Einleitung
Während Europa als geographische Einheit unstrittig
ist, ist es als politisch-kultureller Raum immer wieder neu
erfunden und eingeteilt, vermessen und aufgebaut worden. Im Rahmen
dieser historischen Dynamik als Folge von Kriegen, dynastischen
Bewegungen und Revolutionen sind bis in die Gegenwart immer neue
Nationalstaaten gegründet und im Umfang ihres Staatsgebietes, d. h.
hinsichtlich ihres Grenzverlaufs, der Zugehörigkeit und erwarteten
Loyalität bzw. Illoyalität von Bevölkerungsgruppen sowie der
Markierung und Deutung von Erinnerungsorten verändert worden;
umfangreiche Wanderungsbewegungen, Flucht und Vertreibung haben in
manchen Regionen zu grundlegenden Veränderungen der ethnischen
Zusammensetzung, der produktiven kulturellen Traditionen und
geschichtlich konstitutiven Erinnerungsperspektiven geführt. Hinzu
kommen eine gesellschaftliche und politische Dynamik, die sich in
Systemwandel und wechselnden ideologisch-politischen
Konstellationen ausprägten, die vor allem in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts unterschiedliche politische Blöcke, Organisationen
und Konfliktpotentiale generiert haben. Stets hatte die Auflösung
solcher Blockbildungen neue Konstellationen zur Folge.
So gehörten zum geographisch benannten, ideologisch begründeten
Ost-West-Gegensatz, der sich schon bald nach dem Ende des Zweiten
Weltkriegs auszuwirken begann, militär- (Warschauer Pakt / Nato)
und wirtschaftspolitische (RWG bzw. Comecon / Montanunion, EWG, EG,
EU) Organisationsformen, aber auch spezielle Metaphern wie ›Kalter
Krieg‹ und ›Eiserner Vorhang‹ sowie ritualisierte Handlungen im
politischen Feld (Militärparaden, Aufmärsche, Personenkult,
Bruderküsse / Besuch und Kranzniederlegung an der ›Mauer‹ als
Programmpunkt von Staatsbesuchen). Die Selbstauflösung der
›sozialistischen Staatengemeinschaft‹ machte die konfliktfundierte
Ost-West-Blockbildung gegenstandslos und führte zur staatlichen
Souveränität zahlreicher Teilrepubliken und Regionen der
Sowjetunion, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens.
Mit dem jeweiligen Gründungsakt dieser Staaten bzw. ihrem Austritt
aus dem politischen Verband ist auch die Konzeption eines neuen
Erinnerungssystems verbunden. Die historische Dynamik machte auch
vor Traditionsmarkierungen, Festkalendern, Erinnerungsbeständen und
-orten, Erinnerungs- und Gedenkritualen nicht halt; praktizierte
Traditionen werden aufgegeben, andere werden reinventiert oder per
Kulturtransfer eingeführt. Für die Suche nach der eigenen
Geschichte wurde nicht nur die überwundene Abhängigkeit von der
Sowjetunion und der Ideologie des Sozialismus der
zeitgeschichtlichen Aufarbeitung zugänglich, auch nationale
Erinnerungsbestände früherer Jahrhunderte und blockierte
Traditionen stehen wieder zur Verfügung. So gewinnt für Polen der
Streik auf der Danziger Werft im Sommer 1980, der zur Gründung der
Gewerkschaft Solidarność führte, den Status eines nationalen und
europäischen Ereignisses, das zur Auflösung des ›sozialistischen
Lagers‹ beitrug, als Gründungsereignis des demokratischen Polen
gesehen wird und in das kollektive nationale Gedächtnis aufgenommen
wurde. Dass dieser nationale Erfahrungskomplex als Beitrag zum
europäischen Erinnerungsraum gilt, dafür stehen das internationale
Gedenkritual – mit entsprechender medialer Aufmerksamkeit – am 30.
August 2005 aus Anlass des 25. Gründungsjubiläums der Gewerkschaft
sowie der Wiederabdruck des Artikels ›Notizen von der Küste‹ von
Ryszard Kapuszinski über die durch den Streik generierte Atmosphäre
von Aufbruch und Perspektive des Neuen in der FAZ (29.08.2005), der
hier vor 25 Jahren erschienen war.
In der veränderten Situation orientiert sich die Mehrzahl der neuen
Staaten zum einen an den demokratischen Strukturen des Westens, und
strebt auch die Mitgliedschaft in NATO und EU an, was der Debatte
um Konzepte einer politischen Einheit Europas (europäische
Verfassung, politische Union) neuen Auftrieb gibt. Zum anderen
werden unterbrochene Beziehungen zur westlichen Kultur und ihrer
Tradition wieder aufgenommen, die dabei auch von westlicher Seite
in ihrer gesamteuropäischen Dimension wieder zu entdecken ist.
Handelt es sich doch um Staaten, die in der Regel bis zum Zweiten
Weltkrieg an europäischen Kulturbeziehungen in allen Ausprägungen
teilgenommen haben.
Die Anschläge auf das World Trade Center in New York vom 11.
September 2001 führten 2002 zum zweiten Krieg der USA gegen den
Irak und als Folge für Europa zur USA-zentrierten Einteilung in die
Staaten, die zur militärischen Unterstützung der USA bereit waren
und diejenigen, die dies ablehnten.
Im Jahr 2005 gehört das ›Projekt Europa‹ nicht nur in
deutschsprachigen Medien in den Sparten Politik, Wirtschaft,
Feuilleton und Kultur zu den besonders umfassend, vielfältig,
kontinuierlich und mit ausgreifender historischer Perspektive
behandelten Themenfeldern. Dabei dominieren vor allem zwei
thematische Bereiche: Den
ersten Themenblock bildet die
Diskussion politischer, wirtschaftlicher und verfassungsrechtlicher
Probleme und Möglichkeiten des europäischen Einigungsprozesses,
aktualisiert und konkretisiert durch die Ablehnung der europäischen
Verfassung per Referendum in Frankreich und den Niederlanden, der
Verschiebung einer Abstimmung in Großbritannien und den danach in
mehreren Staaten formulierten Vorbehalten sowohl gegen die
Verfassung als auch gegen die Erweiterungspolitik, vor allem gegen
deren Umfang und Zeitplan. In diesem Zusammenhang gilt der
projektierte EU-Beitritt der Türkei als besonders problematisch
wegen Entwicklungs- und Organisationsunterschieden in zentralen
gesellschaftlichen Bereichen und eines als grundsätzlich different
bewerteten kulturellen Hintergrunds.
Der
zweite Themenbereich
umfasst den Erinnerungsdiskurs, der aus Anlass der zahlreichen
Jahres- und Gedenktage, die an Ereignisse der Beendigung des
Zweiten Weltkriegs und der Befreiung vom Nationalsozialismus vor 60
Jahren erinnern, im Jahr 2005 intensiv geführt wird. In Texten
dieses Themenbereiches geht es um Fragen, die das
Gründungsgeschehen und die Wertebasis des ›Projekts Europa‹ sowie
Möglichkeiten übernationalen europäischen Erinnerns betreffen. Ein
Konnex zwischen beiden Bereichen wird häufig dadurch hergestellt,
dass Vorbehalte gegenüber einer Forcierung des EU-Beitritts der
Türkei mit deren Erinnerungspolitik hinsichtlich des Genozids an
den Armeniern während des Ersten Weltkriegs 1915/16 begründet
werden.
»Kann ein solcher Staat, der die eigene Vergangenheit sich nicht
offiziell einzugestehen vermag, Mitglied in der Europäischen Union
werden? In einer Staatengemeinschaft, deren Ausgangspunkt und
negativer historischer Gründungsbezug ausdrücklich in der Erfahrung
des Holocaust, aber auch der stalinistischen ›Säuberungen‹ liegt?«
(Jeismann, FAZ 16.03.2005).
»Je näher die Türkei an Kerneuropa heranrückt, desto größer wird
damit die Kluft zwischen dem Gedächtnisverlust im eigenen Land und
der Erinnerungskultur der westlichen Nachbarn. Nie zuvor ist so
deutlich geworden wie in diesem Jahr, dass die EU unverfälschte
Geschichte braucht, um Europas Werte zu verteidigen«
(Schmidt-Häuer, Die Zeit 23.03.2005).
Schon 2002 (Die Zeit Nr. 38) hatte der Historiker Hans-Ulrich
Wehler dezidiert formuliert: »Der Westen braucht die Türkei – etwa
als Frontstaat gegen den Irak. Aber in die EU darf das muslimische
Land niemals.« Auch in einer negativen Kritik einer Verfilmung
(2005) des Romans
Die vierzig
Tage des Musa Dagh (1933) von Franz Werfel wird das Junktim
zwischen der Akzeptanz europäischer Erinnerungskultur und einem
EU-Beitritt der Türkei aktualisiert: »Den Lesern [in den 1930er
Jahren] war von Anfang an klar, dass es mit dem Völkermord an den
Armeniern um die Gegenwartstragödie des jüdischen Volkes ging:
Historische Romane sind indirekte Gegenwartsromane. Heute kann man
die Erinnerung an die Massaker nicht abgekoppelt von der Debatte
über einen türkischen EU-Beitritt sehen« (L. L., NZZ
30.04./01.05.2005).
Unter wertexplizitem Ansatz, der immer die historische Dimension
einschließt und vor allem Traditionslinien reformatorischer,
aufklärerischer und reformerischer Kultur im weiten Sinne
aktualisiert, wird Europa als im wesentlichen homogene
Erinnerungsgemeinschaft bzw. Erinnerungsraum wahrgenommen, was den
Prioritätsverlust anderer Paradigmata (z. B. militärische,
wirtschaftliche Funktionsgemeinschaft) einschließen kann. Als
europäisch werden immer wieder folgende Werte genannt: »Toleranz,
Freiheit, die Skepsis gegenüber ›letzten‹ Wahrheiten, das Wissen um
die Vorläufigkeit allen Wissens, der Glaube an die Grenzen allen
Glaubens hienieden und unter Menschen« (Meyer, NZZ
20./21.08.2005).
Wenn es zutrifft, dass die Gründung europäischer Institutionen mit
Richtlinienkompetenz gegenüber den parallelen nationalen
Einrichtungen prioritär eine politische Reaktion auf die für alle
beteiligten Staaten leidvollen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs
und des Holocaust darstellt, dann liegt es nahe, die Konstruktion
eines europäischen Erinnerungsraums mit einer werthomogenen
Erinnerungskultur als Voraussetzung der angestrebten politischen
Integration zu betrachten. Dafür ist die Einrichtung entsprechender
Rahmenbedingungen Voraussetzung, wozu die Straffreiheit für eine
öffentliche Kommunikation der Erinnerungsperspektiven, die
Anerkennung von Pluralismus und Kritik gehören. Zentral gehört dazu
auch die Diskussion um Täter- und Opfererinnerung mit
erinnerungspolitischen Konsequenzen. Erinnerungs- bzw.
vergangenheitspolitischer Dissens als Folge ›monologischer‹
Erinnerung stellt demnach den konstruktiven Kern des ›Projekts
Europa‹ als politischer Union in Frage.
Dass der Diskurs um das ›Projekt Europa‹ durch die mögliche
Mitgliedschaft der Türkei in der EU eine neue Dimension gewinnt,
zeigt sich an der privilegierten Thematisierung kultureller und
historischer, vor allem auch vergangenheits- und
erinnerungspolitischer Aspekte. Es entsteht geradezu ein
intellektueller Diskurs, der unter Beteiligung einer breiten
Öffentlichkeit in Feuilletons, Kulturzeitschriften und
entsprechenden audiovisuellen Formaten von Journalisten,
Wissenschaftlern, Intellektuellen, Leserbriefschreibern und
Politikern geführt wird. Ob damit eine Ausweitung des Verhältnisses
zur Geschichte über die Zeit des Nationalsozialismus hinaus
verbunden sein wird, bleibt abzuwarten. Jedenfalls ist der Beitritt
anderer Staaten üblicherweise vor allem unter Gesichtspunkten der
Finanz-, Wirtschafts- und Ordnungspolitik sowie der Einhaltung der
Menschenrechte ohne eine vergleichbare intensive Aufmerksamkeit der
Öffentlichkeit diskutiert und entschieden worden. Insofern wird das
Bild der EU als Erinnerungsgemeinschaft bzw. –raum neben dem der
praktisch politischen Funktionsgemeinschaft privilegiert.
Dass gerade der Beitritt der Türkei zum Katalysator einer für die
in Deutschland diskutierte europäische Gegenwartsgestaltung
politisch wirksamen kulturellen Perspektive werden kann, scheint
nicht zuletzt darin begründet zu sein, dass in Deutschland zwei
differente Positionen aufgrund unterschiedlicher Prioritätensetzung
in bezug auf den Genozid an den Armeniern und den Beitritt der
Türkei zur EU vertreten werden: Eine
regierungsamtliche Einschätzung, »für
die es offiziell keinen Völkermord gab und keine ›Armenier-Lüge‹«
(Schmidt-Häuer, Die Zeit 23.03.2005) gibt und die die
›Armenien-Frage‹ als bilaterales Problem zwischen der Türkei und
Armenien betrachtet (vgl. Schaefgen 2002). Als Begründung dieser
Position, die eine Vollmitgliedschaft der Türkei unterstützt, führt
Schmidt-Häuer die Rücksichtnahme auf das Potential türkischer
Wähler und die Sicherung des »inneren Friedens mit den türkischen
Bürgern« an (vgl. auch Leserbrief von S. Punct, FR 15.03.05). Eine
andere Deutung artikuliert sich im
intellektuellen Diskurs, der die
historischen Ereignisse als Genozid bewertet und von der Türkei
eine entsprechende Erinnerungspolitik als Bedingung für einen
EU-Beitritt fordert. Abweichend von der Regierungsposition
(SPD/Grüne) vertritt die Opposition (CDU/CSU) unter dem Stichwort
der »privilegierten Partnerschaft« eine modifizierte Form der
Zugehörigkeit, für welche sie mit einem Brief an europäische
Regierungen wirbt (SZ 27./28.08.2005).
Ausgehend von exemplarischen Ausführungen zu einigen der
zahlreichen Jahres- und Gedenktage im Jahre 2005 als Beispiele
übernationaler Erinnerung soll in diesem Beitrag der Frage
nachgegangen werden, wie die Bedeutung von Erinnerungspolitik und
ihrer Praxis der Erinnerungs- und Gedenkrituale für den
europäischen Einigungs- als Erweiterungsprozess im öffentlichen
Diskurs deutschsprachiger Medien beurteilt wird und welche Rolle in
diesem Zusammenhang die Themen EU-Beitritt der Türkei und Genozid
an den Armeniern spielen. Hinzu kommt ein methodisches
Erkenntnisinteresse. Obwohl sich die Konzepte von Regierung
(Vollmitgliedschaft) und Opposition (Privilegierte Partnerschaft)
hinsichtlich der Einbindung der Türkei in die EU unterscheiden,
konvergieren beide darin, die Zugehörigkeit der Türkei zum Projekt
Europa als dauerhaften Status zu organisieren, was vor allem heißt,
diesem Status Sichtbarkeit zu verleihen. Beide Varianten setzen
einen Statuswandel (Rechte, Pflichten, sprechen ›im Namen von‹ )
der Türkei vom Nichtmitglied zum Mitglied / Partner der EU voraus.
Daher wird der öffentliche Diskurs vor dem Zielhintergrund eines
politischen Ernennungs- oder Aufnahmerituals untersucht, das einer
wie auch immer qualifizierten Zugehörigkeit Sichtbarkeit verleiht.
Weil aber etwas erst sichtbar sein kann, nachdem es sichtbar
gemacht worden ist, soll die Produktion der Sichtbarkeit von
Zugehörigkeit durch einen Prozess der Sichtbarmachung beschrieben
und analysiert werden, dem die Struktur des Übergangsrituals
unterlegt wird. Zugleich ist damit die Frage gestellt, was es
bedeutet, an einem solchen Ritual nicht teilzunehmen, sei es
aufgrund einer Absage, sei es aufgrund eines Ausschlusses. Insofern
Rituale helfen, soziale Prozesse in gesellschaftlichen Formationen
zu identifizieren und zu verstehen, bezeichnet der Begriff Ritual
in diesem Zusammenhang sowohl ein Objekt als auch eine Methode der
Forschung.
Perspektiven eines europäischen
Erinnerungsraums
Es überrascht nicht, dass gerade den kriegsbezogenen
Erinnerungs- und Gedenkritualen die Wirkungs- oder
Handlungsdisposition (Agency) zugeschrieben wird, einen Diskurs
über Möglichkeiten und Notwendigkeit europäischen Erinnerns zu
initiieren, der von zwei Positionen gerahmt wird:
Auf der einen Seite steht die These,
dass diesem Gedenken aufgrund unterschiedlicher historischer
Erfahrungen und Perspektiven der Erinnerungsträger, die durch die
nationale und ethnische Zugehörigkeit bestimmt sind, Grenzen
gezogen seien, die respektiert werden müssten; gemeint ist die
grundsätzliche Unterscheidung zwischen Täter- und Opfererinnerung,
zwischen den Perspektiven der Aggressoren und der Angegriffenen,
hinzukommt die Position derer, die wie die deutschen Flüchtlinge
und Vertriebenen erst für die Zeit des Kriegsendes von der
Erfahrung als Opfer sprechen und daher auch den Opferstatus
beanspruchen (vgl. Brumliks –2005– Plädoyer gegen einen solchen
Status für Deutsche). In diesem erinnerungspolitischen Zusammenhang
wird auch das von der CDU für Berlin geplante und vom Bund der
Heimatvertriebenen unterstützte Projekt eines Zentrums gegen
Vertreibungen diskutiert (vgl. Leggewie/Meyer NZZ 20./21.08.2005).
Während die Initiatoren darin eine Chance sehen, die deutsche
Beteiligung an Vertreibungen des Zweiten Weltkriegs in den Rollen
von Tätern und Opfern zu dokumentieren, gilt eine solche
Einrichtung vor allem Polen und Tschechien als Versuch, eine
deutsche Deutungshoheit über den Komplex der Vertreibungen zu
etablieren, d. h. die Täter zu Opfern zu machen. Insgesamt zeigt
diese Auseinandersetzung wie auch die Planungsgeschichte des
zentralen Holocaust-Mahnmals in Berlin, dass nationale Erinnerung
eine transnationale und multiperspektivische Dimension hat, die
gerade im Projekt eines europäischen Erinnerungsraums
berücksichtigt werden kann. Gegen die These national
differenzierter Erinnerung wird
auf der anderen Seite die Forderung
erhoben, dass gerade angesichts der Produktivität konfligierender
Erinnerungsperspektiven ein möglichst umfassender europäischer
Erinnerungsraum geschaffen werden müsse. Im Vorwort des Bandes
Gedenken im Zwiespalt.
Konfliktlinien europäischen
Erinnerns (Göttingen 2001) wird die These der nationalen
Erinnerungsdifferenzierung vertreten:
»Dem gemeinsamen europäischen Gedenken sind Grenzen gesetzt.
Nationen [...] haben eine eigene Erinnerungskultur und einen
eigenen Erfahrungsschatz. Dies gilt selbst da, wo sie dieselbe
faktische Geschichte haben.
Wir haben uns im zusammenwachsenden Europa daran gewöhnt, vom
Wunsch nach gemeinsamen Lebenswelten auf die Existenz gemeinsamer
Erinnerungswelten zu schließen. Wenn man sich heute gut versteht,
dann wünscht man sich, es wäre auch in der Vergangenheit immer so
gewesen. Damit aber werden die Unterschiede, die bestanden haben
und noch bestehen, unzulässig nivelliert.
Dass die herbeigesehnte Zusammenführung von Erinnerungswelten nicht
so einfach möglich ist, zeigt sich bei Gedenktagen, die
grenzüberschreitend begangen werden. Trotz aller
Europäisierungspolitik haben die Menschen Schwierigkeiten, sich im
Gedenken an große, bedeutsame Ereignisse der Geschichte zu
vereinen. Denn dieses ist immer mit Gefühlen und Emotionen
verbunden; es gibt keinen Zugang zur Geschichte unter Ausschaltung
der eigenen Lebenswelt. [...] Erinnern und Gedenken in europäischer
Perspektive ist nur möglich mit Respekt vor den geschichtlichen
Konfliktlinien.«
Fundiert ist diese Position auf der These von der Unmöglicheit,
Erfahrungen in ihrer emotionalen Komplexität, der zugehörigen
Traditionsbildung und Wissensproduktion jenen zu vermitteln, die
diese Erfahrungs- und Erinnerungsperspektive nicht teilen. Werde im
europäischen oder gar im globalisierten Erinnerungsdiskurs
allgemein und unspezifisch von Täter, Opfer, Holocaust / Genozid
gesprochen, ohne die je konkreten Erfahrungsfundamente und ihre
Kontexte zu berücksichtigen, führe dies zur Relativierung und
Nivellierung subjektiver, singulärer Erinnerungen. Zurück bliebe
letztlich mit der »Universalisierung des Holocaust« eine
»Leerformel« vom »opfer- und täterlosen Holocaust, die jedoch gut
geeignet ist zur – intendierten? – Überwindung der Erinnerung an
den Holocaust selbst«, was als Preis für »die Frage nach dem
Gemeinsamen von Geschichte, Erfahrung und Identität« und für »die
Gemeinsamkeit Europas und das Gemeinsame globalisierender
Gesellschaften« (Dabag, FAZ 20.06.2005) gesehen werden könne.
Dagegen diagnostiziert der spanische Schriftsteller Jorge Semprún,
ehemaliger Häftling im KZ Buchenwald, »eine Phase des offiziellen
Gedenkens« und plädiert dafür, »dass diese neue umfassende Sicht
sich auf ganz Europa erstrecken muss. Solange Europa nicht auch den
Gulag in seine Erinnerung einbezieht, wird etwas fehlen« (SZ
09./10.04.2005). Beim Gedenkritual anlässlich des 60. Jahrestages
der Befreiung Buchenwalds entwirft er die Konzeption eines
gesamteuropäischen Erinnerungsraums (Die Zeit 14.04.2005):
»Eine der wirksamsten Möglichkeiten, der Zukunft eines vereinten
Europas, besser gesagt, des wiedervereinten Europas einen Weg zu
bahnen, besteht darin, unsere Vergangenheit miteinander zu teilen,
unser Gedächtnis, unsere bislang getrennten Erinnerungen zu einen.
Der kürzlich erfolgte Beitritt von zehn neuen Ländern aus Mittel-
und Osteuropa – dem anderen Europa, das im sowjetischen
Totalitarismus gefangen war – kann kulturell und existentiell erst
dann wirksam erfolgen, wenn wir unsere Erinnerungen miteinander
geteilt und vereinigt haben werden. Hoffen wir, dass bei der
nächsten Gedenkfeier in zehn Jahren, 2015, die Erfahrung des Gulag
in unser kollektives europäisches Gedächtnis eingegliedert worden
ist.«
Während die erste Position die zu überwindenden Probleme
herausstellt, hebt Semprún das zu erreichende Ziel hervor, wobei er
aus der gemeinsamen Erfahrung der Zivilisationsbrüche das Projekt
einer gemeinsamen Gegenwartsgestaltung ableitet. Priorität dafür
erhält die Arbeit an der dauernden Aktualisierung des
Erinnerungswissens. Eine vermittelnde Position vertritt der
israelische Schriftsteller Amos Oz in Interview und Dankrede zum
Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main. Oz weist darauf hin, dass
für junge Deutsche und Israelis der Enkelgeneration eine
grundsätzlich unterschiedliche Erinnerungspraxis hinsichtlich des
Holocaust gelte (»Ein junger Deutscher von zwanzig Jahren kann gut
leben, ohne auch nur gelegentlich daran zu denken. Ein junger
Israeli kann es kaum vermeiden, sich ein-, zweimal die Woche daran
zu erinnern.« Stuttgarter Zeitung 29.08.2005), was aber einem
gemeinsamen Erinnerungsraum nicht entgegenstehe. Dabei würden keine
Erinnerungslinien als Identitätskomponenten nivelliert, sondern
gerade als Generatoren neuen Erinnerungsmaterials produktiv gemacht
für ein gemeinsames Projekt der Gegenwarts- und Zukunftsgestaltung.
»Weimar liegt heute bei Buchenwald« (Oz, FAZ 29.08.2005).
Die verschiedenen Positionen gehen von der Arbeit an der Erinnerung
aus, die gerade regelmäßige Gedenk- und Erinnerungsrituale mit
Protagonisten möglichst aller Beteiligtengruppen erfordere. Aus der
Perspektive der Opfer scheinen die einander gegenüberstehenden
Positionen mit den Begriffen ›Erinnerung‹ (an die eigenen
Erfahrungen und deren Geschichte) und ›Gedenken‹ (an ein
universalisiertes Phänomen) bezeichnet werden zu können.
»Erinnerung ist immer eine Erzählung, die auf Erfahrungen gründet:
unmittelbarer ebenso wie übermittelter Erfahrung. Erinnerungen sind
Orientierungen, und sie haben immer mit Identifizierungen zu tun.
Erinnerung ist an Träger gebunden. Das Gedenken hingegen folgt
Setzungen von Geschichte und Identität, das Gedenken soll nicht
zuvörderst bewahren, sondern integrieren und unter gemeinsamen
universalen Werten harmonisieren. Erinnerung kann nicht universal
sein – und ein Gedächtnis kann nur dann universal sein, wenn es
erinnerungslos ist, wenn es sich ablöst von jenen Erfahrungen, die
in den Erzählungen bewahrt sind.« (Dabag FAZ 20.06.2005)
Damit Erinnerung aber intersubjektive und intergenerationelle, also
kollektive historische Orientierung vermitteln kann, braucht sie
das Forum, das ihr nicht zuletzt Gedenkrituale bieten. Wenn Dabag
(FAZ 20.06.2005) feststellt: »Wer das Gedenken wie im Fall des
Holocaust globalisiert und internationalisiert, der weicht vor dem
Erinnern an das Konkrete von Schrecken, Terror und Völkermord in
Rituale und Mahnmale aus. Der türkische Völkermord an den Armeniern
im Jahr 1915 sollte die Europäer dazu bringen, sich nicht mit allen
Opfern gleichzusetzen, sondern bestimmte Opfer als Opfer erst mal
wahrzunehmen.«, so scheint er nicht nur von einer bestimmten Form
des Gedenkrituals als negativer Normalform auszugehen, sondern die
Bedeutung rituellen Handelns insgesamt aufgrund eines verbreiteten
antirituellen Stereotyps als ›leeres, bloßes‹ Handeln zu
unterschätzen. Dagegen ist aber vielmehr davon auszugehen, dass
jede Wiederholung eines Gedenkrituals die Wieder-Holung seiner
ersten Aufführung, d. h. seines Anlasses und Urbildes vollzieht und
damit die Chance bietet, die Referenz des aktuell aufgeführten
Gedenkrituals, also des Abbilds, in ihrer Funktion als Mittel der
Gegenwartsgestaltung zu kommunizieren. Dabei sind durchaus
Gedenkrituale zu inszenieren, die tendenziell der authentischen
Vielstimmigkeit der fundierenden Erinnerungen Raum geben. In seiner
schon erwähnten Dankrede zitiert Oz die Erinnerungsperspektive von
Verwandten, die die Erfahrung von KZ und Befreiung machen
mussten.
So fanden aus Anlass des 60. Jahrestages der Beendigung des Zweiten
Weltkriegs vor allem in der Zeit vom 7. bis 9. Mai 2005 in
zahlreichen Ländern, die von Kriegshandlungen betroffen waren,
Erinnerungs- bzw. Gedenkrituale statt. Bei der zentralen
Veranstaltung in Moskau am 9. Mai, bei der über fünfzig
Staatsoberhäupter anwesend waren, wurde die Choreografie der
Siegesfeier vom 24. Juni 1945, das Urbild also, wiederholt. Die
Vergangenheit von Krieg, Kriegsende und Befreiung vom
Nationalsozialismus wurde als Vorgeschichte der gemeinsamen
Gegenwart vergegenwärtigt, damit eine solche Vergangenheit niemals
wieder eine künftige Gegenwart formen könne. Damit auch die
Zukunftsgestaltung unbelastet sei von Erinnerungskonflikten, nutzt
der russische Präsident Putin als Verantwortlicher der
Gedenkveranstaltung die Gelegenheit, um Russland als Befreier vom
Nationalsozialismus zu inszenieren, was die Identifikation mit der
Sowjetunion von 1945 und ihrer Rolle im Kalten Krieg einschließt.
Zugunsten der sichtbar gemachten Vergangenheitsdeutung und
–konstruktion, denen damit Anteil an der Gegenwartsgestaltung
zugeschrieben wird, werden die Kosten der Befreierrolle (z. B.
Gulag) ausgeklammert. Wer am Gedenkritual teilnimmt, akzeptiert
diese Deutung, er legt ein Bekenntnis ab.
Als rituelle Bausteine sind zu nennen: Begrüßungsrituale,
Ansprachen, eine Parade von Veteranen in Uniform mit Orden und
Ausrüstung, traditionell repräsentative musikalische Einlagen
(Marschmusik: ›Heiliger Krieg‹, Lied: ›Tag des Sieges‹), Schweige-
und Gedenkminuten, symbolische Gesten wie Kranz- und
Blumenniederlegungen (Nelken als Symbole des Todes, rote Nelken als
Symbole des Sozialismus) auf Friedhöfen und an Ehrenmalen (Gabe als
Ehrung der Toten, Dimension der Trauer), Repräsentanten aus Ländern
der ehemaligen Kriegsgegner als rituelle Akteure. Indem alle
Akteure zwei rote Nelken während der Veranstaltung in ihren Händen
halten, wird die Gemeinschaft der Anwesenden und ihre Erinnerung an
die Gefallenen markiert, was diesen symbolische Präsenz verschaffen
soll.
Insgesamt geht es darum, durch das Gedenkritual die gemeinsame
Wertebasis politischen Handelns sichtbar zu machen, die in weiteren
programmatischen Statements, Interviews und anderen Verlautbarungen
intensiviert und als Kernstück dieser öffentlichen Gedenkrituale
bestätigt wird. So heißt es in einem Beitrag von Bundeskanzler
Gerhard Schröder zum 60. Jahrestag des Kriegsendes
(08.05.1945):
»Europa wurde aus der Not geboren – als Antwort der europäischen
Völker auf Krieg, Vertreibung, Zerstörung und nationalen Irrsinn.
[…] Ohne die Erinnerung an die Katastrophe des Jahres 1945 lassen
sich darum weder die historische Bedeutung der europäischen
Einigung noch der gemeinsamen europäischen Verfassung ermessen. […]
Im vergangenen Jahr sind zehn Mittel- und Osteuropäische Staaten
Mitglied der europäischen Gemeinschaft geworden. Damit hat sich ein
Traum früherer Generationen erfüllt. Europa hat seine
aufgezwungene, widernatürliche Trennung als Folge des
nationalsozialistischen Eroberungskrieges endgültig überwunden. […]
Wer den europäischen Werten von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit,
wer dem Schutz von Menschen- und Minderheitenrechten entspricht,
wer sich politisch und ökonomisch beitrittsfähig gemacht hat, dem
darf der Zutritt zu der Europäischen Union nicht prinzipiell
verwehrt sein. Als exklusiver closed shop verlöre die Europäische
Union ihre Seins- und Wesensbestimmung: Frieden, Stabilität,
Sicherheit und Wohlstand durch Integration« (Schröder, SZ
07./08.05.2005).
Erinnerungs- und Gedenkrituale haben die Funktion, eine gegebene
Situation, das Sosein, als Station innerhalb der Kontinuität einer
Ordnung erfahrbar zu machen und zu erklären. Als historisch
singuläres Abbild eines Urbilds, als orts- und zeitgebundene Form
der je aktuellen rituellen Gegenwartsgestaltung hat die einzelne
Ritualaufführung die Aura des Originals.
In der Regel entsteht auf der Bühne um den Verantwortlichen oder
den Vertreter der bedeutendsten Macht ein Relevanz- als
Zugehörigkeitszentrum, was andere Positionen räumlich und sozial
zur Peripherie macht. Die in deutschen Medien veröffentlichten
Fotos der Moskauer Veranstaltung zeigen vor allem den russischen
und den amerikanischen Präsidenten Putin und Bush nebeneinander in
der Mitte der ersten Reihe, außerdem die Regierungschefs aus China,
Kasachstan und Deutschland rechts des Zentrums, alle mit ernstem
feierlichem Gesichtsausdruck und den roten Nelken in den Händen.
Die Bedeutung der ersten Reihe liegt in der Bestätigung der
Geltungspriorität relational zu den hinteren Reihen, was für die
sekundäre Funktion des Gedenkrituals als global wahrgenommenes
›Herrschertreffen‹ nicht unwichtig ist. Geltung und mediale
Aufmerksamkeit erhält der einzelne Politiker durch seine Teilnahme
am Ritual bzw. die Zugehörigkeit zur Gruppe der Akteure. Aber Nähe
oder Ferne zum Zentrum spielen für die visuelle Dokumentation der
Sichtbarkeit wie für die Bewertung der Zugehörigkeit eine Rolle,
daneben auch die Reihenfolge der Redner, die Dauer ihrer Auftritte,
die Programmgestaltung insgesamt, aber auch Informationen über
bilaterale Gespräche.
Weil Sichtbarmachung an einen Handlungsprozess gebunden ist,
umfasst sie nicht nur optische Signale, sondern wird verstanden im
Sinne von handlungsbedingter Informationsproduktion und
–vermittlung. Auch die Herkunft der Bauteile aus den verschiedenen
Wahrnehmungsbereichen Musik, Körper (Bewegungsabläufe, -formen),
(Symbol-) Gegenstände (Blumen, Fahnen, historische Uniformen usw.)
belegen die Multiperspektivität von Sichtbarmachung. Als weiteres
Merkmal gehört zur rituellen Sichtbarmachung, dass die einzelnen
Sequenzen nicht einfach wie Nummern einer Revue gleichsam
nebeneinander gestellt werden können und in ihrer Abfolge
austauschbar sind, sondern dass sie einen bestimmten Ablauf von
einem Anfang zu einem zugehörigen Ende markieren, d. h. rituelle
Sichtbarkeit ist, weil prozessual und von körperlich Anwesenden an
einem historischen Ort zu einem Zeitpunkt mit historischem
Hintergrund hergestellt, eine narrative Sichtbarkeit, die Sinn
repräsentiert und auf diese Weise eine Heils- oder
Orientierungsfunktion erfüllen kann. Hier mag eine strukturelle
Nähe zum Prinzip Sicherheit durch Sichtbarkeit aufscheinen, das
Michel Foucault als Basis der architektonischen und
institutionellen Gestaltung von Gefängnissen, Psychiatrien usw.
aufgedeckt hat und das sicher auch als Begründung für umfassende
Videoüberwachung öffentlicher Räume dient (vgl. Hempel/Metelmann
2005). Was nicht sichtbar, dennoch aber wirksam ist, wirkt
bedrohlich.
Die anwesenden Repräsentanten der verschiedenen Beteiligtengruppen
und das anwesende Publikum bilden die Ritualgemeinschaft, die auch
eine Zeugen- bzw. Bekenntnisgemeinschaft darstellt. Bezeugt wird
die Sinn bzw. Heil stiftende symbolische Handlung, indem sie als
solche von den direkt Anwesenden in der Form einer
Erfahrungstatsache erzählt werden kann. In der Möglichkeit, die
Ritualakteure, die zumindest einem Teil der Zuschauer frontal
gegenüberstehen, in ihrer körperlichen Präsentation unmittelbar zu
erfahren, womöglich per Handschlag zu berühren oder ein Autogramm
zu erhalten, wenn dies praktisch (Sichtverhältnisse, Nähe / Ferne
zur Bühne usw.) machbar ist, liegt der Wert des Authentischen einer
direkten Teilnahme. Indem man sagen kann, dass man dabei gewesen
ist, hat man grundsätzlich die Chance, ins Geschichtsbuch zu
kommen. Dagegen werden die zeitgleich, aber ›bloß‹ medial
Teilnehmenden die Akteure zwar durchgehend viel genauer im Blick
haben, aber vermittelt und perspektivisch begrenzt durch die
Kameraeinstellung. Allerdings wird das Gedenkritual
geschichtsbildend erst durch seine globale mediale Präsenz.
»Wirklich ist das, was in der Bildlichkeit der Medien zur
Sichtbarkeit gelangt« (Großklaus 2004, 42). Den Erinnerungsstoff
generieren die Medien.
Die Agency des Rituals im Sinne einer Wirkungs- und
Handlungsdisposition stellt den Teilnehmern einen Scheck auf die
Zukunft aus, den diese einlösen müssen, um das Ritual zum Erfolg
werden zu lassen. Wer an Erinnerungs- bzw. Gedenkritualen
teilnimmt, ist an einem Produktionsprozess beteiligt, dessen
Ergebnis nur auf diesem Wege zu gewinnen ist: Gemeint ist die
Modalstruktur performativen Handelns (etwas bewirken, indem /
dadurch dass etwas gesagt oder – angemessener – sichtbar gemacht
wird), wonach die Ausführung einer sprachlichen Handlung das
herstellt und mit Gültigkeit versieht, was gesagt wird. Indem z. B.
der Standesbeamte die Eheformel spricht, wird aus den Brautleuten
ein Ehepaar, ein zuvor zwischen ihnen ausgehandelter wertfundierter
Statuswandel wird sichtbar gemacht und erhält durch die
Überreichung des Familienstammbuchs, die Glückwünsche des
Standesbeamten usw. rituell legitimierte Sichtbarkeit, was
juristisch definierte Anschlusshandlungen zur Folge hat; das
Heiratsritual als Urbild der Ehegemeinschaft gestaltet die
Gegenwart und gibt dem künftigen Alltag einen Rahmen,
vergegenwärtigt wird es an den Hochzeitstagen, die als Abbilder des
Urbilds gelten.
Überträgt man dies auf das Erinnerungsritual zum Kriegsende, so
geht es hier um die Sichtbarmachung einer zuvor ausgehandelten
gemeinsamen Wertebasis (Solidarität gegen Rassismus, Völkermord,
Totalitarismus, für Freiheit, Souveränität, Menschenrechte,
Frieden, Toleranz) durch die Inszenierung der multinationalen und
-perspektivischen Dimension des Erinnerungsgegenstands (Befreiung
vom Nationalsozialismus), aber unter Anerkennung der dominierenden
russischen Rolle für die aktuelle Gegenwartsgestaltung; im Zuge der
rituellen Sichtbarmachung entsteht die wertfundierte
Ritualgemeinschaft als Gestaltungsfaktor von Gegenwart und Zukunft.
Damit – so ist zu verallgemeinern – umfasst der Prozess der
Sichtbarmachung das Präsentationsgeschehen der rituellen Handlung,
das aus einer wertexpliziten Selbstpräsentation (Russland als
Befreier vom Nationalsozialismus) und der Präsentation eines
Handlungspartners (Staatsgäste und Publikum) besteht; den
präsentierten Akteuren wird durch ihre Teilnahme am Ritual das
betreffende Wert- und Deutungsmuster gleichsam inkorporiert,
wodurch sie zu dessen Repräsentanten werden. Insofern produziert
der Ritualprozess einen komplexitätsreduzierten Konsensstatus. An
einer Veranstaltung teilnehmen heißt, sich etwas von dem zu nehmen,
was diese Veranstaltung zu bieten hat, in der Regel
Imageaufwertung, mediale Aufmerksamkeit, Aufbau von
Beziehungsnetzen, indem oder dadurch dass man als Teil der
Veranstaltung sichtbar gemacht wird und sich sichtbar macht. Man
braucht also eine Teilnahmezulassung und hat sich zum festgesetzten
Zeitpunkt an den Handlungsort zu begeben. Aber auch der
Veranstalter profitiert, weil er sich als Initiator einer
Ritualgemeinschaft präsentieren kann, wobei stets auch die
propagandistische Dimension mitspielt. Teilnahme bezeichnet also
eine Bewegung von hier nach dort und zurück, die eine unaufhebbare
Beziehung zwischen den Handlungspartnern stiftet, weil sie beide
verändert.
Sichtbarmachung als Modus des rituellen Produktionsprozesses
generiert die Sichtbarkeit einer Handlungskonstellation (›Dort‹),
die durch Anschlusshandlungen in den zweckrationalen Alltag (›Hier
‹) transformiert werden soll. Das sichtbar gemachte Wertmuster soll
in andere Kontexte diffundieren. Unter Anlehnung an Derrida kann
der Satz ›Dort soll Hier werden‹ als Umschreibung für die
Alltagswirkung rituellen Handelns gelesen werden. Daher ist von
einem Kooperations- bzw. Komplementärverhältnis zwischen Ritual-
und sog. Alltagshandlungen einer Institution auszugehen, die
Ritualhandlung unterbricht nicht den zweckrationalen Alltag,
sondern ist als spezieller Handlungstyp in ihn eingebettet; seine
Funktionsfähigkeit soll dadurch erhöht, erhalten oder modifiziert
werden, dass seine implizite Wertausrichtung explizit gemacht wird.
Nur in diesem Sinne scheint die These vertretbar zu sein, dass
rituelles Handeln die Aufgabe habe, Ordnung im Chaos der
Alltagswirklichkeit zu schaffen, – angemessener wohl – zu
gewährleisten. Es steht als Alternative zu anderen Handlungstypen
zur Verfügung und kann angesichts bestimmter Symptome sowie als
Ergebnis einer kultur- und zeitökonomischen, auch
ordnungspolitischen Kosten-Nutzen-Rechnung von den Verantwortlichen
eingesetzt werden, um die Kontinuitätserfahrung einer Ordnung zu
inszenieren oder Zugehörigkeit sichtbar zu machen, um auf dieser
Basis interessenfundierte Ziele zu erreichen. Auch rituelles
Handeln entspricht dem Prinzip rationalen Handelns, ich habe dafür
den Begriff des
symbolrationalen
Handelns geprägt.
Als Belege für die enge erinnerungspolitische Bindung von Alltags-
und Ritualhandlung mögen in bezug auf die Moskauer Veranstaltung
zwei Details dienen.
Erstens blieben die Staatschefs der
beiden baltischen Republiken Estland und Litauen der Veranstaltung
wegen der Erinnerung an die sowjetische Besetzung ihrer Länder von
1945 bis zur Wende nach 1989 fern. In ihrer speziellen
Erinnerungsperspektive dominiert nicht die Rolle Russlands als
Befreier vom Nationalsozialismus, sondern die einer
Besatzungsmacht. Für diese spezielle
Erinnerung war im offiziellen
Gedenkritual, das als
Konsensproklamation der russischen Seite mit allen Gästen angelegt
war, weder Stimme noch Raum vorgesehen. Es stellt sich die Frage,
ob bei der Aushandlung der sichtbar zu machenden gemeinsamen
Wertebasis eine Möglichkeit für die Berücksichtigung der
Minderheitenperspektive bestanden hatte. Hätten die beiden
Politiker sich durch ihre Teilnahme als zugehörig präsentieren
lassen, wäre das Image des Ritualveranstalters Russland und seines
Präsidenten größer gewesen, aber eine spezielle
Erinnerungsperspektive wäre unsichtbar geblieben. Insofern kann
auch eine Nichtteilnahme eine Wertebasis sichtbar machen.
Zweitens wird dieser
Teilnahmeverzicht durch die Tatsache legitimiert, dass der
amerikanische Präsident unmittelbar vor seiner Ankunft in Moskau
ein Treffen mit seinen baltischen Kollegen inszenierte und
unmittelbar nach Abschluss des Gedenkrituals nach Georgien reiste,
dessen Präsident aus den gleichen Gründen wie die baltischen
Politiker in Moskau nicht dabei war. So legitimiert Bush die
besonderen Erinnerungsperspektiven gegen die eine Gedenkperspektive
und verschafft ihnen weltweite Aufmerksamkeit. Auch die bewertete
Nichtteilnahme geht in die Geschichte der betreffenden
Ritualaufführung ein, weil die Absage einer Einladung ebenso wie
die Annahme eine situationskonstitutive Beziehung zwischen den
Handlungspartnern herstellt.
Am 10. Mai 2005 wurde das zentrale Holocaust-Mahnmal in Berlin,
dessen offizielle Bezeichnung ›Denkmal für die ermordeten Juden
Europas‹ lautet, nach 17jähriger Planungs- und Bauzeit (vgl. Kirsch
2003) der Weltöffentlichkeit übergeben. Unter Beteiligung von
Repräsentanten zahlreicher Staaten, nationaler und internationaler
Institutionen und Organisationen fand eine festlich-feierliche
Einweihungsfeier statt, die als Erinnerungsritual inszeniert war.
Neben dem Stelenfeld gehört ein unterirdischer Informationsbereich
zum Denkmal, der zahlreiche Opfernamen nennt und individuelle
Erinnerungsgeschichten und –perspektiven dokumentiert sowie durch
bestimmte Links zu anderen Dokumentationszentren die Möglichkeit
bietet, tendenziell alle ›erfassten‹ Erinnerungen kennenzulernen.
Auch bei dieser Gelegenheit legitimiert die versammelte
Ritualgemeinschaft einen Gegenwartsentwurf, indem sie eine zuvor
ausgehandelte Konstruktion von Vergangenheit sichtbar macht und mit
dem Denkmal dauerhaft sichert; das ausgehandelte Deutungsmuster
entspricht den Interessen der Beteiligten und macht das
Erfahrungspotential der Vergangenheit produktiv für die
Gegenwartsgestaltung. Die Vergangenheit wird rituell kanalisiert.
Bei jeder Wiederholung des Erinnerungsrituals wird die Deutung
immer wieder neu legitimiert. So erscheint Erinnerung als
unverzichtbar, weil sie vor dem Vergessen als Einfallstor der nicht
rituell gerahmten und damit unkontrollierten Vergangenheit in die
Gegenwart warnen und womöglich bewahren kann. Auf der jeweiligen
Gegenwart liegt die Hypothek, eine unkontrollierte Wirksamkeit der
Vergangenheit zu verhindern. Insofern befreien Erinnerungs- und
Gedenk
rituale nicht von
der Geschichte, sondern machen sie konstitutiv für die
Gegenwart.
Wenn zum Gedenkritual der Alliierten anlässlich des 60. Jahrestages
des D-Day am 6. Juni 2004 erstmals ein deutscher Bundeskanzler als
ritueller Akteur eingeladen wird, dann macht diese Geschichts- und
Strukturdynamik des Rituals die Überwindung oder Suspendierung
einer ›geschichtlichen Konfliktlinie‹ sichtbar, die
unterschiedliche historische Erfahrungen und darauf basierende
Erinnerungen des Weltkriegs markieren sollte und noch 1994 eine
Teilnahme des deutschen Bundeskanzlers verhinderte. Dass dieser
2004 teilnehmen kann, weist auf ein neues Deutungsmuster dieser
historischen ›Konfliktlinie‹ hin: Sie wird als symbolisches Zeichen
des europäischen Einheitsprozesses gedeutet, was ihr einen Platz in
der Vorgeschichte der gemeinsam zu gestaltenden aktuellen Gegenwart
verschafft. Während die Alliierten ihre Deutung des D-Day als
Beginn der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus rituell
bestätigen, zeigt die Teilnahme des Bundeskanzlers, dass die
Bundesrepublik Deutschland diese Deutung akzeptiert hat und dass
die Alliierten zuvor diese Akzeptanz akzeptiert haben. Erst nachdem
die ›historische Konfliktlinie‹ zwischen Alliierten und Deutschen
in ritueller Sichtbarmachung als Gestaltungselement der Gegenwart
legitimiert worden ist, kann sie Faktor gemeinsamer Erinnerung und
Gegenwartsgestaltung werden. Insgesamt wird solches Erinnern zum
Konstitutionsfaktor des ›Projekts Europa‹.
Schon diese wenigen Beispiele heben die elementare Tatsache hervor,
dass Erinnerung, Gedenken und Vergangenheitskonstruktion sich unter
den kontextuellen Bedingungen einer Gegenwart vollziehen, dass sie
als Indikator und Faktor, als abhängige und unabhängige Variable
nur im Gestaltungsprozess dieser Gegenwart zu verorten sind.
Gedenkrituale sind eingebettet in einen Alltagskontext, dessen
wertimplizites Handeln durch das wertexplizite rituelle Handeln
legitimiert wird. Weiterhin zeigen die Beispiele die grundsätzlich
dialogische Struktur nationaler Erinnerung, weil diese immer schon
die Deutung anderer nationaler Erinnerungsbestände einschließt, was
vor allem in bezug auf Konfliktkonstellationen deutlich wird.
Nationale Erinnerung ist multiperspektivisch und hat einen
multinationalen Kontext, dieser Stimmenpluralismus sollte gehört,
also sichtbar gemacht werden. Ist nationale Erinnerung tendenziell
monologisch angelegt, ist von einer Distanz zur europäischen
Erinnerungskultur auszugehen.
Es leuchtet unmittelbar ein, dass die multinationale Dimension der
Erinnerung, die Internationalisierung scheinbar nationaler oder
bilateraler Erinnerungsbestände immer dann besonders stark ist,
wenn es um die Verletzung von Menschenrechten geht; in diesem Fall
überschreitet die erinnerungspolitische Aufmerksamkeit
grundsätzlich den Rahmen der beteiligten Staaten, Ethnien oder
Gruppen und wird zur Anforderung der institutionalisierten
Weltgemeinschaft. Schon anlässlich des Prozesses (1921) gegen den
Attentäter von Talaat Pascha, einen der für den Genozid an den
Armeniern verantwortlichen Politiker, begründete Robert W. Kempner,
der spätere Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen gegen die
nationalsozialistischen Kriegsverbrecher, ein internationales
Mitspracherecht in Fällen von staatlicher Menschenrechtsverletzung.
So würde der Genozid an den Armeniern auch nicht ›vergessen‹
werden, wenn die Türkei kein Mitglied der EU würde.
EU-Erweiterung und europäischer
Erinnerungsraum
Betrachtet man die aktuelle, in den deutschsprachigen Medien
geführte Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei, so kann man
deutliche Vorbehalte gegen ein Übergangsritual vom Nichtmitglied
zum Mitglied Türkei in der EU feststellen; im intellektuellen
Diskurs wird vor allem die türkische Erinnerungspolitik in bezug
auf den Genozid an den Armeniern kritisiert, im politischen geht es
um wirtschaftliche Probleme und kulturelle Differenzen. Wehler
begründet seine Ablehnung eines Beitritts mit folgenden
Argumenten:
»Das Land besitzt keine liberalisierte Marktwirtschaft, missachtet
eklatant die Menschenrechte, verfolgt die kurdische Minderheit, vor
allem aber ist es als muslimischer Staat durch eine tiefe
Kulturgrenze von Europa getrennt. Der Konsens lautet: Nach
geografischer Lage, historischer Vergangenheit, Religion, Kultur,
Mentalität ist die Türkei kein Teil Europas. Weshalb sollte man 65
Millionen muslimischen Anatoliern die Freizügigkeit gewähren, sich
auf unabsehbare Zeit mit einem kostspieligen Versorgungsfall
belasten?« (Wehler, Die Zeit Nr. 38, 2002)
Ähnlich argumentiert der frühere Bundeskanzler Helmut
Schmidt:
»Die EU würde sich mit einer Aufnahme der Türkei und weiterer
Staaten ökonomisch und finanziell übernehmen, jedenfalls sind
künftige Enttäuschungen unvermeidlich. [...] Deshalb gibt es fast
überall in der Union Angst vor ungesteuerter Zuwanderung und vor
kultureller Überfremdung. [...] Monnet und Schuman, Adenauer und de
Gasperi, Churchill und de Gaulle waren Staatsmänner von
ungewöhnlichem Weitblick – keiner von ihnen hat die europäische
Integration bis über die kulturellen Grenzen Europas ausdehnen
wollen.« (Schmidt, Die Zeit 25.11.2004)
Was den Genozid an den Armeniern betrifft, so sind die historischen
Ereignisse in einer Reihe umfangreicher Untersuchungen und
Darstellungen (z. B. Hofmann 1990, 1997, Akçan 1996/2004, Gust
1993, Dabag 2002, Kieser/Schaller (Hg.) 2002, Hosfeld 2005,)
rekonstruiert und Gegenstand einer speziellen Genozidforschung, wie
sie vom ›Institut für Diaspora- und Genozidforschung‹
(Ruhr-Universität Bochum) betrieben und in der Zeitschrift für
Genozidforschung (seit 1999) diskutiert und dokumentiert wird. Zu
verweisen ist auch auf die Informationsarbeit der
Deutsch-Armenischen Gesellschaft (
http://www.deutsch-armenische-gesellschaft.de/).
Daher werden die historischen Ereignisse hier nur in aller Kürze
zusammengefasst.
Schon zwanzig Jahre vor den Ereignissen von 1915 hatte es 1895
unter Sultan Abdul Hamid II. Ausschreitungen gegen die christliche
armenische Bevölkerung in Teilen des Osmanischen Reiches gegeben,
um – so die politische Begründung des Sultans – die Bildung eines
türkischen Nationalstaats durch ethnische Reinigung voranzutreiben.
Nach mehreren antiarmenischen Aktionen des türkischen
Kriegsministers Enver Pascha Anfang 1915 wie der Entlassung der
armenischen Soldaten aus dem türkischen Heer in die Zwangsarbeit,
die Ermordung armenischer Repräsentanten in mehreren Regionen,
setzt am 24. April 1915 die systematische Vernichtungsaktion gegen
die Armenier mit der Festnahme, Deportation und schließlichen
Hinrichtung von »2345 Menschen, die der armenischen Elite
zugerechnet wurden« (www.tagesschau.de/aktuell/meldungen, Stand
21.04.2005) in Istanbul ein. Daraufhin wird die gesamte armenische
Bevölkerung vor allem von ›Sondereinheiten‹ deportiert, auf sog.
Todesmärsche in die syrische Wüste geschickt, dem Hungertod
preisgegeben, von Schiffen ins Schwarze Meer geworfen oder auf
andere Weise getötet. Die Zahl der Opfer wird von internationalen
Organisationen und nichttürkischen Historikern weitgehend
übereinstimmend mit 1,5 Millionen angegeben.
In zahlreichen westlichen Staaten (nicht in Deutschland und Israel)
werden die Ereignisse als Völkermord bewertet, was auch der
Einschätzung des europäischen Parlaments vom Juni 1987 entspricht,
wonach »die tragischen Ereignisse von 1915-1917 Völkermord sind im
Sinne der von den Vereinten Nationen am 09.12.1948 angenommenen
Konvention« (zit. nach Schmidt-Häuer, Die Zeit 23.03.2005). Die
türkische Seite begründet ihr Vorgehen gegen die Armenier mit dem –
nicht haltbaren (vgl. Bayraktar / Seibel 2004, 389) – Argument von
deren Unterstützung des russischen Kriegsgegners und Provokationen
der türkischen Verwaltung (vgl. AUD: Die Position der Türkei, FR
23.04.2004); sie spricht von 200 000 Opfern, die Deutung dieser
kriegsbedingten Aktion als ›planmäßiger Mord‹, Völkermord oder
Genozid wird zurückgewiesen, tabuisiert und steht unter
Strafandrohung
(www.tagesspiegel.de/tso/aktuell/artikel.asp?TextID=49144; vgl.
Hosfeld 2005, 310).
Notwendig erscheint das türkische Argument eines
Umsiedlungsprogramms, um die Gründungsgeschichte des modernen
türkischen Staates zu legitimieren, den Atatürk 1923 nach
erfolgreich abgeschlossenem Unabhängigkeitskrieg gegründet hat. Die
ethnische Trennung sei für den inneren Frieden, die
Nationalisierung und Homogenisierung des Staates erforderlich
gewesen. Wenn der türkische Botschafter in Berlin erklärt: »Es ist
unfair, bei einem Thema, das die Historiker entzweit, die Türkei zu
zwingen, ein unbewiesenes Verbrechen zu akzeptieren. Wenn die
Armenier erwarten, dass die Türkei wegen des EU-Beitritts nachgibt
— das werden wir nicht tun« (Schmidt-Häuer, Die Zeit 23.03.2005),
dann greift er einen Argumentationstopos türkischer Politik auf,
der schon seit der Zeit Abdul Hamids II. verwendet wird: den
Vorwurf, die Europäer würden das Armenier-Problem für eigene
Interessen instrumentalisieren (vgl. Bayraktar / Seibel 2004, 395).
Diese Argumentation soll mehrere Zwecke erfüllen: Die EU soll als
unglaubwürdig entlarvt werden, die Armenier könnten sich auch nur
so lange auf die EU verlassen, wie sie für diese von Nutzen seien,
den Türken seien nationale Geschichte, Erinnerung und Kultur so
wichtig, dass sie dafür sogar wirtschaftliche und politische
Nachteile in Kauf nähmen. Alte Ängste vor einer Einkreisung durch
fremde Mächte (Bayraktar / Seibel 2004, 395) werden geschürt.
Deutschland hat eine historische Beziehung zum Genozid an den
Armeniern, was auch umfangreiches Wissen über die Verantwortlichen
begründet. So operierte die deutsche Armee unter Feldmarschall
Colmar von der Goltz im Ersten Weltkrieg als Bündnispartner der
Armee des Osmanischen Reiches in Anatolien und war unmittelbar mit
den Maßnahmen gegen die Armenier konfrontiert, was aus diversen
Dokumenten nachweisbar ist. Der protestantische Pfarrer Johannes
Lepsius, der während des Ersten Weltkriegs als Gründungsmitglied
der Deutsch-Armenischen Gesellschaft (1914) das Osmanische Reich
bereiste, veröffentlichte 1919 eine den Genozid betreffende
Dokumentensammlung, deren Publikation vor der Revolution nicht
möglich war. Der für den Genozid maßgeblich verantwortliche
Innenminister Talaat Pascha, der sich nach dem Krieg mit deutscher
Unterstützung nach Berlin abgesetzt hatte, um einer Anklage in der
Türkei zu entgehen, wurde am 15. März 1921 von einem armenischen
Studenten in Berlin erschossen, der anschließende Prozess endete
mit dem Freispruch des Täters. Besondere Aufmerksamkeit haben den
Massakern an den Armeniern eine Reihe literarischer
Veröffentlichungen (vgl. Dücker 2004) verschafft, so mehrere Texte
von Armin T. Wegner, der als Sanitäter im Heeresteil von der Goltz
die Notlage der Armenier kennengelernt und auch fotografisch
dokumentiert hat, so die Romane
Die vierzig Tage des Musa Dagh (1933)
von Franz Werfel und
Das Märchen
vom letzten Gedanken (1989) von Edgar Hilsenrath. Hitler
erwähnt den Genozid als Beispiel für die Vergesslichkeit der Welt,
um so das Risiko als gering darzustellen, für den Holocaust zur
Rechenschaft gezogen zu werden. In Deutschland findet eine
umfassende juristische, pädagogische, theologische,
erinnerungspolitische, -geschichtliche, literarisch-kulturelle
Auseinandersetzung mit dem Holocaust statt, dessen Leugnung steht
unter Strafe, dagegen konnte sich bis heute keine deutsche
Regierung dazu durchringen, den türkischen Genozid an den Armeniern
eindeutig als solchen zu bezeichnen und zu verurteilen, wie
Frankreich es 2001 getan hat. Der Ratsvorsitzende der EKD, Bischof
Wolfgang Huber, fordert denn auch »die Bundesregierung dazu auf,
›sich zur deutschen Mitschuld zu bekennen, den deutschen Anteil an
den Ereignissen aufzuarbeiten und im eigenen politischen Handeln
daraus Konsequenzen zu ziehen‹« (
http://www.tagesspiegel.de/tso/aktuell/artikel.asp?TextID=49144,
Zugriff 03.05.2005, vgl. SZ 25.04.2005).
Einerseits gibt es in Deutschland – wie erwähnt – ein Zentrum für
Genozidforschung, andererseits versuchen türkische Diplomaten
zumeist mit Erfolg Druck auf deutsche Stellen auszuüben, die nach
türkischer Auffassung der armenischen Deutung zu weit Rechnung
tragen, was im Zusammenhang mit dem Einschreiten gegen Lehrpläne
des Landes Brandenburg allerdings gerade zur besonderen Publizität
des Themas geführt hat (vgl. Schmidt-Häuer, Die Zeit 23.03.2005).
Auf den Beschluss des Deutschen Bundestages vom 16. Juni 2005, der
»die Türkei zur Aufarbeitung der Vertreibung und der Massaker an
den Armeniern während des Ersten Weltkriegs« auffordert, reagiert
die türkische Regierung mit der Drohung, dass die Resolution
»negative Auswirkungen auf das bilaterale Verhältnis haben«
(Heftige Attacken NZZ 17.06.2005) werde. Kurz zuvor war von einer
türkischen Trauerveranstaltung für Talaat Pascha am 15. März 2005
in Berlin berichtet worden; so wie die Ermordung Talaat Paschas als
Befreiungstat gedeutet worden sei, werde heute – so die Teilnehmer
dieser Trauerfeier – der Türkei der Genozid an den Armeniern
unterstellt (Mönch, FAZ 16.03.2005). Talaat wurde 1943 auf dem
Ehrenfriedhof in Istanbul beigesetzt, Enver Pascha, »der ehemalige
Kriegsminister des Osmanischen Reiches« und als solcher mit
verantwortlich für den Genozid, erhielt dort 1996 »ein posthumes
Staatsbegräbnis« (Hosfeld 2005, 306ff.).
Vor allem in Armenien und in armenischen Diaspora-Gemeinden in
vielen Ländern gab es aus Anlass des 90. Jahrestages des türkischen
Genozids an den Armeniern am 24. April 2005 zahlreiche Gedenk- und
Erinnerungsrituale; aber auch Parlamente mehrerer Staaten wie auch
Repräsentanten nichtstaatlicher Organisationen nahmen dieses
Ereignis zum Anlass wertbezogener erinnerungspolitischer Debatten.
Weil die offizielle türkische Position die Deutung der historischen
Ereignisse als Völkermord nicht zulässt, finden in der Türkei keine
Gedenkveranstaltungen statt. Diese Erinnerungspolitik hat dem Thema
Armenien im intellektuellen Diskurs in Deutschland zu prominenter
Bedeutung verholfen (vgl. z.B. Dossiers in Die Zeit 23.03.2005,
21.04.2005, Beiträge in NZZ 23./24.04.2005, in Freitag 29.04.2005;
auch die
European
Review/Cambridge widmet ihren Focus im Juliheft 2005 dem
Thema Türkei, wobei allerdings die Frage Armenien nicht explizit
behandelt wird).
»In den Vordergrund ist, nicht allein aus kalendarischen Gründen,
ein geschichtspolitisches Thema getreten: der Massenmord an den
Armeniern. Der Umgang der Türkei mit der Erinnerung an dieses
dunkle Kapitel ihrer Geschichte wird immer häufiger als Beleg der
angeblichen Europa-Untauglichkeit der Türkei angeführt« (Burgdorf,
FAZ 18.05.2005). In zahlreichen Beiträgen wird die Anerkennung von
Verantwortung und Schuld für den Genozid erwartet, eine symbolische
Geste, die erinnerungs- und geschichtspolitische Konsequenzen
haben, aber keine Reparationsforderungen begründen sollte.
»Unabdingbare Voraussetzung für eine zukunftsfähige
Erinnerungskultur ist die Anerkennung von Schuld durch diejenigen,
die erkennbar Schuld auf sich geladen haben. Ohne eine solche
Anerkennung gibt es keine Entschuldungschance. Schon dieser erste
Schritt jedoch ist keine Selbstverständlichkeit. Wie schwer etwa
tut sich Belgien, die Tatsache des Genozids in Kongo
anzuerkennen... Wie schwer fällt es der Türkei, das Faktum des
Ausrottungskriegs gegen die Armenier anzuerkennen. Wie zögerlich
sind Grossbritannien und die USA, den Bombenterror von 1944/45
gegen fast wehrlose deutsche und japanische Städte einzugestehen.
Wie hartnäckig zeigt sich Tschechien bei der Verharmlosung der
Vertreibung der deutschstämmigen Bevölkerung. In internationaler
Sicht wird man Deutschland im Hinblick auf die Anerkennung
historischer Schuld geradezu als leuchtendes Vorbild bezeichnen
müssen« (Mayer-Tasch, NZZ 08./09.01.2005). Im August 2005 (vgl. SZ
26.08.2005) hat Tschechien eine offizielle Entschuldigung gegenüber
den sudetendeutschen Antifaschisten dafür ausgesprochen, dass auch
sie Opfer der Vertreibung wurden; diese Vergangenheitsdeutung
schließt nicht etwas ab, sondern markiert die Basis für eine neue
Zukunft der Verständigung, die Entschuldigung ist kein
Eingeständnis von Schwäche, sondern im Gegenteil ein Zeichen der
Akzeptanz der eigenen Geschichte als dialogischem
Deutungsraum.
Dass eine offizielle türkische Anerkennung des Genozids, die ein
Entschuldigungsritual und eine entsprechende Erinnerungspolitik zur
Folge haben könnte, eher unwahrscheinlich ist, belegen
Verlautbarungen türkischer Politiker und Berichte über die
veröffentlichte Meinung in der Türkei, die zwar eine offenere
Diskussion dieses Themas für 2005 feststellen, dennoch aber eine
»Identitätskrise« (Höhler, FR 12.04.05) diagnostizieren
(»westwärts, ostwärts oder doch besser allein gegen alle?« Thumann,
Die Zeit 21.04.2005), weil die Türkei sich zwischen Tradition und
Moderne entscheiden müsse. »Beispielhaft zeigt sich der
Identitätskonflikt an der wieder aufgebrochenen Kontroverse um die
Armenier-Verfolgungen während und nach dem Ersten Weltkrieg. Über
80 Prozent der Türken wollen lieber auf den EU-Beitritt verzichten,
wenn damit das Ansinnen verbunden sei, den offiziell geleugneten
Völkermord an den Armeniern anzuerkennen. Das Thema bleibt in der
Türkei tabu« (Höhler, FR 12.04.05). Dieses Tabu führt z. B. dazu,
dass »in keinem türkischen Geschichtsbuch steht, dass 1915/16 im
Osmanischen Reich, auf dessen Ruinen die Türkei entstand, bis zu
1,5 Millionen Armenier lebten, von denen Hunderttausende ermordet
und in die syrische Wüste getrieben wurden« (Schlötzer, SZ
18.04.05).
Was bedeutet es, wenn der EU-Beitritt der Türkei als
Übergangsritual analysiert wird? Unter diesem Begriff hat Arnold
van Gennep (1909) rituelle Veränderungsprozesse in die drei
Sequenzen von
séparation
(Aufkündigung der Zugehörigkeit zu einer Ordnung),
marge (Neuorientierung zwischen
aufgegebener Ordnung und anderen Angeboten),
aggrégation (Angliederung an eine neue
Ordnung) eingeteilt. Wendet man dieses prozessuale Schema auf den
Beitritt der Türkei zur EU an, so ergibt sich Folgendes: 1963 wurde
die wechselseitige Bereitschaft zu einer Annäherung zwischen Türkei
und EWG mit dem Ziel der Zugehörigkeit vereinbart. Nach Jahren der
Verhandlungen erhielt die Türkei bei der Gipfelkonferenz in
Helsinki im Dezember 1999 von den EU-Staaten, die, »massiv gedrängt
von der Chefin des State Department« (Wehler, Die Zeit Nr.38,
2002), damit »die Verwirklichung eines strategischen Zieles der
USA« (Schmidt, Die Zeit 25.11.2004) fördern, den Status des
Kandidaten, der am 17. Dezember 2004 auf Empfehlung des
Abschlussberichts des ›Beitrittskommissars‹ Günter Verheugen
bestätigt wurde, nun aber mit der Zusage, am 3. Oktober 2005
konkrete Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Diese sollen aber, wie
es von EU-Seite heißt, »ergebnisoffen« geführt werden. Handelte es
sich 1963 lediglich um die ohne Zeitvorgabe vereinbarte Möglichkeit
einer Zugehörigkeit, die allerdings auch schon einen Hinweis auf
eine
séparation vom
gültigen soziokulturellen Hintergrund enthielt, so markiert die
Vereinbarung von Beitrittsverhandlungen sowohl die vollzogene
séparation als auch die
Zulassung der ersten Phase der marge. Alle Vereinbarungen erfüllen
ritualwissenschaftlich den Tatbestand einer Ritualankündigung: ›Wir
wollen ein Übergangsritual mit der Türkei (mit einem Aufnahmeritual
als Abschluss) durchführen.‹ Die Empfehlung des Verheugen-Berichts
wurde ausgesprochen, nachdem die Möglichkeit der Einhaltung der
sogenannten Kopenhagen-Kriterien durch die Türkei überprüft worden
war. »This was the debate about Turkey`s state of preparedness and
the degree to which the country fulfilled the so-called ›Copenhagen
Criteria‹, which stipulated that candidates for membership of the
EU should have a stable democracy, the rule of law, respect for
human rights and a functioning market economy« (Zürcher 2005,
377).
Als sichtbares Zeichen der Zugehörigkeit zu einer
institutionalisierten Gemeinschaft kann die Teilnahme als Akteur an
deren Festen, Feiern und rituellen Handlungen gelten, deren
Aufführungen als Relais der Erinnerungsgeschichte ausgelegt, wenn
nicht definiert sind. Damit ein Aufnahme-, Ernennungs- oder
Initiationsritual stattfinden kann, hat der Kandidat einen
Assimilationsprozess zu durchlaufen, der als Prüfungs-,
›Reinigungs‹- und Zulassungsverfahren, d. h. als Übergangs-,
Aushandlungs- oder Konsensbildungsphase operationalisiert wird.
Dabei geht es um die Bereitschaft des Kandidaten, das Wertesystem
und die zugehörigen Handlungs-, Leistungs- und Symbolsysteme der
Zielgemeinschaft als verbindlich für das eigene Handeln
anzuerkennen, was in der Regel dessen Modifizierung zur Folge hat.
Im Gegenzug ist die Gemeinschaft bereit, die Relationalität
zwischen ihren Mitgliedern neu auszurichten, um den Kandidaten in
die Funktionsverteilung aufzunehmen.
Ein Aufnahmeritual bietet der Gemeinschaft Gelegenheit zur
Selbstpräsentation dadurch, dass sie das neue Mitglied öffentlich
als ihren Repräsentanten legitimiert, dieser akzeptiert das
Wertmuster der Gemeinschaft. Vollzogen wird das Aufnahmeritual
verbal (Einsetzungsworte, Dank, programmatische Erklärungen) und
nonverbal (Unterzeichnung und Überreichung von Urkunden, Musik
usw.). Weil jede Ritualaufführung die Wieder-Holung der
Gestaltungs-, Formungs- und Ordnungsfunktion
des Anfangs für die jeweilige
Gegenwart einschließt, ist auch eine neue Mitgliedschaft im Anfang
fundiert.
Es kann
weitergehen, wenn oder weil im Ritual die Anfangsverheißung neu
legitimiert wurde. Daher ist von jedem neuen Mitglied auch die
institutionalisierte Gedenkkultur zu akzeptieren.
Demnach bezeichnet rituell hergestellte Sichtbarkeit keine Statik
des Erreichten, sondern intendiert eine Handlungsdynamik jenseits
der rituellen Situation, d. h. – um das Beispiel aufzunehmen –
Zugehörigkeit und Statuswandel eines neuen Mitglieds in der EU
sollen in Anschlusshandlungen eingelöst werden. Wer an einem Ritual
teilnimmt, weiß in der Regel, auf was er sich einlässt und was von
ihm erwartet wird. Ein Aufnahmeritual stellt eine
Handlungsdisposition (Agency) bereit, die neue
Handlungsmöglichkeiten eröffnet, die auf keinem anderen Wege
erreichbar gewesen wären. Ob auf ein Heilungsritual die erwartete
Genesung folgt, ob ein Aufnahmeritual die erwartete Verhaltensweise
des neuen Mitglieds bewirkt, ob ein Heiratsritual eine glückliche
Ehe bedingt, ob politische Erinnerungs- oder Gedenkrituale die
erwünschten Anschlusshandlungen praktischer Politik auslösen, zeigt
sich jeweils erst in der Zukunft. Ohne die symbolischen Handlungen
wäre eine entsprechende Wirksamkeit aber von vornherein
ausgeschlossen. Ein Ritual ist Mittel zum Zweck, kein Selbstzweck.
Rituale zeigen, was zu einem bestimmten Zeitpunkt möglich und
notwendig ist, sie machen die Bilanz des Erreichten sichtbar.
Angesichts der realen Beitrittsmöglichkeit der Türkei und der für
viele unkalkulierbaren Auswirkungen kommt es 2005 im Kontext der
Ablehnung der EU-Verfassung in mehreren Gründungsstaaten ›Europas‹
zur Infragestellung des Zeitplans der Beitrittsverhandlungen, als
Zeitrahmen für einen Beitritt werden 10 bis 20 Jahre genannt, in
Frankreich soll es ein Referendum über den Beitritt geben. Neben
dem erinnerungspolitischen Thema ist es die fehlende Anerkennung
des EU-Mitglieds Republik Zypern durch die Türkei, die immer wieder
als Hindernis aktualisiert werden kann. (Seit 1974 hat die Türkei
nur den türkischen Teil der geteilten Insel anerkannt.) Am 2.
August 2005 moniert der französische Premierminister Villepin eine
einseitige türkische Erklärung zur Unterzeichnung der Zollunion mit
den 2004 beigetretenen zehn Staaten als inakzeptabel; die Türkei
teilte mit, dass ihre Unterschrift keine völkerrechtliche
Anerkennung der Republik Zyperns bedeute. Villepin sieht darin
einen Grund, den Beitritt zu verweigern, weil für eine erfolgreiche
EU jedes Mitglied alle anderen anerkennen müsse (vgl. FAZ
03.08.2005).
Inzwischen geht die Debatte weit über den exemplarischen Fall
hinaus; unterschiedliche Erinnerungskulturen und -politiken werden
diagnostiziert, Kooperationsmöglichkeiten sind erst auszuloten.
Spielen Religionen in der europäischen Erinnerungspolitik gegenüber
einer Dimension des Religiösen, die auch in säkularen und profanen
Segmenten Ausdruck findet, eher eine geringe Rolle, würde mit dem
Türkei-Beitritt – so jedenfalls eine verbreitete Einschätzung – dem
Islam eine dominierende Rolle für den wertexpliziten Bereich von
Erinnerung und Kultur eingeräumt. Einer Religion zudem, die stets
im Zusammenhang mit dem Terror der Islamisten erwähnt wird und
negativ konnotiert ist. Ayan Hirse Ali, die niederländische
Abgeordnete und Mitarbeiterin des ermordeten Regisseurs Theo van
Gogh spricht von Angst vor dem Islam und fordert eine offene
Diskussion (SZ 27./28.08.2005).
Vergleiche mit der deutschen Erinnerung des Holocaust werden
gezogen. Im Leserbrief eines Schweizer Lesers in der NZZ heißt es:
»Anders als Deutschland, das den Holocaust aufarbeitet, weigert
sich die Türkei offenbar noch immer, trotz einer einberufenen
Kommission, zu den dunklen Seiten der eigenen Geschichte zu stehen.
Solange dies nicht geschieht, hat die Türkei in Europa und in der
EU nichts zu suchen. Auch das pseudoreligionsfreiheitliche
Verhalten gegenüber dem ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel
(dessen Schule ist immer noch geschlossen) ist eines Rechtsstaates
unwürdig« (Widmer, NZZ 7./8.05.05). Gefragt werden müsste elementar
nach dem sozialen und historischen Wissen über den Genozid. Was
bemerkten die Nachbarn, was konnten sie bemerken, was ist in den
Familien tradiert worden? Leserbriefe türkischstämmiger Deutscher
unterstützen eher die offizielle türkische Position. Eingeräumt
wird, »dass zahlreiche Armenier während der Wirren des Ersten
Weltkriegs zu Tode kamen« (Öztürk, FR 15.03.05), aber eben als
Kriegsopfer, weil sie sich zugunsten Russlands am Krieg
beteiligten, nicht als Opfer eines Völkermords. Im Gegenteil sei es
gerade die »armenische Guerilla» gewesen, die Massaker an
muslimischen Zivilisten verübt und diese »abgeschlachtet« hätte.
Der Leserbriefschreiber weist die Vokabeln ›Schlächter,
abschlachten‹, mit dem der Referenzartikel das türkische Vorgehen
gegen die Armenier bezeichnet hatte, zurück, benutzt sie aber
seinerseits in bezug auf die Armenier. Ein anderer Leserbrief
rechtfertigt die Verweigerung der Auseinandersetzung um den Genozid
mit dem Hinweis auf nicht aufgearbeitete Völkermorde europäischer
Staaten und schließt mit der Feststellung: »Eine einseitige
Anerkennung der Schuld, eine Anerkennung des sog. ›Genozids‹ und
somit die Gleichsetzung mit den deutschen Nazis und Übernahme der
Verantwortung wie beim Holocaust werden die Türkei und die Türken
niemals akzeptieren« (Studenten der Uni Stuttgart, FR 15.03.05). In
einem weiteren Leserbrief wird darauf hingewiesen, dass das
türkische Staatsarchiv für jedermann offen, das armenische aber
seit Jahrzehnten geschlossen (Yesilova, FR 15.03.05) sei. Auch der
Vorschlag der türkischen Seite, eine unabhängige
Historikerkommission einzusetzen, wird als Indiz für die
Bereitschaft der Türkei zur Aufarbeitung dieser Vergangenheit
bewertet. Insgesamt zeigen diese Leserbriefe in Bezug auf den
Erinnerungsgegenstand eine »legitimatorische Grundhaltung«, die
durch den »Tradierungstyp Rechtfertigung« (Welzer 1997, 159) und
eine Verweigerungshaltung gekennzeichnet ist; letztlich sorgen aber
gerade diese beiden Tradierungsformen dafür, dass das Thema Genozid
seine Aktualität behält. Wer sich erinnert, wer eine umfassende
wissenschaftliche und alltagsgeschichtliche Aufarbeitung seiner
Erinnerungsgeschichte betreibt, gilt der von den
Leserbriefschreibern markierten Position als politisch
angreifbar.
Während die türkische Seite sich nicht durch die europäische
Erinnerungskultur ›erfinden‹ lassen will, stünde die wertfundierte
und damit auch die politische Glaubwürdigkeit der EU auf dem Spiel,
wenn die derzeitige Erinnerungspolitik der Türkei rituell
legitimiert würde; zugleich zeigt sich die Bedeutsamkeit
symbolischer Politik als eine Form wertexpliziter
Selbstpräsentation. Erinnerung nicht zuzulassen heißt, Biographien
und Identitäten ihren Ort in der Geschichte zu nehmen, was
strukturell einer Fortführung des Genozids entspräche, wie Dabag
ausführt. »Die Struktur der Leugnung setzt die Strukturen des
Genozids fort« (Dabag 2002, 41). Leugnungsdiskurse diagnostiziert
Dabag auf einer »Ebene des Politischen, der wissenschaftlichen
Verneinung, des Sozialen, der Verdrängung, der internationalen
Politik und Wissenschaft, der Verneinung durch Anerkennung
(Ja-Aber)« (Dabag 2002, 45ff.) Gilt Erinnerung in der
abendländischen Kultur als Mittel, den physischen Tod zu
überwinden, so fügt das Erinnerungsverbot dem physischen auch noch
den historischen oder sozialen Tod des Vergessenwerdens
hinzu.
Für die europäische Tradition ist Erinnerung als Derivat von
Memoria von Anfang an auf die »Gegenwart der Toten« gerichtet, ihre
Erforschung gilt einem »alle Aspekte des Lebens umfassenden
historischen Phänomen« (Oexle 2001, 13). Deshalb ist es sinnvoll,
von Erinnerungskultur zu sprechen, die als »die jeweilige
Gesamtheit von Denkformen, sozialem Handeln und
Institutionenbildung« zu definieren ist, »die für Gedächtnis,
Erinnerung und Gedenken eines Einzelnen, einer Gruppe oder einer
bestimmten Gesellschaft spezifisch sind« (Oexle 2001, 12). Demnach
erschließt sich eine Kultur gerade durch die Form und den Rahmen
ihrer Erinnerung, die Anlässe schafft zum offenen Dialog. Ein
räumlich, zeitlich, personell begrenztes und damit tendenziell
nicht öffentliches Erinnern entspricht nicht der europäischen
Erinnerungskultur. Im Licht der Erinnerung an den Genozid der
Armenier zeigt sich die türkische Kultur geprägt von Vorstellungen
der Reinheit, Einheit und Homogenität; deshalb scheinen vor allem
solche Themen die Beachtung deutscher Medien zu finden, die den
Preis dieser kulturellen Konstruktion offenzulegen versprechen wie
Zwangsheiraten, Ehrenmorde, Kopftuchstreit. Wenn Bundeskanzler
Schröder einen ›Mentalitätswandel‹ anmahnt, meint er eine
umfassende Veränderung, die auch als ›Reinigungsprozess‹ zu
verstehen ist. Er bezieht sich damit »auf den vollen Respekt der
Menschen- und Minderheitenrechte«, auf die Verbesserung der
Situation der christlichen Kirchen, die Abschaffung der Folter und
die Verurteilung von Folterern, die »kulturellen Rechte von
Minderheiten», »den übersteigerten Nationalismus«, die Anerkennung
der Republik Zypern und er unterstützt den Vorschlag, eine
»Historikerkommission zur ›Aufarbeitung leidvoller historischer
Ereignisse‹ vor 90 Jahren – gemeint ist der Genozid an den
Armeniern – einzuberufen« (Hermann, FAZ 03.05.2005). Deutlich
bewertet werden diese Empfehlungen im Kommentar mit der
Formulierung, der Kanzler fordere eine Türkei, »die sich also
enttürkisiert hätte« (K F., FAZ 03.05.2005).
Welcher Gebrauch darf in der türkischen Öffentlichkeit von der
geschichtlichen Erinnerung gemacht werden? Weil der Schriftsteller
Orhan Pamuk »in einem Interview mit dem Züricher
Tages-Anzeiger bemerkte, man habe in
der Türkei 30 000 Kurden und eine Million Armenier umgebracht,
erhielt er Morddrohungen und musste eine Lesereise nach Deutschland
absagen. [...] Dass Pamuk den Mord an Armeniern und Kurden benennt,
verstößt gegen die türkische Staatsräson. Repressive Systeme
stellen zuweilen die öffentliche Erwähnung dessen, was jedermann
weiß, unter Strafe« (Greiner, Die Zeit 06.04.2005). Arend spricht
von der »narzisstischen Kränkung, die Pamuk der türkischen
Identität« zugefügt habe. In seinem Roman
Schnee (2005 [2002]) gestalte er »die
politischen Verwicklungen der Türkei«, den »Kampf der Kulturen«
(Arend, Freitag 29.04.2005), ohne einer Priorität vor anderen
einzuräumen. Pamuk selbst spricht »von der Sehnsucht, in Europa
aufgenommen zu werden – und zugleich der Angst davor, [...] im Zuge
der Verwestlichung die eigene Identität zu verlieren« (Pamuk, Die
Zeit 14.04.2005), die er gestaltet habe. In seinem Roman geht es –
modellhaft? – um die offene Aushandlung einer neuen Ordnung
zwischen Nationalisten, Europäern, Islamisten, Vertretern eines
aufgeklärten und eines politischen Islam, Kopftuchgegnern und
–befürwortern.
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http://zeus.zeit.de/text/2002/38/200238_tuerkei_contra_xml
(Zugriff 18.08.2005).
Zürcher, Erik-Jan: Introduction. Focus on Turkey. In: European
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