Burckhard Dücker
Nicht mehr und noch nicht. Handlungstyp Warten:
Zur Anthropologie der Übergangsphase


Erfahrungen mit Situationen des Wartens gehören zur Alltagsnormalität jedes Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht und gesellschaftlicher Stellung. Warten gilt häufig nicht als Bereicherung des Erfahrungsschatzes, weil es keine neuen Erfahrungen zu vermitteln scheint, sondern nur von der Erledigung der eigentlichen Aufgabe abhält. Wer warten muss, möchte entweder seine Zeit anders verbringen oder schon an einem anderen Ort sein. Warten gehört daher zu den Situationen, die man eher zu vermeiden sucht.

Allerdings gibt es Personengruppen, die aufgrund ihrer Stellung und Geltung im öffentlichen Leben von den alltäglichen sozialen Situationen des Wartens nicht in gleichem Maße betroffen sind, sei es, dass sie Situationen wie z.B. den stundenlangen Autobahnstau dadurch umgehen können, dass sie andere Verkehrsmittel benutzen, sei es, dass auf sie gewartet wird bzw. dass sie andere warten lassen.

Bei den üblichen Wartesituationen handelt es sich um mehr oder weniger lange zeitliche Segmente, die bei der Ausführung alltäglicher Handlungsabläufe und –typen immer wieder auftreten. Daher können sie in gewissem Umfang für den Planungs- und Organisationsrahmen solcher Handlungszusammenhänge durch Einfügung von Zeitpuffern aufgefangen und als Destabilisierungsfaktoren zumindest tendenziell ausgeschlossen werden.

Von diesen in den Alltagsablauf integrierten Wartesituationen ist ein eigenständiger Handlungstyp ›Warten‹ zu unterscheiden, dem im Handlungsspektrum einer soziokulturellen Ordnung eine eigene Funktionsstelle eingeräumt ist. Dieses Warten ist nicht Teil eines anderen Handlungstyps, sondern auf ein Ziel gerichtet, das nur durch die Wartehandlung erreicht werden kann. Wenn Emile Zola seinen berühmten offenen Brief »J’accuse« (13.01.1898) mit der Aufforderung zur Revision der Dreyfus-Affäre mit der Schlussformel »J’attends« beendet, dann deutet er damit seinen Aufruf als Absage an die bisherige Form der öffentlichen und juristischen Behandlung des Falles und zugleich als Vorgabe eines Zielzustands, der als Wiederaufnahme des Verfahrens unter Berücksichtigung sämtlicher Beweismittel definiert ist. Die Handlung ›J’attends‹ verbindet die Dekonstruktion einer gegebenen mit der Konstruktion einer neuen Situation zum Rahmen einer Übergangsphase, in die die einzelnen Sequenzen des entworfenen Handlungsprozesses eingebettet werden sollen. Wenn Zola als Akteur, der die gültige Situation – mit Victor W. Turners Strukturformel der Übergangsphase – nicht mehr akzeptieren und der entworfenen Situation ihre künftige Gültigkeit noch nicht bestätigen kann, die Wartehandlung vollzieht, deren Ausführung von anderen übernommen werden soll, zeigt sich an diesem Beispiel auch der interaktive Charakter einer Wartehandlung. Aus deren Praxis ergibt sich gleichsam natürlich ein dreiphasiges Gliederungsschema, das die Segmente Aufkündigung (Delegitimation) eines gültigen Zustands, Übergangsphase zum entworfenen Zielzustand, Anerkennung (Legitimation) des hergestellten Zielzustands umfasst.

Demnach ist von bestimmten sozialen Bedingungen auszugehen, die gegeben sein müssen, damit oder wenn die Handlungsanforderungen einer sozialen Situation einem Akteur den Handlungstyp Warten aus handlungsökonomischen Gründen nahelegen. Dass Warten offenbar zu den konstitutiven Gegebenheiten menschlichen Lebens zählt, zeigt sich auch am Beispiel zahlreicher literarischer Texte, die diesem Thema als zentralem Gegenstand gewidmet sind: Z.B. Johann Peter Hebel Das Bergwerk zu Falun, Franz Kafka Vor dem Gesetz, Joseph Roth Wartesaal IV. Klasse, Samuel Beckett Warten auf Godot, Friedrich Dürrenmatt Der Besuch der alten Dame. Im Märchen wird auf die Ankunft der ›richtigen‹ Person gewartet, weil allein diese einen Zauber lösen oder eine Bedrohung aufheben kann. Texte des Neuen Testaments zeigen die religiöse Dimension der komplexen Wartehandlung. So erzählt das Gleichnis von den zehn Brautjungfern (Mt. 25,1-13) davon, dass sich nur die Hälfte angemessen vorbereitet, um auf die zeitlich nicht festgelegte Ankunft des Bräutigams zu warten, d.h. diesen erkennen und jederzeit empfangen zu können. Die Ankunft des »Menschensohns« (Mt. 24,32-44) muss stets wachsam erwartet werden. Allerdings wartet der Begriff des Wartens selbst noch auf angemessene Berücksichtigung in wissenschaftlichen Lexika und Handbüchern.

Gilt das Warten auf das Eintreffen einer Verheißung als Fundament der Identität einer gesellschaftlichen oder religiösen Formation, so ist geradezu von einer »Kultur des Wartens« (Heinz Schilling) zu sprechen, wie sie für die jüdische Religion vorliegt. Sind für diese doch gerade Wartehandlungen wie das 40jährige Warten auf den Einzug ins gelobte Land (4 Mose 14,26-38) oder das Warten auf das Erscheinen des Messias konstitutiv. Weil die von der Wartehandlung geformte Übergangsphase Erinnerung und Entwurf, Vergangenheit und Zukunft verbindet, können die Kultur des Wartens und die Kultur der Erinnerung als zwei Seiten einer Sache erscheinen. Demnach schöpft die Gegenwart ihre Bedeutung aus ihrer Funktion für die Erhaltung der Kontinuität der Einheit von Warten und Erinnern.

Im folgenden geht es zunächst um das Phänomen des alltäglichen Wartens, daran schließt sich die Explikation des Handlungstyps ›Warten‹ an; Folgerungen daraus werden in den Anmerkungen zur Anthropologie der Übergangsphase gezogen.

Zur Alltäglichkeit des Wartens

Autofahrer warten vor Ampeln, Baustellen oder im Stau, Passagiere an Haltestellen, auf Bahnhöfen und Flugplätzen, Kunden und Kunstinteressierte bilden Warteschlangen vor Kassen, Schaltern, Museumseingängen, auf Fluren von Behörden, Patienten warten auf den Aufruf zur Untersuchung oder Behandlung, Eltern auf die Geburt ihres Kindes, Angler auf den Biss eines Fisches, Häftlinge auf ihre Entlassung aus der Haftanstalt, Asylbewerber auf Anerkennung und Bleiberecht, manche Menschen warten auf den Tod als Erlösung von Leid und Perspektivlosigkeit. Gewartet wird auf besseres Wetter, auf Regen oder das Ende einer ergiebigen Niederschlagsperiode, auf Wahlergebnisse, Prüfungsbescheide, Telefonanrufe, den Briefträger, den Ferienbeginn, den Auftritt des Stars, Heiratsanträge, die Ziehung der Lottozahlen, insgesamt auf Ereignisse, von denen man entweder die sinngenerierende Qualität eines Anfangs oder eines Endes erhofft, die aber in jedem Fall die Kontinuität einer anerkannten Ordnung gewährleisten sollen. Alltägliches Warten gilt den Betroffenen in der Regel als zwar unvermeidbare, aber dennoch nicht notwendige Phase, um ein bestimmtes Handlungsziel zu erreichen. Je nach Dauer kann Warten aber auch Stress, mitunter sogar Aggressionen auslösen; so soll der Einsatz von Stauberatern auf den Autobahnen und von Psychologen in Fußballstadien vor Spielbeginn physische und psychische Anforderungen dieser Wartesituationen senken.

Die Wartezeit muss irgendwie ausgefüllt werden, warten heißt »nicht Nichtstun« (Heinz Schilling), sondern anderes tun als geplant, es handelt sich um Handlungsprozesse, die den Alltag nicht unterbrechen, sondern ihn dehnen, indem sie die Ausführung und den Abschluss der beabsichtigten Handlung verzögern. Je mehr Menschen auf ein Objekt, eine Person, eine Aufführung warten, je mehr Aufmerksamkeit sie dem Warteobjekt schenken, desto wertvoller wird es, was dem Gesetz von Angebot und Nachfrage entspricht. Warten gehört demnach zu den sozialen Handlungsformen, die – mit Pierre Bourdieu– symbolisches (Anerkennung, Image, Reputation, Geltung) und damit auch ökonomisches Kapital produzieren können.

Eine Reihe von Sprichwörtlichen Redensarten (Lutz Röhrich) bestätigt Warten als Gestaltungsfaktor elementarer Sozialbeziehungen. Röhrich erwähnt in seinem Lexikon z.B. ›Auf dich haben wir gerade (noch) gewartet / Der kann warten, bis er schwarz wird / Warte nur! Na warte! Warte, dir werde ich helfen!‹ Stereotypisiert ist die Herrschaftsperspektive des Wartenlassens, für die die Position des Wartenden mit den Attributen Passivität, Quietismus, Aussichtslosigkeit, Vergeblichkeit ausgestattet ist. So beziehen sich die Redensarten auf Handlungen des Drohens, der Ausgrenzung und der Verhinderung von Chancen, sie markieren Distinktionen zwischen Oben und Unten, dem Eigenen und dem Fremden, Inklusion und Exklusion. Auch die bei Röhrich nicht verzeichneten Redensarten ›Jemand muss das Warten noch lernen, Jemand hat das Warten noch nicht gelernt / Was erwartest du eigentlich? Worauf wartest du noch?‹ bestätigen diesen Befund, weil sie von der Auseinandersetzung mit Inhalten, Argumenten und Ansprüchen entbinden und die Reaktion auf eine Person beziehen, indem sie deren grundsätzliche Zurückweisung bzw. Ablehnung und Ausschluss vollziehen.

Auch die vor allem in familiären Kontexten anzutreffenden Wendungen ›Warte, bis du so alt bist wie ich, dann wirst du XYZ auch anders sehen‹, nämlich in der Perspektive des Sprechers, ›Warte, bis du groß bist, dann darfst du XYZ auch‹ oder ›Lehrjahre sind keine Herrenjahre‹ bestätigen die hierarchische Tendenz. Wenn in der Geschichte vom Daumenlutscher im Struwwelpeter die Mutter sich von Konrad mit der Mahnung verabschiedet, nicht am Daumen zu lutschen, definiert sie für das Kind die Übergangs- als Prüfungsphase, in der sie nicht selbst die Einhaltung ihres Verbots kontrollieren kann.

Wer entwicklungsbiologische und psychische Gegebenheiten diagnostizieren kann, wo es um soziale Konflikte geht, der benutzt die als Wartehandlung gerahmte Übergangsphase, um ein soziales Machtgefälle zu stabilisieren. Damit wird bei diesem Akteur eine latente Disposition sichtbar, anderen Möglichkeiten und Rechte vorzuenthalten.

Warten umfasst auch den Bereich der Pausen und Geschwindigkeiten sozialer Prozesse. ›Wer rastet, der rostet‹, ›eile mit Weile‹, aber auch der historische Werbeslogan ›Mach‘ mal Pause. Trink Coca Cola‹ bezeichnen unterschiedliche Wertungen, Interessenperspektiven und daraus folgende Handlungsprioritäten. Eine Vermittlungsposition markiert der Deutungsbegriff der ›produktiven Muße‹.

Dass Warten zu den gewöhnlichen und konstitutiven Handlungs- und Erfahrungsformen des sozialen Lebens gehört, bestätigen neben den angeführten Beispielen auch Interviews, die eine von Heinz Schilling betreute Arbeitsgruppe auf öffentlichen Plätzen geführt hat und deren Ergebnisse in dem Band Welche Farbe hat die Zeit? Recherchen zu einer Anthropologie des Wartens (2002) vorgelegt worden sind. Alle Befragten verfügen über einen reichen Erfahrungsschatz in Bezug auf die Bewältigung alltäglicher Wartesituationen, d. h. die Frage nach dem Warten evoziert zumeist Situationen des Wartenmüssens. Auch die Unterbrechungen von Fernsehfilmen zur Einspielung von Werbesequenzen werden in der Frankfurter Rundschau als »Zeitdiebe« (FR 27.03.2003) verbucht. Obwohl das Warten im Stau oder auf Ämtern eher als Sachzwang – keine personale oder institutionelle Agency (Handlungsmacht)– denn als fremdbestimmt bewertet wird, gilt es den Wartenden als »verlorene Zeit«, als »tote Zeit« (FR 27.03.2003), weil es von selbst gewählten Zielen entfernt, Zeitsouveränität nicht zulässt. Nicht selten jedoch nehmen die Betroffenen eine Umdeutung bzw. einen Rahmenwechsel für diese Situationen vor, indem sie sie z. B. durch Lektüre, Gespräche, Nachdenken, Beobachten der Umgebung in Situationen der geschenkten Zeit mit sinnvoller, mitunter auch neuer Erfahrung umwandeln. Dass hier dennoch zeitpolitischer Handlungsbedarf gesehen wird, bestätigen Meldungen von umfangreichen Investitionen in Straßenbau und Maßnahmen der Umstrukturierung von Dienstleistungsangeboten der öffentlichen Verwaltung, die mit der Reduktion von Wartezeit (Bürgerbüro ohne Warteschlangen, FR 05.03.2004) begründet werden.

Immer wieder erhalten spektakuläre Formen des alltäglichen Wartens massenmediale Aufmerksamkeit; so erscheint unter dem Titel Die Wartenden eine Glosse (FR 18.04.2002) über Gepäckträger, die auf Bahnsteigen meist vergeblich auf Reisende warten, die ihre Dienste in Anspruch nehmen, die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) widmet ihre Weihnachtsbeilage 2003 dem Thema Warten mit Beiträgen aus den Bereichen Literatur, Kunst, Philosophie, Religion, die Süddeutsche Zeitung (29.05.2004) veröffentlicht unter dem Titel Das lange Warten auf ein Ja einen Bericht über administrative Probleme der Eheschließung zwischen deutschen und ausländischen Partnern. Mehrere Berichte und Kommentare beziehen sich auf die tägliche Warteschlange vor der Berliner Nationalgalerie aus Anlass der Ausstellung des New Yorker Museum of Modern Art (MoMa). Unter der Überschrift Warten ist okay (FR 05.03.2004) heißt es: »Wer hier steht, weiß, was er für sein Geld bekommt und ist dafür bereit, das Warten zu erledigen, nichts sonst.« Eine Glosse mit dem Titel Die Kunst des Wartens spricht davon, dass schon 300 000 »zum Warten da [waren], mehr als 700 000 werden erwartet« (Rhein Neckar Zeitung 30.04.2004).

Dieses Warten vor den Kassen von Supermärkten, Kinos, Museen usw. wird in der Regel akzeptiert, weil es dem selbst gesetzten Ziel näher bringt. Auch jemand, der sich zum Angeln an ein Gewässer begibt, weiß, dass er sich auf eine mehr oder weniger lange Wartezeit einzustellen hat: Warten ist in diesen Fällen integraler Bestandteil einer alltäglichen, selbst bestimmten Handlung.

Dagegen gelten die Möglichkeiten, andere warten lassen zu können bzw. selbst warten zu müssen, geradezu als Merkmale sozialer Über- bzw. Unterlegenheit. Über die sozialpolitische Dimension des Wartens schreibt Max Horkheimer (1934): »Im genauen Verhältnis zur sozialen Hierarchie steht das Wartenmüssen. Je weiter oben einer ist, um so weniger muss er warten. Der Arme wartet vor dem Fabrikbüro, auf dem Amt, beim Arzt, auf dem Bahnsteig. Er fährt auch mit dem langsameren Zug. Eine Verschärfung des Wartens ist es, wenn man dabei stehen muss; die letzte Wagenklasse in den Zügen ist gewöhnlich überfüllt, und viele stehen darin. Arbeitslose warten den ganzen Tag. Der Umstand, dass jede Minute, die ein Generaldirektor beim Bankier warten muss, ein schlechtes Zeugnis für seine Kreditfähigkeit ist, wird vielfach erörtert; dieses Wissen gehört zur Philosophie des kapitalistischen Geschäftsmannes. Das Warten, das in allen Epochen Lebensmerkmal der beherrschten Klasse war, wird in der bürgerlichen Gesellschaft weniger erörtert; dieses Wissen gehört nicht zum Geschäft der kapitalistischen Philosophie.« Es gibt unterschiedliche, hierarchisch skalierte Modi und Ausstattungsformen sozialen Wartens, die als Indikatoren der sozialen Position und Geltung der Wartenden dienen. So wie die Wartehandlung den Wert des Warteobjekts steigern kann, wird das Wartenlassen –bzw. –müssen zur Demonstration bzw. Erfahrung relativer sozialer Machtlosigkeit und kann geradezu als Disziplinierungsmittel eingesetzt werden. Dies gilt allerdings nur so lange, wie für die Wartenden eine reale Chance besteht, das Objekt ihrer Wartehandlung auch zu erreichen. Erscheint der Erfolg des Wartens grundsätzlich in Frage gestellt, dann besteht die Möglichkeit, dassWartende den Warteprozess dazu nutzen, die Situation neu zu rahmen und statt die Verzögerung hinzunehmen, versuchen werden, durch gezielte Aktionen einen eigenen Entwurf durchzusetzen.

Dass Warten offenbar eine genderspezifische Komponente hat, bestätigt Käthe Vordtriede (1999) in der Beschreibung ihrer Einreise in die USA nach ihrer Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland: »Untätig, in erzwungener Arbeitslosigkeit, im Transitland auf die endliche Einreise in den New Yorker Hafen wartend, erreichte mich der Aufruf zum [literarisch-jounalistischen, B.D.] Preisausschreiben. [...] Die Aufgabe bedeutet für mich in der ungesunden, unnatürlichen Atmosphäre der vorläufigen, nicht endgültigen Emigration eine Erlösung. Im Schreiben empfand ich das Warten auf die amerikanische Freiheit nicht mehr so erdrückend. Als weibliches Wesen sollte ich das Warten gelernt haben. Jede Frau und Mutter hat Übung darin.« Vordtriede spielt auf die traditionelle Rolle der Frau als Hausfrau und Mutter an, die während der Schwangerschaft auf die Geburt wartet, dann den mit zahlreichen Wartephasen verbundenen Prozess des Heranwachsens der Kinder begleitet und grundsätzlich auf den Mann wartet, d. h. konkret, sich seinen berufs- und karrierebezogenen Bedürfnissen unterordnet. So zitiert Dorothea Schuler in ihrer Rezension (FR 04.03.2002) der Biographie von Patricia Clough über Hannelore Kohl, die Ehefrau des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl, diese mit den Worten: »Man muss vor allem warten können. Nach vier, fünf Stunden echten Wartens kann man nur noch von einem Hund verlangen, dass er sich immer noch freut. Ich hab von unserem Hund gelernt.«

Unpünktlichkeit gilt darüber hinaus auch als Zeichen mangelnder Höflichkeit, vor allem wenn es um den ersten Besuch geht. So lässt Theodor Fontane in seinem Roman Der Stechlin Adelheid von Stechlin ihrem Bruder Dubslav gegenüber die Verspätung der Schwestern Barby mit folgenden Worten kommentieren: »Ich finde das lange Wartenlassen nicht gerade passend, am wenigsten Personen gegenüber, denen man Respekt bezeigen will. Oder geh ich vielleicht zu weit, wenn ich hier von Respektbezeigung spreche? So hatte sich Adelheid zu Dubslav geäußert. Als nun aber die Barbyschen Damen wirklich erschienen, bezwang sich die Domina und stellte all die Fragen, die man an solchem Begrüßungsmorgen zu stellen pflegt.«

Es gibt Räume, die institutionell zur Ausführung des alltäglichen Wartens definiert sind wie Wartezimmer, -säle und –zonen. Häufig sind diese Wartebereiche mit Aktivitätsangeboten wie Zeitschriften, Informationstafeln oder audiovisuellen Medien ausgestattet. Flugzeuge drehen vor der Landung mitunter Warteschleifen. Analog zu den Funktionsräumen des Wartens gibt es Zeitphasen, die traditionell als Zeiten kollektiven Wartens kulturell definiert sind wie Advent, Heiliger Abend, Silvester oder die Zeit der Schwangerschaft. Grundsätzlich aber ist Warten weder an einen bestimmten Raum, noch eine bestimmte Zeit und auch nicht an eine spezielle Klasse von Objekten, auf die gewartet wird, gebunden; vielmehr kann sowohl das alltägliche Warten als auch der Handlungstyp ›Warten‹ zu jeder Zeit an jedem Ort ausgeführt werden und sich auf beliebige Objekte, Zustände bzw. Ereignisse und Personen beziehen. Allerdings transformiert die Wartehandlung diese Beliebigkeit dadurch in Bestimmtheit, dass sie sich auf einen speziellen Gegenstand oder Zustand bezieht, d. h. der Warteprozess vollzieht sich als Individualisierung seines Objekts. Ein konkreter Objektbezug gehört auch zum Erwarten, wobei häufig von einer relativen Erwartungssicherheit hinsichtlich des Erfolgs ausgegangen wird. So spricht Michael Stolleis (FAZ 30.12.2003) von »Verhaltenserwartungen« an das Recht hinsichtlich des Schutzes der privaten Sicherheit, die durch Erfahrungen mit dem Recht »stabilisiert« werden; Reiseberichte arbeiten nicht selten die in bezug auf das Reiseland mitgebrachte »Erfahrungserwartung« ab, wie ich in meinem Beitrag Zur Ritualität von Reisen in die Sowjetunion und nach Russland (Tourismus Journal 2000) zeigen konnte.

Warten und Erwarten stiften Sinn; die Akteure formulieren Ziele und wissen, dass es weitergeht; wird auf jemand gewartet, drückt dies aus, dass der andere geschätzt und gebraucht wird, wird von jemand nichts mehr erwartet, spielt er keine Rolle im sozialen Handlungszusammenhang mehr, ist er gleichsam nicht mehr vorhanden.

Zugleich bedeutet dies, dass Warten stets ein gerichteter Prozess ist; auch ein scheinbar nicht ziel- oder objektgerichtetes bloßes Verwarten oder ›Totschlagen‹ der Zeit, wie der Flaneur Franz Hessel (1929) es bei seinen Gängen durch Berlin Frauen und Mädchen als Abendbeschäftigung zuschreibt, ist ein gerichteter Handlungsprozess. »Wenn es dämmert, lehnen alte und junge Frauen auf Kissen gestützt in den Fenstern. Mir geschieht mit ihnen, was die Psychologen mit Worten wie Einfühlung erledigen. Aber sie werden mir nicht erlauben, neben und mit ihnen zu warten auf das, was nicht kommt, nur zu warten ohne Objekt.« Warten rahmt die Disposition zur Wahrnehmung des Neuen, dessen Struktur die Frauen längst entworfen bzw. erfunden und konventionalisiert haben, so dass sie nicht nur wissen, worauf sie warten, sondern auch, dass sie dieses Neue erkennen können; weil diese Erfahrung eines Erfolgserlebnisses auch unterhaltsam ist und kommunikatives Handeln auslösen kann, wird sie regelmäßig wiederholt. Die Frauen warten darauf, etwas wahrzunehmen, das sie den Substitutkategorien des Neuen, wie etwa dem Überraschenden, Außergewöhnlichen, Ereignishaften zuschreiben und so als übereinstimmend mit ihrem Entwurf des Neuen wiedererkennen können, was dessen memoriales Fundament wie auch das von wahrnehmen und wiedererkennen zeigt. Das Neue markiert die graduelle Abweichung einer Situation von der entworfenen oder bekannten Struktur, was auch deren Komplettierung und Anerkennung als generatives Prinzip bedeutet. So kann regelmäßiges Warten auf Neues auch als eine Form von Sammeln erscheinen, das wiederholt werden muss, weil jede Sammlung prinzipiell unabgeschlossen ist.

Hessel diagnostiziert Warten aufgrund der Beobachtung des körperlichen Ausdrucks- und Bewegungsspektrums; weitere körpergebundene Merkmale, in denen sich eine Wartehandlung visualisieren kann, sind neben dem Schlangestehen, dem Umherschlendern zwischen auf der Autobahn haltenden Fahrzeugen, das Stehen oder Umhergehen auf einem Platz mit häufigem Blick auf die Uhr.

Allgemein kann erfolgreiches Warten als Produkt aus dem Entwurf oder Wissen dessen, worauf man wartet, sowie aus der Fähigkeit der Wahrnehmung und des Wiedererkennens beschrieben werden. Wenn es zutrifft, dass zu Werten und Begriffen ein Schatz konkreter Erfahrungen gehört, dann verfügen sie über ein narratives bzw. szenisches Potential, das in einer entsprechenden Handlung aktiviert werden kann. Am Beispiel von Auszeichnungsritualen kommt Ludgera Vogt in ihrer soziologischen Studie Zur Logik der Ehre (1997) zu folgendem Befund: »Die ›dramaturgische Qualität‹ von Ehrungen ermöglicht es, Werte und Werthaltungen aus der Sphäre der Abstraktion in die konkrete sinnliche Anschaulichkeit von sozialem Geschehen zu überführen.« Ähnlich bietet der Prozess des Wartens als gemeinschaftsbildende Handlung die Möglichkeit, den Wert des Neuen in der Form eines Ereignisses und dessen Erzählung der Erfahrung der Frauen zugänglich zu machen. Wenn diese regelmäßig gemeinsam warten, also eine Wartegemeinschaft bilden, so ist ihre Wartehandlung auf eine kommunikative Interaktion angelegt, was sich auch darin zeigt, dass sich Hessel als Mitwartender nicht akzeptiert glaubt, weil er zugleich ein von außen kommender und nach außen orientierter Beobachter ist. Dieser Prozess des Wartens auf Neues, dessen Möglichkeit man selbst konstruiert hat, erlaubt die Selbstpräsentation als Autor, der als Augenzeuge in die Erzählung eingehen kann. Selbst wenn nichts Neues wahrgenommen wird, lässt auch dieser Befund eine Erzählung über die Abwesenheit des Neuen und die Erinnerung an frühere Erfahrungssituationen zu. Ebenso muss das Warten nicht vergeblich gewesen sein, wenn jemand, auf den gewartet wird, nicht erscheint, da der Wartende nun etwas darüber erfahren hat, wie der andere die Beziehung einschätzt.

Damit scheint die Struktur des Wartens mit der von Suchen und Finden vergleichbar zu sein, wie Manfred Sommer sie in seinem gleichnamigen Buch (2002) beschreibt. Als Bedingungen des Suchens gibt Sommer an, dass der Suchende weiß, was er finden will, dass er sehen und erkennen kann und dass er finden will. Hinzu kommt, dass Suchen nur möglich ist, »wenn etwas Unsichtbares existiert, das sichtbar gemacht werden kann.« Demnach kann Warten als temporales Äquivalent zum räumlichen Suchen gelten.

Handlungstyp Warten

Sind die bisher vorgestellten alltäglichen Wartesituationen in anders gerahmte Handlungen integriert, so geht es nun um den eigenständigen Handlungstyp Warten. Allerdings weist das Beispiel der Wartegemeinschaft der Frauen schon auf den Handlungstyp Warten hin. Doch was ist gemeint, wenn vom Handlungstyp Warten oder davon gesprochen wird, dass Warten als Rahmen eines besonderen Handlungstyps fungiert?

Die von Erving Goffman in seiner Studie Rahmen-Analyse (1993) definierten Begriffe Rahmen und Rahmung (engl. frame, framing) lenken die Deutung oder Interpretation einer einzelnen Handlung bzw. eines aus mehreren Einzelhandlungen zusammengesetzten Handlungszusammenhangs. Bei der Untersuchung von Rahmen geht es um die »Analyse der Organisation der Erfahrung.« Goffman unterscheidet im Bereich der primären Rahmen »natürliche« und »soziale Rahmen«. Jene beziehen sich auf nicht intentionale Geschehnisse wie z.B. Naturereignisse, diese gelten für intentionale Handlungen, die ein Subjekt haben und sozialen Regeln unterworfen sind. Bei den Rahmenbegriffen handelt es sich um definierte Begriffe, die wiederum ein Ereignis oder eine Handlung konstituieren, d.h. begrenzen, indem sie deren Beginn und Abschluss markieren. Insofern begrifflich erfasste Handlungen soziale Konstruktionen sind, bedeutet dies für die als Naturereignisse gerahmten Geschehnisse, dass auch sie einem Begriff unterliegen, der sozial konstruiert ist.

Warten gehört zu den Verben, die performativ bzw. illokutionär gebraucht werden können, d.h. jemand vollzieht eine Handlung, indem oder dadurch, dass er etwas sagt. Das Aussprechen einer Handlung hat die Funktion ihrer Ausführung. So nimmt derjenige, der in einem bestimmten Kontext von sich sagt, ›ich warte auf...‹ oder ›ich warte darauf, dass...‹ oder einfach ›ich warte‹ eine Deutung dieses Kontexts als für sich nicht mehr gültig, verbindlich oder angemessen vor. Der Wartende erkennt den aktuellen Zustand seiner Situation nicht mehr an, er nimmt ein Verhältnis der Nichtidentität zwischen sich und seiner Situation wahr, was immer schon den selbstkonstruktiven Entwurf einer veränderten Situation impliziert, die zumindest tendenziell und approximativ die vermisste Identität herstellen soll. Ein Zustand, der noch keinen sozialen Ort hat, der noch unsichtbar ist, soll in der Zukunft sichtbar werden. So besteht Distanz zur gegebenen Situation, weil diese von einem Einzel- oder Kollektivsubjekt als defizitär wahrgenommen wird, was eine Erfahrung von Mangel und Unlust auslöst, die in der Wartehandlung als Gegenentwurf aufgehoben ist. Weil Warten Sinn stiftet, vermag es auch den Weg zur Umkehr aus sozialer Inferiorität zu eröffnen, indem es einen selbstkonstruktiven Prozess als Reaktion auf das Wartenmüssen rahmt.

Die performative programmatische Handlung Warten vollzieht die Dekonstruktion eines Zustands, indem sie einen anderen entwirft, der im Handlungsprozess Warten soziale Geltung erhalten soll. Warten überschreitet damit eine gegebene Situation, es umfasst intellektuelle und pragmatische Operationen, um eine Situation als identisch mit dem eigenen Selbstentwurf wahrnehmen zu können. Die Wartenden haben sich tendenziell von ihrer Gegenwart gelöst, sie sind unterwegs zur Wahrnehmung und Wiedererkennung ihres Entwurfs oder ihrer Vision; weil sie nicht mehr hier und noch nicht dort sind, befinden sie sich in einer Phase, die in ritualtheoretischen Modellen im Anschluss an Arnold van Genneps Studie Les rites de passage (1909) als Übergangs-, Zwischen-, Schwellen-, Liminalitätsphase bezeichnet wird. Nach van Genneps Dreiphasenschema für rituelles Handeln, das er am Beispiel der Übergangsrituale entwickelt hat, wird die Übergangsphase zwischen der Trennung von einer Normalitäts- oder Alltagsphase und der (Wieder-)Angliederung an eine solche verortet, wobei es sich auch um den Entwurf des Herstellungsprozesses einer neuen Alltagsphase handeln kann. Mit der Arbeit an der Überwindung der Nichtidentität zeigt sich, sobald die neue Normalität als Einlösung des Entwurfs interpretiert oder wiedererkannt werden kann, für den Handlungstyp Warten und die von ihm generierte Übergangsphase die memoriale Dimension als konstitutiv.

Kann der Wartende in der nicht mehr anerkannten Situation oder Ordnung sein Ziel nicht erreichen, versucht er, sich in eine andere zeitpolitische Konzeption, häufig auch in eine andere soziokulturelle Ordnung zu integrieren. Dies weist auf einen temporal definierten Begriff von Heimat hin. Zu fragen ist nicht, wo habe ich meine Heimat, sondern wann habe ich meine Heimat. In diesem Sinne ist von Heimat zu sprechen, wenn jemand im Rahmen und unter Anerkennung der allgemeinen Gesetze mit gleichen Rechten und Pflichten wie alle anderen seinen Lebensentwurf verwirklichen kann. So haben sich Emigranten und Asylbewerber von ihrem Herkunftsland losgesagt, weil dort aus unterschiedlichen Gründen für sie keine Zeit mehr war, und warten darauf, in einem anderen Land, von dessen Zeitordnung sie die Verwirklichung ihres Lebensentwurfs erwarten, Bleiberecht und Anerkennung als Bürger zu erhalten. Sie befinden sich als Wartende in einer Übergangsphase, weil sie nicht mehr dort und noch nicht hier sind. Ihr transitorischer Status wird häufig durch mobilitätsaffine Wohnformen an der Peripherie großer Städte in der Nähe von Flughäfen oder Häfen (s.o. Vordtriede) sowie durch spezielle Regelungen ihrer Teilnahme und Teilhabe an den zeitpolitischen Möglichkeiten des Aufnahmelands hervorgehoben. Ziel ihres Wartens ist die Statusveränderung vom Asylbewerber zum Bürger.

In Joseph Roths Betrachtung Wartesaal IV. Klasse (1920) warten nicht mehr Reisende auf ihre Abfahrt, sondern »Menschen, die von Beruf heimatlos sind«, finden hier zeitlich befristete Heimat. Obdachlose haben sich von ihrer Herkunft getrennt, können aber noch nicht ankommen, weil ihrer Lebensreise die Perspektive fehlt. So bleiben sie gebunden an die Übergangszeit des Wartesaals.

Der Handlungstyp Warten zählt zu den elementaren Formen des sozialen Lebens, weil er den Bereich der Visionen und des Imaginaire betrifft, weil er die Entgrenzung der Gegenwart auf einen definierten künftigen Zustand hin vollzieht, das Sosein bzw. den Ist-Zustand in einen Soll-Zustand zu überführen versucht. Führt jemand die performative Handlung Warten aus, ist er ein anderer, als er es zuvor gewesen ist. Er hat sich von Gewohntem frei gemacht, um frei für die Wahrnehmung des selbst entworfenen Neuen zu sein. Die Dialektik von Entfernung und Annäherung, von Dekonstruktion und Konstruktion generiert wegen ihrer Prozessualität eine Übergangsphase; wenn es in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre heißt, »die Schwelle ist der Platz der Erwartung«, so hat diese Erwartung schon Richtung und Ziel, ihre Einlösung bleibt aber ungewiss.

Eine als Warten gerahmte Übergangsphase ist keine Auszeit, auch nicht notwendig an Freizeit oder Langsamkeit gebunden, sondern durchaus vereinbar mit der Ausführung anderer Handlungen, dominiert diese aber, weil sie den Selbstbezug des Wartenden markiert. So beschreibt die Schriftstellerin Julia Franck ihr Warten auf das erste passende Wort für ein literarisches Projekt als unterlegt von alltäglichen Verrichtungen. »Ich warte, wenn ich die Wäsche aufhänge und den Kindern ein Essen koche, ich warte, wenn ich mit den Kindern spazieren gehe und wenn ich ihnen dabei zusehe, wie sie sich die Schuhe anziehen. Mal warte ich erschöpft, ein anderes Mal ungeduldig« (NZZ 20./21.12.2003). Für ihre Kollegin Judith Herrmann gehört das Treffen von Entscheidungen zu den schwierigsten Aufgaben. »Ich muss darauf warten, dass sich etwas ereignet, was das Entscheiden unnötig macht, dass das Leben, also der Zufall, also eine äussere, unbestimmbare Gewalt, für mich beschliesst« (NZZ 20./21.12.2003).

Zur Anthropologie der Übergangsphase

Weil die Entstehung von Zeit, Kultur und Geschichte in zahlreichen Kosmologien als Folge einer Katastrophe erzählt wird, die die endgültige Transformation des Paradieses, des goldenen Zeitalters bzw. allgemein eines geschichtslosen vorkulturellen Zustands bewirkt, weil dieser Anfang als andere Seite eines Verlustes die Voraussetzung von Religion, Mythen und Jenseitsvorstellungen bildet und auch den ersten Gegenstand der kollektiven Erinnerung bzw. des kulturellen Gedächtnisses ausmacht, ist für Kultur als Produkt eines Verlustes vor allem anderen der selbstkonstruktive Auftrag prioritär, den verlorenen Zustand wiederherzustellen. So ist das Neue selbstreferentiell grundiert durch seine Arbeit am Entwurf des Alten als seinem Fundament; während das Neue im Begriff der Kultur zentriert ist, der Pluralität, Möglichkeitsprinzip und Verwandlung einschließt, gelten für das Alte die Begriffe des kulturell konstruierten vorkulturellen Zustands, der nur im Modus von Verlust und Entwurf kommuniziert werden kann und muss. Denn ohne ein vorkulturelles Ur-Szenario wäre die Entstehung des Neuen - Kultur und Geschichte, Ereignis und Individualität – nicht zu begründen, weil ihm mit der Herkunft auch das orientierende Ziel fehlte, das seine gesamte Entwicklung fundiert, ihm grundsätzlich und ein für allemal Sinn gibt.

Damit das Ur-Szenario, nachdem es verloren ist, nicht auch noch vergessen wird, muss es mittels regelmäßig und tendenziell unverändert inszenierter Aufführungen vergegenwärtigt werden. Dies begründet im jeweiligen gesellschaftlichen Handlungsspektrum die Funktionsstelle des rituellen Handelns, das kollektive Erinnerungen einer gesellschaftlichen Formation als normierende und generative Faktoren stabilisiert und so die Beziehung von Vergangenheit und Zukunft, gesellschaftlicher Formation und deren heiligen (religiösen, politischen, ideologischen, juristischen usw.) Werten als Handlungsanforderung der Gegenwart institutionalisiert. Mit dem Mittel der Rekursivität kann versucht werden, je aktuelle Aufführungen durch den Rückgriff auf frühere Performanzen zu strukturieren, was aber nichts daran ändert, dass es stets um künftige Ziele geht. Auf diese Weise ergibt sich ein Muster aus Struktur (Statik) und Ereignis oder Aufführung (Dynamik). Mit dem gesellschaftlichen Handlungsspektrum ist die je systemspezifische Anordnung von Relationen zwischen Rollen, Status, Institutionen, Akteuren gemeint, die das Ziel verfolgt, durch die Regelung bestimmter Interaktionsprozesse wie z.B. Konkurrenz, Statuswandel (Erhöhung, Umkehr/Degradierung, Deaktivierung), Legitimation die Kontinuität einer Ordnung zu sichern. Auch die Struktur der Öffentlichkeit und die Rolle der Medien sind dabei zu berücksichtigen.

Gilt einer Gegenwart die Wiederherstellung des in der Vergangenheit katastrophisch verlorenen Ur-Szenarios als Zukunftsziel, so begründet dies die Funktionsstelle für den Handlungstyp Warten, was auch die Deutung von Kultur und Geschichte als ›bloße‹ Übergangsphase einschließt. Als kulturkonstitutiver Handlungstyp setzt Warten die Erfindung von Zeit und Geschichte, von Möglichkeitsprinzip und Alternativik voraus. Diese Wahl- und Verwandlungsmöglichkeit wird aber tendenziell zurückgenommen, wenn soziale Lebensformen schlechthin als Übergang von einem verlorenen Ursprung zu dessen Wiedergewinnung organisiert sind.

Unter dem Titel Die Wartenden (1922) formuliert Siegfried Kracauer seinen Befund der »geistigen Situation der Zeit« (Karl Jaspers). Deren Symptome »Mangel eines hohen Sinnes, Entleerung des uns umfangenden geistigen Raumes, Vertriebensein aus der religiösen Sphäre, Fluch der Vereinzelung, Relativismus« ergeben nach Kracauer das Syndrom »religiöser Bedürftigkeit« als »Sehnsucht« nach Gemeinschaft. Als Reaktionen hält er die des »prinzipiellen Skeptikers« (keine Bindung), des »Kurzschluss-Menschen« (unreflektierte Bindung) und die »Haltung des Wartens« für möglich. Diese expliziert er als »ein zögerndes Geöffnetsein« für Sinnangebote. »Sie werden es sich also möglichst schwer machen, diese Wartenden, um sich nicht von dem religiösen Bedürfnis übertölpeln zu lassen, und eher das Heil ihrer Seele verlieren, als dem Rausch des Augenblicks nachgeben und sich in Abenteuer der Ekstase und Visionen zu stürzen.« Im Bewusstsein ihrer Wartehandlung finden die Wartenden ein Remedium gegen das Defizit an Sinn und Gemeinschaft; die Übergangsphase wird zum temporalen Schutzraum vor unreflektierten Bindungen und verlangt ihre unbegrenzte Dehnung. Zugleich zeigt sich anhand der Verhaltensalternativen eine relative Ergebnisoffenheit der Übergangsphase.

Belege für das Leben als Übergang finden sich in Mythen und Metaphern vieler Kulturen, wenn von der Fremdheit des Lebens bzw. vom Menschen als Fremdling in der Welt, der kreisförmigen Lebensreise erzählt wird, die – in christlicher Ausprägung– von der ursprünglichen Heimat im irdischen Paradies ausgeht und durch das verführerische Labyrinth der Welt ins himmlische Paradies oder – im altägyptischen Mythos - zur Aufnahme in die Reihe der gottgleichen Ahnengeister im Jenseits führt. Wie ich in meiner Studie Erlösung und Massenwahn (2003) ausgeführt habe, erscheint als christlicher »Hintergrund der Rückkehr zum Anfang die Tradition der seit dem 5. Ökumenischen Konzil 553 häretischen [...] Lehre der Apokatastasis, der ›vollständigen Rückkehr der Schöpfung in einen göttlichen Zustand der Sündenfreiheit‹ (E. Voegelin) bzw. ›die Vollendung von Natur und Geschichte zu ursprünglicher Einheit und Reinheit‹ (C. Andresen). Als häretisch gilt der Glaube an die im wiederhergestellten Anfangszustand notwendige Aufhebung der Trennung von Erlösten und Verdammten, die Leugnung der ›Ewigkeit der Höllenstrafe‹ (C. Andresen).«

Das Ur-Szenario als Inbegriff gelungener Gemeinschaft (Communitas) zeichnet sich durch Entdifferenzierung, Nacktheit, Möglichkeitsfülle, Gleichheit, die Abwesenheit von Geschlechtlichkeit und Sexualität, von Arbeit und Besitz, von Institutionen und Organisationsformen des Handelns aus, was der Liminalitätsphase laut Turner entsprechen mag. Diese Beschreibung eines als struktur- und geschichtslos intendierten Zustands in Kategorien gesellschaftlicher Strukturierung weist das Ur-Szenario nicht nur als kulturelle Konstruktion aus, sondern bestätigt auch die Aussichtslosigkeit, es durch soziokulturelle Prozesse wiederherzustellen. Ebenso scheitern Versuche, die Präsenzerfahrung des Ur-Szenarios durch eine Beschleunigung des Warteprozesses herbeizuführen; wenn an umgrenzten und abgeschlossenen Plätzen wie Klöstern, Einsiedeleien oder auch in nomadischer Lebensform die strikte Beachtung der strukturierten Strukturlosigkeit gelebt wird, dann erfüllt diese Lebensform im System des jeweiligen soziokulturellen Kontexts eine definierte Funktion, was Turner in Das Ritual (1969) am Beispiel des Ordens der Franziskaner darlegt. Auf Dauer gestellt werden Strategien der Durchsetzung von Amts-Charisma und institutionell legitimierten Interessen. Eine dauerhafte Vergegenwärtigung des Ur-Szenarios als des Unverfügbaren scheint auch für zahlenmäßig begrenzte Gruppen nur annähernd in der Form einer durch strenge Regeln zusammengehaltenen Communitas möglich. Daher liegt es nahe, den Handlungstyp Warten als Auslöser einer Übergangsphase auf spontane oder durch eine festgelegte Handlungssequenz zeitlich begrenzte Formen der Communitas zu beziehen.

Damit ist ein je kulturspezifisch auszudifferenzierendes Strukturmodell entstanden, das das dialektische Spektrum von Neuem und Altem, Anfang und Ende, Moderne und Formen des Traditionalismus als Formationsprinzip der geschichtlichen Welt schlechthin etabliert; zugleich werden damit Übergänge, Schwellen, Grenzen bzw. die entsprechenden Phasen, in denen die jeweilige Transformation aus der Engführung des nicht mehr und noch nicht hervorgeht, in allen sozialen und kulturellen Feldern zu zentralen Orten von Selbstverständigung und Dynamik privilegiert. In Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre heißt es: »Alle Übergänge sind Krisen, und ist eine Krise nicht Krankheit?« Wie Krisen und Krankheiten machen Übergänge etwas sichtbar, was normalerweise unsichtbar ist, nämlich konflikthafte Prozesse zwischen interdependenten Prinzipien, deren Relation für die Funktionsfähigkeit des menschlichen wie des gesellschaftlichen Körpers konstitutiv ist. Übergangsphasen, so ist weiterhin zu konstatieren, sind durch ihre Organisationsform von situationstranszendierendem Erinnern und Entwerfen aus dem Bereich des Alltäglichen und Konventionellen herausgehoben.

Demnach ist davon auszugehen, dass so wie Krisen und Krankheiten auch Übergänge Einsichten in und über die Natur des Menschen vermitteln, wobei diese selbst als soziokulturelle Konstruktion sichtbar wird, die daher auch der Geschichtlichkeit unterliegt. Der Begriff der Anthropologie der Übergangsphase bezieht sich auf das Verstehen (Außenperspektive) soziokultureller Prozesse, Zusammenhänge, Kontexte und Normativität in einer Phase ihrer Dynamisierung; daher liegt der Fokus weniger auf der Leistungsfähigkeit der regulativen Strukturkomplexe als vielmehr auf der Begründung ihrer Akzeptanz, auf der Frage nämlich, ob sie aufgrund ihres konventionellen Vollzugs nicht mehr gültig sein sollen, können oder dürfen, ob eine neue Konstellation an ihre Stelle treten sollte, die aber noch nicht gültig sein kann (Innenperspektive). So zeigt sich die Übergangsphase durch den Gestus der Modalität bestimmt, der gewohnte Sicherheiten aufhebt, zumindest ihren Vollzug aufschiebt und Freiräume für emergente Prozesse schafft. Im Zusammenhang der Diskussion um Willensfreiheit und Determinismus schreibt Herbert Schnädelbach: »Entscheidend ist, dass wir mit dem menschlichen Charakter die Fähigkeit verbinden, auf bestimmte Situationen nicht einfach so oder so zu reagieren, sondern in den Zwischenraum von Reiz und Reaktion einen Reaktionsaufschub und eine kognitive Verarbeitung des Reizes einzuschieben, den wir Überlegung nennen« (FR 25.05.2004). So können Wartehandlung und Übergangsphase als Strategie erscheinen, weder mit dem Kopf noch kopflos durch die Wand zu gehen, sondern abzuwarten, bis eine Lücke entworfen und wiedererkannt ist. Die Anthropologie der Übergangsphase bietet Auskunft über Dispositionen, Latenzbereiche für Handlungen und Bedingungen ihres Sichtbarwerdens, über Handlungshemmungen und die Bereitschaft von Kollektiven zur Überschreitung bisher gültiger Handlungsgrenzen. Vor dem hier ausgeführten Verständnis der Übergangsphase als elementarer soziokulturell bedingter, programmatisch ausgerichteter Handlungszusammenhang erhalten symbolische Hervorbringungen wie Texte, Bilder, Theateraufführungen, Rituale und deren Akteure, die die Übergangsphase konstituieren, den Status entsprechender Repräsentationsformen bzw. Repräsentanten.

Im Unterschied zur rituellen Übergangsphase, die auch in Fällen von Chaos und verkehrter Welt eine festgelegte wiederholbare Struktur aufweist, vollzieht sich in der als Wartehandlung gerahmten Übergangsphase etwas Neues; Geltung und Anwendung von Normen, Werten und Gesetzen sollen – so das Beispiel Zola– ohne Ansehen der Person wiederhergestellt werden. Zwar unterbricht die Wartehandlung den Alltag, aber nicht um einen rechtsfreien Raum zu schaffen, sondern um einen solchen gerade aufzuheben. Rationale Verfahren der Analyse und Bewertung von Argumenten sollen den Zielstand begründen und herbeiführen; allerdings ist der Verlauf der Wartehandlung im vorhinein nicht abzuschätzen. Die Ausführung einer bestimmten Wartehandlung, die nicht konventionalisiert ist, ist sowohl abhängige (strukturelle Bedingtheit) als auch unabhängige (Unwiederholbarkeit, Wirksamkeit) Variable.

Ähnlich wie Emile Zola rahmt auch Franz Pfemfert seinen offenen Brief Einige Fragen an Bethmann Hollweg (06.03.1911) als Wartehandlung; er veröffentlicht kompromittierendes Material über den Reichskanzler und schließt mit der performativen Sprechhandlung »Wir warten«. Claire Zachanassian, die in Friedrich Dürrenmatts Theaterstück Der Besuch der alten Dame den Tod Ills als Bedingung für das Geschäft mit der Zukunft Güllens fordert, siegelt ihr Angebot mit »Ich warte« und hat mit diesem Sprechakt die bestehende Situation schon dadurch verändert, dass sie – wie Pfemfert über Bethmann-Hollweg– bisher geheime Informationen veröffentlicht. Beide Wartehandlungen – wie auch die Zolas– markieren die Distanzierung von einer bestehenden Situation und das Angebot eines neuen Anfangs, so dass eine Übergangsphase gerahmt wird, in der es um Purifikation der alten und Bildung einer neuen Gemeinschaft geht, Vorher und Nachher werden programmatisch aufgeladen. In allen drei Fällen ist für die Wartehandlungen ein imperativer Gestus konstitutiv, der das soziale (Claire Zachanassian) bzw. symbolische (Zola, Pfemfert) Gefälle zwischen den Akteuren und den Teilnehmern widerspiegelt. Alle drei Akteure können davon ausgehen, dass ihre Zielvorgabe, auch wenn sie nicht vollständig umgesetzt wird, mediale und öffentliche Aufmerksamkeit, Anerkennung und Wirksamkeit erhalten wird. Wer sich öffentlich als Wartender inszeniert, bekennt damit nicht, nichts tun zu wollen, sondern gibt im Gegenteil zu verstehen, dass er den gesellschaftlichen Umbau, die Revision von Entwicklungen anstrebt. Zugleich offenbart er damit – wie Pfemfert und Zola– die Selbsteinschätzung, über das dafür erforderliche symbolische Kapital zu verfügen.

Auf den ersten Blick konkurrieren bei Dürrenmatt die Wartehandlungen der Güllener und Claire Zachanassians. Jene warten auf ihre ehemalige Mitbürgerin mit der Zielvision einer großzügigen Spende aus wieder erwachter Heimatliebe, diese wartet darauf, dass Ill getötet wird und sie späte Gerechtigkeit erhält. Beide Wartehandlungen sind als interaktive Prozesse angelegt. Allerdings bringen schon die Umstände der unerwarteten Ankunft Claires den Plan der Güllener durcheinander, was den Erfolg von Claires Wartehandlung unterstützt.

Im Unterschied zu den Güllenern rahmt Claire ihr ›Geschäft‹ als Wartehandlung; mit ihrem Satz »Ich warte« hat sie ein Szenario entworfen, das den Güllenern Rollen zuteilt, die auf ihren Identitätswandel angelegt sind. Indem die Übergangsphase (Wandlung der Güllener, ihr Opfermord an Ill, Überreichung und Akzeptanz des Schecks als Gegengabe) zum temporalen Ort der Umwandlung der gültigen Struktur wird, versetzt sie deren Normativität in den Zustand der Modalität.

Die Wandlung der Güllener vollzieht sich als Umdeutung von Claires Agency: Nicht wegen ihres Reichtums, sondern wegen ihres unbestreitbaren moralischen Anspruchs setzen die Güllener ihr Szenario um, legitimieren nachträglich Claires Selbstjustiz und begehen einen weiteren Norm- und Rechtsbruch, um die durch den früheren Meineid beschädigte Normativität und Gerechtigkeit durch den Opfermord an Ill wiederherzustellen. Claires Wartehandlung hat den soziokulturellen Kontext, die Normativität ihrer Interaktionspartner zur Kenntlichkeit verändert. Für sich selbst hebt sie Nichtidentität auf, indem sie die Partner ihrer Wartehandlung während der Übergangsphase in ihrem Sinn verändert. Durch die Ausführung von Claires Zielvorgabe erleiden die Güllener einen symbolischen Tod (Dekonstruktion der gültigen Normativität), durch deren Rahmung als Wartehandlung werden sie wiedergeboren (Reinigung, Anfangsentwurf mit veränderter Normativität).

Claire hat den Güllenern das Bewusstsein vermittelt, sich scheinbar selbst zu erlösen, anstatt deren Probleme zu lösen. Keineswegs kann daher behauptet werden, dass die Zeit während des Wartens stehen bleibt oder nur »den Atem anhält« (NZZ 20./21.12.2003). Im Gegenteil ist die Übergangs- oder Schwellenphase durch ein hohes Maß an Sozial- und Erfahrungsdynamik gekennzeichnet: Werden die Handlungssequenzen der Güllener doch zu Symptomen der verkehrten Welt. Alle überschreiten bisher gültige Grenzen von Oben und Unten, von Ernst und Spiel, womit sie ihre Communitas als Opfergemeinschaft vorbereiten. Alle tragen neue gelbe Schuhe, nehmen umfangreiche Investitionen vor, immer mehr Kunden betreten wieder Ills Laden (räumlicher Übergang), sexuelle Freizügigkeit greift um sich. Alle Güllener werden wieder ökonomisch aktiv, diese Gleichheit während der Übergangsphase macht auch nicht vor Ills Familie, ja nicht einmal vor diesem selbst halt. Er zieht sich - analog zur rituellen Seklusion– in sein Zimmer zurück und kommt als ein anderer wieder: Er hat seinen Statuswechsel, seine Degradierung vom Bürgermeisterkandidaten zum Sündenbock, seine Schuld und seinen Tod akzeptiert. Daraufhin wird er rituell aus der Gemeinschaft entlassen, damit die Ehre der Güllener gereinigt und wiederhergestellt, die Gemeinschaft gefestigt werde. In diesem Exklusionsprozess verliert er seine menschliche Physiognomie, er ist nicht mehr wie alle, der Polizist spricht ihn als ›Du Schwein‹ an.

Die gezeichneten Güllener mutieren zu Ausgezeichneten und Erwählten, eine charismatisch-egalitäre Vergemeinschaftung baut sich auf, die gleichsam mit einer Stimme spricht, Konkurrenzen und Interessenkonflikte sind für die Dauer der Übergangsphase suspendiert; ihren Höhepunkt findet diese im rituellen Opfermord an Ill, um danach wieder der gesellschaftlichen Rationalität und der Vielstimmigkeit der verschiedenen Interessen anheimzufallen. Ein selbstkonstruktiver Prozess der Geschichtsdynamik setzt ein, der die Aufnahme der nun historisch gewordenen Geschehnisse ins kulturelle Gedächtnis vorbereitet. Damit verliert die Übergangsphase ihre tendenzielle zeitliche Begrenztheit. Für Güllen wird ein Diskurs fundiert, der der Frage gewidmet ist, wie aus Bürgern Täter werden, ein Diskurs, der Parallelen in der Zeitgeschichtsforschung (Nationalsozialismus, Folterungen im Irak) hat.

Claire verschafft den Güllenern das Bedürfnis eines neuen Anfangs und die Möglichkeit seines Vollzugs, allerdings um den Preis des kollektiven Gedächtnisverlusts. Sie vergessen ihre historischen und kulturellen Grundlagen, die Ills Bestechung und Claires Wartehandlung ermöglicht haben. Dafür und als Indikator latenter Dispositionen zum Normbruch ist die Übergangsphase als strategische Form unverzichtbar. Eine »Atmosphäre« (Gernot Böhme) für die Tat muss hergestellt werden, deren erster Schritt mit dem Vollzug der performativen Handlung getan ist; Claires Agency ermöglicht den Güllenern das Bewusstsein, mit dem Opfermord eine neue Welt begründet zu haben, was zur Notwendigkeit einer neuen Erinnerungsgeschichte führt.

Eine Variante der Übergangsphase nach dem rituellen Strukturmodell des nicht mehrnoch nicht stellt der Übergang nach dem Muster nicht mehr, aber noch immer und doch schon, aber noch nicht dar, wie er z.B. vorliegt, wenn es um den Wechsel politischer Funktionsträger geht. So ist der designierte Bundespräsident Horst Köhler am 23. Mai 2004 gewählt, der Amtsinhaber Johannes Rau aber noch bis zum 30. Juni im Amt. Obwohl diese Konstellation juristisch völlig unproblematisch ist, scheint für die öffentliche Wahrnehmung der Befund einer Übergangsphase zu gelten, da Rau weniger Termine, Reisen usw. wahrnimmt, was eine Verschiebung der Aufmerksamkeit von der politischen Arbeit des Funktionsträgers auf die Selbstpräsentation des Nachfolgers begünstigt.

Ohne Rahmung als Wartehandlung oder Übergangsritual, d.h. ohne die Agency eines Handlungssubjekts, vollziehen sich gesellschaftliche Übergänge, was sich an der Debatte um die Entgrenzung von Arbeits- und Privatbereich (vgl. Nick Kratzer Arbeitskraft in Entgrenzung, 2003) zeigt. Dabei geht es tendenziell um die Aufhebung des Privaten zugunsten der dauernden Bereitschaft zur Ausführung beruflicher Aktivitäten. Würde ein Privatbereich nur auf Abruf, als Übergangsphase zwischen Anforderungen des professionellen Bereichs bestehen, so hätte dies unabsehbare sozial- und ordnungspolitische wie auch genderspezifische Folgen, worauf Beate Rössler in ihrer Studie Der Wert des Privaten (2001) hinweist, wenn sie definiert: »Als privat gilt etwas dann, wenn man selbst den Zugang zu diesem ›etwas‹ kontrollieren kann. Umgekehrt bedeutet der Schutz von Privatheit dann einen Schutz vor unerwünschtem Zutritt anderer.« Demnach scheint zur Privatheit auch das Phänomen der Zeitsouveränität gezählt werden zu müssen.

So ist es soziokulturell durchaus von Belang, ob sich jemand in einer Übergangsphase verortet, ob in der Öffentlichkeit die Atmosphäre herrscht, in einer Übergangsphase zu leben, auf wichtige Ereignisse, Wandlungen und Chancen warten zu sollen oder noch zu können. In diesem Fall kann es zu Ressourcenspeicherung, Konsum- und Investitionszurückhaltung, aber auch zum Aufschub gesellschaftlichen Engagements kommen, was die Wartehandlung wiederum rechtfertigt. So gerät die Kultur des Events in die Funktionsstelle, die Atmosphäre von Warten und Übergang dadurch verhindern zu sollen, dass sie den Alltag tendenziell aufhebt, indem sie die Inszenierung der Erfüllung aller Bedürfnisse ohne Wartezeit verspricht. Zugleich wird Warten so zu einem subjektiv vorteilhaften, aber sozial risikoreichen Handlungstyp aufgewertet, der den Ablauf des Alltags sowohl durch Kreativität der Gestaltung als auch durch Verzicht auf eingespielte Möglichkeiten stören kann. Während die Event-Kultur Beschleunigung und Erfahrungsdynamik innerhalb der bestehenden Struktur bietet, können die zahlreichen Angebote der Sinnfindung, die Konjunktur des Religiösen, die steigende Inanspruchnahme von Auszeiten zur Entlastung von Leistungsdruck und zur Sicherung persönlicher Identität als Hinweise auf die Disposition zu Wartehandlung und Übergangsphase gelten.