Georg Essen erörtert in einem
anregenden Traktat die umstrittene Frage der Einführung eines
Gottesbezuges in den Entwurf zu einer Europäischen Verfassung. Mit
dem Streit um die Einführung einer sogenannten
nominatio dei
in die Präambel des Verfassungsentwurfs wurde zudem grundsätzlich
die Frage diskutiert, welche öffentliche Bedeutung Religion im
Beziehungsgeflecht von modernem Verfassungsstaat und säkularer
Zivilgesellschaft hat und zukünftig haben soll. Essens Abhandlung
konzentriert und begrenzt sich allerdings im verfassungspolitischen
Streit um den »Präambelgott« auf das Thema des Gottesbezuges in
modernen Verfassungen. Der Autor geht primär vom Grundgesetz der
Bundesrepublik Deutschland aus und entwickelt von dort eine
Parallele zum Entwurf der EU-Verfassung, die sich bekanntlich nicht
auf ein Staatsvolk, ein Staatsgebiet sowie eine Staatsgewalt
beziehen kann. Letzteres wirkt sich auf das Thema insoweit aus, als
die verfassungspolitische Thematisierung von Religion stets auf den
Staat und dabei vor allem auf den Typus des neuzeitlichen
Nationalstaats bezogen gewesen ist und daher eine der
Voraussetzungen gebildet hat, auf denen sowohl das
Staatskirchenrecht als auch das rechtlich geregelte Verhältnis
eines öffentlichen Gemeinwesens zur Religion gründete.
Das Grundgesetz fordert die weltanschauliche Neutralität des
Staates ebenso wie es die Religionsfreiheit seiner Bürger
garantiert. In der Verfassungsgeschichte des 19. und 20.
Jahrhunderts ist augenfällig, dass der Gottesbezug des
Grundgesetzes quer steht zur Geschichte deutscher Verfassungen.
Beispielsweise kennt ihn weder die Verfassung der Paulskirche noch
die des Deutschen Reiches von 1871 oder die der Weimarer Republik.
In den Beratungen des Parlamentarischen Rates von 1948 war die
Einfügung eines Gottesbezuges in die Grundgesetzpräambel durchaus
umstritten. Um sich vom Nationalsozialismus zu distanzieren und die
Grenzen der verfassungsgebenden Gewalt in Erinnerung zu rufen, rang
sich aber die Mehrheit des Parlamentarischen Rates letztendlich
durch, eine »Absage an den Atheismus als Staatsreligion« bzw. als
»Verweis auf die Grenzen und Schranken allen menschlichen und
staatlichen Handelns« in Form der Aufnahme des ›Präambelgottes‹ in
die Verfassung einfließen zu lassen. Deshalb wird in der Präambel
des Grundgesetzes an prominenter Stelle auf Gott Bezug
genommen.
Die Kommentatoren des Grundgesetzes tun sich schwer, wenn es darum
geht, die verfassungsrechtliche Funktion des Gottesbezuges zu
klären. Viele von ihnen beantworten die Frage damit, dass sie diese
als »Chiffre für das Unverfügbare« in Form von »Bezugnahme auf
Vorstaatliches, Ewiges« oder als »freiheitsbezogene Leerstelle«
bezeichnen, deren Funktion sich dadurch auszeichne, dass sie in der
Verfassung nicht weiter positiviert wird. Ebenso wird
interpretiert, dass die Gottesklausel dazu da sei, ȟberhaupt einen
Transzendenzbezug herauszustellen, ohne notwendig auf einen
bestimmten Gott zu verweisen« und sich somit im Gottesbezug des
Grundgesetzes »sämtliche religiösen Konzeptionen, in denen es
transzendenzbezogene Verantwortung gibt, ihren Ort finden«. Das
Schlüsselwort ist der ›offene Gottesbegriff‹, dem die
nominatio
dei der Grundgesetzpräambel die inhaltliche Bestimmtheit nehmen
soll, indem sie die Bestimmtheit des Gottesbegriffs wieder
aufhebt.
Berechtigterweise ist bis heute umstritten, ob es in einem
weltanschaulich neutralen Gemeinwesen wie der Bundesrepublik oder
auch der Europäischen Union überhaupt in einer Verfassung einen
expliziten Gottesbezug geben sollte. Die
Interpretationsschwierigkeiten resultieren in
verfassungsrechtlicher Hinsicht aus der Eigenart des Prinzips der
religiösen wie weltanschaulichen Neutralität des Staates. Insofern
wäre ein Interpretationsansatz verfehlt, der aus dem Gottesbezug
der Präambel eine grundgesetzlich verankerte Verpflichtung des
einzelnen Staatsbürgers auf den Glauben an Gott herleiten wollte.
Ebenso ist die These falsch, die Gottesklausel der Präambel
konstituiere die Bundesrepublik Deutschland als christlichen
Staat.
Der Präambel kommt zwar
Rechtsverbindlichkeit zu, doch lässt sich wohl kaum eine
individuelle und staatliche Verpflichtung auf den Gott der Präambel
rechtlich einfordern und die Durchsetzung christlichen Gedankenguts
als Staatsziel deklarieren. Außerdem wäre dies sowohl aus
theologischen wie aus juristischen Gründen inakzeptabel, denn die
Realisierung der Gottesbeziehung ist aus theologischer Sicht ein
unableitbarer menschlicher Freiheitsakt, und daher ist das Recht
der Wahrheit an das Recht der Person zurückgebunden. Aus
juristischen Gründen wiederum kann das Gottesverhältnis des
Menschen nicht rechtsverbindlich eingefordert werden, denn Recht
muss in formaler Hinsicht durch den Charakter der Erzwingbarkeit
gekennzeichnet sein. Da aber nur äußeres Verhalten, nicht jedoch
das Gottesverhältnis des Menschen rechtlicher Regulierung
zugänglich sein kann, ist eine solche Verpflichtung nicht
einklagbar. Darüber hinaus ist das Grundgesetz nicht auf eine wie
immer geartete Verbindlichkeit im Sinne einer normativen
Verpflichtung mit dem Gottesbezug aus. Der Gottesbezug in der
Präambel des Grundgesetzes ist keineswegs wie in den Verfassungen
Irlands, Griechenlands und der Schweiz als eine ›Anrufung Gottes‹,
eine sogenannte invocatio dei verankert. Der
Parlamentarische Rat hat sich vielmehr für den zurückhaltenderen
Gottesbezug einer sogenannten nominatio dei oder
commemoratio dei entschieden.
Damit ist sichergestellt, dass das Grundgesetz nicht ›im Namen
Gottes‹ ergeht und die Politik Gott nicht als Referenz- oder
Bezugspunkt in Anspruch nimmt. Verdeutlicht wird dies auch dadurch,
dass die Präambel des Grundgesetzes das Volk als Träger der
verfassungsgebenden Gewalt benennt und Art. 20 II GG alle
Staatsgewalt vom Volk ausgehen lässt. Insofern erklärt dies auch,
warum Grundgesetzkommentare in ihrem Versuch, die Gottesklausel
inhaltlich zu bestimmen, es primär bei einer Erinnerung an die
»Motivation des Verfassungsschöpfers« belassen. Vor diesem
Hintergrund steht außer Frage, dass die Bundesrepublik Deutschland
ein weltanschaulich neutraler Staat ist, der durch eine
grundsätzliche Trennung von Staat und Kirche gekennzeichnet ist und
Religions- und Bekenntnisfreiheit garantiert. Eine staatliche
Identifikation mit einer Religionsgemeinschaft ist dem Grundsatz
der Religionsneutralität folgend somit ausgeschlossen. Dies ist
gleichbedeutend mit der Tatsache, dass in verfassungsrechtlicher
Hinsicht mit der nominatio dei keine exklusive
Identifizierung des in ihr genannten ›Gottes‹ mit dem christlichen
stattfinden darf.
Diese Interpretation löst aber für Essen noch nicht die einst von
Ernst-Wolfgang Böckenförde aufgeworfenen Fragen, die schließlich
zur Formulierung des nach ihm benannten Paradoxons führten. Die
Kernfrage, die Böckenförde schon vor geraumer Zeit gestellt hat,
nämlich woraus der Staat lebt und worin er die ihn tragende,
homogenitätsverbürgende Kraft und die inneren Regulierungskräfte
der Freiheit finde, sei nach wie vor nicht beantwortet. Deshalb
müsse die plural verfasste Gesellschaft ihr Verhältnis zur
öffentlichen Präsenz von Religion klären und sich der
Sinndimension, für die nur Religionen einstehen können, öffnen,
denn ansonsten entstehe nur ein Vakuum, das von Fundamentalisten
jeglicher Couleur gefüllt wird. Aus diesem Kontext resultierend
klagen viele in der Diskussion die kulturgeschichtliche Würdigung
des christlichen Erbes ein. Gewiss sind wesentliche Elemente der
europäischen Rechtskultur unter Einschluss seines
universalistischen Grundrechtsethos nicht ohne das christliche Erbe
zu begreifen. Hierzu gehören vor allem das Selbstverständnis des
Menschen als Person und die Unhintergehbarkeit seiner Würde. Zur
historischen Wahrheit gehört aber auch, dass die Entstehung des
weltanschaulich-neutralen Staates ein Ausweg aus den
konfessionellen Bürgerkriege des 17. Jahrhunderts sein wollte und
es erst der Freiheitswille der Neuzeit, der Geist der Aufklärung
war, der die Erklärung der grundlegenden Menschenrechte, der
Toleranz und Religionsfreiheit ermöglichte. In diesem Sinne gehört
das Misstrauen gegenüber religiösen Wahrheitsansprüchen im
öffentlichen Raum des Politischen gleichsam zur Raison des modernen
Verfassungsstaates.
Der ›Laizismus‹, wie er in Frankreich bis in die Gegenwart hinein
präsent ist, entstammt diesem Hintergrund und besteht auf einer
strikten Trennung von Religion und Staat. Der Staat gibt die
Religion an das Individuum frei und überlässt den gesamten Bereich
der Religion der Privatsphäre seiner Bürger. Die Religion soll kein
notwendiger Bestandteil der politischen Ordnung sein, sondern Teil
der Privatsphäre. Er selbst hat nun keine Religion. Das Recht der
Wahrheit wird nicht länger im Recht des Staates verankert, sondern
ist an das Recht der Person zurückgebunden. Der Staat muss damit
einhergehend die Gesellschaft als einen von ihm gesonderten Bereich
der privaten und öffentlichen Freiheitsentfaltung anerkennen, deren
gemeinsam getragenes Wertefundament lediglich eher einem
›overlapping consensus‹ im Sinne John Rawls als einer faktischen
Gegebenheit entspricht. Deshalb beziehen sich Plädoyers für einen
Gottesbezug in modernen Verfassungen oft auf das vieldiskutierte
Böckenförde-Paradox, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat
von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann.
Essens Kritik setzt dort ein, denn er hält es für fraglich, »dass
der neuzeitliche säkulare Staat, sich von der Verankerung in der
(christlichen) Religion gelöst hat, ohne [dass eine] Bindung an
einen vorausliegenden, unverfügbaren Inhalt existiert, wie
Böckenförde mutmaßt« (55).
Einerseits kann der Rechtsstaat nur bestehen, »wenn sich die
Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der
moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der
Gesellschaft reguliert. Andererseits aber kann er diese inneren
Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln
des Rechtszwanges und autoritativen Gebots, zu garantieren suchen,
ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter
Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in
den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat« (Böckenförde).
Der Staat muss sich insofern selbstbeschränken, um als moderner
Verfassungsstaat die Freiheit gewährleisten zu können. Daher ist
der Staat auch kein Sinnproduzent, denn er hat seinen Sinn nicht in
sich selbst, sondern vielmehr seine Aufgabe darin, Recht zu
vermitteln, um, als Institutionalisierung des Rechts, Freiheit zu
ermöglichen. Essen beantwortet folglich die von Böckenförde
aufgeworfene Frage dahingehend, dass der den Staat konstituierende
Grund in der Garantie der Freiheit seiner Staatsbürger angelegt
sei. Damit akzeptiert er einerseits die neuzeitliche Entflechtung
von Religion und Staat und versucht auch nicht, die Angewiesenheit
des weltanschaulich-neutralen Verfassungsstaates auf religiöse
Sinnressourcen auf dem Wege einer Restitution des
religionsgebundenen Staates zu behaupten. Andererseits weist er
Böckenfördes These einer »radikaldemokratischen Aufhebung« dieses
Paradoxons insoweit zurück, als er nicht davon ausgeht, dass sich
im Verfahren des demokratischen Diskurses kulturelle Ressourcen
gewissermaßen von selbst erzeugen. Vielmehr ist Essen überzeugt,
dass solche Ressourcen nur auf dem Wege der Erinnerung von
kulturell und historisch vorgegebenen Traditionsbeständen als
sinnstiftendes Angebot gegenwartsmächtig werden können. Diese
Traditionsbestände sieht er vornehmlich in den religiösen
Institutionen bewahrt, die zudem in der Lage sind, diese religiöse
Sinnressourcen kulturell und gesellschaftspolitisch zur Geltung zu
bringen.
Die aktuellen verfassungspolitischen Diskussionen zum Gottesbezug
im Grundgesetz oder im EU-Verfassungsentwurf, aber auch zu
umstrittenen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts wie zum
sogenannten ›Kruzifix-‹ und ›Kopftuchurteil‹ sind laut Essen nur
insofern neuartig, als heute ein gemeinsamer christlicher
Hintergrund als orientierender und normierender
Plausibilitätsrahmen kaum noch existiert. Folgerichtig konnte der
ehemalige Bundestagsabgeordnete Wolfgang Ullmann, ein evangelischer
Theologe und einstiger Angehöriger der Bürgerrechtsbewegung der
DDR, als damaliges Mitglied der mit der Grundgesetzrevision
beauftragten Gemeinsamen Verfassungskommission seinen Antrag zur
Streichung der nominatio dei damit begründen, dass »im Laufe
der letzten Jahrzehnte ein tiefgreifender Wandel der
gesellschaftlichen Bedingungen« eingetreten sei, »der nicht ohne
Einfluss auf die normative Ausgestaltung des Verhältnisses von
Staat und Kirche bleiben könne« (44). Dieser Argumentation schließt
sich auch das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts (v.
24.09.2003) zum Tragen eines Kopftuches in öffentlichen Schulen an.
In der Urteilsbegründung heißt es: »Der mit zunehmender religiöser
Pluralität verbundene gesellschaftliche Wandel kann für den
Gesetzgeber Anlass zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes
religiöser Bezüge in der Schule sein.« Und weiter: Angesichts der
gewandelten Verhältnisse müsse die »Pflicht des Staates zu
weltanschaulich-religiöser Neutralität […] strenger gehandhabt
werden« (45).
Für die Verankerung einer nominatio dei wird gerne ins Feld
geführt, dass Verfassung und Recht in Gott ihre meta-positive
Verankerung erhalten sollen, um der grundgesetzlichen Ordnung des
Staates Geltung und Legitimation verschaffen zu können. Die Idee
ist, dass nur durch Gott der Rechtsordnung ein metaphysisches
Fundament gegeben werde und dies dann erlaube, die Unbedingtheit
der Menschenwürde wirkungsvoll zu schützen. Eine solche Deutung des
Gottesbezuges der Präambel als eine theonome
Begründungsfunktion des Rechts steht im Widerspruch zur Anlage des
Grundgesetzes. Das Grundgesetz besteht aus einer eigentümlichen
Verklammerung des Staatsorganisationsrechts mit den Grundrechten
und manifestiert die rechts- wie staatsphilosophisch durchaus
sensible Frage nach der Legitimität staatlicher Herrschaft und
Rechtsetzung eindeutig. Die in Art. 1 bis 19 GG fixierten
Grundrechte sind als vor-rechtliche beziehungsweise vor-staatliche
Geltungsgründe rechtsstaatlicher Ordnung selbst der
verfassungsgebenden Gewalt des Volkes entzogen. Diese Grundrechte
des Grundgesetzes sind unabänderlich und nicht nur als unmittelbar
geltendes Recht für Legislative, Exekutive und Judikative bindend,
sondern auch für die verfassungsgebende Gewalt der
Volkssouveränität. Damit ist eine Absage an einen relativistischen
Gesetzespositivismus ausgesprochen.
Der EU-Verfassungsentwurf ist ähnlich
angelegt, da er sich ebenfalls von der verfassungstheoretischen
Grundidee leiten lässt, das Organisationsrecht der Europäischen
Union mit der EU-Grundrechtscharta dadurch zu verklammern, dass der
Entwurf diese ausdrücklich als einen konstitutiven Bestandteil der
Verfassung ansieht. Insofern fungieren die in der
EU-Grundrechtscharta verankerten Grundrechte als der vor-rechtliche
Geltungsgrund der durch eine EU-Verfassung begründeten
Rechtsordnung. Sowohl das Grundgesetz als auch der
Verfassungsentwurf der Europäischen Union verankern die prekäre
Frage nach dem Recht des in ihr gesprochenen Rechts ausdrücklich
durch ein vorrechtliches Grundprinzip. Die in Frage stehende
Legitimationsgrundlage von Rechtsordnung und Verfassung wird durch
den Rückbezug auf das vorrechtliche Wertefundament beantwortet. In
ihren Grundrechtsteilen besitzen moderne Verfassungen ein ethisches
Wertesystem, das Recht und Gesetz bindet und die Prozesse
politischer Willensbildung normiert und das die Instrumente des
demokratischen Verfahrens an eine Verfahrensordnung rückbinden, die
sich zu vorpolitischen moralischen Grundlagen eines freiheitlichen
Staates bekennt. Dadurch wird Legitimität und Legalität in einer
Weise erzeugt, die kein Geltungsdefizit kennt, obwohl dieses
Wertesystem laut Essen säkular und profan bleibt, da der
notwendige, rechtfertigende Rekurs auf eine Religion
unterbleibt.
Jürgen Habermas konnte daher in seiner Friedenspreisrede von 2001
zu Recht postulieren, dass sich die Prämissen des
Verfassungsstaates aus einer rechtfertigbaren Moral begründen
lassen müssen. Aufgrund der Tatsache, dass die Verbindlichkeit des
Ethischen als eine Vorbedingung bereits faktisch nicht von jedem
Bürger eines politischen Gemeinwesens geteilt wird, lassen sich im
weltanschaulichen Pluralismus ethische Pflichten kaum durch die
Berufung auf den Willen Gottes begründen. Dies wäre nur möglich,
wenn die vorgängige Anerkennung Gottes gewährleistet wäre. In
dieser Konsequenz sieht Essen die kürzliche Forderung von Habermas
nach einer bundesrepublikanischen Verhältnisbestimmung von Kirche
und Staat, die sicherstellen müsse, dass es in einer säkularen
Gesellschaft nicht zu einem »unfairen Ausschluss der Religion aus
der Öffentlichkeit« kommt, denn die liberale Politik dürfe »den
fortwährenden Streit über das säkulare Selbstverständnis der
Gesellschaft nicht […] in die Köpfe von Gläubigen abschieben«.
Nicht nur würde sonst das jüdisch-christliche Erbe als die prägende
historische Tiefenstruktur Europas vergessen werden, sondern mit
dieser zu allererst auch die Vermittlung des für den Staat
unhintergehbaren Freiheitsprinzips. Die Brücke zur Frage nach der
Einfügung eines Gottesbezuges in moderne Verfassungen ist mit
diesem Rückbezug auf das Autonomieprinzip geschlagen. Denn die
autonome Vernunft entspricht dem Selbstverständnis neuzeitlicher
Rechtsphilosophie, weil staatliche Verfassungen und
gesellschaftliche Ordnungen nach Kriterien aufgebaut sind, die
durch die ethische Vernunft rational zu begründen und zu
rechtfertigen sind. Richtig ist somit, dass die Legitimation von
Recht und Politik im menschlichen Autonomiebewusstsein verankert
ist.
Auf den ersten Blick problematisch erscheint aber, dass in einer
säkular-atheistischen Welt die bloße Erinnerung an Gott lediglich
eine Redesituation darstellt, die ins Leere läuft und ihre
Adressaten nicht erreicht. Bereits das Wort Gott ist mit einem
Sinnlosigkeitsverdacht belegt. Daher ist die Sinnhaftigkeit des
grundgesetzlich verankerten Gottesbezuges erst einmal fragwürdig.
Einerseits darf die Argumentation nicht abhängig sein von
offenbarungstheologischen Voraussetzungen, wie sie religiösen
Traditionen eigentümlich sind, andererseits muss es sich um eine
Instanz handeln, vor der die Rede von Gott sowohl theoretisch als
auch praktisch verantwortet werden kann. Für Habermas steht dem
Anspruch nach das Verhältnis der Philosophie zur Religion im
Zeichen eines »Übersetzungsprogramms«, in dessen Prozess die
Philosophie sich das semantische Potential religiöser Traditionen
im Modus rationaler Begründung aneignet. Dahinter steht die
Einsicht, dass ein religiöser Wahrheitsanspruch nur dann
öffentliche Geltung haben darf, wenn in der Instanz autonomer
Vernunft die Geltung religiöser Gehalte einsichtig gemacht werden
kann. Religion kann aber nach Habermas weder durch die Philosophie
substituiert werden, noch ist die Reichweite der Übersetzungsarbeit
wie ihre semantische Plausibilität gewiss. Außerdem bleibe bei
»jeder philosophischen Übersetzung der performative Sinn des
gelebten Glaubens auf der Strecke« und die Identität des gelebten
Glaubens dürfe gleichfalls durch den angestrebten
Transformationsvorgang in ihrer Substanz nicht gefährdet werden, da
die Philosophie sich das, »wovon im religiösen Diskurs die Rede
ist, nicht als religiöse Erfahrungen zu eigen machen kann«. Die
Philosophie sei und bleibe natürlich vom Offenbarungsgeschehen der
Religion entkoppelt, trotzdem sei der Geltungsanspruch, den der
Gottesbezug einer Verfassungspräambel erhebt, rational nach Maßgabe
der vernunftrechtlichen Prinzipien moderner Verfassungen zu
begründen.
Essen unterscheidet sich in einem grundlegenden Punkt von Habermas,
insoweit er der Überzeugung ist, dass die Transformation des
religiösen Gehaltes durch die autonome Vernunft in der Weise
durchgeführt werden kann, dass ihr Ergebnis ausdrücklich nicht die
Säkularisierung und damit das Ende des Gottdenkens selbst nach sich
zieht. Dabei will er neben der theoretischen Verantwortung des
Gottesbegriffs zudem diesen mit dem praktischen Nachweis, dass die
Rede von Gott für das Gelingen menschlichen Lebens und
Zusammenlebens eine humane Bedeutung besitzt, ergänzt wissen. Denn
dies würde erst die Einfügung einer nominatio dei
verfassungsrechtlich begründen können. Wenn deutlich wird, dass
gerade ein säkularer, freiheitlicher Staat ein elementares
Interesse an Sinnvorgaben haben muss, die er um der Autonomie der
Freiheit willen selbst nicht verbürgen kann, widerspricht es seinen
Grundlagen nicht, wenn er seine Angewiesenheit auf den Präambelgott
ausdrücklich benennt.
Die jetzt gewählte Formulierung im EU-Verfassungsentwurf »Schöpfend
aus den kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen
Europas« hält Essen hingegen für einen Schwächeanfall
rechtsphilosophischer Vernunft, denn die Aufdeckung von
historischen Ursprüngen allein beantworte die Frage nach den
Sinnvorgaben noch keineswegs. Er fordert vielmehr, dass das Recht
zur Einfügung einer nominatio dei in die Präambel der Verfassung
politischen Gemeinwesen wie der Bundesrepublik oder der
Europäischen Union nicht grundsätzlich abgesprochen werden kann. Da
der nominatio dei ausdrücklich keine geltungstheoretische Funktion
zukommt, steht die Geltung der Verfassungsprinzipien nicht unter
dem Verdacht, von einem Geltungsgrund abhängig zu sein, der in
einem pluralistisch verfassten Gemeinwesen nicht universalisierbar
wäre. Nur wenn die besondere Stellung der nominatio dei als ein
nicht mit der Beantwortung von staats- und rechtstheoretischen
Begründungsfragen befrachteter Teil der Verfassungspräambel
verfassungsrechtlich einwandfrei klargestellt werden kann, macht
dies im übrigen erst die verfassungsrechtliche Sinnhaftigkeit eines
Gottesbezuges plausibel. Entscheidend ist die Unterscheidung von
Moral und Sinn, denn der Gottesbegriff beinhaltet einen für das
Gelingen menschlicher Existenz unbedingt bedeutsamen Sinngehalt,
der geradezu verdeckt wird, wenn die Ethik der Sinnthematik
subordiniert wird. Der Gedanke der Gottebenbildlichkeit würde
seinen Sinnüberschuss verlieren, wenn wir ihn auf den ethischen
Begriff der politischen und moralischen dignitas begrenzen würden.
Auf diese Sinndimension verweist der Gottesbezug einer
Verfassungspräambel. In ihm kommt nichts anderes als die
anthropologische Relevanz des Rechtfertigungsglaubens und zugleich
die Selbstbeschränkung des modernen Verfassungsstaates bei der
Produktion von Sinnhaftigkeit zum Ausdruck.
Essen ist sich bewusst, dass auch wenn durch die
rechtsphilosophische Reflexion die humane und humanisierende
Bedeutung eines Gottesbezuges in der Instanz der autonomen Vernunft
einsichtig wird, der Einwand zu berücksichtigen bleibt, dass dem
weltanschaulich neutralen Staat auch in der schwersten Krise der
Rückverweis auf Gott strikt untersagt sein muss, denn aus
verfassungsrechtlichen Gründen darf der ›Präambelgott‹ nicht mit
dem Christentum identifiziert werden. Dies würde aber ohnehin nur
unter der theologisch wie philosophisch unhaltbaren Voraussetzung
der Fall sein, dass Gott als Eigentum einer bestimmten Religion
angesehen würde und nicht als universaler Sinngrund aller Menschen.
Die Ausgestaltung des Grundgesetzes und auch des
Grundrechtskatalogs der EU-Verfassung legen zweifelsohne
anthropologische Kriterien frei für ein mit dem Menschenbild der
Verfassung und dem Selbstverständnis eines säkularen freiheitlichen
und demokratischen Rechtsstaates übereinstimmenden Gottesbegriff,
da für die inhaltliche Bestimmung der nominatio dei die folgenden
Aspekte unverzichtbar sind: Achtung der Würde des Menschen als
unvertretbarem Individuum, die unbedingte Anerkennung der
menschlichen Freiheit, und seine Verwiesenheit auf Gemeinschaft und
Gesellschaft. Sofern und weil diese Argumentation die nominatio dei
als Sinngrund des Verfassungsstaates in der Weise einführt, dass
sie ein philosophischer Grenzbegriff der Vernunft ist, ist der so
gefasste explizite Gottesbezug mit dem menschlichen
Autonomiebewusstsein prinzipiell vereinbar. Folglich ist diese
Argumentation nicht von der These betroffen, Atheisten und
Nichtglaubende vereinnahmen zu wollen. Die Unterstellung, »eine
EU-Verfassung, die sich auf das religiöse Erbe beruft«, grenze aus,
verkennt wiederum die Möglichkeit, religiöse Gehalte so auf die
säkularen Prinzipien der Rechtsordnung und -moral zu beziehen, dass
deren Sinnhaftigkeit auch jenen einleuchten kann, die nicht in
einer religiösen Tradition beheimatet sind.
Weiterhin hat sich die
verfassungsrechtliche Frage dem Problem zu stellen, inwiefern die
nominatio dei interreligiös konsensfähig ist. Da die
Einfügung eines expliziten Gottesbezuges philosophisch begründet
wird und darin auch ihre Grenze findet, mischt sich der Staat einer
solchen Verfassung nicht in den religionstheologischen
Streit um Wahrheitsansprüche ein, die im Dialog der Religionen
erhoben werden. Dies verböte im übrigen seine Verpflichtung zur
weltanschaulichen Neutralität. Desgleichen berührt der Gottesbezug
der Verfassung nicht die von ihm gewährte Religionsfreiheit, da die
nominatio dei unmittelbar nicht diejenigen
Transzendenzbezüge normieren will, die sich in der Sphäre des
Privaten oder Gesellschaftlichen artikulieren. Weil sie ihre
inhaltliche Bestimmtheit allein vom Menschenbild erhält, das der
Verfassung zugrunde liegt, ergeben sich die Minimalbestimmungen der
nominatio dei ausschließlich aus den Prinzipien der
Rechtsmoral und -ordnung. Essen benennt als Grenze seiner
Argumentation, dass der theologische Satz unangetastet bleibt, dass
Gott nur durch Gott im Lichte seines Offenbarwerdens erkannt werden
kann, also der Gottesbezug der Präambel nicht über die Wirklichkeit
Gottes verfüge. Zugleich ermögliche aber die strukturelle
Selbstbescheidenheit einer nominatio dei, die religiösen
Traditionen in einer plural verfassten Gesellschaft als
sinnstiftende Ressourcen zu achten und anzuerkennen.
Georg Essen ist nicht nur eine
lesenwerte Abhandlung zur aktuellen verfassungspolitischen
Diskussion um den Gottesbezug im Entwurf zur EU-Verfassung
gelungen, er hat auch die Argumentation der Gegner einer
nominatio dei auf den Kopf gestellt. Gerade indem er Jürgen
Habermas zum Kronzeugen für seine Überlegungen macht, zeigt der
Autor auf, wie der einst in der Theorie des kommunikativen Handelns
postulierte Habermassche Ansatz, dass die kommunikative Vernunft
die Rolle der Religion bei der Ausbildung und Durchsetzung
kommunikativ hergestellter Intersubjektivität übernehmen solle und
dadurch die integrierende Funktion der Religion zunehmend
überflüssig würde, unhaltbar ist. Die spätere Korrektur dieser
Position durch Habermas selbst legt dar, wie sehr sich der
rationale Diskurs der Philosophie und die Sinnhaftigkeit der
Religion gegenseitig bedingen. Moderne Verfassungsstaaten dürfen
dies durchaus in einem Gottesbezug in ihren Verfassungen
manifestieren.
Ulrich Arnswald
Literatur:
Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die
Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Ders.,
Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie,
Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt am Main:
Suhrkamp Verlag 1992, 92-114.
Jürgen Habermas, Glauben und Wissen:
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001.
Jürgen Habermas. Ansprachen aus Anlass
der Verleihung, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag
2001.
Jürgen Habermas, Theorie des
kommunikativen Handelns, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag
1981.