Hans P. Lichtenberger
Normkritik als Thema der philosophischen Tradition

I  Normen und Werte

Normen werden schon immer kritisiert. Die europäische Philosophie beginnt mit Normenkritik. Dass bisher Übliches fragwürdig wird, ist primär kein philosophischer Vorgang, sondern ein Prozess gesellschaftlicher Evolution. Wenn er die Fragen auslöst, die wir ›philosophisch‹ nennen, so bewegen sich diese immer in der Ambivalenz von Kritik und Legitimation, von Tradition und Innovation. Wir haben es hier nicht nur mit sich verändernden Verhältnissen, sondern ebensosehr mit einer wandelbaren Vernunft zu tun.

Der Terminus ›Norm‹ ist, obwohl die Übersetzung des griechischen ›Kanon‹, ebenso wie der Terminus ›Wert‹ ein Kind des 19. Jahrhunderts. Erst rückblickend wird er dazu gebraucht, so unterschiedliche Phänomene wie Nomos, Ordo, Prinzip, Regel, kat. Imperativ u.a. in einer Deutungsperspektive zu sehen. Im öffentlichen Sprachgebrauch werden Normen und Werte heute zumeist nicht unterschieden. Dies ist verräterisch, denn die lebensweltliche Heimat des modernen Wertbegriffs ist die Ökonomie – wie schon bei Marx nachzulesen. Dass er gleichwohl seit dem späten 19. Jahrhundert eine ethisch-ideologische Karriere antreten konnte, hat selbst eine normenkritische Spitze: ließ er sich doch gegen den vermeintlichen Formalismus und die angebliche Inhaltsleere der Kantischen Ethik wie auch gegen den Rechtspositivismus zunächst als inhaltsgesättigtes Absolutum in Stellung bringen. Etwas davon klingt heute noch nach in ›Grundwertediskussionen‹, nebulösen ›Wertegemeinschaften‹ oder wertegefährdenden Kopftüchern.

1.

In der europäischen Geschichte von Ionien bis Jena lassen sich zwei Grundtypen unterscheiden, die in Bezug auf das Normenproblem produktiv werden:

a) Der erste Typ sieht die Welt als im Argen liegend an; er setzt ihr deshalb eine kontrafaktische Welt der aus Vernunft gegründeten Normen entgegen. Hauptvertreter sind Platon und Kant, ein heutiger Nachklapp findet sich in der Diskursethik. Er artikuliert die für jede Norm konstitutive Spannung zu einer nicht adäquaten Wirklichkeit.

b) Der zweite Typ sieht in der Welt jedenfalls ein gewisses Maß an Ordnung verwirklicht, sei es als kosmischer Zusammenhang oder als Produkt einer historischen Entwicklung. Ersichtlich können als Klassiker hier Aristoteles und Hegel genannt werden. Argumente dieser Art sind in vielfältigen Formen seit langem in der Auseinandersetzung mit den Beschleunigungsprozessen moderner Gesellschaften in öffentlichem Gebrauch.

Während im ersten Fall das Interesse sich auf Begründung und Durchsetzung von Normen konzentriert, geht es im zweiten Fall primär um die Fragen der Stabilisierung guten Lebens in faktisch vorgegebenen Situationen.

Ersichtlich wird in beiden Fällen ›Normkritik‹ Unterschiedliches bedeuten:

a) im ersten Fall wäre Normkritik die Kritik an der Möglichkeit überhaupt universalistischer, abstrakter Normen; der Typ b) ist bereits die Verkörperung dieser Kritik.

b) im zweiten Fall bezieht Normkritik sich auf historisch, kulturell, sozial etc. kontingente Normen bzw. Werte, deren Bindungskraft aus Gründen welcher Art auch immer in Frage steht.

Normen beziehen in diesem Fall ihre Gültigkeit aus ihrer faktischen Anerkennung. Diese kann unbefragt auf Sitte und Tradition beruhen, sie kann auch durch ein korrektes Normgebungsverfahren gegeben sein, oder durch stillschweigende oder explizite Übereinkunft. Gemeinhin sind Normen legitimiert durch das Verfahren ihrer Inkraftsetzung, Normenkritik steigert ihre Durchschlagskraft, wenn sie sich nicht auf beliebige Inhalte, sondern auf die Verfahren der Legitimation bezieht.

Dass Normen anerkannt sein müssen, deutet schon hinüber in das Reich der Werte. So wird sich die Kritik von Normen vor allem beziehen auf mangelnde oder auf nicht mehr anerkannte Legitimationen, z. B. dem Willen des Herrschers wird der Volkswille entgegengesetzt, oder auf mangelnde Lebensdienlichkeit z. B. restriktive Sexualmoral. Zumeist geht es undramatischer ab: gesellschaftliche Rahmenbedingungen haben sich verändert; eine welke Haut wird schmerzlos abgestreift. Diese Gravitationswechsel werden üblicherweise unter den Etiketten Ordnung oder Freiheit abgehandelt.

Normenabweichungen haben hier eine grosse Bandbreite; sie müssen auch nicht immer begründet werden. Sie reichen von schlechtem Benehmen bis hin zu krankhaft, sittenwidrig oder kriminell.

Anders steht es mit Normen des ersten Typs, die sich nicht auf soziale Akzeptanz, sondern auf Legitimation durch Vernunft gründen. Sie setzen die Abstraktion von historischer Kontingenz voraus, sie prätendieren Universalität, sie kommen im Heiligenschein des Unwandelbaren und Apriorischen daher. Dieser ist allerdings erkauft mit dem Verlust lebensweltlicher Bindung. Diese Grundnormen sind keine materialen Handlungsvorschriften, sondern formale Regeln zur Handlungsbeurteilung. Sie bleiben darauf angewiesen, dass ihnen Inhalte gegeben werden, die sie nicht aus sich erzeugen können. Dies gilt insbesondere für die Institutionalisierung von konkreten Normen .

Das Problem der Supernormen ist weniger ihre rationale Bestreitbarkeit – da sie definieren, was praktische Vernunft ist, sind sie bequemerweise einwandsimmun – als ihre mangelnde Vermittlung mit Fall und Situation. In derselben Lücke stellt sich die nur mühsam zu beantwortende Frage nach der Motivation, sich solchen universellen Normen zu unterwerfen und sie zu exekutieren. Damit einher geht zwangsläufig eine dualistische Anthropologie, die die Überanstrengung des Handelnden planmässig einbaut. Da universelle Normen so hoch hängen, dass sie zu wenig verpflichten, werden Kritikpunkte weniger die Grundlegung, als vielmehr unbefriedigende lebensweltliche Konsequenzen betreffen.

Man kann das auch so sagen: Wer auch immer von bestimmten Normen abweicht, bewegt sich im Spielraum der Regelverletzung, die auch produktiv sein kann. Im günstigen Falle realisiert er einen subjektiven Bedeutungsüberschuss, der zur Veränderung oder Weiterentwicklung der Normen führen kann. Tatsächliche Abweichungen von der Grundnorm sind wegen deren rigider Universalität jeweils unvermeidlich und im Rahmen üblicher Regeldevianzen durchaus verkraftbar. Wer jedoch die Grundnorm prinzipiell bestreitet, riskiert das Chaos eines rechts- und moralfreien Zustandes.

Vor dieser desaströsen Konsequenz sind die meisten Theoretiker zurückgeschreckt – Ausnahmen sind vielleicht Nietzsche und die antiken Kyniker. Das Augenmerk konzentriert sich daher auf gesellschaftliche und mentale Stabilisatoren mittlerer Reichweite, die aus dem Dilemma zwischen universalistischer Supernorm und kontingent gesetzten bestimmten Normen herausführen. Im Unterschied zum Normbegriff hat sich dafür der Wertbegriff eingebürgert, wie gesagt ein Begriff des 19.Jahrhunderts, der gleichwohl ein Phänomen bezeichnet, das so alt ist wie das Nachdenken über das Soziale überhaupt. Grob gesagt, bewegt man sich auf einer aristotelischen Spur.

2.

Die Orientierung an Werten ist selbst eine Form der Normkritik. Dabei sind als Gesichtspunkte leitend:

a) Normensysteme beschreiben nicht ihren eigenen Sinn und Zweck, können also auch nicht angeben, wann der intendierte Zweck besser durch Abweichung von der Regel erfüllt wird.

b) Normen setzen gleich, was nicht gleich ist. Sie können empfindbar ungerecht werden, wenn sie nicht Ungleiches als ungleich behandeln.

c) Normen gehen deshalb an der Identität von Personen vorbei; Werte hingegen konstituieren Identität.

d) Normen unterwirft man sich aufgrund von Einsicht oder Androhung von Sanktionen; Werte motivieren eigendynamisch. Das heißt, Werte müssen verinnerlicht sein, Normen hingegen nicht.

e) Normsysteme gründen auf positiver Setzung, sie brauchen Legitimationen. Werte entwickeln sich quasi natürlich mit den jeweiligen Lebenswelten, die Frage nach ihrer Legitimation indiziert bereits ihre Brüchigkeit.

Mit alledem ist noch nicht gesagt, was Werte sind. In der Tat entziehen sie sich gemeinhin einer Definition. Werte werden nicht durch Räsonnement geschaffen, sondern bestenfalls freigelegt oder erkannt. Sie werden habituell eingeübt. Ihre Kommunikationsform ist narrativ, nicht diskursiv. Fassbar werden sie im konkreten Handeln oder wenn sie in Normbildungen in Erscheinung treten. Sie bilden jenen unthematischen Horizont der Normenbildung, der durch diskursive Argumentation nie restlos ausgeleuchtet werden kann. Das heißt, Werte sind Fakten, die sich nicht wie Normen als Imperative ausdrücken.

Damit ist nicht gesagt, dass über Werte wie Glück, Freundlichkeit, Toleranz etc., aber auch Egoismus, Rücksichtslosigkeit, Brutalität etc. nicht argumentiert werden könne, sondern lediglich, dass solche Werte beeindruckend unbeeindruckbar sind gegenüber Argumentationen.

Werte sind Orientierungen darüber, was Gemeinschaften oder Individuen für sich als gutes Leben ansehen. Sie sind zwar flexibel, aber doch auf längerfristige Stabilitäten angelegt, darin vergleichbar Weltbildern, die sie oft auch konstituieren, gegen Poppersche Falsifikationen weitgehend gefeit.

Sie sind historisch und kulturell geworden, doch sie verpflichten ihre Partizipianten absolut. Sie sind gemeinschaftlich, ohne universalistisch oder bloß partikular zu sein. Insbesondere werfen sie ein Problem auf, das die traditionelle Moralphilosophie nicht lösen konnte: Werte entstehen aus nicht bewussten Intentionen – quasi naturwüchsig – und werden zugleich als höchster Ausdruck unserer Freiheit, Freiwilligkeit und Identität empfunden. Aus diesem Grunde wird auf die Verletzung von Werten auch viel emotionaler und aggressiver reagiert als auf die von Normen.

So ergibt sich eine – sicher etwas schematische – Gegenüberstellung von Werten und Normen:
Werte sind verinnerlichte Orientierungen, die historisch und kulturell vorgegeben sind, übernommen werden, partikulare Prägung haben. Sie sind identitätsbildend, attraktiv und motivierend. Ihre Geltung gewinnen sie daraus, dass sie auf Zielsetzungen des guten Lebens bezogen sind. Werte lassen sich nicht deduktiv aus höheren Prinzipien ableiten, sie lassen sich aber nur verstehen von dem her, was eine Gemeinschaft oder ein Einzelner für ‹gutes Leben‹ oder ›Glück‹ hält. Wegen dieser personalen Bindung sind Werte durchlässig für Ausnahmen: im Namen von Werten können Normen verletzt werden, z. B. beim Tyrannenmord oder der menschenfreundlichen Lüge.

Es ist klar, dass wir uns hier in einem argumentativ weichen und sumpfigen Gelände befinden – zumal in einem Zeitalter, da Werte in Gestalt von Fanatismen und Fundamentalismen die öffentliche und internationale Szene beherrschen. Doch gerade darin zeigt sich, dass Wertbindung primär affektiv ist.

Normen dagegen sind auf die Regelung interpersonaler Beziehungen angelegt; ihre Geltung verdankt sich der Rechtmäßigkeit der sie begründenden Verfahren. Sie sind obligatorisch und bedürfen extrinsischer Sanktionen. Auf personale Identitäten dürfen sie gerade keine Rücksicht nehmen, da sie sich in komplexen Gesellschaften auf multiple Rollen beziehen. Normen werden als restriktiv erfahren, im Idealfall wollen sie durch rationale Einsicht anerkannt oder als pragmatisch unvermeidbar akzeptiert werden.

So ergibt sich ein Widerspiel von Normenkritik im Namen der Werte und Wertekritik im Namen der Normen, die das Unbestimmte, Offene, Vorbewusste, Affektive der Werte angreift. In komplexen, hochregulierten Gesellchaften vollzieht sich Entwicklung in diesem Spannungsfeld.

In diesen Kreis gehört auch das alte Thema des Verhältnisses von Recht und Moral. Die anspruchsvolle philosophische Problematik beiseitelassend, kann man feststellen, dass es in der gängigen Rhetorik und Ideologie die Form angenommen hat, es handle sich in etwa um zwei konzentrische Kreise, bei denen der weitere Kreis, die Moral, das regle, was zu regeln das positive Recht nicht imstande sei, bzw. Voraussetzungen oder Motivationen biete, die das Recht aus sich selbst nicht liefern könne. Wie alle Ideologien ist auch diese verschleiernd. Im Unterschied zu Rechten ist Moral nicht sanktionierbar. Ein rechtsfreier Raum der Moral ist für die Inhaber von Rechten chimärisch – von Filbinger bis Esser. Die Differenz von Gerechtigkeit und Recht ist eine gefühlte, die ausdrückt, dass Normen und Werte inkongruent sind.

Auf die darin angelegte gesellschaftliche Dynamik ist am Schluss zurückzukommen. Zuvor ist eine grundsätzliche Beobachtung festzuhalten: je stabiler und fixierter die gesellschaftlichen Verhältnisse sind, desto heftiger die Ausbruchsneigung, die Normenkritik und der Ruf nach alternativen Werten, bzw. der Einlösung der nie verwirklichten aber proklamierten Leitwerte. Je krisenhafter die gesellschaftliche Situation ist, desto massiver das Bedürfnis nach Normierung und nach stabilen deckungsgleichen Werten.

II Historische Streiflichter

Das soeben Angedeutete soll ein wenig exemplifiziert werden an einigen Streiflichtern aus der Philosophiegeschichte – ohne Anspruch auf Neues, lediglich in der Absicht, weitergehende Assoziationen in Gang zu setzen.

1.

Eingangs hieß es, dass Normkritik so alt sei wie die Philosophie. Dabei ist jener Strang der vorsokratischen Philosophie im Blick, den wir gemeinhin als Sophistik bezeichnen. Man wird sie wohl eher als Wertekritik verstehen müssen, denn die sophistische Aufklärung reagiert auf die Krise der altgriechischen Adelsgesellschaft und relativiert deren bis dahin gültige Werte.

Zugespitzt könnte man sagen, dass die Sophistik Werte als Normen gedeutet und entzaubert hat. Ethische und rechtliche Institutionen beruhen nicht auf der Ordnung des Kosmos oder einem naturrechtlichen Apriori, sondern auf bloßer Konvention (thesei, nicht physei). Sie sind daher variabel ohne einen verbindlichen Maßstab. Die Kulturtheorie der Sophisten zeigt ihre partikulare Geltung auf; sie bereitet damit einer Unterscheidung von positivem Recht und Naturrecht den Boden, ohne doch auf ein solches im späteren stoischen Sinne rekurrieren zu können. Allerdings hat das positive Recht die Funktion einer Unterdrückung der Natur, die auf hedonistische Selbstbehauptung aus ist. Insofern schließt sich an die sophistische Wertekritik zugleich eine Normenkritik an.

Die späteren Nachfahren der Sophistiker, die Kyniker, die bereits Platon als grossen Antipoden im Rücken hatten, radikalisierten dieses Motiv, indem sie nicht nur die Geltung von Werten, sondern auch von Konventionen bestritten. Damit war allerdings das Ende von Argumentationen angezeigt, sie mussten sich auf Zeichenhandeln beschränken.

Im philosophiehistorischen Bildungswissen wird Platon stilisiert als der Pendelausschlag, der auf die Erfahrungen des sophistischen Relativismus und der politischen Katastrophen der athenischen Demokratie das Heil sucht in der Etablierung eines festen unveränderlichen Wertekosmos, genannt Ideen. Nun ist Platon als Ideentheoretiker weitgehend eine Konstruktion des Aristoteles; aber wirkungsgeschichtlich hat dieses Bild sich durchgesetzt. Wohl spricht Platon von den Ideen des Guten, des Gerechten, der Besonnenheit etc., doch in den Texten findet sich davon weder eine Definition – die kann es nicht geben – noch der Versuch, aus solchen Ideen direkt Handlungswissen abzuleiten. Zwar werden die Ideen als Ziele des philosophischen Wissens normativ verstanden, doch sind sie aus sich weder inhaltlich bestimmt noch operationalisierbare Maßstäbe des Handelns. Gerade für die praktischen Fragen kommt für Platon nur die »zweitbeste Fahrt« in Frage, die dialogische Prüfung durch den Logos. Politeia und Nomoi zeigen Platons politische Philosophie weitgehend als eine Institutionenlehre, die nur in der Metareflexion auf Ideen verweist.

So zeigt sich Platon als ein subtiler Normkritiker, indem er einerseits die bestimmte Norm dem Elenchos der Disputanten unterwirft – damit bestes sophistisches Erbe aufnehmend –, diesen aber orientiert am nicht greifbaren Kanon einer Idee, die als solche nie Bestimmtheit annehmen kann. Die Idee bezeichnet in ihrer Unbestimmtheit eher einen Wert als eine Norm. Erst unter Anwendungsbedingungen kann sie sich zu einer Norm transformieren.

Dass Platon trotzdem als der Vater aller Normtheoretiker verstanden werden konnte, ist nicht unverschuldet. Es verdankt sich zumindest zwei Motiven:

a) dass praktisches Wissen nach Art des theoretischen verstanden wurde und daher die praktische Idee sich der Interpretation als Norm anbot

b) dass eine platonische Anthropologie auf dem Dualismus von Geist und Leib, Intellekt und Sinnlichkeit aufbaut; und die Herrschaft des Intellektuellen über das Affektive die anthropologische Basisannahme für jedes Normendenken ist.

Freilich hat auch Aristoteles das Bild Platons so geschnitzt, dass er sich umso wirkungsvoller davon abheben konnte. Doch das macht die strategische Alternative deutlicher. Der entscheidende Punkt ist das Menschenbild. Ist für Platon der Mensch ein Mängelwesen, das aus dem Chaos seiner Lebensumstände nach Sicherheit strebt, entdeckt Aristoteles die Lust als Freude an einer Tätigkeit, die ihren Sinn in sich hat und darin Praxis ist.

Wir alle streben nach Eudaimonia. Doch dies ist ein vielfältiger Begriff, der sich nicht normativ oder universalistisch vereinheitlichen lässt. Vielmehr ist die Lust ein begleitendes Moment unserer individuellen Selbstentfaltung. Es gibt daher verschiedene Tätigkeiten, die in sich Freude machen, dabei aber unterschiedliche Inhalte darstellen. Der Ethiker fragt aus diesem Grunde nicht, nach welchen Normen der ansonsten orientierungslos taumelnde Mensch sein Leben führen solle, sondern er untersucht jene gewohnheitsmäßigen Orientierungen, die Menschen längst besitzen, ehe der Theoretiker auftritt. Diese unterschiedlichen Auffassungen vertreten die Menschen nicht, indem sie darüber Theorien aufstellen, sondern indem sie habituell unterschiedlichen Lebensentwürfen hinsichtlich des für sie erstrebenswerten Glücks folgen. Die Ethik selbst ist die Bewusstmachung dieser Gewohnheit. Weil die Ethik solchermaßen auf das Kontingente, Veränderliche abzielt, ist ihre Methode notwendig ungenau. Damit tritt ein Unterschied zum platonischen Modell klar ans Licht: hatte Platon mit der altgriechischen Tradition das Wissen beschränkt auf das Ewige, Unveränderliche, und dem Bereich des Werdens und Vergehens nur das Meinen zugeteilt, so wird dieser Bereich jetzt selbst Thema eines Wissens, das freilich nicht mehr von der Art normativer Ideenerkenntnis sein kann. Die Lebenswelt entzieht sich jeder gleichmachenden Normierung. – Der letzte Grund liegt wohl in einem unterschiedlichen Verständnis von Eudaimonia: während Aristoteles, gestützt auf seinen neuen Lustbegriff, realisierbare inhaltliche Glücksmöglichkeiten für das menschliche Leben artikuliert, muss Platon, gestützt auf die Negativität der Wirklichkeit, die Unerfüllbarkeit des menschlichen Glücksstrebens in die Suche nach einem transzendenten Guten verweisen.

Die Dichotomie zwischen beiden Positionen spiegelt sich in neueren Diskussionen als die zwischen dem Guten und dem Rechten. Die Frage ist, ob ein konsistentes Reflexionsgleichgewicht zwischen beiden Orientierungen erreicht werden kann, oder ob das Pendel immer in die eine oder andere Richtung schwingen muss. Das aber dürfte eher eine Frage der gesellschaftlichen Situation als die einer akademischen Konstruktion sein.

2.

In der Moderne wiederholt sich diese Konstellation im Verhältnis von Kant und Hegel. Diese ›unendliche Geschichte‹ kann hier nicht aufgerollt werden; es sollen lediglich einige Motive ihrer Genese erinnert werden.

Beim jungen Hegel konvergieren Philosophie- und Gesellschaftskritik. Die primäre Erfahrung ist die eines Zeitalters, das als Epoche der Entfremdung und Repression der Spontaneität erlebt wird. Das Gegenbild einer Ganzheit des Lebens, die nicht von toten Normen beherrscht wird, erstrahlt im rückwärtsgerichteten Ideal der schönen griechischen Polis.

Kant nimmt in dieser Sicht eine zwiespältige Stellung ein. Sein Pathos der Freiheit ist für das moderne Selbstbewusstsein unverzichtbar; doch seine Bindung der Freiheit an die moralische Gesetzgebung weist ihn zurück in die Welt der Entfremdung. In Hegels Lesart müsste der Kantische Appell zur Freiheit in der Durchführung scheitern, weil Freiheit sich nicht vom Herrschaftsgedanken emanzipieren konnte. Solange Freiheit auf dem Zwiespalt von Pflicht und Neigung, Verstand und Sinnlichkeit, Begriff und Leben beruhe, sei sie ein inkonsistenter Begriff. Das Ideal wäre jenes Modell, in dem die Ganzheit und Integrität eines expressiven Lebens versöhnt wäre mit der Freiheit moralischer Selbstbestimmung. Hingegen sei bei Kant der Unterschied zwischen dem Heteronomen und dem Autonomen lediglich der, »dass jener den Herren ausser sich, dieser aber den Herren in sich trägt, zugleich sein eigener Knecht ist« (Hegel TWA Bd 1, 324). Normierungen zerstören die Einheit des schönen Lebens – es spricht gegen die Norm, dass sie unästhetisch ist.

Der junge Hegel hat hier den Kantischen formalen Begriff der Freiheit mit dem aristotelisch-teleologischen Verständnis der Eudämonie konfundiert. Das konnte nicht gutgehen. Das juvenile Programm einer Wiedergewinnung verlorener Einheit ist nicht auf Kantischer Basis machbar. So suggestiv Hegels Kritik an Kant als einem Theoretiker der Entfremdung auch klingen mag, sie bleibt abstrakt, weil sie den Gegensatz von Vernunft und Leben nicht vermittelt, sondern perpetuiert: »je fester und glänzender das Gebäude des Verstandes ist, desto unruhiger wird das Bestreben des Lebens, das in ihm als Teil befangen ist, aus ihm heraus sich in die Freiheit zu ziehen.« (TWA Bd 2, 20). Normenkritik im Namen der Liebe oder des Lebens mag analytisch treffend und persuasiv überzeugend sein; doch sie bewegt sich in jenem weichen Medium, als das der spätere Hegel das Gefühl gekennzeichnet hatte.

Hegel musste das uneinlösbare Konzept ändern. Die Folgen sind bekannt: eine Institutionenlehre, die gewiss plausibler zu lesen wäre, würde sie nicht dem Individuum die fragwürdige geschichtsphilososophische These zumuten, dass das Wirkliche vernünftig sei.

3.

Im 19. Jahrhundert tritt der Begriff ›Wert‹ an die Stelle, an der vordem in der Tradition der Begriff des ›Guten‹ stand. Dem Wertbegriff aber haftet unauflöslich der Bezug zum Subjekt des Wertens an. Aus dieser Wende zur Subjektivität folgt zwangsläufig die Frage nach der Entstehung von Werten, deren Kontingenz zum Thema historischer und psychologischer Erklärung wird. In seiner Genealogie der Moral (1887) stellt Nietzsche die Leitfrage: »unter welchen Bedingungen erfand sich der Mensch jene Werthurteile gut und böse? und welchen Werth haben sie selbst?« (KSA Bd 5,249f). Damit will er nicht nur in einer Hermeneutik des Verdachts die Entstehung der Werte erklären, sondern sie überhaupt infragestellen. Eine Differenzierung von Werten und Normen ist bei Nietzsche wohl nicht zu sehen. Bekannt ist die Grundthese: der Mutterschoß der Werte ist das Ressentiment der Schwächeren. Alle Wertsysteme gerade auch das Christliche, Kantische, Sozialistische – sind Systematisierungen des Ressentiments. Moral ist der lebensfeindliche Ausdruck eines dem Leben immanenten Selbstbehauptungswillens, sie entstammt einer internen Dialektik des Lebens selbst. Nietzsches Analyse zeichnet das Bild einer Geschichte, in der Werte ebenso fatal wie unvermeidlich sind. Es erscheint zwingend, dass er das Modell einer neue Werte setzenden »vornehmen« Selbstbehauptung nicht zu umreißen vermochte. Letztlich bleibt Nietzsche im Gegensatz von Norm und Neigung den Dichotomien der Moralphilosophie Kants verhaftet. Der Kritisierende bleibt an das gebunden, was er kritisiert.

III Ordnung und Wandel

1.

Das Gegenspiel von Werten und Normen ist unaufhebbar. Zwar haben Normen im Allgemeinen die bessere Legitimation, Werte hingegen die höhere Durchsetzungskraft. Werte können zu Normen gerinnen; die Versuche, über Normensetzung neue Werte zu etablieren, sind allemal gescheitert. Die Ungleichzeitigkeiten von Werten und Normen gehören zu den Triebkräften gesellschaftlicher Evolution. Dabei wäre der Eindruck falsch, dass Werte die Fackel vorantragen, vielmehr neigen Werte zum Konservativismus. Man muss nicht gleich an so ehrwürdige Institutionen wie Blutrache oder Witwenverbrennung denken. Das heißt, gesellschaftliche Konflikte spielen sich auch ab als Kampf zwischen Werten. Die Machtfrage entscheidet sich daran, welche Wertpartei die Normen setzt.

Es gibt aber auch ein Veralten der Normen. Das geschieht, wenn ihnen der lebensweltliche Boden entzogen wird. Bis neue Regelungen getroffen werden, entstehen de facto rechtsfreie Räume, die entweder Chaos bedeuten oder durch Wertsysteme aufgefangen werden. Es ist eine politische Frage, wer diesen Fall entscheidet. Solange der Zwischenzustand währt, handelt es sich nicht einfach um einen Konflikt verschiedener Ordnungen, sondern verschiedener Ordnungsebenen.

2.

Normen sind Ordnungssysteme. Jede Ordnung beruht auf der Differenz von Drinnen und Draussen, von normal und anormal. Das heißt, jede Ordnung setzt allererst das Ungeregelte als das Andere ihrer selbst. Es ist der Wahn der heutigen Regelungstechniker, dass mit immer dichteren Regelungssystemen die Komplexität der Welt in den Griff zu bekommen sei. Das Gegenteil ist der Fall: mit zunehmender Regelungsdichte steigt proportional das Maß des Ungeregelten, nicht Regelbaren. Wenn jede Ordnung ein Gleichsetzen des Nichtgleichen ist, produziert jede Ordnungssteigerung zugleich das ausgeschlossene Feld des Chaotischen. Insofern könnte es tatsächlich die Dialektik zunehmender Verrechtlichung sein, dass sie den Aufbruch in rechtsfreie Räume befördert.

3.

Innovationen treten vielfältig auf. Bevor sie sich in neuen Ordnungssystemen verfestigen, ist ihr erstes Auftreten die Regelverletzung oder die Anomalie. Sie deklarieren als normativen Wert, was die bisherige Ordnung ausgeschlossen hatte. Normatives und Anormales tauschen die Positionen. Aus der Perspektive der alten Ordnung kann dies als ein Zustand von Anarchie erscheinen. Die Neuerer hingegen operieren entweder im Namen hedonistischer Motive oder im Namen des universellen Prinzips, das gegen die Tradition geltend gemacht wird, nicht selten gepaart mit Gesten moralischer Überlegenheit. Doch der Zusammenstoß unterschiedlicher Lebensformen und -normen lässt sich durch universelle Grundnormen kaum völlig auffangen. Hier geht es nicht um Interpretationskonflikte, sondern um elementare Entscheidungen bezüglich des richtigen Lebens – letztendlich um Macht. Sie müssen im Zwischenspiel der Interaktion ausgetragen werden – der unendliche Diskurs ist eine Fiktion.

4.

Normen sind – das mag jetzt zu ihrer Verteidigung gesagt werden – auf Abweichung angelegt. Je höher die Normierung, umso grösser die Notwendigkeit der Abweichung. Inwiefern Abweichung systemimmanent oder systemtranszendent ist, ist eine Beurteilungsfrage, die sich daran bemisst, ob etwa die Elastizität eines Systems getestet wird oder seine Transformationsmöglichkeiten. Wer in Systemen denkt, wird jedenfalls Normen wie Normenkritik als stabilisierende Elemente eines selbstreferentiellen Systems ansehen.

Gegen das System mag wieder – wie unbeholfen auch immer – subjektive Erfahrung ins Spiel gebracht werden: da gibt es Brüche, Kurswechsel, Entwicklungen und Bekehrungen. Es gibt eine Triebkraft, die die Philosophie mit Ausnahme Platons meist mit spitzen Fingern angefasst hat: der Eros, der stets für Überraschungen gut ist. Man sollte sich auf ihn als Durcheinanderwerfer – Diabolos – verlassen.