Danielle Buschinger
Einige Bemerkungen zum Begriffsfeld ›Nation‹ im Mittelalter.
Von der natio zur Nation
Im Mittelalter war der Begriff der Nation zwar schon klar umrissen, aber die Nation in unserem Sinne gab es nicht. Das Wort ›Nation‹ ist entlehnt aus dem Lateinischen nâtio (-ônis), einer Ableitung von nâscî (nâtus sum), geboren werden, das mit dem lateinischen genus‚ Geschlecht, Art, Gattung verwandt ist. Das Wort bezeichnet seiner Etymologie nach eine Gemeinschaft von Menschen derselben Herkunft, die durch gemeinsame Abstammung verbunden sind; dann anschließend eine Gemeinschaft von Menschen gleicher Kultur, Sprache. Demgemäß bezeichnete lat. natio schon in der Antike und noch lange im Mittelalter die Abstammung oder den Herkunftsort einer Person und zwar in Bezug auf politisch nicht organisierte Bevölkerungen. Anfangs bezeichnete also die Nation die Herkunft einer Gruppe von ausgewanderten Menschen, die sich mit der Bevölkerung vermengte, in die sie sich eingliederte. So wurde das Wort besonders gebraucht, um die Herkunft der Studenten einer Universität zu bezeichnen: es ist die Rede von ›Universitätsnationen‹, wobei »mit diesem Wort […] ursprünglich eher Himmelsrichtungen als Nationen im späteren Sinne gemeint« waren (Boockmann 1994). Es entstand in Paris die Einteilung in vier Nationen: Gallikaner oder Gallier, zu denen auch Italiener, Spanier, Griechen und Morgenländer zählten, Picarden, Normannen und Engländer, die auch die Deutschen und weitere Nord- und Mitteleuropäer beinhalteten. Jede Nation hatte ihre besonderen Statuten, Beamten und einen Vorsteher (Prokurator). Die Prokuratoren wählten den Rektor der Universität. Es gab an der 1348 gegründeten Universität Prag ebenfalls vier gleichberechtigte ›Nationen‹, in die sich die einzelnen Studenten organisierten. Die polnische Nation umfasste die Studenten aus Preußen, Schlesien oder aus einer polnischen Stadt mit deutscher Bevölkerung, d. h. aus dem gesamten östlichen Raum; zur böhmischen Nation gehörten die Böhmen, die Tschechen, die Ungarn und die Südslaven, zur bayerischen Nation die Schwaben, die Bayern, die Franken, die Hessen, die Rheinländer und die Westfalen, zur sächsischen Nation die Norddeutschen, die Dänen, die Schweden und die Finnen. So hatte der mittelalterliche Nationbegriff nichts zu tun mit dem modernen, seit der Französischen Revolution in den Vordergrund getretenen, und noch weniger mit dem Nationalismus.

Dennoch scheinen zwei deutsche Dichter vom Ende des 12. und vom Anfang des 13. Jahrhunderts ein gewisses Nationalgefühl auszudrücken: Gottfried von Straßburg in seinem Tristan (1205-1210) und vornehmlich Walther von der Vogelweide (1170-1220) in einigen seiner Gedichte.

Beide Autoren benutzen den ethnischen Namen Alemâne (Walther 34,7 Ich han zwen Alman under eine krone braht, Gottfried 3702/3 Norwaegen, Irlandaere,/ Almanjen, Schotten unde Tenen, übrigens wie Wolfram von Eschenbach in seinem Parzival [67,22 dâ ligent ûf dem plâne/ die stolzen Alemâne] oder in seinem Willehalm (350,7 Franzoyse und Alemâne). Walther gebraucht jedoch öfter das germanische Wort tiutsch, das von germ. *Þeuðô-= Volk abgeleitet und ursprünglich (im 8. Jahrhundert) benutzt wurde, um die Volkssprache zu benennen (theodisca lingua) im Gegensatz zum Latein, dann eine Sprache, die sich von den romanischen Volkssprachen unterschied. Unter Karl dem Großen wurde die Gemeinschaft der germanischen Völker durch den Ausdruck gentes theodiscae bezeichnet. Im Mittelhochdeutschen bedeutet diutsch, tiutsch zweifelsohne ›deutsch‹. Im Cligès (V. 2925) stellt Chrétien de Troyes tiois (ein Wort, das diutsch entspricht) Aleman (= Alemâne) gegenüber, und gibt dabei wohl ersterem die Bedeutung von ›Norddeutscher‹, letzterem die von ›Süddeutscher‹.

 Gottfried ist dagegen meines Wissens der einzige deutsche Dichter, der den Landesnamen Almanje (z. B. V. 18445) verwendet; und dieser Terminus, wie im Cligès (so V. 2616 l’empereres d’Alemaigne; oder noch V. 2659-61 Devant Coloigne ne s’areste,/ Ou l’empereres a une feste/ D’alemaigne molt grant tenue), bezeichnet unzweideutig das Romanum Imperium. Übrigens wurde das lateinische Wort Alamania gegen 1020 vom Papst im Sinn von Deutschland, Imperium benutzt. Der terminus roemesch riche – das deutsche Äquivalent von Imperium Romanum – steht bei Gottfried (V. 18431). Der elsässische Dichter spielt hier auf den ›großen Krieg‹ an, der bis 1208 auf deutschem Boden wütete anlässlich des kaiserlichen Schismas (1198), das nach dem Tod Heinrichs VI. durch die Doppelwahl Philipps von Schwaben (am 8. März) und Ottos IV. von Braunschweig (am 9 Juni) zum Kaiser verursacht wurde. Ich habe an anderer Stelle gezeigt, dass Gottfried mit verhüllenden Worten für den Kaiser und das Imperium gegen den Papst Partei nimmt. Er war sich demnach dessen wohl bewusst, was zu seiner Zeit die ›deutschen Lande‹ (18445 zAlmanje in dem lande) und das Imperium Romanum (18451 daz roemesch riche) bedeuteten, für welches Tristan sich einsetzte. Aber nur mit verhüllenden Worten zeichnet sich aus Opposition zum Papst ein Gefühl ab, das man fast ein ›National‹-Gefühl nennen könnte.

Dies gilt auch, vielleicht noch stärker ausgeprägt, für Walther von der Vogelweide. In Walthers Gedicht Ir sult sprechen willekomen (56,14), das im 19. Jahrhundert zuweilen als die deutsche Nationalhymne bezeichnet wurde, das W. Wilmanns »Deutschland über alles« betitelte und über das der Kritiker folgendes schreibt: »Das stolze Lied auf deutsche Zucht und Sitte ist das erste Lied in deutscher Zunge zum Preise des großen Vaterlands«, lobt der Dichter die Tugenden der deutschen Frauen und Männer:

Von der Elbe unz an den Rîn
und her wider unz an Ungerlant
mugen wol die besten sîn,
die ich in der werlte hân erkant.
kann ich rehte schouwen
guot gelâz unt lîp.
sem mir got, sô swüere ich wol daz hie diu wîp
bezzer sint sam ander frouwen.

Tiusche man sint wol gezogen,
rechte als engel sint diu wîp getân.
swer si schildet, derst betrogen:
ich enkan sîn anders niht verstân.
tugent und reine minne,
swer die suochen wil,
der sol komen in unser lant: da ist wünne vil:
lange müeze ich leben dar inne!

Die Verse, in denen Walther mittels der Flüsse die Grenzen Deutschlands umreißt, bezeichnen gleichfalls die Orte, an denen der Dichter sich für das Reich eingesetzt hat, Magdeburg an der Elbe im Jahre 1199 (L 19,15) und den Rhein bei Philipps Krönung in Mainz im Jahr 1198 (L 18,29) (vgl. auch Walther 31,13 und Neidhart 73,21). Sie erinnern jedoch besonders an die Verse, in denen der Troubadour Peire Vidal (gegen 1180 – gegen 1205), die Provence hochpreist:

qu’om no sap tan dous repaire
com de Rozer tro qu’a Vensa,
si cum clau mars e Durensa,
ni on tan fis jois s’esclaire.

So könnte man zu der Ansicht kommen, Walther habe auf sie reagiert. Dennoch ist viel mehr im Spiel. Walthers Verse zeugen von einem starken Nationalgefühl, ein Einzelfall zu seiner Zeit. Nichtsdestoweniger könnte man glauben, Walther antworte auf die hämischen Scheltstrophen, die Peire Vidal geschrieben hatte, als er sich 1198 in Begleitung von Constance von Aragon, die den ungarischen König Ameri heiraten sollte, in Ungarn aufhielt und in denen er die Deutschen heftig kritisierte. Peire Vidal hatte die Alamans unhöfliche Menschen, Schurken und Tölpel gescholten. Der Troubadour Peire de la Caravana, ein Feind Kaiser Heinrichs VI., griff in einem Gedicht ebenfalls la gent d’Alemaigna an, mit der zu verkehren, er abrät. Walthers Lied ist »ein Verteidigungsgesang«.

Wenn man bei Walther von einem Nationalgefühl sprechen kann, definiert es sich nur im Gegensatz zu einem anderen, dem der Okzitanen und der Provenzalen; es definiert sich aber vornehmlich im Gegensatz zur romanischen Welt, zu den Welschen, um den mittelalterlichen Ausdruck zu gebrauchen. Während Walther sich hier gegen die Troubadours verteidigt, gibt es andere Lieder, in denen der Papst und die römische Kurie die Gegner sind, gegen die er die Deutschen verteidigt. Das Papsttum schien Walther die entscheidende Gefahr für Deutschland zu sein. Der von Innozenz III. am 3. Juli 1201 gefasste Entschluss, Otto IV. als legitimen König anzuerkennen und alle Gegner zu exkommunizieren war es, der für Walther das deutsche Volk, das er in L 8,28 durch seine Sprache bezeichnet (tiuschiu zunge) in den Bürgerkrieg gestürzt hat: 9,16 ze Rôme hôrte ich liegen/ und zwêne künege triegen./ dâ von huop sich der meiste strît/ der ê was oder iemer sît,/ do sich begunden zweien/ die pfaffen unde leien. Die Verhaltensweise der römischen Kurie ist schuld an dem größten und gefährlichsten Streit, der seit jeher das deutsche Volk entzweit: auf einer Seite die pfaffen, d. h. die Parteigänger des sehr frommen Welfen Otto IV., auf der anderen die leien, die Anhänger des Staufers. Die beiden Parteien zerfleischten sich gegenseitig und führten eine Not herbei, die nicht ihresgleichen hat (L 9,16 daz was ein nôt vor aller nôt).

Walthers Wut auf das Papsttum erreichte einen Höhepunkt, als Papst Innozenz III. zu Ostern 1213 in Deutschland Opferstöcke anbringen ließ, um auf Kosten der Deutschen den Kreuzzug zu finanzieren: der Dichter ist angeekelt von der Habgier der Kurie, die Deutschland zugrunde richte. Die Strophe 34,4 Ahî wie kristenlîche nû der bâbesty lachet ist auf dem Gegensatz Walh/ Allamân und welsch/ tiusch aufgebaut:

Ahî wie kristenlîche nû der bâbest lachet,
swenne er sînen Walhen seit ‚ich hânz amsô gemachet’!

daz er dâ seit; des solt er niemer hân gedâht.
er giht ‚ich hân zwên Allamân undr eine krône brâht,

daz siz rîche sulen stoeren unde wasten.
ie dar under füllen wir die kasten:
ich hâns an mînen stoc gemeint, ir guot ist allez mîn:

ir tiuschez silber vert in mînen welschen schrîn.
Ir pfaffen, ezzent hüenr und trinket wîn,
und lânt die tiutschen leien magern unde vasten.’

Der Dichter erteilt dem Papst das Wort: dieser freut sich darüber, zwei Könige unter eine Krone gebracht zu haben, d. h. Otto IV. und Friedrich II. Es ist eine Anspielung auf die zweideutige Politik Innozenz’ III., der am 4. Oktober 1209 Otto IV. in Rom gekrönt hat und ihn dann, wegen des Umschwungs seines früheren Schützlings, der im Grunde die gegen das Papsttum gerichtete Politik der Staufer fortsetzte und nicht zögerte, einen Teil des Kirchenstaats zu besetzen, 1210 exkommunizierte und 1212 die Ansprüche anerkannte, die Friedrich auf das Erbe seines Vaters erhoben hatte. Walther macht erneut den Papst für die Unruhen verantwortlich, die in Deutschland ausgebrochen sind und er bringt besonders das, was man in Opposition zu dem Papst und dessen Welschen sein ›Nationalgefühl‹ nennen könnte, zum Ausdruck. Für die Parteigänger des Papstes gebraucht er tatsächlich nicht nur das Wort pfaffen wie im Reichston, sondern auch walhen, und er legt den romanischen Terminus Allaman, der im Mittelhochdeutschen nur selten vorkommt, in den Mund des Papstes, eines Romanen. Walther, der den Machthunger und die Geldgier der römischen Kurie geißelt und den Papst beschuldigt, sich den Bürgerkrieg in Deutschland zunutze zu machen, um seine Geldschreine zu füllen, lässt ihn den Terminus wasten gebrauchen, der vom Lateinischen vastare stammt und ›verwüsten‹, ›zerstören‹ bedeutet und im Mittelhochdeutschen nur in diesem Lied vorkommt. Diese doppelte Verwendung romanischer Termini durch den welschen Papst verstärkt die Ironie und die Satire. Die letzten drei Verse der Strophe bringen die Habgier der pfaffen zum Ausdruck, die sich auf Kosten der Deutschen bereichern, die ausgesaugt werden müssen, auf dass ihre Reichtümer in die Geldschreine des Papstes überführt werden. Im Vers »ir tiutschez silber vert in mînen welschen schrîn« stellt Walther im selben Vers tiusch und welsch gegenüber, eine Gegenüberstellung, die in der deutschen Literatur üblich werden wird. Man denke nur an Hans Sachs’ große Anrede im letzten Akt von Richard Wagners Meistersinger von Nürnberg: »Hab’ acht! Uns drohen üble Streich’:/ Zerfällt erst deutsches Volk und Reich/ in falscher welscher Majestät«. In einem Jahrhundert, in dem der Nationalismus wütet, hat diese Gegenüberstellung eine noch schwerwiegendere Bedeutung als zur Zeit Walthers. Um das Papsttum anzugreifen, bringt der Dichter ein Argument vor, das man drei Jahrhunderte später geltend machen wird: der Papst raubt Deutschland all seine Edelmetalle, Gold und Silber. Diese unersättliche Geldgier hat zur Folge, dass die pfaffen immer besser leben, immer erlesenere Speisen essen und Wein trinken, während die Deutschen fasten und immer magerer werden.

Die Strophe L 34,14 »Sagt an, hêr Stoc, hât iuch der bâbest her gesendet« erteilt »Herrn Opferstock« das Wort:

Sagt an, hêr Stoc, hât iuch der bâbest her gesendet,
daz ir in rîchet und uns Tiutschen ernet unde pfendet?
senn im diu volle mâze kumt ze Laterân,
sô tuot er einen argen list, als er ê getan:
er seit uns danne wie daz rîche stê verwarren,
unz in erfüllent aber alle pfarren,
ich waen des silbers wênic kumet ze helffe in gotes lant:
grôzen hort zerteilet selten pfaffen hant.
her Stoc, ir sît ûf schaden her gesant,
daz ir ûz tiutschen liuten suochet toerinne unde narren.

In dieser Strophe variiert Walther das Thema, das er in der vorhergehenden Strophe angeschlagen hat: der Papst beraubt die Deutschen ihrer Schätze und sät Zwietracht, um sich zu bereichern. »Wir Deutschen«, sagt Walther, »wir werden immer ärmer, während die Kurie immer reicher wird!«. Der Kreuzzug ist nur ein Vorwand: denn sobald die Schätze in Rom angekommen sind, wird der Papst erklären, dass die Unruhen, die in Deutschland ausgebrochen sind, ihn daran hindern, den Kreuzzug zu unternehmen, und aufs Neue werden die pfaffen ihre Geldschreine auf Kosten der Deutschen, die sich ›ausrupfen‹ lassen, füllen.

Walthers ›mauvaise foi‹, seine Unehrlichkeit sind offensichtlich, denn es ist eine anerkannte Tatsache, dass der Papst Maßnahmen getroffen hatte, um eine Unterschlagung der gesammelten Gelder zu verhindern, und dass er selbst und seine Kardinäle ein Zehntel ihres Einkommens geben sollten, um zur Finanzierung des Kreuzzuges beizutragen. Diese Unehrlichkeit ist es, die es zweifelsohne gestattet, in den Versen Walthers von der Vogelweide ein starkes Nationalgefühl zu sehen, ein starkes Nationalbewusstsein, ja einen gewissen Nationalismus, der sich vornehmlich in Opposition zum Papsttum, zur römischen Kurie äußert. Es ist wohl angebracht, daran zu erinnern, dass Walther die Autorität der Kirche zu ruinieren trachtet und versucht, sie daran zu hindern, sich in die weltlichen Angelegenheiten einzumischen, besonders in die des Reiches, und dass er die Ansprüche des Papstes auf das Reich immer mit Verbissenheit bekämpft hat. Er war bestrebt, die Interessen seines Landes zu vertreten, das von den Fehden und den Streitigkeiten um den Thron erschüttert war. Er griff die römische Kurie aus dem einzigen Grund an, dass er in deren Politik eine Gefahr für Deutschland sah. Walthers Strophen erzielten in Deutschland einen großen Erfolg: der Beweis dafür ist, dass Thomasin der Zirklaere, ein Geistlicher aus dem Friaul, dessen Familie dem Patriziat von Cividale del Friuli entstammte und der sein Lehrgedicht Den Welschen Gast für den früheren Bischof von Passau, Wolfger von Erla, der 1204 Patriarch von Aquileja geworden war, 1215 verfasste, schreibt, dass Walther durch seine Lieder Tausende von Menschen dazu verführt habe, nicht auf Gottes und des Papstes Wort zu hören.

Die einzigen Mittel, diese Gefahr abzuwenden, sind für Walther eine starke und anerkannte weltlichen Macht, die Ordnung und Sicherheit gewährleistet, sowie die freie Religionsausübung; im andern Fall wäre das Übel dem Übel geweiht. Der Dichter beschwört das deutsche Volk (tiuschiu zunge), wie alle Tiere der Welt »einen sin« (L 8,28) zu haben, einen einzigen Willen, den einen König, einen Kaiser zu wählen, der das Reich, das Walther sein ganzes Leben verteidigt hat, verkörpert: der Kaiser, der die Kaiserkrone, mit dem »weisen«, tragen soll, »aller fürsten leitesterne« (L 18,29), wird »die armen künege«, die Vasallenkönige (8,28), Richard Löwenherz, Kund von Dänemark und Philipp II. August, zurückdrängen, sie im Rang gleichstellen, ist er doch von Gott selbst dazu bestimmt, über das ganze Abendland zu herrschen. Gleichviel wer, ob Philipp von Schwaben, von Gott ernannt (L 18,29; L 19,5), Otto IV. oder Friedrich II.  – Gott entscheidet: »Gote gibet ze künege swen er will« (12,30). Dieser Kaiser, der also Kaiser von Gottes Gnaden sei, werde zunächst den Frieden in Deutschland wiederherstellen (»Her keiser, swenne ir Tiuschen fride«), Voraussetzung dafür, dass alle fremden Völker (»die fremeden zungen«) ihn anerkennen; danach werde er den Frieden in der gesamten christlichen Welt wiederherstellen können (12,18). Zwar ist es der Universalismus des mittelalterlichen Denkens, zwar ist die Wiederherstellung des Friedens die erste Pflicht des Kaisers (pacificus ist eines seiner Attribute; pax et lex sind die entscheidenden Begriffe in dem offiziellen Eid bei der Kaiserkrönung), und Frieden stiften ist die traditionelle Aufgabe des Reiches, doch Deutschland ist der Ausgangspunkt dieses Universalismus. wohl, Walther spricht mehrmals nicht vom Reich, sondern von Deutschland »sans toutefois parvenir au niveau du concept Etat-Nation« wie Jeannine Quillet schreibt, ohne also zum Begriff Staat gleich Nation zu gelangen, der erst in der französischen Revolution entstanden ist. Gleichwohl darf man behaupten, dass er sich sehr klar der Aufgabe bewusst ist, die Deutschland in der Welt zugeteilt ist, ja dass er sich sehr bewusst ist, diesem Land, man könnte auch sagen: dieser ›Nation‹, die Deutschland ist, anzugehören.

Es ist bekannt, dass das Nationalgefühl sowohl aus dem Gefühl, derselben Gemeinschaft anzugehören, als auch aus dem Ressentiment gegen ein anderes Land oder aus gegenseitigen Ressentiments oder noch aus Frustrationen, die dieses oder jenes Land erlitten hat, entstanden ist. So fände sich bereits Anfangs des 13. Jahrhunderts, was Jeannine Quillet über Alexander von Roes – einen politischen Denker Ende des 13. Jahrhunderts – schreibt: »Sous les apparences d’un conflit entre Empire et papauté, se dissimulent en réalité de fortes appartenances qu’on ne saurait qualifier autrement que du terme de «nationales», dans la mesure où l’auteur met en présence deux clans: celui du pape […] (et) celui de l’empereur«.

Genau wie »la guerre de Cent ans a joué un rôle décisif pour ce qui concerne l’émergence d’un sentiment national, en France, par exemple, où l’hostilité du roi anglais et aux «envahisseurs» venus d’outre-Manche a contribué à la naissance de ce sentiment, tandis que se confortait l’identification du royaume à son monarque, qui incarnait en même temps l’Etat, non seulement dans sa personne, mais aussi dans les institutions qui, comme le Parlement, en ont constitué l’appareil«, genau wie im Prag des 14./15. Jahrhunderts »die kirchlichen Konflikte Nahrung aus den Gegensätzen zwischen Deutschen und Tschechen erhielten«, die ihrerseits durch Jan Hus’ politisch-kulturelle Leistung zur Schaffung einer einheitlichen tschechischen Schriftsprache, zur Begründung einer nationalen Literatur, kurz zur Entstehung des tschechischen Nationalbewusstseins beitrugen, genau wie bei der Benennung des ›Heiligen Römischen Reichs‹, die in deutschen Urkunden bei Kaiser Karl IV. auftritt, der Zusatz ›deutscher Nation‹, ›Nationis Germanicae‹, im 15. Jahrhundert beigefügt wurde, um die deutschen Teile des Reichsgebiets im Unterschied zu Italien und zu Burgund zu bezeichnen, genau so wird Ende des 12. und Anfang des 13. Jahrhunderts der Konflikt zwischen Reich und Papsttum, zwischen Imperium und Sacerdotium bei Gottfried von Straßburg und vornehmlich bei Walther von der Vogelweide dazu beigetragen haben, ein starkes, durch das Gefühl einer rechtlich-politischen Zusammengehörigkeit geprägtes Nationalgefühl hervorzubringen, das vom Kaiser verkörpert wird, der von Gott selbst eingesetzt und von ihm bestimmt worden ist, über die ganze Welt zu herrschen und in der ganzen Welt zu handeln und zu wirken. Ist das nicht ein Nationalbewusstsein, das einer Art ›Nationalismus‹ sehr nahe kommt?

Literatur

HARTMUT BOOCKMANN: Stauferzeit und spätes Mittelalter. Deutschland 1125-1517. Berlin 1994.
HERBERT GRUNDMANN: Vom Ursprung der Universitäten im Mittelalter. Darmstadt 1960.
J.P. CUVILLIER: L’Allemagne médiévale, Paris, 1979.
Tristan et Yseut. Les premières versions européennes. Edition publiée sous la direction de Christiane Marchello-Nizia. Paris 1995 (Gallimard: La Pléiade), S. 1467 (Anmerkungen zu der französischen Übersetzung von Gottfrieds Tristan).
WALTHER VON DER VOGELWEIDE herausgegeben und erklärt von W. Wilmanns. Vierte, vollständig umgearbeitete Auflage besorgt von Victor Michels, Halle, 1924, Band I.
Die trobadors. Leben und Lieder. Deutsch von Franz Wellner. Neu herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Hans Gerd Tuchel. Dritte Auflage Leipzig 1985.
PETER WAPNEWSKI: Walther von der Vogelweide, Gedichte. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung. Frankfurt am Main, 1971.
JEANNINE QUILLET: «Etat et nation aux XIVe et XVe siècles. Remarques doctrinales», in: Jeannine Quillet, D’une cité l’autre. Problèmes de philosophie politique médiévale, Paris, 2001.