Mustert man einige wichtige Rechtsphilosophien unter dem Aspekt der im Titel genannten Frage einmal durch, so drängt sich zunächst der Eindruck auf, dass man sich mit dieser Frage zwar nicht in einem rechtsfreien, wohl aber in einem theoriefreien Raum befindet. Denn zumindest die Klassiker der modernen Rechtsphilosophie, wobei natürlich zunächst an Kant und Hegel zu denken ist, adressieren diese Frage noch nicht einmal, jedenfalls nicht ausdrücklich, und was ihre jeweiligen Rechtskonzepte im Blick auf sie zu interpolieren erlauben, das lässt prima vista auch nur eine negative Antwort zu. Dies kann kaum überraschen, denn natur- bzw. vernunftrechtlich fundierte Positionen (und die Hegelsche zählt kraft ihrer spekulativ-metaphysischen Grundierung und trotz ihrer positivistischen Pointe hier hinzu), erlauben, anders als der Rechtspositivismus, offenbar gar keine affirmative Antwort. Wo das Recht zuletzt auf die Natur oder, was in der Sache eigentlich gleichbedeutend ist, auf Gott zurückgeführt wird, sodann aber auch auf ein transzendentales Vernunft-apriori oder schließlich auf ein sich in der Welt und als sie realisierendes Absolutes, das der Geist bzw. die Idee ist (wiederum sachlich gleichbedeutend mit Natur und Gott), da muss das Recht logischerweise als universell und ubiquitär gedacht werden, da verbietet sich also der Gedanke des rechtsfreien Raums unmittelbar und ganz von selbst. Doch dies ist bereits ein Vorgriff. Ist es also mangelndes Problembewusstsein auf Seiten der Klassiker, dass sie eine Frage übergehen, die uns heute als aktuell erscheinen will? Ist dies Ignorieren vielleicht nur der Unterschiedlichkeit der historischen/gesellschaftlichen/rechtspolitischen Konstellationen geschuldet? Oder handelt es sich bei dieser Frage womöglich umgekehrt nur um die Hochstilisierung eines empirischen Befundes– eben desjenigen, dass heutzutage Zukunftsfelder von denen besetzt werden, die sich ihrer rechtzeitig bemächtigen und damit Einfluss auf ihre kommende Gestaltung gewinnen– zu einem Problem, das, nüchtern besehen, doch nicht die ihm darin zugebilligte Brisanz hat? Immerhin bekommt man, wenn man einen praktizierenden Juristen mit dieser Frage konfrontiert, ganz spontan und wie aus der berühmten Pistole geschossen die Antwort, dass es einen rechtsfreien Raum nicht geben darf - ebenso spontan aber auch, fragt man einen anderen, die gegenteilige, dass es selbstverständlich rechtsfreie Räume gibt.
Kant: Freiheit, ursprüngliche Erwerbung, Öffentliches Recht
»Eine bloß empirische Rechtslehre ist […] ein Kopf, der schön sein mag, nur schade! dass er kein Gehirn hat.« (Kant, Rechtslehre, 32). Dieser Satz ist nicht lediglich ein Bonmot, geäußert etwa im großbürgerlichen literarischen Salon der Rahel Varnhagen von Ense, sondern findet sich im § B der Einleitung in die Kantische Rechtslehre, der unter der Überschrift steht: Was ist Recht? Kant artikuliert damit in sehr pointierter Weise den theoretischen Anspruch, mit dem oder unter dem er antritt. An der Spitze seiner Rechtslehre steht die Einteilung der Rechte (qua systematischer Lehren) »in das Naturrecht, das auf lauter Prinzipien a priori beruht«, und »das positive (statuarische) Recht, was aus dem Willen eines Gesetzgebers hervorgeht«, sowie parallel dazu die Einteilung der Rechte (qua moralischer Vermögen) »in das angeborene und erworbene Recht« (44). Während letzteres einen »rechtlichen Akt« erfordert, erklärt Kant mit Beziehung auf ersteres in aller Ausdrücklichkeit: »Das angeborene Recht ist nur ein einziges. Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht.« (45)
Auf die Intrikatheiten der Kantischen Freiheitstheorie, also auf den Umstand, dass er seinem Selbstzeugnis nach nicht über einen Freiheitsbeweis verfügt, der tatsächlich schlüssig wäre, weil ein solcher gar nicht gegeben werden kann, dass folglich die überempirische »Grundlage« »zu einer möglichen positiven Gesetzgebung« zwar »in der bloßen Vernunft« zu suchen sei (32), zuletzt aber ihrem logisch-epistemischen Status nach doch nur ein Postulat der praktischen Vernunft bleibt, kommt es hier nicht an, wie auch nicht auf die Begründung für die These der Singularität des angeborenen Rechts. Entscheidend ist im aktuellen Zusammenhang allein die polare Alternative zwischen angeborenem Naturrecht und positivem erworbenem Recht. Sie spannt gleichsam den Bogen auf, innerhalb dessen sich die Kantische Rechtslehre bewegt und durch den sie hinsichtlich der Frage des rechtsfreien Raums hochgradig ambivalent bleibt. Wo, mit welchen Gründen auch immer, ein angeborenes Naturrecht postuliert wird, das jedem Menschen kraft der Menschheit, die er in seiner Person verkörpert, a priori zusteht, also ganz unabhängig davon, »was die Gesetze an einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben« (32), da ist der Gedanke eines rechtsfreien Raums, wenn man ihn sensu strictu versteht, bereits dementiert und verworfen. Denn zumindest dieses eine Recht verbliebe selbst dann, wenn es gar kein positives Recht gäbe und die Welt in diesem Sinne ›rechtsfrei‹ wäre, ja schärfer noch: gerade dann, wenn dies der Fall wäre, würde dieses eine, allein verbleibende Recht den gesamten Rechtsraum definieren, ausfüllen und okkupieren. Wo andererseits in Anerkennung der empirischen Realität die Existenz des Instituts des positiven Rechts zugestanden wird, das auf den Willen eines Gesetzgebers zurückgeht, wo also von erworbenen Rechten die Rede ist, da ist der Gedanke des rechtsfreien Raums immer schon in Anspruch genommen und impliziert, und zwar selbst dann, wenn dabei die Setzung, die Erzeugung neuen Rechts ihrerseits als an ›rechtliche Akte‹, an gewisse Kautelen wie etwa die Einhaltung bestimmter Verfassungsvorschriften gebunden gedacht wird. Diese bestimmen immer nur die zumeist primär formalen, gelegentlich aber auch inhaltlichen Bedingungen, unter denen der Akt der Rechtssetzung Gültigkeit hat, und spannen so den Rahmen, eben den ›Raum‹ auf, in den hinein solche Akte erfolgen. Ließe dieser Rahmen, sei es dem Willen des Gesetzgebers, sei es auch untergeordneten Instanzen (speziell den Gerichten), wiederum sensu strictu gesprochen, schlechterdings keinen Spielraum, keinen ›freien‹ Raum also, dann würde der Gedanke einer Erzeugung neuen Rechts gänzlich sinnlos– mit der unvermeidlichen Konsequenz der Einebnung der Differenz zwischen Sein und Sollen, d. h. zwischen Natur- und Rechtsgesetzen. Neue Naturgesetze kann es evidentermaßen nicht geben (bestenfalls neue Formulierungen oder Erkenntnisse derselben), neue Rechtsgesetze aber gibt es allemal und zuhauf, wie die empirische Realität belegt.
Über die Differenz von Sein und Sollen ist sich Kant sehr wohl im klaren, und es verwundert deshalb auch nicht, dass sich seine Ausführungen sowohl zum Privat- und Sachenrecht wie dann aber auch zum Völkerrecht im bezeichneten Spannungsfeld bewegen. Gerade die Ausführungen zum Privat- und Sachenrecht bringen dies zu kristalliner Klarheit, und, man mag dies für Zufall halten oder auch nicht, es entbehrt im Blick auf die vorliegende Fragestellung aber wohl doch nicht einer gewissen Signifikanz, dass hier ein Raumproblem den Anfang bildet: Kants Theorie der ursprünglichen Erwerbung des Bodens spiegelt mit der Unterscheidung zwischen intelligiblem und empirischem Besitz (62) und allen daraus resultierenden Folgeunterscheidungen und Facetten nicht nur jenes Spannungsfeld, sondern sie kann, obwohl sie keine Theorie des rechtsfreien Raumes ist und zu liefern beabsichtigt, doch als ein Lehrstück gelesen werden, das einige Schlüsselbegriffe zu einer solchen an die Hand gibt.
Kant geht dabei von drei Prämissen aus: 1. Dem rechtlichen Postulat der praktischen Vernunft, wonach es möglich ist »einen jeden äußeren Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben« (56); 2. dem Begriff eines »bloß rechtlichen Besitzes«, der »kein empirischer (von Raum und Zeit abhängiger) Begriff [ist] und gleichwohl [...] praktische Realität« hat (68); und 3. von der Auffassung, dass das »Naturrecht im Zustande einer bürgerlichen Verfassung (d. i. dasjenige, was für die letztere aus Prinzipien a priori abgeleitet werden kann) [...] durch die statuarischen Gesetze der letzteren nicht Abbruch leiden« kann (74). Wichtig sind nun drei weitere Aspekte: 1. Das allgemeine Prinzip der äußeren Erwerbung, wonach ich etwas erwerbe, »wenn ich mache (efficio), dass etwas mein werde.« Kant erläutert dies wie folgt: »Ursprünglich mein ist dasjenige Äußere, was auch ohne einen rechtlichen Akt mein ist.« (77; Hvg. G. E.) 2. Dieses ursprünglich Meine ist nach § 13 seiner Rechtslehre der Boden: »Alle Menschen sind ursprünglich (d. i. vor allem rechtlichen Akt der Willkür) im rechtmäßigen Besitz des Bodens, d. i. sie haben ein Recht, da zu sein, wohin sie die Natur, oder der Zufall (ohne ihren Willen) gesetzt hat«. 3. Dieser Besitz ist »ein gemeinsamer Besitz, wegen der Einheit aller Plätze auf der Erdfläche, als Kugelfläche«, der, wie Kant erneut betont, »vor allem rechtlichen Akt vorhergeht« und ein »ursprünglicher Gesamtbesitz« ist, »dessen Begriff nicht empirisch und von Zeitbedingungen abhängig ist [...], sondern ein praktischer Vernunftbegriff, der a priori das Prinzip enthält, nach welchem allein die Menschen den Platz auf Erden gebrauchen können.« (83 f.; Hvg. G.E.)
Das oben bezeichnete Spannungsfeld tritt hier in aller Deutlichkeit hervor. Man sieht ganz unmittelbar, wie Kant den Gedanken der Rechtsfreiheit, verstanden als Abwesenheit spezifisch positiv-rechtlicher Bestimmungen, geradezu einsetzt, um die besondere Dignität des Naturrechts zu unterstreichen, und eben so und damit jenen Gedanken doch auch wieder zurücknimmt und dementiert. Dieser letztgenannte Aspekt verschärft sich noch, wenn man zwei weitere Passagen hinzu nimmt. Die erste findet sich im § 6 der Rechtslehre. Sie lautet: »Wenn auch gleich ein Boden als frei, d. i. zu jedermanns Gebrauch offen angesehen, oder dafür erklärt würde, so kann man doch nicht sagen, dass er es von Natur und ursprünglich, vor allem rechtlichem Akt, frei sei [...] weil diese Freiheit des Bodens ein Verbot für jedermann wäre, sich desselben zu bedienen« (64 f.). Die zweite Passage findet sich im § 15, der postuliert, dass nur »in einer bürgerlichen Verfassung [...] etwas peremptorisch, im Naturzustand zwar auch, aber nur provisorisch erworben werden« könne (86). Sie konkretisiert und illustriert die Kantische Position und ist im Blick auf die europäische Kolonialgeschichte, speziell die Landnahme ganzer Kontinente durch europäische Einwanderer, nicht ohne Pikanterie. Sie lautet: »Zuletzt kann noch gefragt werden: ob, wenn uns weder die Natur noch der Zufall, sondern bloß unser eigener Wille in Nachbarschaft mit einem Volk bringt, welches keine Aussicht zu einer bürgerlichen Verbindung mit ihm verspricht, wir nicht in der Absicht, diese zu stiften und diese Menschen (Wilde) in einen rechtlichen Zustand zu versetzen (wie etwa die amerikanischen Wilden, die Hottentotten, die Neuholländer) befugt sein sollten, allenfalls mit Gewalt, oder (welches nicht viel besser ist) durch betrügerischen Kauf, Kolonien zu errichten und so Eigentümer ihres Bodens zu werden, und ohne Rücksicht auf ihren ersten Besitz, Gebrauch von unserer Überlegenheit zu machen; zumal es die Natur selbst (als die das Leere verabscheut) so zu fordern scheint, und große Landstriche in anderen Weltteilen an gesitteten Einwohnern sonst menschenleer geblieben wären, die jetzt herrlich bevölkert sind, oder gar auf immer bleiben müßten, und so der Zweck der Schöpfung vereitelt würde? Allein man sieht durch diesen Schleier der Ungerechtigkeit (Jesuitism), alle Mittel zu guten Zwecken zu billigen, leicht durch; diese Art der Erwerbung des Bodens ist also verderblich.« (89 f.; Hvg. G. E.)
So eindeutig diese Auskunft mit ihrer Stellungnahme gegen eine sensu strictu verstandene Rechtsfreiheit des Raumes auch ist, so klar ist doch auch, dass Kants Theorie der urspünglichen Erwerbung des Bodens zwei bzw. drei Schlüsselelemente eben jenes Vorgangs herausarbeitet, den wir mit der Rede vom ›Aufbruch in den rechtsfreien Raum‹ meinen und heute allenthalben in ganz unterschiedlichen Kontexten sistieren können, sei es in der medizinisch-gentechnischen Forschung, die, solange sie nicht durch positives Recht eingeschränkt wird, Spielräume nutzt, die jenes wesensmäßig lässt, auch wenn es dem Selbstverständnis seiner Repräsentanten und Akteure nach auf der Grundprämisse fußt, dass es einen rechtsfreien Raum, nämlich einen solchen, der sich ganz prinzipiell rechtlicher Regelung entzöge, nicht geben darf, sei es auch in den Sphären der Politik und Ökonomie. Diese Schlüsselelemente treten deutlich hervor, wenn man Kants Äußerungen, die von der Erwerbung des Bodens reden, auf die Erwerbung von Rechten bezieht.
»Der rechtliche Akt dieser Erwerbung«, so heißt es in der Überschrift des § 14 der Rechtslehre, »ist die Bemächtigung (Occupatio)«. Kant erläutert: »Die Besitznehmung (apprehensio), als der Anfang der Inhabung einer körperlichen Sache im Raum«– man setze: eines Rechts– »stimmt unter keiner anderen Bedingung mit dem Gesetz der äußeren Freiheit von jedermann (mithin a priori) zusammen, als unter der Priorität in Ansehung der Zeit, d. i. nur als erste Besitznehmung (prior apprehensio), welche ein Akt der Willkür ist.« (84 f.). Und weiter: »Der Wille aber, die Sache«– man setze wiederum: das Recht– solle mein sein, d. i. die Zueignung (appropriatio) kann in einer ursprünglichen Erwerbung nicht anders als einseitig (voluntas unilateralis s. propria) sein.« (ebd.) Man kann also folgern: Wo immer rechtsfreie Räume erobert und genutzt werden, da handelt es sich um Akte einseitiger Bemächtigung. Solche Akte können Rechtsgeltung nur beanspruchen, wenn sie inhaltlich mit dem obersten Rechtsprinzip des jeweiligen Systems (bei Kant dem § C. Allgemeines Prinzip des Rechts: »Eine jede Handlung ist Recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann«; 33) nicht kollidieren und die formale Mindestbedingung zeitlicher Priorität erfüllen. Anders formuliert: Wo durch Nutzung freier Räume einseitig rechtsrelevante Fakten geschaffen werden, da geschieht dies immer unter Nutzung eines zeitlichen Prius und hat auch nur dann Aussicht auf langfristige Akzeptanz.
Nun liegt hier allerdings der folgende Einwand auf der Hand: Trifft es nicht zu, dass diese drei Elemente (Bemächtigung von Rechtssetzungskompetenz, Kollisionsverbot mit dem/n höchsten Rechtsprinzip/ien des jeweiligen Systems, zeitliche Priorität) im Grunde genommen jeden Akt der Rechtssetzung (seitens des Gesetzgebers wie auch der Gerichte) in einem positiven Rechtssystem charakterisieren? Dieser Einwand führt über den Rahmen hinaus, innerhalb dessen sich Kants Überlegungen bewegen. Auch wenn diese gewisse Schlüsselbegriffe enthalten, auf die eine Theorie des rechtsfreien Raums zurückgreifen könnte, so ist Kant doch, seinem Selbstverständnis gemäß, weit von einer solchen entfernt. Schärfer noch als aus den Implikationen, die aus seiner Naturrechtskonzeption folgen, geht dies aus seinen Äußerungen zum Öffentlichen bzw. Staatsrecht hervor. Das berühmt-berüchtigte Revolutionsverbot, wonach das Volk die »Pflicht« habe, »einen, selbst den für unerträglich ausgegebenen Mißbrauch der obersten Gewalt zu ertragen«, wird damit begründet, »daß sein Widerstand wider die höchste Gesetzgebung selbst niemals anders als gesetzwidrig, ja als die ganze gesetzliche Verfassung zernichtend gedacht werden muß« (207). Dass ein Gesetz sei (wenn auch unerträglich), ist also nach Kant allemal besser, als dass keines sei. Horror Vacui?
Hegel: Der Staat als Verwirklichung der Freiheit
In der einleitenden Vorüberlegung war angemerkt worden, dass die Hegelsche Rechtsphilosophie kraft ihrer spekulativ-metaphysischen Grundierung und trotz ihrer positivistischen Pointe zu den natur- bzw. vernunftrechtlich fundierten Positionen zu zählen ist, die den Gedanken eines rechtsfreien Raumes gleichsam wesensmäßig ausschließen. Dabei ist natürlich klar, dass man sich mit dieser Auslegung auf ein gefährliches Terrain begibt, auf dem gleichsam hinter jedem Busch ein Hegelianer lauert, der mit scharfen Pfeilen darauf insistiert, dass Hegel doch nun gerade so, wie es dieses oder jenes Zitat nahelegt, nicht interpretiert werden dürfe, weil das Wahre eben das Ganze sei. Es ist deshalb zweckmäßig, sich hier auf drei Aspekte zu beschränken: Erstens auf Hegels Abgrenzung von Kant, zweitens auf seine gleichsam ins Extrem gesteigerte vernunftrechtliche Konzeption des Rechts und drittens auf die eben daraus resultierende positivistische Pointe.
Mit der Zuordnung Hegels zu natur- bzw. vernunftrechtlichen Positionen soll selbstverständlich nicht über die tiefe Kluft hinweg getäuscht werden, die seine Rechtsphilosophie von derjenigen Kants trennt. Im Gegenteil: handelt es sich hier doch gleichsam um grundverschiedene philosophische Kontinente, in denen sozusagen unausgleichbare Unterschiede der theoretischen Atmosphäre herrschen. Um es scharf zu pointieren: Kants Theorie ist normativ, diejenige Hegels, ihrem Selbstverständnis nach, deskriptiv. Hegel selber macht dies in aller Deutlichkeit klar, wenn er Kant »die Festhaltung des bloß moralischen Standpunkts, der nicht in den Begriff der Sittlichkeit übergeht« (Grundlinien der Philosophie des Rechts §135, S. 252) und einen »leeren Formalismus« vorhält, von welchem »Standpunkt aus [...] keine immanente Pflichtenlehre möglich [ist]; man kann von außen her wohl einen Stoff hereinnehmen [...], aber von jener Bestimmung der Pflicht [...] kann nicht zur Bestimmung besonderer Pflichten übergegangen werden« (ebd.). Dass dieser Vorwurf eines leeren Formalismus›der Pflicht um der Pflicht willen‹ tatsächlich haltbar ist, kann man füglich bestreiten, doch darauf kommt es hier nicht an. Entscheidend ist vielmehr der Begriff der Sittlichkeit - Hegels Begriff der Sittlichkeit–, der hier im Spiel ist, und von dem her allererst verständlich wird, warum er Kant die ›Festhaltung des moralischen Standpunkts‹ zum Vorwurf machen kann.
Die Grundlage dieses Begriffs der Sittlichkeit, nämlich eben der deskriptive Anspruch, der in ihn einfließt, kommt in jener berühmten Passage aus der Einleitung in die Rechtsphilosophie zu unmissverständlichem Ausdruck, die lautet: »So soll denn diese Abhandlung, sofern sie die Staatswissenschaft enthält, nichts anderes sein als der Versuch, den Staat als ein in sich vernünftiges zu begreifen und darzustellen. Als philosophische Schrift muß sie am entferntesten davon sein, einen Staat, wie er sein soll, konstruieren zu sollen; die Belehrung, die in ihr liegen kann, kann nicht darauf gehen, den Staat zu belehren, wie er sein soll, sondern vielmehr, wie er, das sittliche Universum, erkannt werden soll [...] Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das was ist, ist die Vernunft.« (26) Damit sind die Weichen gestellt. Denn in einer Theorie, die den Staat und mithin auch das Recht als ein in sich Vernünftiges begreifen und darstellen will, als etwas, das sich mit metaphysischer Notwendigkeit in der Geschichte ereignet, ist schlechterdings kein Raum für den Gedanken eines rechtsfreien Raums. Alle weiteren Bestimmungen und Definitionen leben gleichsam von diesem Theorieanspruch und sind von ihm gewissermaßen imprägniert, als da sind: Des Rechts, das positiv ist »durch die Form, in einem Staat Gültigkeit zu haben« (34), wie auch der »Sittlichkeit als der Idee der Freiheit [...] als zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewußtseins gewordene[r] Begriff der Freiheit« (292), und schließlich des Staates, als der »Wirklichkeit der sittlichen Idee«, als »der sittliche Geist, als der offenbare, sich selbst deutliche, substantielle Wille, der sich denkt und weiß und das, was er weiß und insofern er es weiß, vollführt.« (398)
In einer solchen Theorie kann es gar keinen rechtsfreien Raum geben, eben weil sich die Sittlichkeit und also Staat und Recht in der vorhandenen Welt mit unerbittlicher Notwendigkeit realisieren. Das wird vollends deutlich dort, wo Hegel die Differenz von Naturrecht und positivem Recht diskutiert und– daher die Rede von der positivistischen Pointe seiner Theorie– bestreitet. Hegel schreibt: »Dass das Naturrecht oder das philosophische Recht vom positiven verschieden ist, dies darein zu verkehren, dass sie einander entgegengesetzt und widerstreitend sind, wäre ein großes Mißverständnis, jenes ist zu diesem vielmehr im Verhältnis von Institutionen zu Pandekten.« (35) Und schärfer noch: »Der Staat an und für sich ist das sittliche Ganze, die Verwirklichung der Freiheit, und es ist absoluter Zweck der Vernunft, dass die Freiheit wirklich sei. Der Staat ist der Geist, der in der Welt steht und sich in derselben mit Bewußtsein realisiert, während er sich in der Natur nur als das andere seiner, als schlafender Geist verwirklicht.« (403). Man darf folgern: Rechtsfreiheit herrscht nur dort, wo der Geist schläft.
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Wo das Recht nicht auf metaphysische Instanzen wie Natur oder Geist zurückgeführt, sondern primär oder sogar ausschließlich als positives Recht gefasst wird, das auf den Willen eines Gesetzgebers, auf Satzung und Macht zurückgeht, da ist der Gedanke eines rechtsfreien Raums nicht von vornherein und eo ipso, nicht allein schon kraft der Anlage der Theorie ausgeschlossen. Hans Kelsen und Gustav Radbruch, die gewöhnlich als Repräsentanten des Rechtspositivismus gelten und, gemessen an der Rechtswirklichkeit im deutschen Sprachraum, zu den einflussreichsten Rechtsphilosophen des 20. Jahrhunderts gehören, sprechen daher die Frage der Rechtsfreiheit ausdrücklich an. Darüber hinaus werfen ihre Theorien diese Frage aber auch in je eigentümlicher Weise auf.
Kelsen: Die Selbsterzeugung des Rechts und die Lückentheorie
Nach Kelsen »kann jeder beliebige Inhalt Recht sein. Es gibt kein menschliches Verhalten, das als solches, kraft seines Gehalts, ausgeschlossen wäre, Inhalt einer Rechtsnorm zu sein.« (Reine Rechtslehre, 201) Dieses nüchterne, aber von politischer Seite, links wie rechts, immer wieder inkrimierte Diktum bringt die positivistisch-antimetaphysische Einstellung seiner ›Reinen Rechtslehre‹ zu schärfstem Ausdruck. Man wird nicht ernsthaft so oberflächlich sein wollen, darin eine Legitimation oder gar Affirmation von Rechtssystemen zu erblicken, die ethisch-moralischer Bewertung, etwa im Licht des Gerechtigkeitsbegriffs, ersichtlich nicht standhalten. Wird doch Kelsen nicht müde zu betonen, dass die ›Reine Rechtslehre‹ ausschließlich wissenschaftliche Erkenntnis des positiven Rechts sein will, nicht aber solche Bewertung, die zuletzt immer nur eine politische sein könne. Er insistiert mit Nachdruck auf einer strikten methodischen Trennung von Recht und Moral und lehnt jede außerrechtlich-überpositive Fundierung des Rechts, ob sie nun offen naturrechtlich daherkommt oder, im Gewand einer vermeintlich absoluten Moral, auch nur verdeckt, als zuletzt doch immer metaphysisch, sprich theologisch inspiriert entschieden ab. Kelsen macht also auf der ganzen Linie Ernst mit der Einsicht, dass das Recht ›Menschenwerk‹ ist, nicht seitens einer zu göttlicher Dignität überhöhten Natur unmittelbar vorgegeben oder dadurch auch nur limitiert, sondern in toto ein Erzeugnis menschlicher Akte, dessen aktuelle Konkretionen mithin ›ins Belieben‹ der jeweils rechtssetzenden Autorität gestellt sind (woran die verlangte Einhaltung prozeduraler Kautelen natürlich nichts ändert). Insofern ist der Gedanke des rechtsfreien Raumes hier überall latent präsent und implizit in Anspruch genommen– ohne allerdings zu einem eigenen Lehrstück verfestigt, geschweige denn etwa als solcher affirmiert zu werden.
Der Umstand, dass »das Recht in seiner Bewegung«, der »Rechtsprozeß, in dem das Recht angewendet und erzeugt wird«, ohne diesen Gedanken nicht verstanden, dass gerade auch diese »höchst bedeutsame Eigentümlichkeit des Rechts, daß es seine eigene Erzeugung und Anwendung regelt« (73), ohne die Annahme eines gewissen Freiraumes für sie als solche gar nicht ausgezeichnet werden kann, liegt auf der Hand und bedarf keiner umständlich-abstrakten Begründung. Das vorliegende Inklusionsverhältnis expliziert Kelsen selber, wenn er im Blick auf die Rechtsanwendung durch die Gerichte, die »selbst auch Rechtserzeugung ist« (ebd.), erklärt: »Aber auch in dem Fall, daß der Inhalt der von dem Gericht zu erzeugenden Rechtsnorm durch eine positive generelle Rechtsnorm vorausbestimmt ist, muß der rechtserzeugenden Funktion der Gerichte ein gewisser Ermessensspielraum belassen bleiben. Die positive generelle Rechtsnorm kann nicht alle Momente vorausbestimmen, die erst durch die Besonderheiten des konkreten Falles sich ergeben [...] In dem Verfahren, in dem eine positive generelle Rechtsnorm individualisiert wird, muß das die generelle Rechtsnorm anwendende Organ stets Momente bestimmen, die in der generellen Rechtsnorm noch nicht bestimmt sind und nicht bestimmt sein können. Die generelle Rechtsnorm ist stets nur der Rahmen, innerhalb dessen die individuelle Rechtsnorm zu erzeugen ist. Aber dieser Rahmen kann enger oder weiter sein. Er ist am weitesten, wenn die positive generelle Rechtsnorm nur die Ermächtigung zur Erzeugung der individuellen Rechtsnorm enthält, ohne deren Inhalt vorauszubestimmen.« (250)
Gefasst als logisches Implikat jeder Rechtserzeugung überhaupt, ist also der Gedanke eines ›rechtsfreien‹ Raums alles andere als spektakulär– nur dass dieser Raum dabei eben nicht etwa als schlechthin frei oder grenzenlos zu denken ist, sondern durch einen Rahmen aufgespannt wird, welchen das Recht selber darstellt. Die Selbstverständlichkeit, mit der Kelsen diesen Freiraum für die Rechtserzeugung, in den hinein sie gleichsam erfolgt, nicht so sehr konzediert sondern umstandslos betont, darf allerdings in zweifacher Hinsicht nicht zu Fehlschlüssen oder Überinterpretationen verleiten. Er besagt insbesondere nicht etwa, dass es ›Lücken‹ im Recht gäbe, konstituiert durch konkrete Fälle, in denen das geltende Recht »nicht anwendbar« sei, »wenn keine generelle Rechtsnorm sich auf diesen Fall bezieht«, so dass »das Gericht, das den Fall zu entscheiden hat, diese Lücke durch Erzeugung einer entsprechenden Rechtsnorm ausfüllen« müsse (251). Diese Ansicht ist Kelsen zufolge »irrig«: Er insistiert mit Entschiedenheit darauf, »daß eine Rechtsordnung von einem Gericht immer angewendet werden kann, auch in dem Falle, daß die Rechtsordnung nach Ansicht des Gerichts keine generelle Norm enthält« (251; Hvg. G. E.), durch welche die Behandlung des betreffenden Falles unmittelbar oder auch nur mittelbar vorausbestimmt wäre.
Nicht minder irrig wäre das zweite Missverständnis, die Auffassung nämlich, dass ein im emphatischen Sinn ›rechtsfreier‹ Raum dann entstünde, wenn die Rechtsordnung (qua Rahmen für die Normerzeugung) selber noch zur Disposition steht, im Falle also eines Übergangs von der einen zu einer anderen Rechtsordnung, d. h. eines Wechsels des jeweiligen Rechtssystems. Während die Kantische Theorie mit ihrem ausdrücklichen Revolutionsverbot einen Systemwechsel ausschließt, weil Kant eine Revolution nur als ›Vernichtung‹ des Rechts zu deuten vermag, weist Kelsen darauf hin, dass »das Völkerrecht die erfolgreiche Revolution als ein rechtserzeugendes Verfahren legitimiert« (222; Hvg. G. E.). Selbst im Falle eines Systemwechsels entsteht deshalb nach Kelsen kein schlechthin rechtsfreier Raum: Was dabei wechselt, das ist lediglich die inhaltliche Bestimmtheit der Grundnorm der jeweiligen Rechtsordnung, nicht aber dies, dass jede wie auch immer näher bestimmte Rechtsordnung geltungsmäßig zuletzt zurückgeht auf eine, genauer, auf die Grundnorm, die eben jenen ›weitesten‹ Rahmen bildet, der nur die »Ermächtigung zur Erzeugung« individueller Rechtsnormen enthält, ohne deren Inhalt vorauszubestimmen, der sich also darauf »beschränkt«, »eine normsetzende Autorität zu delegieren, nach der die Normen dieses Systems zu erzeugen sind« (199).
Radbruch: Gesetzliches Unrecht– ein rechtsfreier Raum?
Radbruchs Theorie ist, bei aller Anerkennung des positiven Rechts, bei allem Insistieren darauf, dass das Recht »Menschenwerk«, »Gegebenheit« und »Kulturtatsache« ist (Rechtsphilosophie, 4 f.), doch nicht positivistisch im präzisen Sinne einer strikten Trennung von Recht und Moral. Das geht schon aus seiner Rechtsphilosophie von 1932 hervor, weil und sofern sie den Rechtsbegriff »ausrichtet an der Rechtsidee«, welche »keine andere sein [kann] als die Gerechtigkeit« (29 f.), sodann und noch unmissverständlicher aber aus seinem 1946 erschienenen Aufsatz Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht. Reklamiert Radbruch hier doch geradezu, unter dem »Gesichtspunkt« eben dieses Titels werde allerorten »der Kampf gegen den Positivismus aufgenommen« (107). Dieser einflussreiche Aufsatz, der die theoretische Grundlage für die juristische Aufarbeitung des NS-Unrechts gelegt hat und dann später auch für die Aufarbeitung des DDR-Unrechts herangezogen wurde, ist hier deshalb von besonderem Interesse, weil er, ähnlich wie Kelsen, der Sache nach dem Kantischen Revolutionsverbot widerspricht und das Problem des rechtsfreien Raumes in einer Weise aufwirft, die dem bei Kelsen mitgedachten Systemwechsel noch vorausliegt. Zunächst jedoch sei ein kurzer Blick auf das geworfen, was die Rechtsphilosophie von 1932 hinsichtlich dieses Problems ausführt.
Radbruch eröffnet ihren § 28 über das Völkerrecht mit den folgenden Worten: »Es liegt im Wesen rechtlicher Ordnung, universal zu sein. Recht kann eine Teilregelung nicht treffen, ohne schon durch die Auswahl des geregelten Teils – eben durch den Ausschluss von Rechtswirkungen – Stellung zu nehmen. Deshalb ist ein ›rechtsleerer Raum‹ immer nur vermöge des eigenen Willens der Rechtsordnung rechtsleer und überhaupt nicht im strengen Sinne rechtsleer, nicht ein rechtlich ungeregeltes, sondern ein rechtlich im negativen Sinne geregeltes Tatsachengebiet. Die Rechtsordnung hat in dem angeblich rechtsleeren Raum nichts gewollt« (181; Hvg. G. E.). Diese Absage an den Gedanken eines rechtsfreien Raums ist unzweideutig. Sie wird dadurch noch unterstrichen, dass Radbruch dem Nebeneinander einzelstaatlicher Rechtsordnungen, aus deren Konkurrenz ein solcher zu resultieren scheinen könnte, den Gedanken eines ihnen übergeordneten Weltrechts entgegensetzt: »Scheinbare Anarchie neben oder über einer Rechtsordnung ist also in Wahrheit anarchische Regelung des fraglichen Tatsachengebiets durch die Rechtsordnung, seine Auslieferung an das freie Spiel der in ihm wirkenden Kräfte. Auch eine andere Rechtsordnung gilt vom Standpunkt einer bestimmten Rechtsordnung nur, weil diese jene[n] Raum gewährt hat – freilich erhebt jene andere Rechtsordnung auch ihrerseits den Anspruch, aus eigener Kraft zu gelten und ihrerseits anderen Rechtsordnungen erst die Möglichkeit zur Geltung geschaffen zu haben. Deshalb umfaßt der Geltungsanspruch jeder einzelnen Rechtsordnung den gesamten Erdball [...] Jede Rechtsordnung erhebt den Anspruch, Weltrecht zu sein« (181). Damit wird zwar die »Denknotwendigkeit der Krönung des Rechtssystems durch ein Weltrecht« von den Implikationen des »inländische[n] Rechts« her gewonnen, also darauf gegründet, dass »jede einzelne nationale Rechtsordnung« behauptet, »selbst diesen weltrechtlichen Abschluß in sich zu tragen«. Darüber hinaus aber visiert Radbruch hier doch auch bereits jene transnationale Ebene an, welche die heutige Diskussion des Gedankens eines universal-ubiquitären Weltrechts charakterisiert, wenn er betont, dass »das Erfordernis der Rechtssicherheit das Dasein eines Völkerrechts über allen nationalen Rechtsordnungen« verlange (ebd.).
Die Annahme eines rechtsfreien Raumes ist also für Radbruch Ausdruck einer Verkennung der spezifischen Logik des Rechts und seiner wesensmäßigen Universalität, der zufolge sich positiv-rechtliche Regelungen via negationis über ihren direkten Referenzbereich hinaus auch auf jene Bereiche beziehen, die sie nicht direkt ansprechen und die insofern als durch positive Bestimmungen ungeregelt erscheinen. Da diese intrinsische Universalität des Rechts bzw. seines Geltungsanspruchs einmündet in die Forderung eines zuletzt transnationalen Weltrechts, eröffnet auch die faktische, d. h. geographische Begrenztheit nationaler Rechtssysteme keine rechtlichen Freiräume.
Wie aber steht es dann dort, wo es Gründe gibt, nicht nur die Gerechtigkeit dieser oder jener einzelnen Rechtsbestimmung, sondern vielmehr den Rechtscharakter einer bestimmten Rechtsordnung insgesamt in Frage zu stellen ist? Eben hier nämlich liegt der spezifisch rechtstheoretische Ertrag des erwähnten Aufsatzes von 1946: Während Kant den Rechtssubjekten zumutet, selbst ›unerträgliche‹ Gesetze zu ertragen (obschon der verkündete Naturrechtsprimat dies keineswegs erzwingt, vielmehr die gegenteilige Auskunft eigentlich fordert), und ein strikter Rechtspositivismus in der Optik Radbruchs dem Problem gesetzlichen Unrechts gänzlich hilf- und theorielos gegenübersteht, weil ihm die Geltung des Rechts zuletzt mit seiner Positivität, seiner faktische Wirksamkeit zusammenfällt, erlaubt es die in diesem Aufsatz entwickelte, heute so genannte ›Radbruchsche Formel‹, »ganze Partien nationalsozialistischen Rechts [als] niemals zur Würde geltenden Rechts gelangt« (Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, S. 216) abzuweisen– und wirft so ganz unmittelbar die Frage auf, ob nicht gerade dann, wenn einer empirisch-faktisch, d. h. zu einer bestimmten Zeit auf einem bestimmten Territorium geltenden Rechtsordnung der Rechtscharakter insgesamt abgesprochen wird, ein rechtsfreier Raum entstehe?
Von der Suggestivität dieser Frage lasse man sich nicht irritieren. Die Negation einer positiven Rechtsordnung schafft nur bei vordergründiger Betrachtung einen Freiraum. Als bloße, unbestimmte Negation, also als Negation ›des‹ Rechts schlechthin bliebe sie so abstrakt wie subjektiv, ohne alle Verbindlichkeit und daher auch ohne rechtliche Relevanz. Solche kann ihr nur zukommen, wenn sie bestimmte Negation, mithin Negation einer bestimmten Rechtsordnung ist. Die Geltung einer bestimmten, d. h. zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort bestehenden Rechtsordnung lässt sich bestreiten aber nur im Rekurs auf einen anderen, einen höheren Rechtsbegriff, der insofern ›überpositiv‹ ist, als er die Geltung des Rechts eben nicht auf seine Positivität (faktische Wirksamkeit) reduziert. Das geht aus der Radbruchschen Formel denn auch in aller Deutlichkeit hervor. Ausgehend von einer Abwägung der in Frage stehenden Rechtsgüter knüpft Radbruch dabei an die schon 1932 exponierte Bestimmung der Gerechtigkeit als der Rechtsidee an: »Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahingehend zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ›unrichtiges Recht‹ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ›unrichtiges Recht‹, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren denn als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinn nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.« (216) Man wird nicht sagen können, dass ein ›rechtsfreier‹ Raum dort entstehe, wo Widerstand gegen eine bestehende Rechtsordnung die Idee des Rechts heranzieht und heranziehen muss, um sich zu legitimieren.
Literatur
HEGEL, G.W.F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke in
zwanzig Bänden, Frankfurt/M. 1970, Bd. 7.
KANT, I.: Metaphysik der Sitten. Erster Teil: Rechtslehre,
Akademie-Ausgabe Bd. IV, S. 203-372 (zitiert nach der Paginierung
der Originalausgabe Königsberg 1797).
KELSEN, H.: Reine Rechtslehre, Leipzig / Wien , 21960.
RADBRUCH, G.: Rechtsphilosophie, Leipzig 1932, Nachdruck Heidelberg
1999.
DERS.: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, zuerst in:
Süddeutsche Juristen-Zeitung 1946, wieder abgedruckt in: Ralf Dreier u. Stanley
L. Paulson (Hg.): Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, S.
211-219.