Einige Bemerkungen zum Begriffsfeld
›Nation‹ im Mittelalter.
Von der natio zur Nation
Im Mittelalter war der
Begriff der Nation zwar schon klar umrissen, aber die Nation in
unserem Sinne gab es nicht. Das Wort ›Nation‹ ist entlehnt aus dem
Lateinischen
nâtio (-ônis), einer Ableitung von
nâscî
(nâtus sum), geboren werden, das mit dem lateinischen
genus‚ Geschlecht, Art, Gattung verwandt ist. Das Wort
bezeichnet seiner Etymologie nach eine Gemeinschaft von Menschen
derselben Herkunft, die durch gemeinsame Abstammung verbunden sind;
dann anschließend eine Gemeinschaft von Menschen gleicher Kultur,
Sprache. Demgemäß bezeichnete lat.
natio schon in der Antike
und noch lange im Mittelalter die Abstammung oder den Herkunftsort
einer Person und zwar in Bezug auf politisch nicht organisierte
Bevölkerungen. Anfangs bezeichnete also die Nation die Herkunft
einer Gruppe von ausgewanderten Menschen, die sich mit der
Bevölkerung vermengte, in die sie sich eingliederte. So wurde das
Wort besonders gebraucht, um die Herkunft der Studenten einer
Universität zu bezeichnen: es ist die Rede von
›Universitätsnationen‹, wobei »mit diesem Wort […] ursprünglich
eher Himmelsrichtungen als Nationen im späteren Sinne gemeint«
waren (Boockmann 1994). Es entstand in Paris die Einteilung in vier
Nationen: Gallikaner oder Gallier, zu denen auch Italiener,
Spanier, Griechen und Morgenländer zählten, Picarden, Normannen und
Engländer, die auch die Deutschen und weitere Nord- und
Mitteleuropäer beinhalteten. Jede Nation hatte ihre besonderen
Statuten, Beamten und einen Vorsteher (Prokurator). Die
Prokuratoren wählten den Rektor der Universität. Es gab an der 1348
gegründeten Universität Prag ebenfalls vier gleichberechtigte
›Nationen‹, in die sich die einzelnen Studenten organisierten. Die
polnische Nation umfasste die Studenten aus Preußen, Schlesien oder
aus einer polnischen Stadt mit deutscher Bevölkerung, d. h. aus dem
gesamten östlichen Raum; zur böhmischen Nation gehörten die Böhmen,
die Tschechen, die Ungarn und die Südslaven, zur bayerischen Nation
die Schwaben, die Bayern, die Franken, die Hessen, die Rheinländer
und die Westfalen, zur sächsischen Nation die Norddeutschen, die
Dänen, die Schweden und die Finnen. So hatte der mittelalterliche
Nationbegriff nichts zu tun mit dem modernen, seit der
Französischen Revolution in den Vordergrund getretenen, und noch
weniger mit dem Nationalismus.
Dennoch scheinen zwei deutsche Dichter vom Ende des 12. und vom
Anfang des 13. Jahrhunderts ein gewisses Nationalgefühl
auszudrücken: Gottfried von Straßburg in seinem
Tristan
(1205-1210) und vornehmlich Walther von der Vogelweide (1170-1220)
in einigen seiner Gedichte.
Beide Autoren benutzen den ethnischen Namen
Alemâne (Walther
34,7 I
ch han zwen Alman under eine krone braht, Gottfried
3702/3
Norwaegen, Irlandaere,/ Almanjen, Schotten unde
Tenen, übrigens wie Wolfram von Eschenbach in seinem
Parzival [67,22
dâ ligent ûf dem plâne/ die stolzen
Alemâne] oder in seinem
Willehalm (350,7
Franzoyse
und Alemâne). Walther gebraucht jedoch öfter das germanische
Wort
tiutsch, das von germ.
*Þeuðô-= Volk abgeleitet
und ursprünglich (im 8. Jahrhundert) benutzt wurde, um die
Volkssprache zu benennen
(theodisca lingua) im Gegensatz zum
Latein, dann eine Sprache, die sich von den romanischen
Volkssprachen unterschied. Unter Karl dem Großen wurde die
Gemeinschaft der germanischen Völker durch den Ausdruck
gentes
theodiscae bezeichnet. Im Mittelhochdeutschen bedeutet
diutsch, tiutsch zweifelsohne ›deutsch‹. Im
Cligès
(V. 2925) stellt Chrétien de Troyes
tiois (ein Wort, das
diutsch entspricht)
Aleman (=
Alemâne)
gegenüber, und gibt dabei wohl ersterem die Bedeutung von
›Norddeutscher‹, letzterem die von ›Süddeutscher‹.
Gottfried ist dagegen meines Wissens der einzige deutsche
Dichter, der den Landesnamen
Almanje (z. B. V. 18445)
verwendet; und dieser Terminus, wie im
Cligès (so V. 2616
l’empereres d’Alemaigne; oder noch V. 2659-61
Devant
Coloigne ne s’areste,/ Ou l’empereres a une feste/ D’alemaigne molt
grant tenue), bezeichnet unzweideutig das
Romanum
Imperium. Übrigens wurde das lateinische Wort
Alamania
gegen 1020 vom Papst im Sinn von Deutschland,
Imperium
benutzt. Der terminus
roemesch riche – das deutsche
Äquivalent von
Imperium Romanum – steht bei Gottfried (V.
18431). Der elsässische Dichter spielt hier auf den ›großen Krieg‹
an, der bis 1208 auf deutschem Boden wütete anlässlich des
kaiserlichen Schismas (1198), das nach dem Tod Heinrichs VI. durch
die Doppelwahl Philipps von Schwaben (am 8. März) und Ottos IV. von
Braunschweig (am 9 Juni) zum Kaiser verursacht wurde. Ich habe an
anderer Stelle gezeigt, dass Gottfried mit verhüllenden Worten für
den Kaiser und das
Imperium gegen den Papst Partei nimmt. Er
war sich demnach dessen wohl bewusst, was zu seiner Zeit die
›deutschen Lande‹ (18445
zAlmanje in dem lande) und das
Imperium Romanum (18451
daz roemesch riche)
bedeuteten, für welches Tristan sich einsetzte. Aber nur mit
verhüllenden Worten zeichnet sich aus Opposition zum Papst ein
Gefühl ab, das man fast ein ›National‹-Gefühl nennen könnte.
Dies gilt auch, vielleicht noch stärker ausgeprägt, für Walther von
der Vogelweide. In Walthers Gedicht
Ir sult sprechen
willekomen (56,14), das im 19. Jahrhundert zuweilen als die
deutsche Nationalhymne bezeichnet wurde, das W. Wilmanns
»Deutschland über alles« betitelte und über das der Kritiker
folgendes schreibt: »Das stolze Lied auf deutsche Zucht und Sitte
ist das erste Lied in deutscher Zunge zum Preise des großen
Vaterlands«, lobt der Dichter die Tugenden der deutschen Frauen und
Männer:
Von der Elbe unz an den Rîn
und her wider unz an Ungerlant
mugen wol die besten sîn,
die ich in der werlte hân erkant.
kann ich rehte schouwen
guot gelâz unt lîp.
sem mir got, sô swüere ich wol daz hie diu wîp
bezzer sint sam ander frouwen.
Tiusche man sint wol gezogen,
rechte als engel sint diu wîp getân.
swer si schildet, derst betrogen:
ich enkan sîn anders niht verstân.
tugent und reine minne,
swer die suochen wil,
der sol komen in unser lant: da ist wünne vil:
lange müeze ich leben dar inne!
Die Verse, in denen Walther mittels der Flüsse die Grenzen
Deutschlands umreißt, bezeichnen gleichfalls die Orte, an denen der
Dichter sich für das Reich eingesetzt hat, Magdeburg an der Elbe im
Jahre 1199 (L 19,15) und den Rhein bei Philipps Krönung in Mainz im
Jahr 1198 (L 18,29) (vgl. auch Walther 31,13 und Neidhart 73,21).
Sie erinnern jedoch besonders an die Verse, in denen der Troubadour
Peire Vidal (gegen 1180 – gegen 1205), die Provence hochpreist:
qu’om no sap tan dous repaire
com de Rozer tro qu’a Vensa,
si cum clau mars e Durensa,
ni on tan fis jois s’esclaire.
So könnte man zu der Ansicht kommen, Walther habe auf sie reagiert.
Dennoch ist viel mehr im Spiel. Walthers Verse zeugen von einem
starken Nationalgefühl, ein Einzelfall zu seiner Zeit.
Nichtsdestoweniger könnte man glauben, Walther antworte auf die
hämischen Scheltstrophen, die Peire Vidal geschrieben hatte, als er
sich 1198 in Begleitung von Constance von Aragon, die den
ungarischen König Ameri heiraten sollte, in Ungarn aufhielt und in
denen er die Deutschen heftig kritisierte. Peire Vidal hatte die
Alamans unhöfliche Menschen, Schurken und Tölpel gescholten.
Der Troubadour Peire de la Caravana, ein Feind Kaiser Heinrichs
VI., griff in einem Gedicht ebenfalls
la gent d’Alemaigna
an, mit der zu verkehren, er abrät. Walthers Lied ist »ein
Verteidigungsgesang«.
Wenn man bei Walther von einem Nationalgefühl sprechen kann,
definiert es sich nur im Gegensatz zu einem anderen, dem der
Okzitanen und der Provenzalen; es definiert sich aber vornehmlich
im Gegensatz zur romanischen Welt, zu den Welschen, um den
mittelalterlichen Ausdruck zu gebrauchen. Während Walther sich hier
gegen die Troubadours verteidigt, gibt es andere Lieder, in denen
der Papst und die römische Kurie die Gegner sind, gegen die er die
Deutschen verteidigt. Das Papsttum schien Walther die entscheidende
Gefahr für Deutschland zu sein. Der von Innozenz III. am 3. Juli
1201 gefasste Entschluss, Otto IV. als legitimen König anzuerkennen
und alle Gegner zu exkommunizieren war es, der für Walther das
deutsche Volk, das er in L 8,28 durch seine Sprache bezeichnet
(tiuschiu zunge) in den Bürgerkrieg gestürzt hat: 9,16
ze
Rôme hôrte ich liegen/ und zwêne künege triegen./ dâ von huop sich
der meiste strît/ der ê was oder iemer sît,/ do sich begunden
zweien/ die pfaffen unde leien. Die Verhaltensweise der
römischen Kurie ist schuld an dem größten und gefährlichsten
Streit, der seit jeher das deutsche Volk entzweit: auf einer Seite
die
pfaffen, d. h. die Parteigänger des sehr frommen Welfen
Otto IV., auf der anderen die
leien, die Anhänger des
Staufers. Die beiden Parteien zerfleischten sich gegenseitig und
führten eine Not herbei, die nicht ihresgleichen hat (L 9,16
daz
was ein nôt vor aller nôt).
Walthers Wut auf das Papsttum erreichte einen Höhepunkt, als Papst
Innozenz III. zu Ostern 1213 in Deutschland Opferstöcke anbringen
ließ, um auf Kosten der Deutschen den Kreuzzug zu finanzieren: der
Dichter ist angeekelt von der Habgier der Kurie, die Deutschland
zugrunde richte. Die Strophe 34,4
Ahî wie kristenlîche nû der
bâbesty lachet ist auf dem Gegensatz
Walh/ Allamân und
welsch/ tiusch aufgebaut:
Ahî wie kristenlîche nû der bâbest lachet,
swenne er sînen Walhen seit ‚ich hânz amsô gemachet’!
daz er dâ seit; des solt er niemer hân gedâht.
er giht ‚ich hân zwên Allamân undr eine krône brâht,
daz siz rîche sulen stoeren unde wasten.
ie dar under füllen wir die kasten:
ich hâns an mînen stoc gemeint, ir guot ist allez mîn:
ir tiuschez silber vert in mînen welschen schrîn.
Ir pfaffen, ezzent hüenr und trinket wîn,
und lânt die tiutschen leien magern unde vasten.’
Der Dichter erteilt dem Papst das Wort: dieser freut sich darüber,
zwei Könige unter eine Krone gebracht zu haben, d. h. Otto IV. und
Friedrich II. Es ist eine Anspielung auf die zweideutige Politik
Innozenz’ III., der am 4. Oktober 1209 Otto IV. in Rom gekrönt hat
und ihn dann, wegen des Umschwungs seines früheren Schützlings, der
im Grunde die gegen das Papsttum gerichtete Politik der Staufer
fortsetzte und nicht zögerte, einen Teil des Kirchenstaats zu
besetzen, 1210 exkommunizierte und 1212 die Ansprüche anerkannte,
die Friedrich auf das Erbe seines Vaters erhoben hatte. Walther
macht erneut den Papst für die Unruhen verantwortlich, die in
Deutschland ausgebrochen sind und er bringt besonders das, was man
in Opposition zu dem Papst und dessen Welschen sein
›Nationalgefühl‹ nennen könnte, zum Ausdruck. Für die Parteigänger
des Papstes gebraucht er tatsächlich nicht nur das Wort
pfaffen wie im Reichston, sondern auch
walhen, und er
legt den romanischen Terminus
Allaman, der im
Mittelhochdeutschen nur selten vorkommt, in den Mund des Papstes,
eines Romanen. Walther, der den Machthunger und die Geldgier der
römischen Kurie geißelt und den Papst beschuldigt, sich den
Bürgerkrieg in Deutschland zunutze zu machen, um seine Geldschreine
zu füllen, lässt ihn den Terminus
wasten gebrauchen, der vom
Lateinischen
vastare stammt und ›verwüsten‹, ›zerstören‹
bedeutet und im Mittelhochdeutschen nur in diesem Lied vorkommt.
Diese doppelte Verwendung romanischer Termini durch den welschen
Papst verstärkt die Ironie und die Satire. Die letzten drei Verse
der Strophe bringen die Habgier der
pfaffen zum Ausdruck,
die sich auf Kosten der Deutschen bereichern, die ausgesaugt werden
müssen, auf dass ihre Reichtümer in die Geldschreine des Papstes
überführt werden. Im Vers »ir tiutschez silber vert in mînen
welschen schrîn« stellt Walther im selben Vers
tiusch und
welsch gegenüber, eine Gegenüberstellung, die in der
deutschen Literatur üblich werden wird. Man denke nur an Hans
Sachs’ große Anrede im letzten Akt von Richard Wagners
Meistersinger von Nürnberg: »Hab’ acht! Uns drohen üble
Streich’:/ Zerfällt erst deutsches Volk und Reich/ in falscher
welscher Majestät«. In einem Jahrhundert, in dem der Nationalismus
wütet, hat diese Gegenüberstellung eine noch schwerwiegendere
Bedeutung als zur Zeit Walthers. Um das Papsttum anzugreifen,
bringt der Dichter ein Argument vor, das man drei Jahrhunderte
später geltend machen wird: der Papst raubt Deutschland all seine
Edelmetalle, Gold und Silber. Diese unersättliche Geldgier hat zur
Folge, dass die
pfaffen immer besser leben, immer erlesenere
Speisen essen und Wein trinken, während die Deutschen fasten und
immer magerer werden.
Die Strophe L 34,14 »Sagt an, hêr Stoc, hât iuch der bâbest her
gesendet« erteilt »Herrn Opferstock« das Wort:
Sagt an, hêr Stoc, hât iuch der bâbest her gesendet,
daz ir in rîchet und uns Tiutschen ernet unde pfendet?
senn im diu volle mâze kumt ze Laterân,
sô tuot er einen argen list, als er ê getan:
er seit uns danne wie daz rîche stê verwarren,
unz in erfüllent aber alle pfarren,
ich waen des silbers wênic kumet ze helffe in gotes lant:
grôzen hort zerteilet selten pfaffen hant.
her Stoc, ir sît ûf schaden her gesant,
daz ir ûz tiutschen liuten suochet toerinne unde narren.
In dieser Strophe variiert Walther das Thema, das er in der
vorhergehenden Strophe angeschlagen hat: der Papst beraubt die
Deutschen ihrer Schätze und sät Zwietracht, um sich zu bereichern.
»Wir Deutschen«, sagt Walther, »wir werden immer ärmer, während die
Kurie immer reicher wird!«. Der Kreuzzug ist nur ein Vorwand: denn
sobald die Schätze in Rom angekommen sind, wird der Papst erklären,
dass die Unruhen, die in Deutschland ausgebrochen sind, ihn daran
hindern, den Kreuzzug zu unternehmen, und aufs Neue werden die
pfaffen ihre Geldschreine auf Kosten der Deutschen, die sich
›ausrupfen‹ lassen, füllen.
Walthers ›mauvaise foi‹, seine Unehrlichkeit sind offensichtlich,
denn es ist eine anerkannte Tatsache, dass der Papst Maßnahmen
getroffen hatte, um eine Unterschlagung der gesammelten Gelder zu
verhindern, und dass er selbst und seine Kardinäle ein Zehntel
ihres Einkommens geben sollten, um zur Finanzierung des Kreuzzuges
beizutragen. Diese Unehrlichkeit ist es, die es zweifelsohne
gestattet, in den Versen Walthers von der Vogelweide ein starkes
Nationalgefühl zu sehen, ein starkes Nationalbewusstsein, ja einen
gewissen Nationalismus, der sich vornehmlich in Opposition zum
Papsttum, zur römischen Kurie äußert. Es ist wohl angebracht, daran
zu erinnern, dass Walther die Autorität der Kirche zu ruinieren
trachtet und versucht, sie daran zu hindern, sich in die weltlichen
Angelegenheiten einzumischen, besonders in die des Reiches, und
dass er die Ansprüche des Papstes auf das Reich immer mit
Verbissenheit bekämpft hat. Er war bestrebt, die Interessen seines
Landes zu vertreten, das von den Fehden und den Streitigkeiten um
den Thron erschüttert war. Er griff die römische Kurie aus dem
einzigen Grund an, dass er in deren Politik eine Gefahr für
Deutschland sah. Walthers Strophen erzielten in Deutschland einen
großen Erfolg: der Beweis dafür ist, dass Thomasin der Zirklaere,
ein Geistlicher aus dem Friaul, dessen Familie dem Patriziat von
Cividale del Friuli entstammte und der sein Lehrgedicht
Den
Welschen Gast für den früheren Bischof von Passau, Wolfger von
Erla, der 1204 Patriarch von Aquileja geworden war, 1215 verfasste,
schreibt, dass Walther durch seine Lieder Tausende von Menschen
dazu verführt habe, nicht auf Gottes und des Papstes Wort zu
hören.
Die einzigen Mittel, diese Gefahr abzuwenden, sind für Walther eine
starke und anerkannte weltlichen Macht, die Ordnung und Sicherheit
gewährleistet, sowie die freie Religionsausübung; im andern Fall
wäre das Übel dem Übel geweiht. Der Dichter beschwört das deutsche
Volk
(tiuschiu zunge), wie alle Tiere der Welt »einen sin«
(L 8,28) zu haben, einen einzigen Willen, den einen König, einen
Kaiser zu wählen, der das Reich, das Walther sein ganzes Leben
verteidigt hat, verkörpert: der Kaiser, der die Kaiserkrone, mit
dem »weisen«, tragen soll, »aller fürsten leitesterne« (L 18,29),
wird »die armen künege«, die Vasallenkönige (8,28), Richard
Löwenherz, Kund von Dänemark und Philipp II. August, zurückdrängen,
sie im Rang gleichstellen, ist er doch von Gott selbst dazu
bestimmt, über das ganze Abendland zu herrschen. Gleichviel wer, ob
Philipp von Schwaben, von Gott ernannt (L 18,29; L 19,5), Otto IV.
oder Friedrich II. – Gott entscheidet: »Gote gibet ze künege
swen er will« (12,30). Dieser Kaiser, der also Kaiser von Gottes
Gnaden sei, werde zunächst den Frieden in Deutschland
wiederherstellen (»Her keiser, swenne ir Tiuschen fride«),
Voraussetzung dafür, dass alle fremden Völker (»die fremeden
zungen«) ihn anerkennen; danach werde er den Frieden in der
gesamten christlichen Welt wiederherstellen können (12,18). Zwar
ist es der Universalismus des mittelalterlichen Denkens, zwar ist
die Wiederherstellung des Friedens die erste Pflicht des Kaisers
(
pacificus ist eines seiner Attribute;
pax et lex
sind die entscheidenden Begriffe in dem offiziellen Eid bei der
Kaiserkrönung), und Frieden stiften ist die traditionelle Aufgabe
des Reiches, doch Deutschland ist der Ausgangspunkt dieses
Universalismus. wohl, Walther spricht mehrmals nicht vom Reich,
sondern von Deutschland »sans toutefois parvenir au niveau du
concept Etat-Nation« wie Jeannine Quillet schreibt, ohne also zum
Begriff Staat gleich Nation zu gelangen, der erst in der
französischen Revolution entstanden ist. Gleichwohl darf man
behaupten, dass er sich sehr klar der Aufgabe bewusst ist, die
Deutschland in der Welt zugeteilt ist, ja dass er sich sehr bewusst
ist, diesem Land, man könnte auch sagen: dieser ›Nation‹, die
Deutschland ist, anzugehören.
Es ist bekannt, dass das Nationalgefühl sowohl aus dem Gefühl,
derselben Gemeinschaft anzugehören, als auch aus dem Ressentiment
gegen ein anderes Land oder aus gegenseitigen Ressentiments oder
noch aus Frustrationen, die dieses oder jenes Land erlitten hat,
entstanden ist. So fände sich bereits Anfangs des 13. Jahrhunderts,
was Jeannine Quillet über Alexander von Roes – einen politischen
Denker Ende des 13. Jahrhunderts – schreibt: »Sous les apparences
d’un conflit entre Empire et papauté, se dissimulent en réalité de
fortes appartenances qu’on ne saurait qualifier autrement que du
terme de «nationales», dans la mesure où l’auteur met en présence
deux clans: celui du pape […] (et) celui de l’empereur«.
Genau wie »la guerre de Cent ans a joué un rôle décisif pour ce qui
concerne l’émergence d’un sentiment national, en France, par
exemple, où l’hostilité du roi anglais et aux «envahisseurs» venus
d’outre-Manche a contribué à la naissance de ce sentiment, tandis
que se confortait l’identification du royaume à son monarque, qui
incarnait en même temps l’Etat, non seulement dans sa personne,
mais aussi dans les institutions qui, comme le Parlement, en ont
constitué l’appareil«, genau wie im Prag des 14./15. Jahrhunderts
»die kirchlichen Konflikte Nahrung aus den Gegensätzen zwischen
Deutschen und Tschechen erhielten«, die ihrerseits durch Jan Hus’
politisch-kulturelle Leistung zur Schaffung einer einheitlichen
tschechischen Schriftsprache, zur Begründung einer nationalen
Literatur, kurz zur Entstehung des tschechischen
Nationalbewusstseins beitrugen, genau wie bei der Benennung des
›Heiligen Römischen Reichs‹, die in deutschen Urkunden bei Kaiser
Karl IV. auftritt, der Zusatz ›deutscher Nation‹, ›Nationis
Germanicae‹, im 15. Jahrhundert beigefügt wurde, um die deutschen
Teile des Reichsgebiets im Unterschied zu Italien und zu Burgund zu
bezeichnen, genau so wird Ende des 12. und Anfang des 13.
Jahrhunderts der Konflikt zwischen Reich und Papsttum, zwischen
Imperium und
Sacerdotium bei Gottfried von Straßburg
und vornehmlich bei Walther von der Vogelweide dazu beigetragen
haben, ein starkes, durch das Gefühl einer rechtlich-politischen
Zusammengehörigkeit geprägtes Nationalgefühl hervorzubringen, das
vom Kaiser verkörpert wird, der von Gott selbst eingesetzt und von
ihm bestimmt worden ist, über die ganze Welt zu herrschen und in
der ganzen Welt zu handeln und zu wirken. Ist das nicht ein
Nationalbewusstsein, das einer Art ›Nationalismus‹ sehr nahe
kommt?
Literatur
HARTMUT BOOCKMANN: Stauferzeit und spätes Mittelalter. Deutschland
1125-1517. Berlin 1994.
HERBERT GRUNDMANN: Vom Ursprung der Universitäten im Mittelalter.
Darmstadt 1960.
J.P. CUVILLIER: L’Allemagne médiévale, Paris, 1979.
Tristan et Yseut. Les premières versions européennes. Edition
publiée sous la direction de Christiane Marchello-Nizia. Paris 1995
(Gallimard: La Pléiade), S. 1467 (Anmerkungen zu der französischen
Übersetzung von Gottfrieds Tristan).
WALTHER VON DER VOGELWEIDE herausgegeben und erklärt von W.
Wilmanns. Vierte, vollständig umgearbeitete Auflage besorgt von
Victor Michels, Halle, 1924, Band I.
Die trobadors. Leben und Lieder. Deutsch von Franz Wellner. Neu
herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Hans Gerd
Tuchel. Dritte Auflage Leipzig 1985.
PETER WAPNEWSKI: Walther von der Vogelweide, Gedichte.
Mittelhochdeutscher Text und Übertragung. Frankfurt am Main,
1971.
JEANNINE QUILLET: «Etat et nation aux XIVe et XVe siècles.
Remarques doctrinales», in: Jeannine Quillet, D’une cité l’autre.
Problèmes de philosophie politique médiévale, Paris, 2001.