Jörg Büsching
Herrscher ohne Land –
Der Dichter als utopische Existenz

Welt zu haben, ist immer das Resultat einer Kunst, auch
wenn sie in keinem Sinne ein Gesamtkunstwerk sein kann.
Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos

Seit der Spätantike durchweht ein Name alle Strömungen der abendländischen Kultur: Arkadien, Inbegriff des friedlichen, harmonischen Zusammenlebens von Mensch und Natur. Im Gegensatz zum christlichen Paradies ist dieses Arkadien kein jenseitiger Ort, es ist genau lokalisierbar, man muss nur das Register eines Atlanten aufschlagen; zwischen »Arkadelphia, AR« und »Loch Arkaig« steht dort: »Arkadien 138-139 D8.«

Freilich würde wohl niemand sein Arkadien in jener hügeligen Karstlandschaft des Peloponnes suchen, auf die der Name verweist. Schon Goethe hat es anderswo gefunden: Für seine Italienische Reise wählte er das Motto »Auch ich in Arkadien«. Nachfolgende Dichter- und Künstlergenerationen mussten (selbst wenn sie es dennoch taten) die Reise nicht mehr antreten; schon bald wurde ihnen bewusst, dass ›Arkadien‹ eine innere, eine Seelenlandschaft ist. So bekennt Novalis in einem Gedicht an August Wilhelm Schlegel: »Auch ich bin in Arkadien geboren. | Auch mir hat mancher gute Genius | am Mutterbusen Liebe zugeschworen | und manchen freundlichen Genuß.« Die Natur wird von nun an als »innere Stimme« (Charles Taylor, Quellen des Selbst) aufgefasst. Ihren Ruf verstanden die Jenenser Romantiker als Aufforderung zur »Poetisierung der Welt«, zur Transformation der prosaischen Realität durch eine Dichtung, die nicht mehr auf die Erschaffung vollendeter Werke abzielen, sondern sich im unendlichen Dialog der Eingeweihten entfalten sollte: »Komm reiche mir die brüderliche Hand! | Zu Brüdern hat uns die Natur erkoren, | und uns gebar ein mütterliches Land.« Diese Zuversicht endete freilich allzu bald. Schon für Eichendorff haben sich die Verheißungen des mythischen Landes in einen grotesken Hexensabbat aus bürgerlich-jovialen Tyrannen, gierig-fresssüchtigen Professoren und deren exaltierten Jüngern, vernunftlosen Anbetern der »öffentlichen Meinung«, verwandelt. Auch ich war in Arkadien! Eine Phantasie verzichtet völlig auf die Assoziationen, die der Name bis heute hervorruft.

Schon bevor sie auf der Münchener Tagung der Gruppe 47 vor dem deutschen Publikum als Lyrikerin reüssierte, veröffentlichte Ingeborg Bachmann in einer österreichischen Zeitschrift die kurze Erzählung Auch ich habe in Arkadien gelebt. (Werke, Bd. 2, 1982, 38-40.) An deren Beginn steht ein desillusionierend realistischer Blick auf die arkadische Idylle: »Aus den Büschen fielen faule Beeren, und die Schafe kamen die Hügel herunter, frierend und hungrig, denn über Nacht hatte der Wind das Gras aus den Bergwiesen gespült und an die felsigen Ufer geworfen.« Der Ich-Erzähler berichtet von seiner Abreise aus Arkadien, denn »eines Tages war meine Zeit um.« Mit dem Zug fahrend, muss er an der Grenze feststellen, dass seine Währung inkonvertibel und somit im Nachbarland wertlos ist. Ohne sich davon entmutigen zu lassen, nimmt er Arbeit in einer Fabrik an, macht Karriere, spekuliert erfolgreich und bringt es schließlich zu Wohlstand und Ansehen. Zwar denkt er von Zeit zu Zeit noch daran, wieder zurück nach Arkadien zu reisen und fährt mit dem Auto bis zur Ausfallstraße, doch stets kehrt er vor der Grenze um, beschwichtigt sich, dass er die Reise immer noch antreten könne, und sie ihm im Augenblick sowieso nichts einbringe.

An dieser Stelle wechselt die Erzählung ins Präsens. Der Protagonist berichtet davon, dass der ferne Ton einer Flöte ihn erreiche und in ihm das Bild Arkadiens wachrufe: »[…] mir ist, als käme er von den herbstlichen Hügeln, die ans Blau eines makellosen, frühen Himmels grenzen. Oder ist es der Ton der Glocken, mit denen die weißen Lämmer ans Gebüsch streifen, wenn sie den Weg ins Tal nehmen?« Die Vision gleicht dem Eingangsbild – in der Erinnerung jedoch zum Idyll verklärt. Selbst der Zug, mit dem der Ich-Erzähler einst gereist war, findet Eingang in die Vision, überhöht sie gar ins Jenseitige; aus den Schienen werden »Strahlengeleise, die zu den Hütten am Bach führen und von dort geradewegs in den Sonnenball münden, der wie ein großer, versinkender Bahnhof alle Züge in den Himmel heimholt.« Aber noch widersteht der Protagonist dem Ruf. Zu sehr ist er seiner jetzigen Umgebung, den Besitztümern und der Reputation, die er erworben hat, verhaftet. »Arkadien«, wird jetzt klar, ist die Landschaft seiner Kindheit, es ist die Seelenlandschaft, die bereits Novalis entdeckt hatte. Doch in Bachmanns Erzählung steht sie in einem Spannungsverhältnis zum ›märchenhaften‹ Erfolg des Ich-Erzählers in der Stadt: »[…] ich könnte euch sagen, dass es mir gelänge, bis ans Meer zu kommen, und allen Straßen und allen Wassern der Welt meinen Namen einzuschreiben, wenn mir die Hoffnung bliebe, dass ich am Ende der Tage heimkehren könnte und die staunenden Hirten, die Hügel und Bäche meiner Heimat den Besitz begriffen und würdigten, den ich erworben habe.« (39f.) Aber die Währungen sind immer noch inkonvertibel, und so überwiegt zunächst die Furcht vor dem Verlust.

Der Flötenton indes vergeht nicht, im Gegenteil: »Nun aber erreicht mich wieder eine vom Wind verstärkte Melodie, aus schrecklicher Nähe ein nicht zu überhörender Ruf, und mir ist, als käme er aus meinem Herzen, das über mir zusammenschlägt, als legten sich mir die herbstlichen Hügel an die zitternde Brust, und als zöge der makellose Himmel in mich ein, um mich zu töten.« (40) Die Schlusspassage variiert die Beschreibung der idyllischen Erinnerung. Eine Transformation findet statt, aber nicht die von den Romantikern postulierte ›Poetisierung der Welt‹, sondern eine Art Verschmelzung des Ich mit der Seelenlandschaft seiner Kindheitserinnerung, wodurch es in seiner gegenwärtigen Formation ausgelöscht zu werden droht. Mit seinen Schlussworten identifiziert sich der Erzähler zunächst mit den Lämmern, um dann am Ende seines Weges ganz aus der Welt zu verschwinden: »Oder ist es der Ton einer Glocke, die ich trage, wenn meine Sehnsucht an die Büsche streift, um die roten, reifen Früchte des letzten Jahres zu ernten? Oder rühren diese Klänge vom Dröhnen der im Abendglanz sprühenden Geleise, die mich an die Hütte am Bach tragen und von dort geradewegs auf den zerfließenden Sonnenball, der wie ein riesiger, versinkender Bahnhof alle Wanderer in den Himmel holt?«

Die Entdeckung der Seelenlandschaft bewirkte einen langsamen Abschied von Arkadien als Vision des guten Lebens. War der utopische Gehalt im romantischen Programm der ›Poetisierung der Welt‹ zunächst noch als Ziel eines, wenn auch unendlichen, Prozesses aufgehoben, so verflüchtigt er sich im Laufe des 19. Jahrhunderts, um schließlich im 20. ganz und gar zur Angelegenheit des isolierten Individuums und damit zur Existenzfrage zu werden. Die Konsequenzen für Literatur und Literaten hat Ingeborg Bachmann in ihrer Frankfurter Poetikvorlesung Literatur als Utopie (Werke, Bd. 4, 255-271) dargelegt. Ausgehend vom historisierenden und klassifizierenden Blick der entfalteten Wissenschaften des 19. Jahrhunderts stellt sie die Literatur in eine Fundamentalopposition gegen das Leben, »[…] denn das Leben hat nur eine schlechte Sprache […].« (268) Das »Utopia der Sprache« bildet eine Art Refugium, in welches sich der Schriftsteller zurückzieht, Bachmann nennt es das »Hier-und-Jetzt-Exil« (270) und fordert: »Wenn nun aber die Schreibenden den Mut hätten, sich für utopische Existenzen zu erklären, dann brauchten sie nicht mehr jenes Land, jenes zweifelhafte Utopia anzunehmen […].« Was aber bleibt dann noch? Woraus schöpfen die Exilanten des Lebens ihre Worte, Gedanken, Visionen? Arkadien ist zwar immer noch das Land ihrer Geburt, aber der Blick darauf hat sich als regressiv enthüllt, er gefährdet die Existenz des reflektierten Ich.

Hinrich Fink-Eitel hat in Die Philosophie und die Wilden (1994) die Existenzform des isolierten Ästhetikers als »Schweben« des »reflexive[n] Nihilismus« (318) bezeichnet. Dabei nimmt er Bezug auf Sören Kierkegaards Kritik der ästhetischen Existenz in dessen Hauptwerk Entweder–Oder. Der Ästhetiker schwebt beständig zwischen der Hingabe an den sinnlichen Augenblick und der Distanz der ihn zersetzenden Reflexion. Er ist auf der Suche nach Authentizität, Unbedingtheit und weiß doch zugleich, dass er selbst, der Stand seines Bewußtseins, das Einswerden mit der Welt vereitelt. So entwickelt er Strategien, um in seinem Schwebezustand so lange wie möglich zu verharren: »Man genießt nicht unmittelbar, sondern etwas ganz anderes, was man selbst willkürlich hineinlegt.« (1988, 348)

Marion Schmaus hat in ihrer Untersuchung Die poetische Konstruktion des Selbst (2000) die Verbindungslinien zwischen dem frühromantischen Konzept der poetischen Selbst- und Weltkonstruktion und den literarisch-philosophischen Ansätzen von Ingeborg Bachmann, Christa Wolf und Michel Foucault aufgezeigt. Allerdings liest sie Novalis’ ›magischen Idealismus‹ arg aktualisierend und dementsprechend selektiv; die Romantikkritik seit dem 19. Jahrhundert ignoriert sie gar völlig. Auf diese Weise gerät ihr der Novalis der Fichte-Studien und des Heinrich von Ofterdingen zu einem frühen Vorläufer der Foucaultschen ›Lebenskunst‹ als subversiver Praxis gegen die gesellschaftlichen Machtstrukturen. Auch die Darstellung des Scheiterns der poetischen Selbstermächtigung in Bachmanns Roman Malina fügt sich dank der Dialektik der Aufklärung in dieses Schema, wobei hier noch die feministische Opferrhetorik dem konstatierten Umschlag von Vernunft in Barbarei zu einer quasi-anthropologischen Fundierung verhilft. Die Klammer, welche die unterschiedlichen Zeitläufte und Schriftstellertypen zusammenhält, ist – die Schrift. Mit Foucault fasst Schmaus die Literatur als »System der Verweise auf andere Bücher, andere Texte, andere Sätze […]« (377) und rückt diese Auffassung in die Nähe der romantischen »Idee eines unendlichen Buches« (378), die wiederum der Foucaultschen Konzeption der »Schrift des Selbst« (372) entspreche.

Umberto Eco hat in seiner Rede zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse 1987 Das Irrationale gestern und heute eine solche Auffassung beschrieben und ihr erstes Auftauchen in der Spätantike lokalisiert: »Der Hermetismus des 2. Jahrhunderts […] sucht eine Wahrheit, die er nicht kennt, und besitzt nur Bücher. Deswegen stellt er sich vor oder hofft, dass jedes dieser Bücher einen Funken Wahrheit enthält und dass sie alle einander bestätigen. In dieser synkretistischen Dimension tritt eines der Prinzipien des griechischen Rationalismus in die Krise, nämlich das des ausgeschlossenen Dritten. Vielerlei Dinge können gleichzeitig wahr sein, auch wenn sie einander widersprechen.« Fink-Eitel weist in Die Philosophie und die Wilden nach, dass Foucaults »philosophische Entwicklung über verschiedene strukturverändernde Umkehrungen [Hervorhebung im Original, J. B.]« (281) verläuft. Diese führt er zurück auf den exterritorialen Standort, den der Intellektuelle einnehmen muss, um seine Philosophie als „Ethnologie der eigenen Kultur« (203) betreiben zu können. Es gehört kein besonderer Scharfsinn dazu, um in dieser Haltung das Bachmannsche »Hier-und-Jetzt-Exil« wiederzuerkennen. Marion Schmaus hingegen sieht das philosophische Werk Foucaults mit all seinen Brüchen und Wendungen als Einheit, nämlich eine »Rückkehr-zu-sich-selbst-als-einem-anderen« (2000, 261) also letztlich als durchgeführte »Schrift des Selbst«. Sie sieht somit das Werk insgesamt als Bestandteil dessen an, was Foucault in seinen letzten Schriften thematisiert hat, nämlich der Lebenskunst.

Hier zeigt sich ein Widerspruch, der mit der Idee einer »poetischen Selbstkonstruktion« eher kaschiert als einer Lösung zugeführt wird. Die exterritoriale Haltung der ›utopischen Existenz‹ verhindert von vornherein eine pragmatische Einstellung zu denjenigen Lebensumständen, die sich unserem Einfluss entziehen und damit ständig Grenzen aufzeigen, die wir nicht überschreiten können. Die romantische Vorstellung der Lebenskunst, »[d]as romanhafte Leben, die ästhetische Existenz, das Einssein mit allem, die Aufhebung der Zeit in einem intensiven Augenblick und in diesem Sinne das wahre Leben« - so Wilhelm Schmid in Philosophie der Lebenskunst (1998, 36) - führt mit ihrem Absolutheitsanspruch das Individuum in eine Sackgasse, die mit der sprichwörtlich gewordenen ›schlechten Wirklichkeit‹ nur sehr wenig zu tun hat.

Ingeborg Bachmann hat von 1953 an bis zu ihrem Tod mit mehreren Unterbrechungen in Rom gelebt. Auf ihre Beziehung zu dieser Stadt gab sie stets eher ausweichende Antworten. In einem Interview mit Kuno Raeber vom Januar 1963 sagt sie etwa auf die Frage, ob es wichtig für sie sei, wo sie lebe: »Nein, das hat keine Bedeutung mehr für mich. Es kommt mir nur noch darauf an, ein ruhiges Zimmer zu haben, mit zwei Tischen womöglich und vielen Büchern an der Wand.« (Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews, 1983, 39) Zwar kann angenommen werden, dass die kurz zuvor erfolgte Trennung von Max Frisch für den resignativen Tonfall der Antwort eine gewisse Rolle spielt, doch sollte diese nicht überbewertet werden. In einem 1955 erschienenen Interview sagt sie etwa über ihren im selben Jahr erstmals veröffentlichten Text Was ich in Rom sah und hörte, es handele sich dabei »[…] nicht um um eine Rom-Impression oder die berüchtigte Wiedergabe der Rom-Eindrücke. Ich habe versucht, nur die ›Formeln‹ für die Stadt aufzusuchen, ihre Essenz, wie sie sich in bestimmten Momenten ganz konkret zeigt.« (13) Einen Widerschein der »Vitalität«, die sie an Rom so fessele, wie sie beteuert, sucht man in dem Text ebenfalls vergeblich. Statt dessen sieht sie beispielsweise »auf dem Campo de’ Fiori, dass Giordano Bruno noch immer verbrannt wird. Jeden Sonnabend, wenn um ihn herum die Buden abgerissen werden und nur mehr die Blumenfrauen zurückbleiben, wenn der Gestank von Fisch, Chlor und verfaultem Obst auf dem Platz verebbt, tragen die Männer den Abfall, der geblieben ist, nachdem alles verfeilscht wurde, vor seinen Augen zusammen und zünden den Haufen an. Wieder steigt Rauch auf, und die Flammen drehen sich in der Luft. Eine Frau schreit, und die anderen schreien mit. Weil die Flammen farblos sind in dem starken Licht, sieht man nicht, wie weit sie reichen und wonach sie schlagen. Aber der Mann auf dem Sockel weiß es und widerruft dennoch nicht.« (Werke, Bd. 4, 30f.) Das ist so trocken, so ohne alle Ironie geschildert, dass man sich des Eindrucks kaum erwehren kann, die Autorin sei dem ›Mann auf dem Sockel‹ sehr viel näher als den Menschen auf dem Markt, obwohl die Begegnung mit ihm kaum anders als durch Bücher vermittelt sein kann.

Kehren wir noch einmal zu Goethe zurück (auch auf die Gefahr hin, dass der Eindruck entsteht, die beiden Dichter sollten unfairerweise gegeneinander ausgespielt werden). Für ihn war die Reise nach Rom »ein unwiderstehliches Bedürfnis«, und er gesteht: »[…] zuletzt durft’ ich kein lateinisch Buch mehr ansehen, keine Zeichnung einer italienischen Gegend.« Bücher und Kunstwerke haben ihm die Sehnsucht nach Rom vermittelt, die tatsächliche Erfahrung konnten sie ihm trotz der Strapazen und Gefahren, die eine solch lange Reise in jener Zeit noch darstellte, nicht ersetzen. Diese Differenz ist keine Frage von Naivität oder Reflektiertheit. Goethe war ganz sicher kein naiver Besucher der Ewigen Stadt, das wird deutlich, wenn er schreibt: »Wie moralisch heilsam ist mir es dann auch, unter einem ganz sinnlichen Volke zu leben, über das so viel Redens und Schreibens ist, das jeder Fremde nach dem Maßstabe beurteilt, den er mitbringt.« Mag sein, dass das Leben nur eine ›schlechte Sprache‹ hat, aber es hält dem, der sich auf seine Mannigfaltigkeit einzulassen vermag, Erfahrungen bereit, für die er dann seine Sprache finden kann. Im Exil der ›utopischen Existenz‹ gibt es keine Erfahrungen – nur Bücher.