Normen scheinen die seltsame Eigenschaft zu haben, in den Handlungen derer, die sie respektieren, und derer, die sich ihrer bedienen, ein gänzlich unterschiedliches Aussehen zu gewinnen. Mit dem Respekt vor den Normen scheint es wie mit dem Respekt vor einer älteren Person im familiären Umkreis bestellt, der man, im Wissen, dass ihre Lebenszeit beschränkt ist, im Ernstfall besser nicht widerspricht: manchmal kommt es einen hart an und man stellt resigniert oder zähneknirschend fest, dass andere von weniger Skrupeln geplagt sind, aber es hilft der Selbstbeschreibung und dient, alles in allem, dem Frieden auf Erden. Wer sich im Besitz der Normen weiß und sich ihrer entsprechend bedient, der weiß, dass ihre Schärfe in zwei Richtungen geht: manchmal erscheint es lohnender, sie zu verletzen, um ihre Einhaltung zu erzwingen, als sie einzuhalten und tatenlos zuzusehen, wie andere sie verletzen. Das ist ein altes Dilemma, das in jeder Diskussion zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethikern wieder aufgewärmt wird. Es scheint darin aber noch ein weiteres Moment zu liegen: zwischen die Geltung (also das In-Kraft-Sein) von Normen und ihre Auslegung (ihre Anwendung im bestimmten Fall) schiebt sich, als dritter Faktor, das Motiv ihrer Anwendung oder Nichtanwendung. Das mag im Erziehungsfall das Motiv der Einprägung bestimmter Grundsätze oder Verhaltensregeln, im Fall der Anwendung nationaler Gesetze oder internationaler Verträge das Motiv der Rechtssicherheit sein, im Fall proklamierter Grundsätze ohne eindeutige Sanktionsmacht kommt hinzu der unmittelbare oder mittelbare Vorteil einer Person oder ›Macht‹, die sich eines entsprechenden ›Anliegens‹ bemächtigt und es – gegen den Protest oder weiter gehenden Widerstand Dritter – zu ihrer Sache macht. Im privaten wie im zwischenstaatlichen Bereich steht dafür die Metapher vom ›Kreuzzug‹ bereit, ohne dass es dazu spezifisch christlicher Motive bedürfte. Was einen solchen Kreuzzug auszeichnet, ist die erstrebte Expansion des Geltungsbereichs einer (einfachen oder komplexen) Norm oder eines Normengefüges auf Kosten eines anderes oder sogar des Normengefüges, zu dem die betreffende Norm selbst gehört. Normvirulenz wäre also das Überspringen einer Norm auf den Geltungsbereich einer anderen, möglicherweise widersprechenden, oder der Versuch ihrer Übertragung auf neue, vordem unregulierte Phänomenbereiche, also etwa die Durchsetzung von Verfügungsrechten und Transaktionssicherheit im weltweiten Datennetz. Wenn Truppen ihren Kontakt mit der Bevölkerung eines verbündeten Staates und, buchstäblich, seinem Boden auf das technisch notwendige Minimum begrenzen, dann bekommt der Ausdruck ›Virulenz‹ eine eigentümlich hygienische Prägnanz: die biologischen Träger ›unreiner‹ Ideen isolieren sich selbst, um als mögliche Ansteckungsherde nicht in Betracht zu kommen. Im eroberten Land ist die Influenza erwünscht, aber von heftigen Nebenerscheinungen begleitet: hier müssen sich die Besatzungstruppen vor den Folgen der Expansion von Normen und Ideen schützen, der – folgt man den Bekundungen der Politik – ihre Anwesenheit dient. Dieses Nebeneinander erscheint absurd, aber es illustriert die Frage nach dem Motiv der Normapplikation so eindringlich wie nur möglich: das Neben-, Mit- und Gegeneinander von Macht und Interessen lässt dem, der sich frei weiß, seine Normen ›in Anschlag zu bringen‹ (oder auch nicht), die Wahl zwischen Selbstbeschränkung und Expansion. Dabei wird leicht übersehen, dass die Geltung von Normen, Werten, Wertsystemen oder ›Kulturen‹ unter den Stiefeln einer erobernden Soldateska leichter zu Schaden kommt als gewinnt. Der Kampf der Kulturen, wenn er entbrennt, findet hinter den Linien von Terror und Gegenterror, von ›Infiltration‹ und ›Säuberung‹ statt, er folgt einem anderen Zeit- und Erfolgsmaß und seine Ergebnisse werden selten publiziert, sie müssen erschlossen werden. Und manchmal findet er in Regionen statt, die man sicher außer Schussweite wähnte.
Wenn die Frage, ob es einen rechtsfreien Raum gibt, eine juristische ist, dann ist die Frage, wie dergleichen denn aussehen könnte, mit Sicherheit keine juristische: das Recht dessen, der sich nimmt, was ihm gefällt, weil niemand da ist, der ihn hindern könnte oder dessen Existenz ihn mit Sanktionen bedroht, ist ein Verfügen-Können, das man ästhetisch genannt hat und das, wie die Vorstellungen vom Schlaraffenland, vom Paradies, von der befreiten Gesellschaft etc., als Phantasma den allgegenwärtigen Mangel an freier, auf keinen Widerstand stoßender Bewegung grundiert, den die Normen- und Rechtssysteme bewirtschaften. Wenn dem so ist, dann lässt sich die Erfolgsgeschichte eines Rechtsgedankens wie der Menschenrechte nicht einfach als eine zugegebenermaßen lange und folgenreiche Episode innerhalb der systematischen Durchbildung des – im Zweifel westlich-logozentristischen – Rechtssystems und seiner faktischen Durchsetzung gegenüber lokalen, ständischen, territorialen und schließlich funktional-ökonomischen und ›paternalistischen‹ Monopolisierungen des Rechts verstehen, eher als eine Folge von Beutezügen unterschiedlicher und wechselnder Gruppierungen, in denen die Machtfrage immer aufs Neue gestellt und immer aufs Neue beantwortet wurde. Vermutlich findet man kaum ein ›Konzept‹, das ähnlich flexibel und ›universell‹ auf die verschiedensten Problemlagen anwendbar ist wie die Souveränitätserklärung des Individuums, welche die einschlägigen Menschenrechtskataloge im Kern enthalten. Die Dynamisierung der Repräsentationsthematik erlaubt es Mehrheiten, Minderheiten, Randgruppen, sozialen Entitäten unterschiedlichster Art, im Namen der Menschenrechte Forderungen zu stellen und durchzusetzen, sobald diese im Grundsatz anerkannt sind und das Ansinnen den Status des ›berechtigten Anliegens‹ erreicht. Das ›berechtigte Anliegen‹ ist sozusagen die ästhetische Vorfassung des juristischen Problems, es ruft den Gesetzgeber auf den Plan und setzt ihn unter Erfolgszwang. Keineswegs muss es sich dabei um ein ›ethisches‹ Anliegen handeln: erreicht wird das Stadium des ›berechtigten Anliegens‹ durch den zeitweise eintretenden Glauben aller, soll heißen einer in der Öffentlichkeit dominant auftretenden Sprechergruppe, es handle sich dabei um eine ›gute Sache‹, für die einzutreten nunmehr an der Zeit sei. Das kann dann offenbar auch – zugegebenermaßen extrem – ein klassischer Angriffskrieg sein, wenn der polemische Mix stimmt, solange also nicht die rechtliche Sanktionierung des Kriegs, sondern die in Aussicht gestellte Errichtung einer neuen Rechtsordnung im gegnerischen Staat das erklärte Ziel abgibt.– Um es in größerer Allgemeinheit zu fassen: Freibeutertum durch Verschiebungen in den Anwendungsbereichen, den Anwendungsfeldern und -regionen von Normen und Normensystemen ist nicht nur ein Faktor, der stets in Rechnung zu stellen ist, sondern vielleicht der Faktor, der immer wieder die Akzeptanz, sprich: Geltung von Normen erneuert, auf die Gefahr gewaltiger Rückschläge und eruptiver Gegenreaktionen in der eigenen Gesellschaft oder Gruppe oder – natürlich – auf dem zu erobernden Terrain hin. Das mag daran erinnern, dass die Entwicklung kultureller Systeme in normativer Hinsicht, streng genommen, vielleicht nicht als ein Fortschreiten, sondern als ein Prozess permanenter Verschiebungen und Gegenreaktionen gesehen werden sollte, in dem das Grausame, das Gnadenlose, das ›Barbarische‹ immer aufs Neue seinen Ort findet, ohne je von der Bühne verdrängt zu werden. Festzustehen scheint, dass Normen Imperative enthalten, die lange Zeit brach liegen können, um plötzlich, unter bestimmten Gegebenheiten, zu ›explodieren‹, dass Normen interpretierbar sein und bleiben müssen, um überhaupt zu ›fungieren‹ und dass, drittens, der Gedanke des ›definierten Anwendungsbereichs‹ in einem gewissen strukturellen Spannungsverhältnis zum Normgedanken steht und auch dort verbleibt, wo er, wie in juristischen Systemen, als Voraussetzung ihrer Anwendbarkeit akzeptiert, um nicht zu sagen: als unumgänglich erachtet wird. Ansprüche, die lange Zeit brach lagen oder keinen geeigneten Hebel in der Wirklichkeit fanden, haben gelegentlich die erstaunlichsten Umwälzungen hervorgerufen.
März 2004
Die Herausgeber