Nicht erst der Krieg im Irak hat erneut die Frage nach einer legalen bzw. legitimen Gewalt aufgeworfen. Als ich das Ausstellungskonzept Die Gesetze des Vaters entwarf, gab es noch keinen Krieg im Irak. Es gab weder die legitimen oder erfundenen Kriegsgründe gegen den Irak, noch die Prozeduren der Kriegserklärung. Es gab keine sogenannten ›feindlichen Kombattanten‹ in der Guantánamo Bay im US-amerikanischen Lager auf Kuba, die weder als Kriegsgefangene, noch als Anklagte eines Anklageverfahrens anerkannt sind. Es gab noch keinen USA Patriot Act und die Twin-Towers standen noch in New York.
Seit den Kriegen in Bosnien und im Kosovo war wiederholt die Rede von einer Rückkehr des Krieges als ein Mittel der Politik und die Verschärfungen des Schubhaftsystems für »illegale Einwanderer« innerhalb der EU legen nahe, dass die Idee von einer souveränen Gewalt der Ausnahmezustände nicht am Ende ist. Eine Dominanz neu-kantianischer Vorstellungen konnte nicht verhindern, dass die Grenze des reinen Rechts von einer moralischen Politik, die mit dem Ausnahmezustand kokettiert, beherrscht wird und dass sich Diskurse souveräner Sicherheitsmaßnahmen der illegalen Einwanderung und der Terrorismusbekämpfung annahmen. Hinzu kommt die zunehmende Schwierigkeit, Polizeiaktionen von militärischen Konflikten zu unterscheiden, wie es die Ereignisse in Somalia, Tschetschenien, Bosnien, im Kosovo und in Afghanistan anzeigen. Angesichts einer gesteigerten Dynamik von terroristischer und staatlicher Gewalt und einem als »globalen Bürgerkrieg« bezeichneten Kampf, erweist sich der Ausnahmezustand zunehmend als ein herrschendes Paradigma gegenwärtiger Politik. In dieser Konjunktur der Ideen von souveräner Gewalt sind neuerliche Diskussionen über die Zusammenhänge von Politik, Gesetzgebung, Recht und Gewalt notwendig. Bedeutsam sind hierin die Fragen nach einem Recht auf Gewalt, nach der patriarchalischen Struktur souveräner Macht und die Frage: »Was kann noch politisches Handeln heißen?«
Hans und Otto Gross, Sigmund Freud und Franz Kafka gaben vier völlig verschiedene Antworten auf die Verhältnisse zwischen Politik, Recht und Gewalt: insbesondere auf die Frage nach dem Recht auf Gewalt.
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An Otto Gross’ revolutionären Schriften beeindrucken noch heute die Versuche, neue Praktiken des Zusammenlebens zu entwerfen und sich gegen ausgeübte Gewalt zur Wehr zu setzen: sei es gegen die Gewalt eines Einzelnen, die des Staates oder gegen die Gewalt ökonomischer, gesellschaftlicher, vor allem aber sexistischer Strukturen. Sie verzichten auf übliche kommunistische Termini und suchen trotz Missverständnissen die Nähe zur Psychoanalyse Freuds. Auch wenn Otto Gross die Frage des Politischen nicht von der Psychoanalyse aus beantwortete, so lenkt sein Engagement dennoch die Aufmerksamkeit auf die machtpolitischen Zustände seiner Zeit wie auch auf die gegenwärtigen Machtstrukturen, die als ebenso selbstverständlich wie legitim gelten.
Otto Gross stellt die Legitimität ausgeübter Gewalt zwischen den Geschlechtern, innerhalb der Familie und des Staates sowie zwischen den Staaten in Abrede. Er verneint nicht nur die Legitimität legaler Gewalt, sondern auch von Gewaltstrukturen, die weit über das Recht hinausgehen, aber innerhalb des Rechtsraums Normierungen durchsetzen. Zu solcher scheinbar legitimer Gewalt gehören nach Otto Gross z. B. der sexuelle Besitzanspruch innerhalb der Ehe, der lieblose Umgang mit Kindern, die Verdrängung der Affekte und die institutionellen Hierarchien. Die Geschichte der Unterdrückten – insbesondere der Frauen, der Kinder und eines Menschentypus mit »verflacht-verbreiterte[m] Bewußtsein« – scheint ihm Beweis zu sein, dass wir in einem Zustand leben, in dem Gewaltausübung übers Recht hinaus ausgeübt wird und als legitim gilt. Diese Gewalt – ob nun politisch, sozial, familiär oder juristisch – gründet sich für Otto Gross in sexual- und sozial-pathologischen Konflikten. Diesen Zustand bezeichnet er als Patriarchat, dessen souveräne Gewalt sich in der Figur des Vaters innerhalb der Familie und des Staates verkörpert.
Otto Gross verband mit dem Patriarchat eine Gewaltstruktur, die zugleich die bürgerliche Familie ist und den einzelnen Menschen, die Beziehungen zwischen den Menschen, das Innerstaatliche und das Zwischenstaatliche sowie die Ökonomie beherrscht. Ihren Ursprung sah er in der grenzenlosen Einsamkeit des Kindes innerhalb der Familie. Er sprach vom »Zwang zur Anpassung«, der aus Todesangst resultiert. Patriarchat meint alles, was psychische Traumen und Konflikte, Affektunterdrückung, geschlechtsspezifische Unterdrückung, seelische Morbidität, pathologische Verzerrungen der Persönlichkeit, aggressives Verhalten, sexuelle Beschränkungen sowie ökonomische und politische Abhängigkeiten auslöst, eine durch souveräne Gewalt, offene und verdeckte Brutalität und aufgezwungene Hierarchien bedingte Struktur. Und vermutlich muss es Unbedingtes ohne Brutalität, ohne Hierarchien und ohne souveräne Gewalt geben, um das Patriarchat zu bestimmen und zu beurteilen – jenseits der Bemächtigung, jenseits symbolischer Ordnungen der Herrschaft und jenseits eines Seins für den Tod.
Den Traum vom Ende des Patriarchats träumen. – Wie träumt man den Traum vom Vatermord? Wie träumt man die Ermordung desjenigen, der ein Vorrecht besitzt: psychoanalytisch insbesondere ein Vorrecht auf Frauen, auf ausgeübte Sexualität und die Möglichkeit, andere zu töten oder ihnen zumindest Triebsublimierung aufzuerlegen? Wie träumt man die Ermordung desjenigen, der seine Gewalt als legitim betrachtet? Was heißt es, den Tod des Vaters im Traum zu überleben? Wie lässt sich diese Beziehung zum Tod denken, die man überlebt? Ist man als Überlebender dem Tod entronnen oder verlängert sich die Gewalt als ein Sterben, das sich gegen sich selbst richtet? Ist das Überleben ein Moment, der an die Stelle äußerer Gewalt stets eine psychische Gewalt, einen inneren Konflikt setzt, wie Nietzsche und Freud nahe legten? Bedingt dieser Mord die notwendige Wiederholung dessen, wovon man sich entledigen will? Was heißt es, den Tod des Vaters zu überleben?
In einer Revolution – die mit allem auf- oder alles abräumt, was vor ihr war – müsste sich für einen Moment (und das mit aller Gewalt) das begegnen, was sich absolut fremd ist. Das unterscheidet sie vom Krieg, in dem sich mindestens zwei Souveräne, die sich gut genug kennen, um entschlossene Feinde zu sein, im Ausnahmezustand begegnen. Die Revolution ist weder ein Krieg noch ein Verbrechen. Sie ist auch kein Ausnahmezustand, denn der Ausnahmezustand wird stets vom Souverän entschieden. Hingegen soll die Revolution ein Moment der Begegnung von Fremden sein. Eine Begegnung zwischen Vater und Sohn, wie die Psychoanalyse nahe legt: der eine, der Vater, drängt auf Erbschaft und Gehorsam; der andere, der Sohn, schlägt die Erbschaft und den Gehorsam aus. Ein Moment der Begegnung zwischen dem Politischen im Sinne einer souveränen Gewalt (dargestellt in der Figur des Vaters) und dem revolutionär A-Politischen, das die Möglichkeit des Politischen, das die Figur des Vaters verneint. In gewisser Weise muss der Revolutionär immer der Fremde innerhalb einer Familie sein. Um die Familie zu verneinen, um ihr Vatermörder zu sein, muss er zur Familie gehören. Ein Widerspruch, der es keinem leicht macht, an die Familie oder an die Revolution zu glauben.
Der Mord am Vater wäre jener Moment, in dem sich Unvergleichbares berührt. Dieser tödliche Kampf müsste eine Berührung des Unberührbaren sein, ein Kampf, der ein Begreifen des anderen unmöglich macht und kein Opfer um des einen oder anderen willen zulässt. Dieser Mord wäre der Moment, in dem das gemeinsam ist, was trennt. Ein Moment der Berührung, die nichts berühren oder vereinen lässt. Der Mord müsste Gewalt und absolute Verneinung sein: eine Gewalt, die nicht die Gewalt des Vaters wiederholt und sich nicht auf seine Souveränität oder auf eine Identifizierung mit dem Vater zurückführen lässt. Eine Gewalt ohne Souverän, ohne Souveränität. Wie kann man diesen Moment von Gemeinsamkeit, den Mord, den Traum vom Vatermord, verstehen? Revolutionäre Gewalt, dieses Attentat auf den Vater, müsste ohne Zwecke und ohne Ambivalenzen von Liebe und Hass zum Vater vonstatten gehen, damit der Vatermord nicht zur Wiederholung dessen wird, was er verneint.
Gerade weil es die Gewalt des Souveräns gibt, gerade weil ihre Strukturen brutal und hierarchisch sind, gibt es diesen Traum vom Ende souveräner Gewalt. Gerade weil souveräne Gewalt auf Ausschlüsse drängt, taucht das Auszuschließende im Inneren auf. Wo immer souveräne Gewalt auftritt, träumt man von ihrem Ende. Mit dem Ende souveräner Gewalt verbindet sich der Gedanke an ein Erwachen, als ob die souveränen Gewaltzustände in den Schlaf wiegen und der Traum vom Ende der Gewalt zum Erwachen drängt. Diese Art des Traums, der zum Erwachen drängt, heftet sich unmittelbar ans Bild: sie figuriert paradiesische Zustände und im Vorfeld bekannte Feindschaften zwischen den Vätern und Söhnen oder einen uralten Bruderkrieg.
Otto Gross sieht in seinem »Zukunftstraum« – für die Zeit nach dem Traum – eine neue Generation von Frauen und Männern, mit einer neuen Erotik, neuen Beziehungen und einer neuen Nähe zueinander. Dieser Traum vom Ende souveräner Gewalt scheint glücklich zu machen. Es ist der Traum dessen, der davon träumt, den Tod zu überleben: der davon träumt, das Ende der Souveränität, des Patriarchen, des Machthabers, die Figur des Vaters, hinter sich zu lassen. Für Otto Gross verbindet er sich mit einem sexuellen Geschehen ohne Schranken und Normen, ohne Moral und Kontrolle.
Wie die Psychoanalyse erzählt, beginnen die Söhne des Vaters den Traum vom Ende des Patriarchats. Die Bedrohung der Macht des Vaters läuft jedoch nicht notwendiger Weise auf eine Tötung des Vaters zugunsten der Söhne, geschweige der Töchter oder der Frauen hinaus. Viel eher behauptet sich die Macht des Vaters in seiner Tötung und es entwickelt sich unter den Söhnen – in der Sohnesgesellschaft – ein starkes Bedürfnis nach Autorität. Es ist fraglich, ob es für Sigmund Freud überhaupt eine Revolution gegen souveräne Gewalt geben kann, die den Namen verdient, und ob sie nicht eher eine Verlängerung von Grausamkeiten ist. Jede Gewalt – gerade die gegen den Souverän – scheint die Struktur der Souveränität bzw. des Patriarchats wie ein Gespenst – weder tot noch lebend – überdauern zu lassen. Jeder Widerstand gegen die entscheidende Gewalt des Vaters bzw. des Machthabers scheint zur Souveränität zurückzuführen. Jeder Widerstand scheint für die andere Seite zu arbeiten. Sigmund Freud schreibt in Totem und Tabu, dass der Vater nach seinem Tod stärker wurde, als es der Lebende je war. Das ist die triebhafte Fatalität des Politischen nach dem Freudschen Schema der Urhorde. Dennoch fordert Sigmund Freuds Vorbehalt, Ideen und Gedanken, aber ebenso Identifizierung und Träume unmittelbar an ein Bild, z. B. an das des Vaters, zu heften, auch eine andere Lesart des Politischen heraus.
Was heißt es vom Vatermord zu träumen? – Wie träumt man einen Mord, der stattgefunden hat, ohne ein Ereignis zu sein und ohne einen Ort zu haben? Als Traum ist der Ausgang des Vatermords, die Revolution gegen die Souveränität unbestimmt. So wie es im Traum zugeht, sind das Wer und das Was, sind die Personen und die Umstände austauschbar, verschiebbar, übertragbar und damit nicht das endgültige Ziel. Womöglich ist nicht ans Ende des Traums zu gelangen. Vermutlich wird die Revolution immer noch kommen und nie zu Ende sein. Eine Revolution in der Revolution. Oder wie Otto Gross schreibt: »Es ist keiner der Revolutionen, die der Geschichte angehören, gelungen, die Freiheit der Individualität aufzurichten. Sie sind wirkungslos verpufft, sie sind geendet in einem hastenden Sicheinordnenwollen in allgemein geltende Normalzustände. Sie sind zusammengebrochen, weil der Revolutionär von gestern die Autorität in sich trug.«
Im Erwachen kehrt die Autorität zurück. Also kein Ende des Träumens, um nicht das zu wiederholen, was nicht sein muss? Damit die Revolution nicht die Wiederholung dessen wird, was sie abzuschaffen versucht? Träumen ohne zu erwachen, um das Trennende und das Gemeinsame – den Mord – ins Unabsehbare und ins Unbegreifbare hinauszuschieben? Oder erst gar nicht anfangen zu träumen? Also nicht nach der Art des Traums zu träumen, der sich unmittelbar an ein Bild heftet: um letztlich nicht mehr zu wissen, wer der Vater ist, was der Vater sagt, was seine Gesetze besagen, um vor allem nicht mehr zu wissen, was ein Vater ist?
Anhand von vier Zitaten, die von Hans und Otto Gross, Franz Kafka und Sigmund Freud stammen, möchte ich dem Traum und dem Überleben bzw. dem Vatermord und dem untoten Vater nachgehen. Kurz gesagt: Hans Gross träumt von der Abschaffung des Gesetzes und der Notwendigkeit souveräner Richter. Otto Gross träumt einen Moses, der sich für kommende Generationen opfert. Franz Kafkas Moses kehrt ohne Erfahrung vom Berg Sinai zurück. Sigmund Freud lässt Michelangelo an die Zerbrechlichkeit der Gesetze mahnen.
Hans Gross
Ich möchte mich auf seine 1905 gehaltene Antrittsvorlesung konzentrieren. Er beginnt damit, dass er sich von seinen Lehrern distanziert, die der von Karl von Birkmeyer und Karl Binding angeführten »Klassischen Schule« des Strafrechts angehörten. Hans Gross sah sich in der Strafrechtsreformdiskussion der »Moderne[n] Schule« um Franz von Liszt zugehörig. In dieser Reform ging es um die Ablösung des Vergeltungsstrafrechts durch ein soziales, pädagogisches und präventives Zweckstrafrecht, denn die Wirkung der Strafe sollte nun in der Besserung, Abschreckung und in der Unschädlichmachung des Verbrechers bestehen. Ein Motiv war, dass die Strafe eine notwendige Folge eines rechtswidrigen Verbrechens sein sollte. Sie sollte nicht die Folge einer moralischen Schuld des Täters sein. Das andere Motiv (beide Motive wurden miteinander verknüpft) war kriminalpolitischer Art und führt auf Hans Gross’ Traum.
Karl von Birkmeyer, »ein überzeugter Anhänger der Vergeltungsstrafe«, hatte behauptet, der »Modernen Schule« gehe es lediglich um Fragen und Methoden des Schutzes und der Sicherung der Gesellschaft gegen soziale Schädlinge, die Begriffe der Schuld und des freien Willens lehne sie ab. Franz von Liszt beschrieb den kriminalpolitischen Zusammenhang: die drei »Strafzwecke« – Abschreckung, Besserung und Sicherung –, sollten »Art und Maß der Strafe« bestimmen. Für Birkmeyer waren es diese kriminalpolitischen Absichten – denen gemäß man ein präventives Strafrecht anstrebte –, die die Grundsätze des modernen Strafrechts, nulla poena sine lege (keine Strafe ohne Gesetz) und nullum crimen sine lege (kein Verbrechen ohne Gesetz) unterminierten.
Neun Jahre nach Karl von Birkmeyers Vorbehalten gegen die Strafprävention kommt Hans Gross in seiner Antrittsvorlesung wieder auf das Problem der Grundsätze des Strafrechts zu sprechen: »›nullum crimen, nulla poena sine lege.‹ Er [dieser Satz] sieht aus wie eine Parömie aus den Uranfängen allen Rechtes, stammt aber bekanntlich von Feuerbach und ist daher keine 100 Jahre alt. Aber niemand zweifelt heute an seiner Richtigkeit, seiner Unentbehrlichkeit und seiner künftigen Dauer für alle Zeiten. Sehen wir ihn aber genauer an und erörtern wir seine Wahrheit, so müssen wir sagen, sie besteht heute, aber vielleicht doch nicht für alle Zeiten.« Gross betont, es komme in der Rechtsprechung oftmals zu Widersprüchen und Ungerechtigkeiten, die daraus resultieren, dass das allgemeine Gesetz nicht jeden einzelnen Fall berücksichtigen kann: »an alle Fälle konnte das Gesetz nicht denken.« Er wies darauf hin, dass einer der Gründe für die Einrichtung des Geschworenengerichts in der Hoffnung bestand, die Geschworenen werden in »gewissen Fällen über das Gesetz hinausgehen und so offene Ungerechtigkeiten verhindern«.
Über das Gesetz hinausgehen. Aus dem Gesetz heraustreten. Es scheint, dem Hüter des Gesetzes ist nicht unbedingt zu trauen, wenn es ums Hüten des Gesetzes geht – als ob er sich jenseits des Gesetzes begibt, dorthin, wo Franz Kafkas Türhüter steht –, auch wenn Hans Gross diese Rolle noch den Geschworenen zuwies. Hans Gross geht weiter: »Sehen wir die Sache unbefangen an, so läßt sich – allerdings in sehr ferner Zukunft, die auch unsere Enkel nicht erleben werden – ein Strafrecht auch ohne Gesetz denken.«
Hans Gross beginnt zu träumen und spricht von »ideale[n] Verhältnissen« einer »zukunftsfernen, vielleicht nie eintretenden Zeit«. Seine Vision mutet revolutionär an. Was heißt es, ein Strafrecht ohne Gesetz zu denken, Delinquenten ohne Gesetze abzuurteilen? Sein Traum läuft auf die Suspendierung des Gesetzes und der bestehenden Rechtsordnung und damit auf einen rechtsfreien Raum hinaus. Ein Strafrecht ohne Gesetz, samt Urteil und Strafe. Hans Gross liegt nichts ferner, als diesen Zustand des rechtsfreien Raumes – in Worten von Carl Schmitt gesprochen – mit »eine[r] Anarchie und ein[em] Chaos« verwechseln zu lassen. Trotz der Suspendierung des Gesetzes soll ihm jener visionäre rechtsfreie Raum immer noch den Zustand der Ordnung von Staat, Gesellschaft und Gemeinschaft und deren Sicherheit garantieren. Zumal die präventive Sicherheit der Ordnung soll garantiert bleiben. Ein Raum der Sicherheit ohne Gesetzesordnung. Zu dieser »neue[n] Einwertung und Umwertung« des Raumes visiert Gross in jener Zukunft Richter an, »welche ohne Zwang und störende Einschränkung des Gesetzes so entscheiden, wie es den Umständen entspricht.« Sein Traum der Vergeltung läuft auf die Verkürzung des Verfahrens zwischen Untat und Vergeltung hinaus, die jeden Verzug der Vergeltung – theologisch bis zum Jüngsten Gericht – als leere Zeit betrachtet. Die leere Zeit der Vergebung zwischen Untat und Vergeltung, die als Aufschub im Drängen der Vergeltung einbricht, soll suspendiert werden, wie jede reaktionäre und faschistische Politik eine Suspendierung der leeren Zeit der Vergebung betreibt.
Die kommende Suspendierung der Rechtsordnung, die radikale Suspendierung des Aufschubs von Vergeltung soll durch die Rechtsordnung geschehen, die Schaffung des rechtsfreien Raumes innerhalb des Rechts und der Ordnung stattfinden. Sie liegt in jener zukunftsfernen Zeit, auf die sich Gross’ Äußerungen zur Umwertung der Strafrechtsreform hinbewegen. Künftig sollen Richter außerhalb der Rechtsordnung stehen und dennoch der Rechtsordnung angehören, die sie präventiv zu schützen haben. Dieser rechtsfreie Raum, in denen jene Richter agieren, wäre ein Raum, »in dem eine Gesetzeskraft ohne Gesetz zum Einsatz kommt« (Agamben, 2003: 62). Die Gewalt des Gesetzes, jene Äußerlichkeit des Gesetzes, soll ohne Gesetz zum Gesetz werden. Eine reine Gewalt, eine gesetzlose Gewalt (den zukünftigen Richtern zugestanden), die selbst Gesetz, d. h. legitim ist, ohne reine Gewalt zu sein.
Die Abschaffung des Gesetzes, das Ende und der Tod des Gesetzes sollen einen Bereich »ohne Zwang und störende Einschränkungen des Gesetzes«, einen rechtsfreien Raum, »wie es den Umständen entspricht«, garantieren. In diesem Traum, sofern Hans Gross das Ende des Traums träumt, hätten sich die Richter vom Vorrecht des Gesetzes gelöst, um das Vorrecht des Gesetzes, zwar zwingend und dennoch vergebend zu sein, sich anzueignen und zugleich auszulöschen. Im Erwachen der Richter wäre die Verneinung des Gesetzes mit aller Gewalt ins Gegenteil gewendet. Die Verneinung des Gesetzes kehrt in lebendiger Weise – »wie es den Umständen entspricht« –, in den Entscheidungen der Richter wieder, um die Passivität und jeden Aufschub des Gesetzes zu tilgen. Die Verneinung des Gesetzes gerät zur Verlebendigung und Auferstehung des Gesetzes – vorausgesetzt, man glaubt an die Rückkehr des scheintoten Gesetzes in der Verkörperung lebender und »idealer Richter«. Carl Schmitt bezeichnet diese Politik der Ausnahmezustände als Politische Theologie.
Otto Gross
Otto Gross schreibt an seine Geliebte Frieda Weekley, »dass sich in Dir, Geliebte, mein Zukunftstraum bereits erfüllt, mein ethisches Ideal als Wirklichkeit bestätigt hat [...].« Er will ihr seinen Traum erzählen und im selben Satz teilt er ihr mit, dass er sich schon erfüllt hat: »[...] das Weib, dass (sic) ich [Otto Gross] für kommende Geschlechter träume, das hab’ ich gesehen und geliebt«. Wie kann sich ein Traum erfüllen und zum Erwachen drängen, dass er Wirklichkeit wird? Wie konnte Frieda Weekley diese Wirklichkeit eines alten Ideals je sein? Otto Gross schreibt weiter, um ihr ihre Wirklichkeit zu erklären: »Du, weisst Du noch aus der Bibel: es durfte doch keiner in’s gelobte Land hinein, der noch in Ägypten – als Knecht – gewesen war [...].«
Ins Gelobte Land, diese Wirklichkeit des Traums, darf keiner, der noch unter dem Joch des Patriarchats, gleichsam der Knechtschaft Ägyptens, geboren ist. »[E]rst als Die alle in der Wüste gestorben waren und eine neue Generation geboren war – geboren in der Wüste, auf der Irrfahrt, im Elend aber in der Freiheit – erst diese neue Generation kam in’s gelobte Land – zum Sieg, zur Herrschaft –«. Ohne weiteres gelangt einer weder ins gelobte Land noch in die erträumte Wirklichkeit namens Frieda Weekley. Niemals gehören diejenigen, die den Kampf, die Strapazen und die Mühsal auf sich nehmen, diejenigen, die aus Ägypten ausgezogen sind, zu denen, welche ins Gelobte Land einziehen. Die Wüste und der Tod bergen Rettendes: eine neue Generation von Wüstensöhnen, denn die Frauen (sprich: Weiber) der Zukunft sind wie das Gelobte Land: Landschaften, auf welche sich die Karawanen der neuen Söhne zu bewegen.
Es wird hier nicht ganz deutlich, ob sich Otto Gross für einen In-der-Wüste-Geborenen hielt oder sich zu denen zählte, die in der Wüste sterben. Nur die elternlosen Kinder, in Elend und Freiheit geboren, dürfen ins gelobte Land einziehen, Wüstensöhne, die dem alten (d. h. idealen) und zukünftigen Gesetz der alles überwachenden und später nährenden Mutter, die immer schon im Hintergrund da war, gehorchen. Frieda Weekley hingegen gehörte weder zu denen, die aus Ägypten auszogen noch zu den Kindern der Wüste. Sie war das gelobte Land, die Landschaft kommender Kinder. Weder konnte sie sich auf sich selbst beziehen noch hatte sie eine Zukunft vor sich. Um ins Gelobte Land einzuziehen, wäre eine Distanz, eine unendliche Strecke, ein Tod mitten in der Wüste, eine Distanz zum Land wie zum »vorausgeträumten Weib« notwendig: »bei Dir ist nur die jetzige Minute und die Zukunft wahr, was früher gewesen ist, das bleibt zurück; denn Du erlöst von aller Vergangenheit.« Frieda Weekley war – so Otto Gross –, was sie war bzw. ist: ein »vorausgeträumte[s] Weib der Zukunft«, das zur Wirklichkeit gewordene Ideal der Wüstenkinder. Als Zukunft, Weib und Mutter wird sie sich den freigeborenen Kindern zuwenden.
Otto Gross schreibt: »Das ist ein herrliches Symbol: zur herrschenden Freiheit zum Adel der schönen und selbstverständlichen Sicherheit – dazu ist keiner berufen, der noch die alten Fesseln getragen hat – auch Moses, auch der Befreier selber nicht –. Nur wer in der Freiheit der Irrfahrt geboren ist– die Suchenden, denen die Freiheit als Opfer, als strenges Gelöbniss vertraut geworden ist – die jede Noth und Gefahr des Suchens, des irrenden Strebens, des täglichen Kampfes – die alles Elend aber nicht die Gewohnheit der Fesseln kennen – erst diese neue Generation wird eine Herrschaft, eine sichere selbstverständliche Adelsherrschaft der freien Schönheit errichten...«
Moses erschaut aus der Ferne das Gelobte Land. Auch für Freud wurde diese Moses-Szene zur Apostrophe. Er schickte sie 1909 an Carl Gustav Jung, um Bezüge zwischen Psychoanalyse und Psychiatrie zu benennen: »Sie werden als Joshua, wenn ich der Moses bin, das gelobte Land der Psychiatrie, das ich nur aus der Ferne erschauen darf, in Besitz nehmen.« (Derrida, 2002: 45) Hingegen bleibt es bei Otto Gross unausgesprochen, ob er in der Theatralik seines Zukunftstraums die Figur des Moses darstellte oder eine der namenlosen Gestalten aus den Reihen der neuen Generation. Doch heißt es in einem anderen Brief an Frieda Weekley, sie sei aus der Ferne sein »Leuchtfeuer« bzw. sein »Kreuz des Südens«: »Seit jener Nacht [einer Nacht auf dem Schiff, vermutlich nach England unterwegs] giltst Du mir von den Sternen für mich vorausbestimmt – Du Kreuz des Südens über meiner Fahrt –«. Mit der Ferne verbindet sich – an Moses erinnernd, der in einem Akt der Freiheit das Volk der Juden kreierte – »eine heisse und verlangende Sehnsucht darnach, dass unsere Liebe fruchtbar werden soll« .
Moses schillert im Zukunftstraum des Otto Gross zwischen den Figuren des Befreiers und des Vaters, er ist Knecht und Revolutionär. Vor allem ist er der Liebhaber einer zukünftigen Mutter. Als diese komplexe Figur musste er sein Leben in der Wüste hergeben: ein Befreier wird stets aus der alten Zeit seines Kampfes gegen die Autorität diese Autorität in sich tragen. Erst wenn Moses und mit ihm all die anderen, die aus Ägypten auszogen, tot sind, kann eine neue Generation, die die alten Fesseln nicht mehr kennt und keine Autorität in sich trägt, ins Gelobte Land einziehen. Bleibt die Frage, wie sich diese neue, in der Wüste geborene Generation der Übertragung von Autorität entzieht. Moses muss als Befreier, Vater, Liebhaber und Sohnerzeuger, der noch die Gewalt der Knechtschaft erfuhr, sein Leben für die anderen lassen. Im Kampf erwirbt sich der Vatermörder das Privileg des Opfers. Zugleich scheint dieser Spielraum des Überlebens, diese Verlängerung des Sterbens eine Verantwortung für andere zu eröffnen. Es ist eine einsame Verantwortung, die auf dem Vatermörder lastet. Das Geheimnis, das Moses nicht weitergeben darf, ist die Erfahrung der Knechtschaft, der Gewalt und des Mordes sowie der verinnerlichten Autorität. Wie ließe sich jedoch eine Verantwortung denken (die Öffentlichkeit und Rechenschaft gegenüber anderen einschließt), wenn die Verantwortung darauf beruht, etwas nicht mitzuteilen? Wie wäre da dem Gesetzgeber, dem Vater, dem Vatermörder, dem Revolutionär und dem Politiker – wie wäre in dem Moment Moses (hier Otto Gross) – zu glauben?
Franz Kafka
Es gibt kein Gesetz. Es gibt immer nur ein Vor dem Gesetz. Es ist Gesetz, dass es stets nur dieses Vor dem Gesetz gibt. Jeder Eintritt ins Gesetz ist verboten. Es ist ein Gesetz ohne Gesetz zu sein und verbietet seinen Eintritt.
Für den Gesetzgeber ist die Erfahrung, nie zum Gesetz zu gelangen – nie das Entscheidende des Gesetzes, in seiner Gesetzgebung nie das Gesetz zu erfahren –, fatal. Auch für den Gesetzgeber enthält sich die Gabe des Gesetzes ihrer Übergabe. Die Gesetzgebung kann nur stattfinden, wenn sie nicht in Erscheinung tritt. Ihr Ereignis darf nicht statt haben, wenn sie Gabe sein soll. Das Gesetz ist – in diesem unfertigen Moment – auch im Akt der Gesetzgebung stets nur das Vor dem Gesetz, etwas, was sich letztlich der Erfahrung und der Darstellung entziehen muss. Zumindest zweimal erwähnt Franz Kafka diese Misere des Gesetzgebers Moses. Einmal in einem kleinen Text, der sich im Nachlass befand und möglicherweise aus der Zeit 1917/1918 stammt. Die zweite Eintragung zum Scheitern Moses’ befindet sich in der Tagebucheintragung vom 19. Oktober 1921.
Im Nachlasstext vergleicht Franz Kafka Moses mit einem wiedergekehrten Scheintoten. Es heißt dort: »Wer einmal scheintot gewesen ist, kann davon Schreckliches erzählen, aber wie es nach dem Tode ist, das kann er nicht sagen, er ist eigentlich nicht einmal dem Tode näher gewesen als ein anderer, er hat im Grunde nur etwas Besonderes ›erlebt‹ und das nicht besondere, das gewöhnliche Leben ist ihm dadurch wertvoller geworden. Ähnlich ist es mit jedem, der etwas Besonderes erlebt hat. Moses zum Beispiel hat auf dem Berge Sinai gewiß etwas ›Besonderes‹ erlebt, aber statt sich diesem Besonderen zu ergeben, etwa wie ein Scheintoter, der sich nicht meldet und im Sarg liegen bleibt, ist er den Berg hinunter geflüchtet und hatte natürlich Wertvolles zu erzählen und liebte die Menschen, zu denen er sich geflüchtet hatte, noch viel mehr als früher und hat dann sein Leben ihnen geopfert, man kann vielleicht sagen, zum Danke. Von beiden aber, vom zurückgekehrten Scheintoten und vom zurückgekehrten Moses kann man viel lernen, aber das Entscheidende kann man von ihnen nicht erfahren, denn sie selber haben < es > nicht erfahren. Und hätten sie es erfahren, so wären sie nicht zurückgekommen.«
Moses wie der Scheintote teilen miteinander, dass sie »etwas Besonderes ›erlebt‹« haben, das nichts mit dem »gewöhnlichen Leben« zu tun hat. Beide waren schon – als jene, die »mit dem Leben nicht lebendig fertig« wurden – »tot zu Lebzeiten«. Diese Erfahrung des Scheintoten greift Kafka in einer Tagebucheintragung vom 19. Oktober 1921 wieder auf. Zuvor notierte er seine zweite Bemerkung zum Scheitern Moses’ und zum »Wesen des Wüstenwegs«. Zu Moses heißt es dort: »Ein Mensch, der als Volksführer seines Organismus diesen Weg macht, mit einem Rest (mehr ist nicht denkbar) des Bewußtseins dessen, was geschieht. Die Witterung für Kanaan hat er sein Leben lang; daß er das Land erst vor seinem Tode sehen sollte ist unglaubwürdig. Diese letzte Aussicht kann nur den Sinn haben, darzustellen, ein wie unvollkommender Augenblick das menschliche Leben ist, unvollkommen, weil diese Art des Lebens endlos dauern könnte und doch wieder nichts anderes sich ergeben würde als ein Augenblick. Nicht weil sein Leben zu kurz war kommt Moses nicht nach Kanaan, sondern weil es ein menschliches Leben war.«
Auch wenn das »Leben endlos dauern könnte«, so ist es wie ein »unvollkommender Augenblick«: unfertig und noch nicht ganz lebend, um zu erfahren. Moses ist dieser unvollkommene Augenblick menschlichen Lebens, da er – wie der Scheintote – sich selbst und seinem kreierten Volk gegenüber tot ist. Moses – tiergleich und vorweltlich, nicht ganz lebend als menschliches Leben – wittert Kanaan. Beide, Moses wie der Scheintote, waren »eigentlich Überlebende«, schreibt Kafka. Beide sind sie zurückgekehrt als Untote, deren Erfahrung es war, das Besondere – das Einzige, das Entscheidende, worum es geht – nicht erfahren zu haben. Zur Erfahrung des Besonderen gehört die Erfahrung, das Besondere nicht zu erfahren; diese Gelassenheit benötigt der Gesetzgeber wie der Scheintote. Erfahrung ist hier in ihrer Grenze unbrauchbar, erfahrungslos, gedankenlos und kann, wenn jemand spricht und zu lernen aufgibt, nur Maske (d. h. persona) sein. Im Brief an den Vater heißt es dann auch: »Du bekamst für mich das Rätselhafte, das alle Tyrannen haben, deren Recht auf ihrer Person, nicht auf dem Denken begründet ist.«
Im Moses-Text aus dem Nachlass schließt Kafka an diese Erfahrungslosigkeit an: »Aber wir wollen es auch gar nicht erfahren. Das läßt sich daran überprüfen, daß wir zum Beispiel gelegentlich den Wunsch haben können, das Erlebnis des Scheintoten oder das Erlebnis des Moses bei Sicherstellung der Rückkehr, ›bei freiem Geleit‹ zu erleben, ja daß wir sogar den Tod uns wünschen, aber nicht einmal in Gedanken wollten wir lebend und im Sarge ohne jede Möglichkeit der Wiederkehr oder auf dem Berge Sinai bleiben ...«
Wie vom Tod sprechen? Wie vom Gesetz reden? Nicht zufällig verknüpft Kafka beide Reden in schlimmster Perspektive: Todesstrafe, Mord und Folter. Jene Rede »Jetzt geschieht Gerechtigkeit!«, jede Rede, die die Zeit der Vergebung verkürzen will, um das Jüngste Gericht jetzt schon stattfinden zu lassen, ist die Maske einer erfahrungslosen Gedankenlosigkeit. Dabei kommt es nicht darauf an, ob sie im Namen des Gesetzes spricht, wie der Offizier In der Strafkolonie, oder ob sie jener »kleine[n] Partei« angehört, von der im Nachlasstext Zur Frage des Gesetzes die Rede ist, die die Gesetze als »Willkürakte« der Herrschenden (der souveränen Personen) verwirft. Auch im Traum vom Ende des Gesetzes wird der Erfahrungslosigkeit eine Maske aufgesetzt, um immer wieder das zu töten – wie in einer antiken Tragödie: den Gesetzgeber, den Vater, den Tyrannen –, was schon Tod und dennoch nie ganz tot ist.
Sigmund Freud
Wie träumt man den Vatermord? Konnte Sigmund Freud ein Ende der Souveränität denken? Gibt es für die Psychoanalyse ein Jenseits ohne Gewalt und Grausamkeiten? Einerseits ist es fraglich, ob sich Gewalt und Grausamkeiten auf eine Figur des Vaters reduzieren lassen, ob Gewalt überhaupt mit der Figur des Vaters identifiziert werden kann, andererseits ist bekannt, dass Freud auf dem Todestrieb, auf der unausrottbaren Existenz von Aggressionen und Destruktionen beharrte. Freud hielt nicht viel von Revolutionen und prangerte deren illusionären Charakter an, zumal wenn die Hersteller des Glücks »auf das sorgfältigste bewaffnet« sind. Dennoch bleibt die Frage, wie sich Freuds Psychoanalyse zur Gewalt, wie sie sich zur souveränen Gewalt verhält, einer Gewalt, die an die Figur des Vaters (vor allem im Sinne des Staates, der Kultur, d. h. im Bereich der gemeinschaftlichen Gewalt des Rechts) geknüpft ist. Um dieser Frage nachzugehen, möchte ich mich seiner Analyse der Moses-Figur von Michelangelo zuwenden.
An der Moses-Figur von Michelangelo arbeitet Freud eine »Untreue gegen den heiligen Text« heraus. Über die künstlerische Gestaltung der Moses-Figur schreibt er: »[...] Michelangelo hat an das Grabdenkmal des Papstes einen anderen Moses hingesetzt, welcher dem historischen oder traditionellen Moses überlegen ist.« Wichtiger als diese Untreue ist ihm jedoch die »Umwandlung«, die Michelangelo vorgenommen hat: »Er hat das Motiv der zerbrochenen Gesetzestafeln umgearbeitet, er läßt sie nicht durch den Zorn Moses’ zerbrechen, sondern diesen Zorn durch die Drohung, daß sie zerbrechen könnten, beschwichtigen oder wenigstens auf dem Wege zur Handlung hemmen. Damit hat er etwas Neues, Übermenschliches in die Figur des Moses gelegt, und die gewaltige Körpermasse und kraftstrotzende Muskulatur der Gestalt wird nur zum leiblichen Ausdrucksmittel für die höchste psychische Leistung, die einem Menschen möglich ist, für das Niederringen der eigenen Leidenschaft zugunsten und im Auftrage einer Bestimmung, der man sich geweiht hat.«
In der Darstellung des Moses entdeckt Freud etwas Übermenschliches. In Michelangelos Darstellung hemmt Moses seinen Zorn, als die Zerstörung der Tafeln droht. Freud schreibt: »[Papst Julius II., für dessen Grabmal Michelangelo den Moses entwarf,] war ein Mann der Tat, sein Ziel war angebbar, er strebte nach der Einigung Italiens unter der Herrschaft des Papsttums [...] Er wußte Michelangelo als seinesgleichen zu schätzen, aber er ließ ihn oft leiden unter seinem Jähzorn und seiner Rücksichtslosigkeit [ein Jähzorn, der traditionell Moses zugeschrieben wird]. Der Künstler war sich der gleichen Heftigkeit des Strebens bewußt [...] So brachte er seinen Moses an dem Denkmal des Papstes an, nicht ohne Vorwurf gegen den Verstorbenen, zur Mahnung für sich selbst, sich mit dieser Kritik über die eigene Natur erhebend.«
Das in Moses hineingelegte Übermenschliche, als Mahnung verstanden, verbindet er mit zwei Aspekten des »Fortschritt[s] in der Geistigkeit« (wie es später in Mann Moses heißt): die Hemmung der eigenen Natur und den »Auftrag einer Bestimmung«. Für Papst Julius II. bestand der Auftrag in der »Einigung Italiens«, d. h. in der Einrichtung sozialer Beziehungen. Beide Aspekte existieren für Freud nicht unabhängig voneinander, nur in der Verknüpfung von Hemmung und sozialer Beziehung liegt für ihn – trotz allem Pessimismus – die Chance einer dringlichen und gewaltlosen Revolte.
Wie Freud wiederholt ausführt, hängen Hemmung der Leidenschaft, Schuldgefühle und Ausbildung eines Gewissen nicht von äußerer Gewalt ab. Zwar kann z. B. ein Kind aus Angst vor Liebesverlust einer äußeren Autorität (z. B. der Stimme des Vaters) zuliebe auf seine Triebbefriedigung verzichten, doch könnte dieser Verzicht kein Schuldgefühl, kein Gewissen, keine Mahnung ans Gesetz hervorbringen. Freud nimmt an, dass es die Aggressionsneigung des Kindes gegen die äußere Autorität ist, die nach einer Identifizierung mit derselben zum Über-Ich geworden, sich gegen sich selbst richtet. In Unbehagen in der Kultur heißt es dann auch, »daß die ursprüngliche Strenge des Über-Ichs nicht – oder nicht so sehr – die ist, die man von ihm [dem Vater] erfahren hat oder die man ihm zumutet, sondern die eigene Aggression gegen ihn vertritt.«
Freud leitet das Über-Ich und ähnliche Funktionen wie Gewissen, Kultur, Staat und Recht aus Aggressionen und Destruktionen ab. Über deren inwohnende und ausgeübte Gewalt macht er sich keine Illusionen. Für ihn sind beide, der Einzelne wie die soziale Gemeinschaft (Staat, Kultur, Recht), Formen der Gewalt und der Grausamkeit. Es gibt in dieser Hinsicht nur Unterschiede der Grausamkeit. Einerseits ist jeder Einzelne virtuell ein Feind der sozialen Beziehung, und Sigmund Freud rekurriert hierbei auf einen mythischen Urzustand, wie er auch bei Thomas Hobbes zu finden ist, andererseits erzeugt der Übergang von der Gewalt des Einzelnen zum Recht die monopolisierte Gewalt der Gemeinschaft. So gesehen steht eine Gewalt gegen eine andere Gewalt. Soziale Beziehungen gründen in Gewalt und Tod, verlängern den tödlichen Prozess des Sterbens als Umweg und stellen eine Politik des Todes und der Grausamkeiten dar.
Die Mahnung an die Zerbrechlichkeit des Gesetzes, die Übermenschlichkeit der Hemmung, die Sigmund Freud in der Moses-Figur von Michelangelo ausmacht, ist vor allem eine Sache des Überlebens: sie ist Mahnmal. In ihr überleben die biblischen Traditionen, die päpstliche Autorität und der eigene Egoismus sowie die Leidenschaften (des toten Auftraggebers und der eigenen narzisstischen Naivität). Die Gesetze drohen in dem Moment mit ihrer Zerbrechlichkeit, in dem Gewalt und soziale Institutionen notwendigerweise in Beziehung treten. Ein Jenseits dieser Beziehung von Sozialität und Gewalt gibt es für Freud nicht. Mit dem richtenden Gesetzgeber droht stets die Zerstörung der richterlichen Grundlage. Gewissen, Religion und Staat bilden als kulturelle Einrichtungen keineswegs einen Widerpart zur individuellen Aggressivität, die durch Triebhemmung aufzuheben ist. Das Gesetz und mit ihm die anderen kulturellen Institutionen sind an sich selbst, in ihren eigenen Möglichkeiten, ein Widerpart. Das ist die Mahnung des übermenschlichen Moses im Moment der angedrohten Zerstörung der Gesetzestafeln. Diese Gesetze, die die Mahnung anführt, hat man nicht. Die Ethik der mosaischen Religion setzt dort ein, wo das mythische Gesetz des Schicksals sich als wirkungslos erweist und die Freiheit des Menschen in der Abwesenheit Gottes jede Verbindlichkeit und Hörigkeit auflöst. In der Möglichkeit des Gesetzes droht deren Unmöglichkeit. Die Gesetze sind Mahnung, sie sind Kommendes und als solche muss es sie geben. Die Gesetze sind nicht Gesetz. Die Gesetze sind stets zukünftig. Sie korrespondieren mit nichts, was man ist oder besitzt oder auch gehabt hat; darauf verweist, wie Freud nahe legt, die Umwandlung, die Michelangelo an Moses gegen die Bibeltradition vornehmen musste. Die Zerbrechlichkeit des Gesetzes mahnt an die Zerbrechlichkeit des Kommenden und der Zukunft. Die Hemmung des Moses (oder wie Walter Benjamin schreibt: die leere Zeit des Säumens), die Hemmung der Vergeltung und des Zorns resultiert aus keinem Triebverzicht, sondern sie wird im Mann Moses an das Wesen des Mosaismus, das Bilderverbot geknüpft: »Der Fortschritt der Geistlichkeit besteht darin, daß man gegen die direkte Sinneswahrnehmung zu Gunsten der sogenannten höheren intellektuellen Prozesse entscheidet«. Letztlich ist es ein Losreißen vom Empfinden und von der Materialität der Mutter und somit von der Befriedigung sexueller und aggressiver Triebe. Das Bilderverbot ist ein Tötungsverbot, d. h. die Chance, andere und anderes sein zu lassen. Hingegen läuft eine »Wiederkehr des Verdrängten« auf eine Identifizierung mit Gott und eine Wiederholung der Vatertötung hinaus.
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