Die Trilogie von Manuel Castells über das
Informationszeitalter ist ein Meilenstein.
El Pais, Verlagswerbung 2004
In the industrialized world today, only 15% of the active
population physically touches a product. The other 85% are adding
value through the creation, the management and the transfer of
information.
World Competitiveness Report 1992
This is what globalization may be about. This is a gloomy
prediction. It is pessimistic. It does not contain much hope for
the weak and the poor. But unfortunately it is entirely possible.
And it will be unless the weak and the poor appreciate now this
possibility and fight tooth and nail against it. There are ways of
fighting the powerful. It will be a kind of guerilla war. But it
can succeed.
Mahatir Mohamad, malaysischer Premierminister, 1996
Nach Gründen, Manuel Castells’ Darstellung des Informationszeitalters in der jüngst erschienenen UTB-Studienausgabe erneut zur Hand zu nehmen, muss man nicht lange suchen: der Wandel der Weltverhältnisse, der einige der Haupttendenzen, die Castells beschreibt, nicht einfach fortschreibt, sondern modifiziert, mit Gegenkräften konfrontiert und in manchen Aspekten umzukehren sich anschickt, gehört ebenso dazu wie die Frage, ob zwei allgemein als revolutionär angesehene Jahrzehnte weltweiten Wandels sich nicht – unter Zuhilfenahme gleicher oder ähnlicher Parameter – bereits heute wieder etwas anders darstellen oder darstellen lassen, als dies hier geschieht. Beides beunruhigt ein wenig, denn ein Buch, das nach dem Willens seines Autors keine Reportage, sondern die Theorie eines Zeitalters sein soll und bereits während seiner Entstehens- und Publikationszeit in Gefahr gerät, von neueren und neuesten Entwicklungen überrollt zu werden, weckt naturgemäß konzeptionelle Zweifel.
»Ein Netzwerk besteht aus mehreren untereinander verbundenen Knoten. Ein Knoten ist ein Punkt, an dem eine Kurve sich mit sich selbst schneidet. Was ein Knoten konkret ist, hängt von der Art von konkreten Netzwerken ab, von denen wir sprechen. Es sind Aktienmärkte und die sie unterstützenden fortgeschrittenen Dienstleistungszentren im Netzwerk der globalen Finanzströme. Es sind nationale Ministerräte und Europäische Kommissare in dem politischen Netzwerk, das die Europäische Union regiert. Es sind Koka- und Mohnfelder, Geheimlabors, geheime Landebahnen, Straßenbanden und Finanzinstitutionen zur Geldwäsche im Netzwerk des Drogenhandels [...] Fernsehsysteme, Unterhaltungsstudios, Computergrafik-Milieus, Nachrichtenteams und mobile Geräte, mit denen innerhalb des globalen Netzwerkes der Nachrichtenmedien Signale erzeugt, übertragen und empfangen werden, an der Wurzel der kulturellen Ausdrucksformen und der öffentlichen Meinung im Informationszeitalter.« (I, 528) Die Netzwerkgesellschaft ist eine Gesellschaft, die in Netzwerken organisiert ist, und zwar, wie es dem offenen, tendenziell grenzenlosen Charakter von Netzwerken entspricht, global. Castells erinnert daran, dass deren Beschreibung relativ genau der des Kapitalismus – in der Schumpeterschen Version einer »Kultur der endlosen Zerstörung und des nie endenden Neuaufbaus« (I, 529) – entspricht, der somit in ihr ein geschmeidiges Werkzeug erhält und eine neue globale Manifestation erfährt. Die ›Maschine‹ hinter den expandierenden Netzwerken ist der Markt, was nicht vergessen werden sollte, wenn die theoretische Versuchung überhand nimmt, das ›Wissen‹ in der ›Wissensgesellschaft‹ zur eigentlich treibenden Kraft zu stilisieren – als Produktivkraft steht es im Dienst der Kräfte des Marktes und findet an ihnen sein Regulativ. Castells’ Darstellung lässt an diesem Zusammenhang keinen Zweifel. Das hindert ihn seltsamerweise nicht daran, den kommunikationstechnischen Begriff des Netzwerks mit fundamentaler Bedeutung aufzuladen und damit die diffuse Behauptung, alle weltgesellschaftlich relevanten Institutionen, Prozesse und Interaktionsbündnisse organisierten sich spätestens seit den achtziger Jahren ›mehr und mehr‹ in Netzwerken und fänden darin ihr überlegenes Telos, zum Ausgangspunkt seiner beeindruckend umfassenden Detailstudien zu machen. Nun kann eine solche Behauptung zwar statistisch untermauert und durch Selbstaussagen gesellschaftlicher Akteure in den Bereich der Zweifelsfreiheit gehoben werden. Es lässt sich aber nicht ausschließen, dass Statistiken wie Selbstaussagen von begrenztem Wert sind, weil sie andere wichtige Parameter der gesellschaftlichen Entwicklung unterschlagen oder in einer terminologischen Verpackung offerieren, die der Sache nicht oder nur in begrenztem Ausmaß gerecht wird. Dass Kommunikation nicht erst in Zeiten digitaler Kommunikationstechnologien ein überragender Machtfaktor ist, rechtfertigt die Formel ›Kommunikation ist Macht‹ ebensowenig wie die Formel ›Wissen ist Macht‹ jemals wörtlich genommen werden durfte.
Castells’ Theorie des Informationszeitalters basiert auf dem Begriff der Netzwerkgesellschaft: mit allen erdenklichen Konsequenzen. In ihr findet er die globale Realität, der sich alle relevanten gesellschaftlichen Sub-Entitäten auf die eine oder andere Weise integrieren, gleichgültig, welche Vorgeschichte in sie eingegangen ist. Insofern vermittelt sein Projekt noch den visionären Elan der achtziger Jahre, der vielleicht das Seinige zum Zusammenbruch des staatssozialistischen Modells beigetragen hat und das Verschwinden der östlichen Kommandowirtschaft als Bestätigung des eigenen Projekts nahm. Castells ist sich bewusst, eine Erfolgsgeschichte zu beschreiben, deren Ende offen und deren Absturz noch keineswegs vorhersehbar ist. Niemand kann ihm das vorwerfen, eher bleibt die Frage, ob die begriffliche Nomenklatur das leistet, was sich der Autor von ihr verspricht. Dann wäre es mehr als ein Zufall, wenn sie im gegenwärtigen Horizont mehr an globaler Entwicklung verdeckt als erhellt. Und zwar nicht, weil das, was mit ihrer Hilfe konstatiert wird, nicht real wäre, vielmehr, weil das nüchterne Konstatieren sich an einem scheinbar unwiderstehlichen Sog berauscht und darüber einen normativen Zug annimmt, der alles, was sich dem Beschreibungsraster nicht fügt, als Reste überlebter Strukturen abfertigt, denen es bestimmt ist, wie Schnee an der Sonne dahinzuschmelzen.
Man kann an der Tauglichkeit des Begriffs der ›Netzwerkgesellschaft‹ als Instrument der Gesellschaftsanalyse ebenso ernste Zweifel hegen wie an dem der ›Wissens-‹ bzw. ›Informationsgesellschaft‹: beide benennen zweifellos vorhandene und miteinander kommunizierende Trends in der Gesellschaft und ihre Verfechter verbreiten den Eindruck, alles ›derzeit‹ theoretisch relevante Reden über Gesellschaft müsse von ihnen seinen Ausgang nehmen. Mit praktischen Konsequenzen: erst das Faktum, dass auch der Terror und der entschiedene Widerstand einzelner Nationen und Gruppen innerhalb der Weltgesellschaft sich der aktuellen Organisationsformen und Kommunikationstechnologien erfolgreich bedienen, macht sie theoretisch salonfähig und erhebt sie – in der Theorie – zu ernsthaften Gegenspielern des gegenwärtigen Weltsystems. Dieses System scheint allerdings – wie Castells ausführlich belegt – keineswegs für jedermann offen zu sein. Der Verjüngungsprozess der existierenden Eliten erzeugt nicht etwa gänzlich neue Eliten oder, wie es dem Wunschbild einer offenen Kommunikationsgesellschaft am ehesten entspräche, Gleichheit der Akteure – worüber die Vertreter traditionell benachteiligter Regionen und Bevölkerungsgruppen, zu denen, wie etwa der islamistische Fundamentalismus belegt, auch ideologisch geeinte Personengruppen oder -massen gehören, lebhaft Klage führen. Die in den ›führenden Industriestaaten‹ allgegenwärtige Sorge, das eingespielte Klientensystem könne eines Tages dadurch außer Kontrolle geraten, dass aufsteigende Regionen Macht und Einfluss aus der Aneignung des techno-ökonomischen Instrumentariums ziehen, ohne sich den Gesinnungen und Handlungszielen des Zentrums anzunähern, verkennt (oder verdeckt), dass dessen eigene Rede Verschwiegenheiten enthält und sogar produziert, unter denen der Wille, in jedem Weltsystem obenauf zu liegen und den eigenen ›Spitzenplatz‹ zu behaupten, nicht zu knapp angesetzt werden darf. An dieser Stelle tritt an die Stelle des allseits begrüßten globalen Wettbewerbs der verbissene Kampf der Eliten: einem Streben nach Dominanz um jeden Preis antwortet derjenige Widerstand am effektivsten, der selbst jeden Preis zu bezahlen bereit ist und damit inkalkulabel wird. Die Wiederentdeckung des Bösen nach dem Abgang des Moskauer Gegenspielers zeigt, dass das Zentrum begriffen hat und ferner, dass Netzwerke zwar wesentliche Elemente der Wirklichkeit sind, ihr Vorhandensein aber wenig über die wirkliche Verteilung der Gewichte sowohl in wie zwischen ihnen und die Kernmotive ihrer Handhabung aussagt.
Unter der Decke der Trends liegen die Machtverhältnisse und
Strukturen, die sich ihrer ebenso sehr bedienen, wie sie von ihnen
verschleiert werden, weil sie die Aufmerksamkeit all derer auf sich
ziehen, die aus der Idolatrie des Neuen persönlich Gewinn zu ziehen
gedenken. Insofern hat der von der Bush-Administration ausgerufene
›Krieg gegen den Terror‹ worldwide die Augen derer
geöffnet, die wie Castells in der Entwicklung funktionierender
Alternativnetzwerke (Schwulen-, Lesben-, Öko-, Frauen-Netzwerke)
den eigentlichen Menschheits-Gewinn der
kommunikationstechnologischen Ära zu konstatieren und zu
propagieren übernommen hatten. Wer die Machtfrage stellt, der
zerschellt an ihr oder er stellt sich unter einen Erfolgszwang, dem
mit Kommunikations-Software und schlanken Hierarchien allein nicht
beizukommen ist.
Something is wrong with it –: kurrenten Beschreibungen der
gegenwärtigen Gesellschaft wie der vorliegenden gelingt es mühelos,
diese allen Science-Fiction-Lesern seit Huxleys Brave new
World vertraute Empfindung auf sich zu ziehen. Es gelingt
ihnen, obwohl ihre Stärke in der detailreichen Wiedergabe von
Elementen liegt, die jedermann je nach Partizipation am
gesellschaftlichen Prozess mehr oder weniger geläufig sind und
deren Benennung im aktuell geprägten Lebensgefühl einen schier
unwiderstehlichen Verstärker aufruft. Auch diese Gesellschaft – wie
die ihr vorhergehenden und nachfolgenden – ist nicht identisch mit
dem, was sie an Leitvorstellungen produziert. Lebensgefühl ist
ambivalent, es zehrt, wie immer wieder beobachtet werden kann, vom
plötzlichen Umschlag.
Ulrich Siebgeber