln, um sie zu bekleiden. Sein anderes Ich, Juan de Mairena, sagt: »Der Kult der nackten Frau ist dem Dichter eigen. Mit dem weiblichen Akt versinnbildlicht der Dichter zuweilen die Vollkommenheit seiner Kunst.« Und fügt mit leiser Ironie hinzu, dass »er beim Gedanken an die Frau nie das Kleid vergisst. Sie zu bekleiden und zu entkleiden, das ist das eigentliche Geschäft der Liebe.« Und ebenso das des Dichters. Er bekleidet die Bilder seiner Soledades mit dem bloßen und knappen Mantel seines Stils, seiner Wortwahl, in der nichts fehlt und nichts zuviel ist. Schon in seinem ersten Band ist er ein Meister. Er liebt die kleinen, einsamen und traurigen Dorfplätze der Provinz, wo die Kinder beim Ringelreihen singen:
»Spielend im Schatten
eines alten Platzes
sangen die Kinder...
Der steinerne Brunnen
vergoss das ewige
Kristall der Legende.
Die Kinder sangen
harmlose Lieder
von einem vorbeiziehenden Etwas,
das niemals am Ziel ist.
Wirr die Geschichte,
klar nur das Lied.«
Das Labyrinth der Gassen, die zum menschenleeren Dorfplatz führen, wo der »Frühling kommt – sein weißes Kleid schwebt in der Luft des toten Platzes.« Ein Weg, der in der einsamen Abenddämmerung versinkt.
Das ist die Besessenheit des unruhigen, gequälten Menschen, der – ohne es zu sagen – nach menschlicher Gesellschaft sucht auf dem einsamen Dorfplatz, wo das Wasser des Brunnens auf der nackten Erde des Weges ertönt, bei den zerlumpten Bettlern, von denen man nur die Hände aus alten Mänteln und zerschlissenen Umhängen hervorlugen sieht. In Soledades deutet sich bereits die Art von Gedichten an, die später sein Meisterwerk Campos de Castilla (›Landschaften Kastiliens‹) ausmachen wird. Wir können hier nicht innehalten, um auf den Band Del Camino. Canciones. Humorismos (›Vom Weg. Lieder. Humoresken‹) einzugehen noch auf jene Galerías ›Erker‹), aus denen er sich hinauslehnt, um der »Gitarre aus der Schenke, die Jotas spielt / morgen Petenera« zu lauschen oder um die Kinder zu sehen, die »in Reihe / die Abendsonne tragen / an ihren kleinen Wachskerzen.« Eine traurige Prozession mit dem Ziel, das »so sehr geliebte Haus« zu sehen, »in welchem sie lebte / auf einem Trümmerhaufen«, während der Dichter »schlecht bekleidet und traurig durch die alten Straßen [geht].«
Die alte Straße von Soria – einer Stadt, die »eine Brustwehr ist / nach Aragón gerichtet, dessen Turm kastilisch ist«, und von dort aus beschreibt er, wie der »Duero das Herz aus Eichenholz durchquert / von Iberien und Kastilien.«
»Ach edles und trauriges Land
der hohen Steppen, der Brachebenen und Felsgelände,
der Felder ohne Pflüge, Bäche und Haine,
der verfallenen Städte, der Wege ohne Herbergen,
und der stummen Bauerntölpel ohne Tänze und Lieder,
die immer noch, das sterbende Heim verlassend,
so wie deine langen Flüsse, Kastilien, zum Meer hinwandern!
[...]
Wartet, schläft oder träumt es?«
Der Dichter besingt mit blutendem Herz sein Kastilien, sein altes Kastilien, jenes, dessen Seele die historischen oder legendären Helden wie der Cid oder Bernardo del Carpio sind: das Land der Mystiker von Teresa von Ávila, Johannes vom Kreuz oder Fray Luis de León; er besingt die tragische Schönheit der unfruchtbaren Böden, die der »Mensch dieser Felder, der die Pinienwälder anzündet« selbst verursacht hat, sodass er »heute seine armen Kinder von der Heimstätte fliehen sieht« mit »immertrüben Augen aus Neid oder Trauer« – denn »der Geist dieser Felder ist blutrünstig und wild« –, sie durchqueren »kriegerische Ebenen für Asketen, / es war in diesen Feldern der biblische Garten nicht: / es sind Landstriche für Adler, es sind Gegenden des Planeten / auf denen irrend der Schatten Kains zu sehen ist.«
Er erinnert in der Gestalt von Soria an die
»Tote Stadt der Herrschaften,
Soldaten und Jäger;
der Eingänge mit Wappen
hunderter Häuser von Geblüt,
und der hungernden Jagdhunde,
der dürren Hunde mit spitzen Schnauzen,
die sich in den engen Gassen
tummeln
und mitternachts heulen,
wenn die Krähen krächzen.«
Es ist das mystische und kriegerische Soria, das ihn im Innersten seiner Seele eine Trauer empfinden lässt, die nichts anderes ist als Liebe für »die Felder, auf denen die Felsbrocken die herbe Melancholie der verfallenen Stadt zu träumen scheinen«, und so bittet er: »möge die Sonne euch mit Freude, Licht und Reichtum erfüllen«. In dem Bild Sorias verdichtet er seine ganze verzweifelte Liebe für jenes Kastilien, das er in einem berühmten Reimpaar zugleich anklagt:
»Elendes Kastilien, gestern noch herrschend,
verachtet, in Lumpen gehüllt, alles, was es nicht kennt.«
Nicht dieses Kastilien würde er in Erinnerung rufen wollen, sondern das karge, das edle, das der heiligen Traditionen und der großzügigen Regungen. Das Kastilien des Romancero, dieses literarischen Denkmals, das ein wahres, komplexes und vielgestaltiges Epos des spanischen Menschenschlags ist, wie Unamuno sagen würde, und das Machado mit La tierra de Alvargonzález (›Das Land des Alvargonzalez‹) wieder zum Leben erwecken will. Aber der Dichter ahmt nicht nach und übernimmt nichts. Er verwendet den Vers der Romanze, der reinsten Form der Volksdichtung. Weder Alvargonzález noch seine Söhne sind mit Eisen bekleidet, weder sind sie hungernde Adlige noch Edelleute von hoher Abstammung. Der Vater Landmann, die Söhne ein Bauer, ein Schäfer, ein Pfarrer, alles Vertreter des niedrigen, volkhaften Elements. Sie leben von der Erde, von ihrer Erde, von der Erde jenes Volkes, das nach etwas Neuem sucht, das es befreit – und zwar durch Machados gesamtes Werk hindurch, denn er selbst fühlt sich als Fleisch und Geist dieses Volkes. Er verwirft und verachtet, was über die Jahrhunderte als Glanz der Literatur hochgehalten worden ist: die Meute von Schelmen, Betrügern, Schurken, Ganoven, Großmäulern, Kupplern, Straßendirnen, heimlichen Liebhaberinnen und Diebinnen. Machado besingt niemals den Don Furón des Arcipreste de Hita, noch die Gauner Sempronio und Parmeno, noch den Lazarillo de Tormes, noch Rinconete und Cortadillo, noch den Buscón, noch Guzmán de Alfarache, noch die Celestina, noch die Tía Fingida, noch die Pícara Justina. Das ist der Abschaum einer Gesellschaft, und als die Literatur sich davon abwendet, wird er durch die Kunst von Murillo, Velázquez, Ribera und durch die Schreckensbilder und -radierungen Goyas eingefangen. Das ist nicht Kastilien, ist nicht das Kastilien, das Machado herbeiwünscht und nach welchem er eine schmerzhafte Sehnsucht verspürt. Glücklicherweise wird es erlöst durch seine Mystiker, durch Doña Endrina, durch das so spirituelle Lob der kleinen Frauen, durch die Liebesgeschichte von Calixto und Melibea und durch jene erträumte Dulcinea, die Geliebte des Ritters von der Traurigen Gestalt.
Es sind diese beiden Figuren und die ›Mujer Manchega‹, die das Neue Kastilien versinnbildlichen, das von wehrhaften Männern aus dem Norden auf ihrer Suche nach dem Meer wiedererobert wurde. Im einzigartigen, monumentalen Werk Cervantes’ ist die gesamte Mancha, also Neukastilien, vedichtet und zusammengefasst. Ein Land der Wiesen, Weinberge und Mühlen oder auch eine »trockene Sonnenebene in der Ferne«, das Land der Felder von Montiel, der Mühlen von Criptana, des »Dickichts grüner Jungpappeln«. Über dieses Land, weit entfernt vom Meer und vom Gebirge, wandelt die Frau von La Mancha, reizvoll und elegant, »ewige Begleiterin und Leitstern von Alonso Quijano, rüstige Landfrau, Mutter von Kindern des Landes, Gottheit der Phantasie, die gute Aldonza, die nichts von der verrückten Liebe des Junkers weiß, jener feurigen Liebe, die durch dich und mit dir ward« und die »unter dem heiligen Namen Dulcinea die Herrlichkeit des Quijote rettet.«
***
In dieser Lobrede, dieser Hommage an Antonio Machado will ich die Bedeutung des Dichters von Campos de Castilla (’Landschaften Kastiliens’) , seines Haupt- und zugleich persönlichsten Werk, herausstellen, ohne den hohen Wert an Eingebung, Verdienst und literarischem Können in den anderen Teilen seines Œuvres zu vergessen. Aber ich muss vom Menschen Machado sprechen und von dem Sinn dieser Hommage. Der Mensch gleicht dem Dichter, der Dichter dem Menschen. Das kennzeichnet seinen Wert. Als euer Bruder im Schmerz hat er sein Leben im Holokaust für die Freiheit und die Menschenwürde geopfert. Für sie hat Machado gekämpft, für sie ist er gestorben.
Er ist ein weiteres Opfer dieses schrecklichen Bruderkrieges, in welchem er stets, bis zum allerletzten Augenblick, seiner Überzeugung treu blieb und mit den einzigen Waffen kämpfte, die ihm zu Gebot standen: der Feder und dem guten Beispiel. Fast bewegungsunfähig, mühsam überwand er, gestützt von seiner alten Mutter, zu Fuß die Grenze, starr vor Kälte, vom Regen gepeitscht in der schrecklichen Verwirrung der Niederlage.
Sein Leben und sein Werk bleiben vorbildlich. Darin gibt es Augenblicke, in denen der Denker, der Moralist und der Dichter zum Meister werden. Unter dem Pseudonym Juan de Mairena erteilt er uns in aller Schlichtheit eine Lehre in der Treue zu den edelsten Grundsätzen des Menschen. Nie bewegt ihn Stolz oder Ehrgeiz. Er ist kein Dogmenverkünder, der ein Gott zu sein wähnt. Ihn treibt nicht die Eitelkeit eines Pantarca, nicht das Dandytum eines Octavi de Romeu und nicht der trügerische Zusatz vor dem Nachnamen. Es ist der Wille, die Begierde, sich als Teil des Volkes zu fühlen, Teil des Volkes zu sein. Er bringt seine Verachtung für die Herrschaften zum Ausdruck und ist erfreut, dass der Krieg ihr Verschwinden als soziale Kaste bewirkt hat. Er hat nie seine Sprache noch seine Herkunft verraten, um, von niedrigen Beweggründen getrieben, zu jenen überzuwechseln, die ihren Hass auf die Kultur mit dem Schlachtruf »Es lebe der Tod!« ausdrückten – jenem Schlachtruf, der Unamuno tötete. Machado ist der Lehrer, der sich nicht am Katheder ausbreitet, sondern den Kontakt mit dem Volk aufnimmt, in welchem er ganz aufgehen wollte. Er wollte einer von ihnen sein, Antonio Machado der Gute, wie ihn alle nannten, die ihn gekannt haben, die seinen Lehren und Ratschlägen gefolgt sind, alle, die Verfolgung, Elend und Ungerechtigkeit erlitten haben und erleiden.
So war Juan de Mairena bis zu seinem Tod, während gleichzeitig sein anderes Ich, der Dichter Machado, mit zerfetzter Seele aufschreit angesichts des abscheulichen Verbrechens, das innerer Verrat mit fremder Hilfe an seinem Volk begangen hat: Er singt den Schrecken des Todes, wenn er sagt, dass er »nicht schläft, um nicht zu träumen«, er krampft sich zusammen angesichts des Mordes an Federico García Lorca, der »in Granada, seinem Granada« geschah, oder des »Todes des verletzten Kindes«, wo [in dem Gedicht] ein »unsichtbares Flugzeug wie eine Fliege brummt« durch die »kalte, kalte, kalte« Nacht. Er reagiert darauf, indem er den unbezähmbaren Mut und die »starke Faust« der Verteidiger der Freiheit besingt, die in einem Milizionär personifiziert sind, zu welchem er sagt: »Wenn meine Feder den Wert deiner Kapitänspistole hätte, würde ich zufrieden sterben«; er meißelt – mehr, denn dass er schriebe – mit Feuerworten die unsterblichen Verse zur Verteidigung des unbesiegbaren und unbesiegten Madrid:
»Madrid, Madrid, wie gut dein Name klingt,
Wellenbrecher aller Spanien!
Die Erde spaltet sich, vom Himmel donnert’s,
und du lachst mit Blei in deinen Eingeweiden!«
Es waren Soldaten eines Kavallerieschwadrons der [Republikanischen] Volksarmee, die seine sterblichen Überreste, bedeckt mit einer Flagge unserer Republik, hinwegtrugen. Eine Flagge wie diese, die des 130. Bataillons, 33. Brigade, 3. Division, die heute deine Grabstätte bedeckt, befleckt vom Blut der tapferen Soldaten, der Söhne deines Vokes, die sie bis zum letzten Augenblick verteidigt haben. Er schläft nun in dieser gastlichen Erde von Collioure, nahe dem Meer, das seine Gedichte anriefen als Symbol der Freiheit.
Ich würde sagen, er schläft und hofft. Sein Denken lebt in uns, seine Dichtung ist wie ein Wein der Unsterblichkeit. Seine Stimme reicht weit – um das Volk zu wecken, das er so sehr liebte und das verräterische Brüder mit Gewalt in einen todesähnlichen Schlummer versetzt haben. Aber das Wunder wird kommen, und das erhoffte Erwachen wird wie eures sein, vertriebene Brüder, die ihr die größte Schande und Demütigung, der man euch unterwerfen wollte, überwunden habt. Ihr habt den Tod besiegt durch euren Glauben an das Leben. Machado konnte zu Lebzeiten keine größere und tiefere Würdigung als die eure erwarten. Gewiss hätte sich der große Machado, hätte sich Don Antonio der Gute, vor euch verneigt – vor euch, die ihr lebendes Zeugnis ablegt für die unterdrückte Menschheit, für alle, die gelitten haben und leiden in einer Welt, die keine Gerechtigkeit erlangt und keine erlangen wird, wenn man nicht den Blut- und Tränenzoll dafür zahlt.
Das Vermächtnis von Machado ist das seines Lehrers:
»Derjenige nimmt, der gegeben hat, derjenige lebt, der gelebt
hat.«
Güte, Arbeit und Hoffnung.
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Erläuterungen
Die Rede wurde gehalten (und in diesem Zusammenhang auch das erste Mal gedruckt) auf dem 4. Kongress der FEDIP anlässlich des 25. Jahrestages der Befreiung aus den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten vom 1. bis 3. Mai 1970.
Maragall – Joan Maragall i Gorina, geb. 10.10.1860 (Barcelona), gest. 20.12. 1911 (Barcelona), katal. Dichter, 1894 bis 1903 Mitarbeit in der Redaktion des ›Diario de Barcelona‹, Werke u.a. Visions i cants, 1900, El comte Arnau, 3 Teile, 1900ff., Nausica, 1910; frühe Beschäftigung mit Goethe, der dt. Romantik, Nietzsche, übers. u.a. die Römischen Elegien.– Das ›Geistliche Lied‹ (Cant Espiritual), zwischen 1902 und 1910 entstanden, gehört zu den bekanntesten Werken Maragalls, zentral darin die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele (Reminiszenz an Goethes Faust I).
Juan de Mairena – von Machado erfundener Rhetorik- und Poetik-Lehrer, Schüler von Abel Martín (gleichfalls erfunden).– Antonio Machado: Juan de Mairena, Sentenzen, Späße, Aufzeichnungen und Erinnerungen eines apokryphen Lehrers, Berlin/Frankfurt am Main o.J. (Bibliothek Suhrkamp 36).
Frank Higasi-Piegeler