Georg Essen, Sinnstiftende Unruhe im System
des Rechts. Religion im Beziehungsgeflecht
von modernem Verfassungsstaat und
säkularer Zivilgesellschaft
Göttingen: Wallstein Verlag, 2004, 103 S.

Georg Essen erörtert in einem anregenden Traktat die umstrittene Frage der Einführung eines Gottesbezuges in den Entwurf zu einer Europäischen Verfassung. Mit dem Streit um die Einführung einer sogenannten nominatio dei in die Präambel des Verfassungsentwurfs wurde zudem grundsätzlich die Frage diskutiert, welche öffentliche Bedeutung Religion im Beziehungsgeflecht von modernem Verfassungsstaat und säkularer Zivilgesellschaft hat und zukünftig haben soll. Essens Abhandlung konzentriert und begrenzt sich allerdings im verfassungspolitischen Streit um den »Präambelgott« auf das Thema des Gottesbezuges in modernen Verfassungen. Der Autor geht primär vom Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland aus und entwickelt von dort eine Parallele zum Entwurf der EU-Verfassung, die sich bekanntlich nicht auf ein Staatsvolk, ein Staatsgebiet sowie eine Staatsgewalt beziehen kann. Letzteres wirkt sich auf das Thema insoweit aus, als die verfassungspolitische Thematisierung von Religion stets auf den Staat und dabei vor allem auf den Typus des neuzeitlichen Nationalstaats bezogen gewesen ist und daher eine der Voraussetzungen gebildet hat, auf denen sowohl das Staatskirchenrecht als auch das rechtlich geregelte Verhältnis eines öffentlichen Gemeinwesens zur Religion gründete.

Das Grundgesetz fordert die weltanschauliche Neutralität des Staates ebenso wie es die Religionsfreiheit seiner Bürger garantiert. In der Verfassungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ist augenfällig, dass der Gottesbezug des Grundgesetzes quer steht zur Geschichte deutscher Verfassungen. Beispielsweise kennt ihn weder die Verfassung der Paulskirche noch die des Deutschen Reiches von 1871 oder die der Weimarer Republik. In den Beratungen des Parlamentarischen Rates von 1948 war die Einfügung eines Gottesbezuges in die Grundgesetzpräambel durchaus umstritten. Um sich vom Nationalsozialismus zu distanzieren und die Grenzen der verfassungsgebenden Gewalt in Erinnerung zu rufen, rang sich aber die Mehrheit des Parlamentarischen Rates letztendlich durch, eine »Absage an den Atheismus als Staatsreligion« bzw. als »Verweis auf die Grenzen und Schranken allen menschlichen und staatlichen Handelns« in Form der Aufnahme des ›Präambelgottes‹ in die Verfassung einfließen zu lassen. Deshalb wird in der Präambel des Grundgesetzes an prominenter Stelle auf Gott Bezug genommen.

Die Kommentatoren des Grundgesetzes tun sich schwer, wenn es darum geht, die verfassungsrechtliche Funktion des Gottesbezuges zu klären. Viele von ihnen beantworten die Frage damit, dass sie diese als »Chiffre für das Unverfügbare« in Form von »Bezugnahme auf Vorstaatliches, Ewiges« oder als »freiheitsbezogene Leerstelle« bezeichnen, deren Funktion sich dadurch auszeichne, dass sie in der Verfassung nicht weiter positiviert wird. Ebenso wird interpretiert, dass die Gottesklausel dazu da sei, »überhaupt einen Transzendenzbezug herauszustellen, ohne notwendig auf einen bestimmten Gott zu verweisen« und sich somit im Gottesbezug des Grundgesetzes »sämtliche religiösen Konzeptionen, in denen es transzendenzbezogene Verantwortung gibt, ihren Ort finden«. Das Schlüsselwort ist der ›offene Gottesbegriff‹, dem die nominatio dei der Grundgesetzpräambel die inhaltliche Bestimmtheit nehmen soll, indem sie die Bestimmtheit des Gottesbegriffs wieder aufhebt.

Berechtigterweise ist bis heute umstritten, ob es in einem weltanschaulich neutralen Gemeinwesen wie der Bundesrepublik oder auch der Europäischen Union überhaupt in einer Verfassung einen expliziten Gottesbezug geben sollte. Die Interpretationsschwierigkeiten resultieren in verfassungsrechtlicher Hinsicht aus der Eigenart des Prinzips der religiösen wie weltanschaulichen Neutralität des Staates. Insofern wäre ein Interpretationsansatz verfehlt, der aus dem Gottesbezug der Präambel eine grundgesetzlich verankerte Verpflichtung des einzelnen Staatsbürgers auf den Glauben an Gott herleiten wollte. Ebenso ist die These falsch, die Gottesklausel der Präambel konstituiere die Bundesrepublik Deutschland als christlichen Staat.

Der Präambel kommt zwar Rechtsverbindlichkeit zu, doch lässt sich wohl kaum eine individuelle und staatliche Verpflichtung auf den Gott der Präambel rechtlich einfordern und die Durchsetzung christlichen Gedankenguts als Staatsziel deklarieren. Außerdem wäre dies sowohl aus theologischen wie aus juristischen Gründen inakzeptabel, denn die Realisierung der Gottesbeziehung ist aus theologischer Sicht ein unableitbarer menschlicher Freiheitsakt, und daher ist das Recht der Wahrheit an das Recht der Person zurückgebunden. Aus juristischen Gründen wiederum kann das Gottesverhältnis des Menschen nicht rechtsverbindlich eingefordert werden, denn Recht muss in formaler Hinsicht durch den Charakter der Erzwingbarkeit gekennzeichnet sein. Da aber nur äußeres Verhalten, nicht jedoch das Gottesverhältnis des Menschen rechtlicher Regulierung zugänglich sein kann, ist eine solche Verpflichtung nicht einklagbar. Darüber hinaus ist das Grundgesetz nicht auf eine wie immer geartete Verbindlichkeit im Sinne einer normativen Verpflichtung mit dem Gottesbezug aus. Der Gottesbezug in der Präambel des Grundgesetzes ist keineswegs wie in den Verfassungen Irlands, Griechenlands und der Schweiz als eine ›Anrufung Gottes‹, eine sogenannte invocatio dei verankert. Der Parlamentarische Rat hat sich vielmehr für den zurückhaltenderen Gottesbezug einer sogenannten nominatio dei oder commemoratio dei entschieden.

Damit ist sichergestellt, dass das Grundgesetz nicht ›im Namen Gottes‹ ergeht und die Politik Gott nicht als Referenz- oder Bezugspunkt in Anspruch nimmt. Verdeutlicht wird dies auch dadurch, dass die Präambel des Grundgesetzes das Volk als Träger der verfassungsgebenden Gewalt benennt und Art. 20 II GG alle Staatsgewalt vom Volk ausgehen lässt. Insofern erklärt dies auch, warum Grundgesetzkommentare in ihrem Versuch, die Gottesklausel inhaltlich zu bestimmen, es primär bei einer Erinnerung an die »Motivation des Verfassungsschöpfers« belassen. Vor diesem Hintergrund steht außer Frage, dass die Bundesrepublik Deutschland ein weltanschaulich neutraler Staat ist, der durch eine grundsätzliche Trennung von Staat und Kirche gekennzeichnet ist und Religions- und Bekenntnisfreiheit garantiert. Eine staatliche Identifikation mit einer Religionsgemeinschaft ist dem Grundsatz der Religionsneutralität folgend somit ausgeschlossen. Dies ist gleichbedeutend mit der Tatsache, dass in verfassungsrechtlicher Hinsicht mit der nominatio dei keine exklusive Identifizierung des in ihr genannten ›Gottes‹ mit dem christlichen stattfinden darf.

Diese Interpretation löst aber für Essen noch nicht die einst von Ernst-Wolfgang Böckenförde aufgeworfenen Fragen, die schließlich zur Formulierung des nach ihm benannten Paradoxons führten. Die Kernfrage, die Böckenförde schon vor geraumer Zeit gestellt hat, nämlich woraus der Staat lebt und worin er die ihn tragende, homogenitätsverbürgende Kraft und die inneren Regulierungskräfte der Freiheit finde, sei nach wie vor nicht beantwortet. Deshalb müsse die plural verfasste Gesellschaft ihr Verhältnis zur öffentlichen Präsenz von Religion klären und sich der Sinndimension, für die nur Religionen einstehen können, öffnen, denn ansonsten entstehe nur ein Vakuum, das von Fundamentalisten jeglicher Couleur gefüllt wird. Aus diesem Kontext resultierend klagen viele in der Diskussion die kulturgeschichtliche Würdigung des christlichen Erbes ein. Gewiss sind wesentliche Elemente der europäischen Rechtskultur unter Einschluss seines universalistischen Grundrechtsethos nicht ohne das christliche Erbe zu begreifen. Hierzu gehören vor allem das Selbstverständnis des Menschen als Person und die Unhintergehbarkeit seiner Würde. Zur historischen Wahrheit gehört aber auch, dass die Entstehung des weltanschaulich-neutralen Staates ein Ausweg aus den konfessionellen Bürgerkriege des 17. Jahrhunderts sein wollte und es erst der Freiheitswille der Neuzeit, der Geist der Aufklärung war, der die Erklärung der grundlegenden Menschenrechte, der Toleranz und Religionsfreiheit ermöglichte. In diesem Sinne gehört das Misstrauen gegenüber religiösen Wahrheitsansprüchen im öffentlichen Raum des Politischen gleichsam zur Raison des modernen Verfassungsstaates.

Der ›Laizismus‹, wie er in Frankreich bis in die Gegenwart hinein präsent ist, entstammt diesem Hintergrund und besteht auf einer strikten Trennung von Religion und Staat. Der Staat gibt die Religion an das Individuum frei und überlässt den gesamten Bereich der Religion der Privatsphäre seiner Bürger. Die Religion soll kein notwendiger Bestandteil der politischen Ordnung sein, sondern Teil der Privatsphäre. Er selbst hat nun keine Religion. Das Recht der Wahrheit wird nicht länger im Recht des Staates verankert, sondern ist an das Recht der Person zurückgebunden. Der Staat muss damit einhergehend die Gesellschaft als einen von ihm gesonderten Bereich der privaten und öffentlichen Freiheitsentfaltung anerkennen, deren gemeinsam getragenes Wertefundament lediglich eher einem ›overlapping consensus‹ im Sinne John Rawls als einer faktischen Gegebenheit entspricht. Deshalb beziehen sich Plädoyers für einen Gottesbezug in modernen Verfassungen oft auf das vieldiskutierte Böckenförde-Paradox, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. Essens Kritik setzt dort ein, denn er hält es für fraglich, »dass der neuzeitliche säkulare Staat, sich von der Verankerung in der (christlichen) Religion gelöst hat, ohne [dass eine] Bindung an einen vorausliegenden, unverfügbaren Inhalt existiert, wie Böckenförde mutmaßt« (55).

Einerseits kann der Rechtsstaat nur bestehen, »wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft reguliert. Andererseits aber kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots, zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat« (Böckenförde). Der Staat muss sich insofern selbstbeschränken, um als moderner Verfassungsstaat die Freiheit gewährleisten zu können. Daher ist der Staat auch kein Sinnproduzent, denn er hat seinen Sinn nicht in sich selbst, sondern vielmehr seine Aufgabe darin, Recht zu vermitteln, um, als Institutionalisierung des Rechts, Freiheit zu ermöglichen. Essen beantwortet folglich die von Böckenförde aufgeworfene Frage dahingehend, dass der den Staat konstituierende Grund in der Garantie der Freiheit seiner Staatsbürger angelegt sei. Damit akzeptiert er einerseits die neuzeitliche Entflechtung von Religion und Staat und versucht auch nicht, die Angewiesenheit des weltanschaulich-neutralen Verfassungsstaates auf religiöse Sinnressourcen auf dem Wege einer Restitution des religionsgebundenen Staates zu behaupten. Andererseits weist er Böckenfördes These einer »radikaldemokratischen Aufhebung« dieses Paradoxons insoweit zurück, als er nicht davon ausgeht, dass sich im Verfahren des demokratischen Diskurses kulturelle Ressourcen gewissermaßen von selbst erzeugen. Vielmehr ist Essen überzeugt, dass solche Ressourcen nur auf dem Wege der Erinnerung von kulturell und historisch vorgegebenen Traditionsbeständen als sinnstiftendes Angebot gegenwartsmächtig werden können. Diese Traditionsbestände sieht er vornehmlich in den religiösen Institutionen bewahrt, die zudem in der Lage sind, diese religiöse Sinnressourcen kulturell und gesellschaftspolitisch zur Geltung zu bringen.

Die aktuellen verfassungspolitischen Diskussionen zum Gottesbezug im Grundgesetz oder im EU-Verfassungsentwurf, aber auch zu umstrittenen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts wie zum sogenannten ›Kruzifix-‹ und ›Kopftuchurteil‹ sind laut Essen nur insofern neuartig, als heute ein gemeinsamer christlicher Hintergrund als orientierender und normierender Plausibilitätsrahmen kaum noch existiert. Folgerichtig konnte der ehemalige Bundestagsabgeordnete Wolfgang Ullmann, ein evangelischer Theologe und einstiger Angehöriger der Bürgerrechtsbewegung der DDR, als damaliges Mitglied der mit der Grundgesetzrevision beauftragten Gemeinsamen Verfassungskommission seinen Antrag zur Streichung der nominatio dei damit begründen, dass »im Laufe der letzten Jahrzehnte ein tiefgreifender Wandel der gesellschaftlichen Bedingungen« eingetreten sei, »der nicht ohne Einfluss auf die normative Ausgestaltung des Verhältnisses von Staat und Kirche bleiben könne« (44). Dieser Argumentation schließt sich auch das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts (v. 24.09.2003) zum Tragen eines Kopftuches in öffentlichen Schulen an. In der Urteilsbegründung heißt es: »Der mit zunehmender religiöser Pluralität verbundene gesellschaftliche Wandel kann für den Gesetzgeber Anlass zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule sein.« Und weiter: Angesichts der gewandelten Verhältnisse müsse die »Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität […] strenger gehandhabt werden« (45).

Für die Verankerung einer nominatio dei wird gerne ins Feld geführt, dass Verfassung und Recht in Gott ihre meta-positive Verankerung erhalten sollen, um der grundgesetzlichen Ordnung des Staates Geltung und Legitimation verschaffen zu können. Die Idee ist, dass nur durch Gott der Rechtsordnung ein metaphysisches Fundament gegeben werde und dies dann erlaube, die Unbedingtheit der Menschenwürde wirkungsvoll zu schützen. Eine solche Deutung des Gottesbezuges der Präambel als eine theonome Begründungsfunktion des Rechts steht im Widerspruch zur Anlage des Grundgesetzes. Das Grundgesetz besteht aus einer eigentümlichen Verklammerung des Staatsorganisationsrechts mit den Grundrechten und manifestiert die rechts- wie staatsphilosophisch durchaus sensible Frage nach der Legitimität staatlicher Herrschaft und Rechtsetzung eindeutig. Die in Art. 1 bis 19 GG fixierten Grundrechte sind als vor-rechtliche beziehungsweise vor-staatliche Geltungsgründe rechtsstaatlicher Ordnung selbst der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes entzogen. Diese Grundrechte des Grundgesetzes sind unabänderlich und nicht nur als unmittelbar geltendes Recht für Legislative, Exekutive und Judikative bindend, sondern auch für die verfassungsgebende Gewalt der Volkssouveränität. Damit ist eine Absage an einen relativistischen Gesetzespositivismus ausgesprochen.
 

Der EU-Verfassungsentwurf ist ähnlich angelegt, da er sich ebenfalls von der verfassungstheoretischen Grundidee leiten lässt, das Organisationsrecht der Europäischen Union mit der EU-Grundrechtscharta dadurch zu verklammern, dass der Entwurf diese ausdrücklich als einen konstitutiven Bestandteil der Verfassung ansieht. Insofern fungieren die in der EU-Grundrechtscharta verankerten Grundrechte als der vor-rechtliche Geltungsgrund der durch eine EU-Verfassung begründeten Rechtsordnung. Sowohl das Grundgesetz als auch der Verfassungsentwurf der Europäischen Union verankern die prekäre Frage nach dem Recht des in ihr gesprochenen Rechts ausdrücklich durch ein vorrechtliches Grundprinzip. Die in Frage stehende Legitimationsgrundlage von Rechtsordnung und Verfassung wird durch den Rückbezug auf das vorrechtliche Wertefundament beantwortet. In ihren Grundrechtsteilen besitzen moderne Verfassungen ein ethisches Wertesystem, das Recht und Gesetz bindet und die Prozesse politischer Willensbildung normiert und das die Instrumente des demokratischen Verfahrens an eine Verfahrensordnung rückbinden, die sich zu vorpolitischen moralischen Grundlagen eines freiheitlichen Staates bekennt. Dadurch wird Legitimität und Legalität in einer Weise erzeugt, die kein Geltungsdefizit kennt, obwohl dieses Wertesystem laut Essen säkular und profan bleibt, da der notwendige, rechtfertigende Rekurs auf eine Religion unterbleibt.

Jürgen Habermas konnte daher in seiner Friedenspreisrede von 2001 zu Recht postulieren, dass sich die Prämissen des Verfassungsstaates aus einer rechtfertigbaren Moral begründen lassen müssen. Aufgrund der Tatsache, dass die Verbindlichkeit des Ethischen als eine Vorbedingung bereits faktisch nicht von jedem Bürger eines politischen Gemeinwesens geteilt wird, lassen sich im weltanschaulichen Pluralismus ethische Pflichten kaum durch die Berufung auf den Willen Gottes begründen. Dies wäre nur möglich, wenn die vorgängige Anerkennung Gottes gewährleistet wäre. In dieser Konsequenz sieht Essen die kürzliche Forderung von Habermas nach einer bundesrepublikanischen Verhältnisbestimmung von Kirche und Staat, die sicherstellen müsse, dass es in einer säkularen Gesellschaft nicht zu einem »unfairen Ausschluss der Religion aus der Öffentlichkeit« kommt, denn die liberale Politik dürfe »den fortwährenden Streit über das säkulare Selbstverständnis der Gesellschaft nicht […] in die Köpfe von Gläubigen abschieben«. Nicht nur würde sonst das jüdisch-christliche Erbe als die prägende historische Tiefenstruktur Europas vergessen werden, sondern mit dieser zu allererst auch die Vermittlung des für den Staat unhintergehbaren Freiheitsprinzips. Die Brücke zur Frage nach der Einfügung eines Gottesbezuges in moderne Verfassungen ist mit diesem Rückbezug auf das Autonomieprinzip geschlagen. Denn die autonome Vernunft entspricht dem Selbstverständnis neuzeitlicher Rechtsphilosophie, weil staatliche Verfassungen und gesellschaftliche Ordnungen nach Kriterien aufgebaut sind, die durch die ethische Vernunft rational zu begründen und zu rechtfertigen sind. Richtig ist somit, dass die Legitimation von Recht und Politik im menschlichen Autonomiebewusstsein verankert ist.

Auf den ersten Blick problematisch erscheint aber, dass in einer säkular-atheistischen Welt die bloße Erinnerung an Gott lediglich eine Redesituation darstellt, die ins Leere läuft und ihre Adressaten nicht erreicht. Bereits das Wort Gott ist mit einem Sinnlosigkeitsverdacht belegt. Daher ist die Sinnhaftigkeit des grundgesetzlich verankerten Gottesbezuges erst einmal fragwürdig. Einerseits darf die Argumentation nicht abhängig sein von offenbarungstheologischen Voraussetzungen, wie sie religiösen Traditionen eigentümlich sind, andererseits muss es sich um eine Instanz handeln, vor der die Rede von Gott sowohl theoretisch als auch praktisch verantwortet werden kann. Für Habermas steht dem Anspruch nach das Verhältnis der Philosophie zur Religion im Zeichen eines »Übersetzungsprogramms«, in dessen Prozess die Philosophie sich das semantische Potential religiöser Traditionen im Modus rationaler Begründung aneignet. Dahinter steht die Einsicht, dass ein religiöser Wahrheitsanspruch nur dann öffentliche Geltung haben darf, wenn in der Instanz autonomer Vernunft die Geltung religiöser Gehalte einsichtig gemacht werden kann. Religion kann aber nach Habermas weder durch die Philosophie substituiert werden, noch ist die Reichweite der Übersetzungsarbeit wie ihre semantische Plausibilität gewiss. Außerdem bleibe bei »jeder philosophischen Übersetzung der performative Sinn des gelebten Glaubens auf der Strecke« und die Identität des gelebten Glaubens dürfe gleichfalls durch den angestrebten Transformationsvorgang in ihrer Substanz nicht gefährdet werden, da die Philosophie sich das, »wovon im religiösen Diskurs die Rede ist, nicht als religiöse Erfahrungen zu eigen machen kann«. Die Philosophie sei und bleibe natürlich vom Offenbarungsgeschehen der Religion entkoppelt, trotzdem sei der Geltungsanspruch, den der Gottesbezug einer Verfassungspräambel erhebt, rational nach Maßgabe der vernunftrechtlichen Prinzipien moderner Verfassungen zu begründen.

Essen unterscheidet sich in einem grundlegenden Punkt von Habermas, insoweit er der Überzeugung ist, dass die Transformation des religiösen Gehaltes durch die autonome Vernunft in der Weise durchgeführt werden kann, dass ihr Ergebnis ausdrücklich nicht die Säkularisierung und damit das Ende des Gottdenkens selbst nach sich zieht. Dabei will er neben der theoretischen Verantwortung des Gottesbegriffs zudem diesen mit dem praktischen Nachweis, dass die Rede von Gott für das Gelingen menschlichen Lebens und Zusammenlebens eine humane Bedeutung besitzt, ergänzt wissen. Denn dies würde erst die Einfügung einer nominatio dei verfassungsrechtlich begründen können. Wenn deutlich wird, dass gerade ein säkularer, freiheitlicher Staat ein elementares Interesse an Sinnvorgaben haben muss, die er um der Autonomie der Freiheit willen selbst nicht verbürgen kann, widerspricht es seinen Grundlagen nicht, wenn er seine Angewiesenheit auf den Präambelgott ausdrücklich benennt.

Die jetzt gewählte Formulierung im EU-Verfassungsentwurf »Schöpfend aus den kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas« hält Essen hingegen für einen Schwächeanfall rechtsphilosophischer Vernunft, denn die Aufdeckung von historischen Ursprüngen allein beantworte die Frage nach den Sinnvorgaben noch keineswegs. Er fordert vielmehr, dass das Recht zur Einfügung einer nominatio dei in die Präambel der Verfassung politischen Gemeinwesen wie der Bundesrepublik oder der Europäischen Union nicht grundsätzlich abgesprochen werden kann. Da der nominatio dei ausdrücklich keine geltungstheoretische Funktion zukommt, steht die Geltung der Verfassungsprinzipien nicht unter dem Verdacht, von einem Geltungsgrund abhängig zu sein, der in einem pluralistisch verfassten Gemeinwesen nicht universalisierbar wäre. Nur wenn die besondere Stellung der nominatio dei als ein nicht mit der Beantwortung von staats- und rechtstheoretischen Begründungsfragen befrachteter Teil der Verfassungspräambel verfassungsrechtlich einwandfrei klargestellt werden kann, macht dies im übrigen erst die verfassungsrechtliche Sinnhaftigkeit eines Gottesbezuges plausibel. Entscheidend ist die Unterscheidung von Moral und Sinn, denn der Gottesbegriff beinhaltet einen für das Gelingen menschlicher Existenz unbedingt bedeutsamen Sinngehalt, der geradezu verdeckt wird, wenn die Ethik der Sinnthematik subordiniert wird. Der Gedanke der Gottebenbildlichkeit würde seinen Sinnüberschuss verlieren, wenn wir ihn auf den ethischen Begriff der politischen und moralischen dignitas begrenzen würden. Auf diese Sinndimension verweist der Gottesbezug einer Verfassungspräambel. In ihm kommt nichts anderes als die anthropologische Relevanz des Rechtfertigungsglaubens und zugleich die Selbstbeschränkung des modernen Verfassungsstaates bei der Produktion von Sinnhaftigkeit zum Ausdruck.

Essen ist sich bewusst, dass auch wenn durch die rechtsphilosophische Reflexion die humane und humanisierende Bedeutung eines Gottesbezuges in der Instanz der autonomen Vernunft einsichtig wird, der Einwand zu berücksichtigen bleibt, dass dem weltanschaulich neutralen Staat auch in der schwersten Krise der Rückverweis auf Gott strikt untersagt sein muss, denn aus verfassungsrechtlichen Gründen darf der ›Präambelgott‹ nicht mit dem Christentum identifiziert werden. Dies würde aber ohnehin nur unter der theologisch wie philosophisch unhaltbaren Voraussetzung der Fall sein, dass Gott als Eigentum einer bestimmten Religion angesehen würde und nicht als universaler Sinngrund aller Menschen. Die Ausgestaltung des Grundgesetzes und auch des Grundrechtskatalogs der EU-Verfassung legen zweifelsohne anthropologische Kriterien frei für ein mit dem Menschenbild der Verfassung und dem Selbstverständnis eines säkularen freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaates übereinstimmenden Gottesbegriff, da für die inhaltliche Bestimmung der nominatio dei die folgenden Aspekte unverzichtbar sind: Achtung der Würde des Menschen als unvertretbarem Individuum, die unbedingte Anerkennung der menschlichen Freiheit, und seine Verwiesenheit auf Gemeinschaft und Gesellschaft. Sofern und weil diese Argumentation die nominatio dei als Sinngrund des Verfassungsstaates in der Weise einführt, dass sie ein philosophischer Grenzbegriff der Vernunft ist, ist der so gefasste explizite Gottesbezug mit dem menschlichen Autonomiebewusstsein prinzipiell vereinbar. Folglich ist diese Argumentation nicht von der These betroffen, Atheisten und Nichtglaubende vereinnahmen zu wollen. Die Unterstellung, »eine EU-Verfassung, die sich auf das religiöse Erbe beruft«, grenze aus, verkennt wiederum die Möglichkeit, religiöse Gehalte so auf die säkularen Prinzipien der Rechtsordnung und -moral zu beziehen, dass deren Sinnhaftigkeit auch jenen einleuchten kann, die nicht in einer religiösen Tradition beheimatet sind.


Weiterhin hat sich die verfassungsrechtliche Frage dem Problem zu stellen, inwiefern die nominatio dei interreligiös konsensfähig ist. Da die Einfügung eines expliziten Gottesbezuges philosophisch begründet wird und darin auch ihre Grenze findet, mischt sich der Staat einer solchen Verfassung nicht in den religionstheologischen Streit um Wahrheitsansprüche ein, die im Dialog der Religionen erhoben werden. Dies verböte im übrigen seine Verpflichtung zur weltanschaulichen Neutralität. Desgleichen berührt der Gottesbezug der Verfassung nicht die von ihm gewährte Religionsfreiheit, da die nominatio dei unmittelbar nicht diejenigen Transzendenzbezüge normieren will, die sich in der Sphäre des Privaten oder Gesellschaftlichen artikulieren. Weil sie ihre inhaltliche Bestimmtheit allein vom Menschenbild erhält, das der Verfassung zugrunde liegt, ergeben sich die Minimalbestimmungen der nominatio dei ausschließlich aus den Prinzipien der Rechtsmoral und -ordnung. Essen benennt als Grenze seiner Argumentation, dass der theologische Satz unangetastet bleibt, dass Gott nur durch Gott im Lichte seines Offenbarwerdens erkannt werden kann, also der Gottesbezug der Präambel nicht über die Wirklichkeit Gottes verfüge. Zugleich ermögliche aber die strukturelle Selbstbescheidenheit einer nominatio dei, die religiösen Traditionen in einer plural verfassten Gesellschaft als sinnstiftende Ressourcen zu achten und anzuerkennen.

Georg Essen ist nicht nur eine lesenwerte Abhandlung zur aktuellen verfassungspolitischen Diskussion um den Gottesbezug im Entwurf zur EU-Verfassung gelungen, er hat auch die Argumentation der Gegner einer nominatio dei auf den Kopf gestellt. Gerade indem er Jürgen Habermas zum Kronzeugen für seine Überlegungen macht, zeigt der Autor auf, wie der einst in der Theorie des kommunikativen Handelns postulierte Habermassche Ansatz, dass die kommunikative Vernunft die Rolle der Religion bei der Ausbildung und Durchsetzung kommunikativ hergestellter Intersubjektivität übernehmen solle und dadurch die integrierende Funktion der Religion zunehmend überflüssig würde, unhaltbar ist. Die spätere Korrektur dieser Position durch Habermas selbst legt dar, wie sehr sich der rationale Diskurs der Philosophie und die Sinnhaftigkeit der Religion gegenseitig bedingen. Moderne Verfassungsstaaten dürfen dies durchaus in einem Gottesbezug in ihren Verfassungen manifestieren.

Ulrich Arnswald

Literatur:
Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1992, 92-114.
Jürgen Habermas, Glauben und Wissen: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001.
Jürgen Habermas. Ansprachen aus Anlass der Verleihung, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2001.
Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1981.