Burckhard Dücker
Möglichkeiten und Aspekte
eines europäischen Erinnerungsraums

Einleitung

Während Europa als geographische Einheit unstrittig ist, ist es als politisch-kultureller Raum immer wieder neu erfunden und eingeteilt, vermessen und aufgebaut worden. Im Rahmen dieser historischen Dynamik als Folge von Kriegen, dynastischen Bewegungen und Revolutionen sind bis in die Gegenwart immer neue Nationalstaaten gegründet und im Umfang ihres Staatsgebietes, d. h. hinsichtlich ihres Grenzverlaufs, der Zugehörigkeit und erwarteten Loyalität bzw. Illoyalität von Bevölkerungsgruppen sowie der Markierung und Deutung von Erinnerungsorten verändert worden; umfangreiche Wanderungsbewegungen, Flucht und Vertreibung haben in manchen Regionen zu grundlegenden Veränderungen der ethnischen Zusammensetzung, der produktiven kulturellen Traditionen und geschichtlich konstitutiven Erinnerungsperspektiven geführt. Hinzu kommen eine gesellschaftliche und politische Dynamik, die sich in Systemwandel und wechselnden ideologisch-politischen Konstellationen ausprägten, die vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unterschiedliche politische Blöcke, Organisationen und Konfliktpotentiale generiert haben. Stets hatte die Auflösung solcher Blockbildungen neue Konstellationen zur Folge.

So gehörten zum geographisch benannten, ideologisch begründeten Ost-West-Gegensatz, der sich schon bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auszuwirken begann, militär- (Warschauer Pakt / Nato) und wirtschaftspolitische (RWG bzw. Comecon / Montanunion, EWG, EG, EU) Organisationsformen, aber auch spezielle Metaphern wie ›Kalter Krieg‹ und ›Eiserner Vorhang‹ sowie ritualisierte Handlungen im politischen Feld (Militärparaden, Aufmärsche, Personenkult, Bruderküsse / Besuch und Kranzniederlegung an der ›Mauer‹ als Programmpunkt von Staatsbesuchen). Die Selbstauflösung der ›sozialistischen Staatengemeinschaft‹ machte die konfliktfundierte Ost-West-Blockbildung gegenstandslos und führte zur staatlichen Souveränität zahlreicher Teilrepubliken und Regionen der Sowjetunion, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens.

Mit dem jeweiligen Gründungsakt dieser Staaten bzw. ihrem Austritt aus dem politischen Verband ist auch die Konzeption eines neuen Erinnerungssystems verbunden. Die historische Dynamik machte auch vor Traditionsmarkierungen, Festkalendern, Erinnerungsbeständen und -orten, Erinnerungs- und Gedenkritualen nicht halt; praktizierte Traditionen werden aufgegeben, andere werden reinventiert oder per Kulturtransfer eingeführt. Für die Suche nach der eigenen Geschichte wurde nicht nur die überwundene Abhängigkeit von der Sowjetunion und der Ideologie des Sozialismus der zeitgeschichtlichen Aufarbeitung zugänglich, auch nationale Erinnerungsbestände früherer Jahrhunderte und blockierte Traditionen stehen wieder zur Verfügung. So gewinnt für Polen der Streik auf der Danziger Werft im Sommer 1980, der zur Gründung der Gewerkschaft Solidarność führte, den Status eines nationalen und europäischen Ereignisses, das zur Auflösung des ›sozialistischen Lagers‹ beitrug, als Gründungsereignis des demokratischen Polen gesehen wird und in das kollektive nationale Gedächtnis aufgenommen wurde. Dass dieser nationale Erfahrungskomplex als Beitrag zum europäischen Erinnerungsraum gilt, dafür stehen das internationale Gedenkritual – mit entsprechender medialer Aufmerksamkeit – am 30. August 2005 aus Anlass des 25. Gründungsjubiläums der Gewerkschaft sowie der Wiederabdruck des Artikels ›Notizen von der Küste‹ von Ryszard Kapuszinski über die durch den Streik generierte Atmosphäre von Aufbruch und Perspektive des Neuen in der FAZ (29.08.2005), der hier vor 25 Jahren erschienen war.

In der veränderten Situation orientiert sich die Mehrzahl der neuen Staaten zum einen an den demokratischen Strukturen des Westens, und strebt auch die Mitgliedschaft in NATO und EU an, was der Debatte um Konzepte einer politischen Einheit Europas (europäische Verfassung, politische Union) neuen Auftrieb gibt. Zum anderen werden unterbrochene Beziehungen zur westlichen Kultur und ihrer Tradition wieder aufgenommen, die dabei auch von westlicher Seite in ihrer gesamteuropäischen Dimension wieder zu entdecken ist. Handelt es sich doch um Staaten, die in der Regel bis zum Zweiten Weltkrieg an europäischen Kulturbeziehungen in allen Ausprägungen teilgenommen haben.

Die Anschläge auf das World Trade Center in New York vom 11. September 2001 führten 2002 zum zweiten Krieg der USA gegen den Irak und als Folge für Europa zur USA-zentrierten Einteilung in die Staaten, die zur militärischen Unterstützung der USA bereit waren und diejenigen, die dies ablehnten.

Im Jahr 2005 gehört das ›Projekt Europa‹ nicht nur in deutschsprachigen Medien in den Sparten Politik, Wirtschaft, Feuilleton und Kultur zu den besonders umfassend, vielfältig, kontinuierlich und mit ausgreifender historischer Perspektive behandelten Themenfeldern. Dabei dominieren vor allem zwei thematische Bereiche: Den ersten Themenblock bildet die Diskussion politischer, wirtschaftlicher und verfassungsrechtlicher Probleme und Möglichkeiten des europäischen Einigungsprozesses, aktualisiert und konkretisiert durch die Ablehnung der europäischen Verfassung per Referendum in Frankreich und den Niederlanden, der Verschiebung einer Abstimmung in Großbritannien und den danach in mehreren Staaten formulierten Vorbehalten sowohl gegen die Verfassung als auch gegen die Erweiterungspolitik, vor allem gegen deren Umfang und Zeitplan. In diesem Zusammenhang gilt der projektierte EU-Beitritt der Türkei als besonders problematisch wegen Entwicklungs- und Organisationsunterschieden in zentralen gesellschaftlichen Bereichen und eines als grundsätzlich different bewerteten kulturellen Hintergrunds.

Der zweite Themenbereich umfasst den Erinnerungsdiskurs, der aus Anlass der zahlreichen Jahres- und Gedenktage, die an Ereignisse der Beendigung des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung vom Nationalsozialismus vor 60 Jahren erinnern, im Jahr 2005 intensiv geführt wird. In Texten dieses Themenbereiches geht es um Fragen, die das Gründungsgeschehen und die Wertebasis des ›Projekts Europa‹ sowie Möglichkeiten übernationalen europäischen Erinnerns betreffen. Ein Konnex zwischen beiden Bereichen wird häufig dadurch hergestellt, dass Vorbehalte gegenüber einer Forcierung des EU-Beitritts der Türkei mit deren Erinnerungspolitik hinsichtlich des Genozids an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs 1915/16 begründet werden.

»Kann ein solcher Staat, der die eigene Vergangenheit sich nicht offiziell einzugestehen vermag, Mitglied in der Europäischen Union werden? In einer Staatengemeinschaft, deren Ausgangspunkt und negativer historischer Gründungsbezug ausdrücklich in der Erfahrung des Holocaust, aber auch der stalinistischen ›Säuberungen‹ liegt?« (Jeismann, FAZ 16.03.2005).

»Je näher die Türkei an Kerneuropa heranrückt, desto größer wird damit die Kluft zwischen dem Gedächtnisverlust im eigenen Land und der Erinnerungskultur der westlichen Nachbarn. Nie zuvor ist so deutlich geworden wie in diesem Jahr, dass die EU unverfälschte Geschichte braucht, um Europas Werte zu verteidigen« (Schmidt-Häuer, Die Zeit 23.03.2005).

Schon 2002 (Die Zeit Nr. 38) hatte der Historiker Hans-Ulrich Wehler dezidiert formuliert: »Der Westen braucht die Türkei – etwa als Frontstaat gegen den Irak. Aber in die EU darf das muslimische Land niemals.« Auch in einer negativen Kritik einer Verfilmung (2005) des Romans Die vierzig Tage des Musa Dagh (1933) von Franz Werfel wird das Junktim zwischen der Akzeptanz europäischer Erinnerungskultur und einem EU-Beitritt der Türkei aktualisiert: »Den Lesern [in den 1930er Jahren] war von Anfang an klar, dass es mit dem Völkermord an den Armeniern um die Gegenwartstragödie des jüdischen Volkes ging: Historische Romane sind indirekte Gegenwartsromane. Heute kann man die Erinnerung an die Massaker nicht abgekoppelt von der Debatte über einen türkischen EU-Beitritt sehen« (L. L., NZZ 30.04./01.05.2005).

Unter wertexplizitem Ansatz, der immer die historische Dimension einschließt und vor allem Traditionslinien reformatorischer, aufklärerischer und reformerischer Kultur im weiten Sinne aktualisiert, wird Europa als im wesentlichen homogene Erinnerungsgemeinschaft bzw. Erinnerungsraum wahrgenommen, was den Prioritätsverlust anderer Paradigmata (z. B. militärische, wirtschaftliche Funktionsgemeinschaft) einschließen kann. Als europäisch werden immer wieder folgende Werte genannt: »Toleranz, Freiheit, die Skepsis gegenüber ›letzten‹ Wahrheiten, das Wissen um die Vorläufigkeit allen Wissens, der Glaube an die Grenzen allen Glaubens hienieden und unter Menschen« (Meyer, NZZ 20./21.08.2005).

Wenn es zutrifft, dass die Gründung europäischer Institutionen mit Richtlinienkompetenz gegenüber den parallelen nationalen Einrichtungen prioritär eine politische Reaktion auf die für alle beteiligten Staaten leidvollen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust darstellt, dann liegt es nahe, die Konstruktion eines europäischen Erinnerungsraums mit einer werthomogenen Erinnerungskultur als Voraussetzung der angestrebten politischen Integration zu betrachten. Dafür ist die Einrichtung entsprechender Rahmenbedingungen Voraussetzung, wozu die Straffreiheit für eine öffentliche Kommunikation der Erinnerungsperspektiven, die Anerkennung von Pluralismus und Kritik gehören. Zentral gehört dazu auch die Diskussion um Täter- und Opfererinnerung mit erinnerungspolitischen Konsequenzen. Erinnerungs- bzw. vergangenheitspolitischer Dissens als Folge ›monologischer‹ Erinnerung stellt demnach den konstruktiven Kern des ›Projekts Europa‹ als politischer Union in Frage.

Dass der Diskurs um das ›Projekt Europa‹ durch die mögliche Mitgliedschaft der Türkei in der EU eine neue Dimension gewinnt, zeigt sich an der privilegierten Thematisierung kultureller und historischer, vor allem auch vergangenheits- und erinnerungspolitischer Aspekte. Es entsteht geradezu ein intellektueller Diskurs, der unter Beteiligung einer breiten Öffentlichkeit in Feuilletons, Kulturzeitschriften und entsprechenden audiovisuellen Formaten von Journalisten, Wissenschaftlern, Intellektuellen, Leserbriefschreibern und Politikern geführt wird. Ob damit eine Ausweitung des Verhältnisses zur Geschichte über die Zeit des Nationalsozialismus hinaus verbunden sein wird, bleibt abzuwarten. Jedenfalls ist der Beitritt anderer Staaten üblicherweise vor allem unter Gesichtspunkten der Finanz-, Wirtschafts- und Ordnungspolitik sowie der Einhaltung der Menschenrechte ohne eine vergleichbare intensive Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit diskutiert und entschieden worden. Insofern wird das Bild der EU als Erinnerungsgemeinschaft bzw. –raum neben dem der praktisch politischen Funktionsgemeinschaft privilegiert.

Dass gerade der Beitritt der Türkei zum Katalysator einer für die in Deutschland diskutierte europäische Gegenwartsgestaltung politisch wirksamen kulturellen Perspektive werden kann, scheint nicht zuletzt darin begründet zu sein, dass in Deutschland zwei differente Positionen aufgrund unterschiedlicher Prioritätensetzung in bezug auf den Genozid an den Armeniern und den Beitritt der Türkei zur EU vertreten werden: Eine regierungsamtliche Einschätzung, »für die es offiziell keinen Völkermord gab und keine ›Armenier-Lüge‹« (Schmidt-Häuer, Die Zeit 23.03.2005) gibt und die die ›Armenien-Frage‹ als bilaterales Problem zwischen der Türkei und Armenien betrachtet (vgl. Schaefgen 2002). Als Begründung dieser Position, die eine Vollmitgliedschaft der Türkei unterstützt, führt Schmidt-Häuer die Rücksichtnahme auf das Potential türkischer Wähler und die Sicherung des »inneren Friedens mit den türkischen Bürgern« an (vgl. auch Leserbrief von S. Punct, FR 15.03.05). Eine andere Deutung artikuliert sich im intellektuellen Diskurs, der die historischen Ereignisse als Genozid bewertet und von der Türkei eine entsprechende Erinnerungspolitik als Bedingung für einen EU-Beitritt fordert. Abweichend von der Regierungsposition (SPD/Grüne) vertritt die Opposition (CDU/CSU) unter dem Stichwort der »privilegierten Partnerschaft« eine modifizierte Form der Zugehörigkeit, für welche sie mit einem Brief an europäische Regierungen wirbt (SZ 27./28.08.2005).

Ausgehend von exemplarischen Ausführungen zu einigen der zahlreichen Jahres- und Gedenktage im Jahre 2005 als Beispiele übernationaler Erinnerung soll in diesem Beitrag der Frage nachgegangen werden, wie die Bedeutung von Erinnerungspolitik und ihrer Praxis der Erinnerungs- und Gedenkrituale für den europäischen Einigungs- als Erweiterungsprozess im öffentlichen Diskurs deutschsprachiger Medien beurteilt wird und welche Rolle in diesem Zusammenhang die Themen EU-Beitritt der Türkei und Genozid an den Armeniern spielen. Hinzu kommt ein methodisches Erkenntnisinteresse. Obwohl sich die Konzepte von Regierung (Vollmitgliedschaft) und Opposition (Privilegierte Partnerschaft) hinsichtlich der Einbindung der Türkei in die EU unterscheiden, konvergieren beide darin, die Zugehörigkeit der Türkei zum Projekt Europa als dauerhaften Status zu organisieren, was vor allem heißt, diesem Status Sichtbarkeit zu verleihen. Beide Varianten setzen einen Statuswandel (Rechte, Pflichten, sprechen ›im Namen von‹ ) der Türkei vom Nichtmitglied zum Mitglied / Partner der EU voraus. Daher wird der öffentliche Diskurs vor dem Zielhintergrund eines politischen Ernennungs- oder Aufnahmerituals untersucht, das einer wie auch immer qualifizierten Zugehörigkeit Sichtbarkeit verleiht. Weil aber etwas erst sichtbar sein kann, nachdem es sichtbar gemacht worden ist, soll die Produktion der Sichtbarkeit von Zugehörigkeit durch einen Prozess der Sichtbarmachung beschrieben und analysiert werden, dem die Struktur des Übergangsrituals unterlegt wird. Zugleich ist damit die Frage gestellt, was es bedeutet, an einem solchen Ritual nicht teilzunehmen, sei es aufgrund einer Absage, sei es aufgrund eines Ausschlusses. Insofern Rituale helfen, soziale Prozesse in gesellschaftlichen Formationen zu identifizieren und zu verstehen, bezeichnet der Begriff Ritual in diesem Zusammenhang sowohl ein Objekt als auch eine Methode der Forschung.

Perspektiven eines europäischen Erinnerungsraums

Es überrascht nicht, dass gerade den kriegsbezogenen Erinnerungs- und Gedenkritualen die Wirkungs- oder Handlungsdisposition (Agency) zugeschrieben wird, einen Diskurs über Möglichkeiten und Notwendigkeit europäischen Erinnerns zu initiieren, der von zwei Positionen gerahmt wird: Auf der einen Seite steht die These, dass diesem Gedenken aufgrund unterschiedlicher historischer Erfahrungen und Perspektiven der Erinnerungsträger, die durch die nationale und ethnische Zugehörigkeit bestimmt sind, Grenzen gezogen seien, die respektiert werden müssten; gemeint ist die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Täter- und Opfererinnerung, zwischen den Perspektiven der Aggressoren und der Angegriffenen, hinzukommt die Position derer, die wie die deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen erst für die Zeit des Kriegsendes von der Erfahrung als Opfer sprechen und daher auch den Opferstatus beanspruchen (vgl. Brumliks –2005– Plädoyer gegen einen solchen Status für Deutsche). In diesem erinnerungspolitischen Zusammenhang wird auch das von der CDU für Berlin geplante und vom Bund der Heimatvertriebenen unterstützte Projekt eines Zentrums gegen Vertreibungen diskutiert (vgl. Leggewie/Meyer NZZ 20./21.08.2005). Während die Initiatoren darin eine Chance sehen, die deutsche Beteiligung an Vertreibungen des Zweiten Weltkriegs in den Rollen von Tätern und Opfern zu dokumentieren, gilt eine solche Einrichtung vor allem Polen und Tschechien als Versuch, eine deutsche Deutungshoheit über den Komplex der Vertreibungen zu etablieren, d. h. die Täter zu Opfern zu machen. Insgesamt zeigt diese Auseinandersetzung wie auch die Planungsgeschichte des zentralen Holocaust-Mahnmals in Berlin, dass nationale Erinnerung eine transnationale und multiperspektivische Dimension hat, die gerade im Projekt eines europäischen Erinnerungsraums berücksichtigt werden kann. Gegen die These national differenzierter Erinnerung wird auf der anderen Seite die Forderung erhoben, dass gerade angesichts der Produktivität konfligierender Erinnerungsperspektiven ein möglichst umfassender europäischer Erinnerungsraum geschaffen werden müsse. Im Vorwort des Bandes Gedenken im Zwiespalt. Konfliktlinien europäischen Erinnerns (Göttingen 2001) wird die These der nationalen Erinnerungsdifferenzierung vertreten:

»Dem gemeinsamen europäischen Gedenken sind Grenzen gesetzt. Nationen [...] haben eine eigene Erinnerungskultur und einen eigenen Erfahrungsschatz. Dies gilt selbst da, wo sie dieselbe faktische Geschichte haben.
Wir haben uns im zusammenwachsenden Europa daran gewöhnt, vom Wunsch nach gemeinsamen Lebenswelten auf die Existenz gemeinsamer Erinnerungswelten zu schließen. Wenn man sich heute gut versteht, dann wünscht man sich, es wäre auch in der Vergangenheit immer so gewesen. Damit aber werden die Unterschiede, die bestanden haben und noch bestehen, unzulässig nivelliert.
Dass die herbeigesehnte Zusammenführung von Erinnerungswelten nicht so einfach möglich ist, zeigt sich bei Gedenktagen, die grenzüberschreitend begangen werden. Trotz aller Europäisierungspolitik haben die Menschen Schwierigkeiten, sich im Gedenken an große, bedeutsame Ereignisse der Geschichte zu vereinen. Denn dieses ist immer mit Gefühlen und Emotionen verbunden; es gibt keinen Zugang zur Geschichte unter Ausschaltung der eigenen Lebenswelt. [...] Erinnern und Gedenken in europäischer Perspektive ist nur möglich mit Respekt vor den geschichtlichen Konfliktlinien.«

Fundiert ist diese Position auf der These von der Unmöglicheit, Erfahrungen in ihrer emotionalen Komplexität, der zugehörigen Traditionsbildung und Wissensproduktion jenen zu vermitteln, die diese Erfahrungs- und Erinnerungsperspektive nicht teilen. Werde im europäischen oder gar im globalisierten Erinnerungsdiskurs allgemein und unspezifisch von Täter, Opfer, Holocaust / Genozid gesprochen, ohne die je konkreten Erfahrungsfundamente und ihre Kontexte zu berücksichtigen, führe dies zur Relativierung und Nivellierung subjektiver, singulärer Erinnerungen. Zurück bliebe letztlich mit der »Universalisierung des Holocaust« eine »Leerformel« vom »opfer- und täterlosen Holocaust, die jedoch gut geeignet ist zur – intendierten? – Überwindung der Erinnerung an den Holocaust selbst«, was als Preis für »die Frage nach dem Gemeinsamen von Geschichte, Erfahrung und Identität« und für »die Gemeinsamkeit Europas und das Gemeinsame globalisierender Gesellschaften« (Dabag, FAZ 20.06.2005) gesehen werden könne.

Dagegen diagnostiziert der spanische Schriftsteller Jorge Semprún, ehemaliger Häftling im KZ Buchenwald, »eine Phase des offiziellen Gedenkens« und plädiert dafür, »dass diese neue umfassende Sicht sich auf ganz Europa erstrecken muss. Solange Europa nicht auch den Gulag in seine Erinnerung einbezieht, wird etwas fehlen« (SZ 09./10.04.2005). Beim Gedenkritual anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung Buchenwalds entwirft er die Konzeption eines gesamteuropäischen Erinnerungsraums (Die Zeit 14.04.2005):

»Eine der wirksamsten Möglichkeiten, der Zukunft eines vereinten Europas, besser gesagt, des wiedervereinten Europas einen Weg zu bahnen, besteht darin, unsere Vergangenheit miteinander zu teilen, unser Gedächtnis, unsere bislang getrennten Erinnerungen zu einen. Der kürzlich erfolgte Beitritt von zehn neuen Ländern aus Mittel- und Osteuropa – dem anderen Europa, das im sowjetischen Totalitarismus gefangen war – kann kulturell und existentiell erst dann wirksam erfolgen, wenn wir unsere Erinnerungen miteinander geteilt und vereinigt haben werden. Hoffen wir, dass bei der nächsten Gedenkfeier in zehn Jahren, 2015, die Erfahrung des Gulag in unser kollektives europäisches Gedächtnis eingegliedert worden ist.«

Während die erste Position die zu überwindenden Probleme herausstellt, hebt Semprún das zu erreichende Ziel hervor, wobei er aus der gemeinsamen Erfahrung der Zivilisationsbrüche das Projekt einer gemeinsamen Gegenwartsgestaltung ableitet. Priorität dafür erhält die Arbeit an der dauernden Aktualisierung des Erinnerungswissens. Eine vermittelnde Position vertritt der israelische Schriftsteller Amos Oz in Interview und Dankrede zum Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main. Oz weist darauf hin, dass für junge Deutsche und Israelis der Enkelgeneration eine grundsätzlich unterschiedliche Erinnerungspraxis hinsichtlich des Holocaust gelte (»Ein junger Deutscher von zwanzig Jahren kann gut leben, ohne auch nur gelegentlich daran zu denken. Ein junger Israeli kann es kaum vermeiden, sich ein-, zweimal die Woche daran zu erinnern.« Stuttgarter Zeitung 29.08.2005), was aber einem gemeinsamen Erinnerungsraum nicht entgegenstehe. Dabei würden keine Erinnerungslinien als Identitätskomponenten nivelliert, sondern gerade als Generatoren neuen Erinnerungsmaterials produktiv gemacht für ein gemeinsames Projekt der Gegenwarts- und Zukunftsgestaltung. »Weimar liegt heute bei Buchenwald« (Oz, FAZ 29.08.2005).

Die verschiedenen Positionen gehen von der Arbeit an der Erinnerung aus, die gerade regelmäßige Gedenk- und Erinnerungsrituale mit Protagonisten möglichst aller Beteiligtengruppen erfordere. Aus der Perspektive der Opfer scheinen die einander gegenüberstehenden Positionen mit den Begriffen ›Erinnerung‹ (an die eigenen Erfahrungen und deren Geschichte) und ›Gedenken‹ (an ein universalisiertes Phänomen) bezeichnet werden zu können.

»Erinnerung ist immer eine Erzählung, die auf Erfahrungen gründet: unmittelbarer ebenso wie übermittelter Erfahrung. Erinnerungen sind Orientierungen, und sie haben immer mit Identifizierungen zu tun. Erinnerung ist an Träger gebunden. Das Gedenken hingegen folgt Setzungen von Geschichte und Identität, das Gedenken soll nicht zuvörderst bewahren, sondern integrieren und unter gemeinsamen universalen Werten harmonisieren. Erinnerung kann nicht universal sein – und ein Gedächtnis kann nur dann universal sein, wenn es erinnerungslos ist, wenn es sich ablöst von jenen Erfahrungen, die in den Erzählungen bewahrt sind.« (Dabag FAZ 20.06.2005)

Damit Erinnerung aber intersubjektive und intergenerationelle, also kollektive historische Orientierung vermitteln kann, braucht sie das Forum, das ihr nicht zuletzt Gedenkrituale bieten. Wenn Dabag (FAZ 20.06.2005) feststellt: »Wer das Gedenken wie im Fall des Holocaust globalisiert und internationalisiert, der weicht vor dem Erinnern an das Konkrete von Schrecken, Terror und Völkermord in Rituale und Mahnmale aus. Der türkische Völkermord an den Armeniern im Jahr 1915 sollte die Europäer dazu bringen, sich nicht mit allen Opfern gleichzusetzen, sondern bestimmte Opfer als Opfer erst mal wahrzunehmen.«, so scheint er nicht nur von einer bestimmten Form des Gedenkrituals als negativer Normalform auszugehen, sondern die Bedeutung rituellen Handelns insgesamt aufgrund eines verbreiteten antirituellen Stereotyps als ›leeres, bloßes‹ Handeln zu unterschätzen. Dagegen ist aber vielmehr davon auszugehen, dass jede Wiederholung eines Gedenkrituals die Wieder-Holung seiner ersten Aufführung, d. h. seines Anlasses und Urbildes vollzieht und damit die Chance bietet, die Referenz des aktuell aufgeführten Gedenkrituals, also des Abbilds, in ihrer Funktion als Mittel der Gegenwartsgestaltung zu kommunizieren. Dabei sind durchaus Gedenkrituale zu inszenieren, die tendenziell der authentischen Vielstimmigkeit der fundierenden Erinnerungen Raum geben. In seiner schon erwähnten Dankrede zitiert Oz die Erinnerungsperspektive von Verwandten, die die Erfahrung von KZ und Befreiung machen mussten.

So fanden aus Anlass des 60. Jahrestages der Beendigung des Zweiten Weltkriegs vor allem in der Zeit vom 7. bis 9. Mai 2005 in zahlreichen Ländern, die von Kriegshandlungen betroffen waren, Erinnerungs- bzw. Gedenkrituale statt. Bei der zentralen Veranstaltung in Moskau am 9. Mai, bei der über fünfzig Staatsoberhäupter anwesend waren, wurde die Choreografie der Siegesfeier vom 24. Juni 1945, das Urbild also, wiederholt. Die Vergangenheit von Krieg, Kriegsende und Befreiung vom Nationalsozialismus wurde als Vorgeschichte der gemeinsamen Gegenwart vergegenwärtigt, damit eine solche Vergangenheit niemals wieder eine künftige Gegenwart formen könne. Damit auch die Zukunftsgestaltung unbelastet sei von Erinnerungskonflikten, nutzt der russische Präsident Putin als Verantwortlicher der Gedenkveranstaltung die Gelegenheit, um Russland als Befreier vom Nationalsozialismus zu inszenieren, was die Identifikation mit der Sowjetunion von 1945 und ihrer Rolle im Kalten Krieg einschließt. Zugunsten der sichtbar gemachten Vergangenheitsdeutung und –konstruktion, denen damit Anteil an der Gegenwartsgestaltung zugeschrieben wird, werden die Kosten der Befreierrolle (z. B. Gulag) ausgeklammert. Wer am Gedenkritual teilnimmt, akzeptiert diese Deutung, er legt ein Bekenntnis ab.

Als rituelle Bausteine sind zu nennen: Begrüßungsrituale, Ansprachen, eine Parade von Veteranen in Uniform mit Orden und Ausrüstung, traditionell repräsentative musikalische Einlagen (Marschmusik: ›Heiliger Krieg‹, Lied: ›Tag des Sieges‹), Schweige- und Gedenkminuten, symbolische Gesten wie Kranz- und Blumenniederlegungen (Nelken als Symbole des Todes, rote Nelken als Symbole des Sozialismus) auf Friedhöfen und an Ehrenmalen (Gabe als Ehrung der Toten, Dimension der Trauer), Repräsentanten aus Ländern der ehemaligen Kriegsgegner als rituelle Akteure. Indem alle Akteure zwei rote Nelken während der Veranstaltung in ihren Händen halten, wird die Gemeinschaft der Anwesenden und ihre Erinnerung an die Gefallenen markiert, was diesen symbolische Präsenz verschaffen soll.

Insgesamt geht es darum, durch das Gedenkritual die gemeinsame Wertebasis politischen Handelns sichtbar zu machen, die in weiteren programmatischen Statements, Interviews und anderen Verlautbarungen intensiviert und als Kernstück dieser öffentlichen Gedenkrituale bestätigt wird. So heißt es in einem Beitrag von Bundeskanzler Gerhard Schröder zum 60. Jahrestag des Kriegsendes (08.05.1945):

»Europa wurde aus der Not geboren – als Antwort der europäischen Völker auf Krieg, Vertreibung, Zerstörung und nationalen Irrsinn. […] Ohne die Erinnerung an die Katastrophe des Jahres 1945 lassen sich darum weder die historische Bedeutung der europäischen Einigung noch der gemeinsamen europäischen Verfassung ermessen. […] Im vergangenen Jahr sind zehn Mittel- und Osteuropäische Staaten Mitglied der europäischen Gemeinschaft geworden. Damit hat sich ein Traum früherer Generationen erfüllt. Europa hat seine aufgezwungene, widernatürliche Trennung als Folge des nationalsozialistischen Eroberungskrieges endgültig überwunden. […] Wer den europäischen Werten von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, wer dem Schutz von Menschen- und Minderheitenrechten entspricht, wer sich politisch und ökonomisch beitrittsfähig gemacht hat, dem darf der Zutritt zu der Europäischen Union nicht prinzipiell verwehrt sein. Als exklusiver closed shop verlöre die Europäische Union ihre Seins- und Wesensbestimmung: Frieden, Stabilität, Sicherheit und Wohlstand durch Integration« (Schröder, SZ 07./08.05.2005).

Erinnerungs- und Gedenkrituale haben die Funktion, eine gegebene Situation, das Sosein, als Station innerhalb der Kontinuität einer Ordnung erfahrbar zu machen und zu erklären. Als historisch singuläres Abbild eines Urbilds, als orts- und zeitgebundene Form der je aktuellen rituellen Gegenwartsgestaltung hat die einzelne Ritualaufführung die Aura des Originals.

In der Regel entsteht auf der Bühne um den Verantwortlichen oder den Vertreter der bedeutendsten Macht ein Relevanz- als Zugehörigkeitszentrum, was andere Positionen räumlich und sozial zur Peripherie macht. Die in deutschen Medien veröffentlichten Fotos der Moskauer Veranstaltung zeigen vor allem den russischen und den amerikanischen Präsidenten Putin und Bush nebeneinander in der Mitte der ersten Reihe, außerdem die Regierungschefs aus China, Kasachstan und Deutschland rechts des Zentrums, alle mit ernstem feierlichem Gesichtsausdruck und den roten Nelken in den Händen. Die Bedeutung der ersten Reihe liegt in der Bestätigung der Geltungspriorität relational zu den hinteren Reihen, was für die sekundäre Funktion des Gedenkrituals als global wahrgenommenes ›Herrschertreffen‹ nicht unwichtig ist. Geltung und mediale Aufmerksamkeit erhält der einzelne Politiker durch seine Teilnahme am Ritual bzw. die Zugehörigkeit zur Gruppe der Akteure. Aber Nähe oder Ferne zum Zentrum spielen für die visuelle Dokumentation der Sichtbarkeit wie für die Bewertung der Zugehörigkeit eine Rolle, daneben auch die Reihenfolge der Redner, die Dauer ihrer Auftritte, die Programmgestaltung insgesamt, aber auch Informationen über bilaterale Gespräche.

Weil Sichtbarmachung an einen Handlungsprozess gebunden ist, umfasst sie nicht nur optische Signale, sondern wird verstanden im Sinne von handlungsbedingter Informationsproduktion und –vermittlung. Auch die Herkunft der Bauteile aus den verschiedenen Wahrnehmungsbereichen Musik, Körper (Bewegungsabläufe, -formen), (Symbol-) Gegenstände (Blumen, Fahnen, historische Uniformen usw.) belegen die Multiperspektivität von Sichtbarmachung. Als weiteres Merkmal gehört zur rituellen Sichtbarmachung, dass die einzelnen Sequenzen nicht einfach wie Nummern einer Revue gleichsam nebeneinander gestellt werden können und in ihrer Abfolge austauschbar sind, sondern dass sie einen bestimmten Ablauf von einem Anfang zu einem zugehörigen Ende markieren, d. h. rituelle Sichtbarkeit ist, weil prozessual und von körperlich Anwesenden an einem historischen Ort zu einem Zeitpunkt mit historischem Hintergrund hergestellt, eine narrative Sichtbarkeit, die Sinn repräsentiert und auf diese Weise eine Heils- oder Orientierungsfunktion erfüllen kann. Hier mag eine strukturelle Nähe zum Prinzip Sicherheit durch Sichtbarkeit aufscheinen, das Michel Foucault als Basis der architektonischen und institutionellen Gestaltung von Gefängnissen, Psychiatrien usw. aufgedeckt hat und das sicher auch als Begründung für umfassende Videoüberwachung öffentlicher Räume dient (vgl. Hempel/Metelmann 2005). Was nicht sichtbar, dennoch aber wirksam ist, wirkt bedrohlich.

Die anwesenden Repräsentanten der verschiedenen Beteiligtengruppen und das anwesende Publikum bilden die Ritualgemeinschaft, die auch eine Zeugen- bzw. Bekenntnisgemeinschaft darstellt. Bezeugt wird die Sinn bzw. Heil stiftende symbolische Handlung, indem sie als solche von den direkt Anwesenden in der Form einer Erfahrungstatsache erzählt werden kann. In der Möglichkeit, die Ritualakteure, die zumindest einem Teil der Zuschauer frontal gegenüberstehen, in ihrer körperlichen Präsentation unmittelbar zu erfahren, womöglich per Handschlag zu berühren oder ein Autogramm zu erhalten, wenn dies praktisch (Sichtverhältnisse, Nähe / Ferne zur Bühne usw.) machbar ist, liegt der Wert des Authentischen einer direkten Teilnahme. Indem man sagen kann, dass man dabei gewesen ist, hat man grundsätzlich die Chance, ins Geschichtsbuch zu kommen. Dagegen werden die zeitgleich, aber ›bloß‹ medial Teilnehmenden die Akteure zwar durchgehend viel genauer im Blick haben, aber vermittelt und perspektivisch begrenzt durch die Kameraeinstellung. Allerdings wird das Gedenkritual geschichtsbildend erst durch seine globale mediale Präsenz. »Wirklich ist das, was in der Bildlichkeit der Medien zur Sichtbarkeit gelangt« (Großklaus 2004, 42). Den Erinnerungsstoff generieren die Medien.

Die Agency des Rituals im Sinne einer Wirkungs- und Handlungsdisposition stellt den Teilnehmern einen Scheck auf die Zukunft aus, den diese einlösen müssen, um das Ritual zum Erfolg werden zu lassen. Wer an Erinnerungs- bzw. Gedenkritualen teilnimmt, ist an einem Produktionsprozess beteiligt, dessen Ergebnis nur auf diesem Wege zu gewinnen ist: Gemeint ist die Modalstruktur performativen Handelns (etwas bewirken, indem / dadurch dass etwas gesagt oder – angemessener – sichtbar gemacht wird), wonach die Ausführung einer sprachlichen Handlung das herstellt und mit Gültigkeit versieht, was gesagt wird. Indem z. B. der Standesbeamte die Eheformel spricht, wird aus den Brautleuten ein Ehepaar, ein zuvor zwischen ihnen ausgehandelter wertfundierter Statuswandel wird sichtbar gemacht und erhält durch die Überreichung des Familienstammbuchs, die Glückwünsche des Standesbeamten usw. rituell legitimierte Sichtbarkeit, was juristisch definierte Anschlusshandlungen zur Folge hat; das Heiratsritual als Urbild der Ehegemeinschaft gestaltet die Gegenwart und gibt dem künftigen Alltag einen Rahmen, vergegenwärtigt wird es an den Hochzeitstagen, die als Abbilder des Urbilds gelten.

Überträgt man dies auf das Erinnerungsritual zum Kriegsende, so geht es hier um die Sichtbarmachung einer zuvor ausgehandelten gemeinsamen Wertebasis (Solidarität gegen Rassismus, Völkermord, Totalitarismus, für Freiheit, Souveränität, Menschenrechte, Frieden, Toleranz) durch die Inszenierung der multinationalen und -perspektivischen Dimension des Erinnerungsgegenstands (Befreiung vom Nationalsozialismus), aber unter Anerkennung der dominierenden russischen Rolle für die aktuelle Gegenwartsgestaltung; im Zuge der rituellen Sichtbarmachung entsteht die wertfundierte Ritualgemeinschaft als Gestaltungsfaktor von Gegenwart und Zukunft. Damit – so ist zu verallgemeinern – umfasst der Prozess der Sichtbarmachung das Präsentationsgeschehen der rituellen Handlung, das aus einer wertexpliziten Selbstpräsentation (Russland als Befreier vom Nationalsozialismus) und der Präsentation eines Handlungspartners (Staatsgäste und Publikum) besteht; den präsentierten Akteuren wird durch ihre Teilnahme am Ritual das betreffende Wert- und Deutungsmuster gleichsam inkorporiert, wodurch sie zu dessen Repräsentanten werden. Insofern produziert der Ritualprozess einen komplexitätsreduzierten Konsensstatus. An einer Veranstaltung teilnehmen heißt, sich etwas von dem zu nehmen, was diese Veranstaltung zu bieten hat, in der Regel Imageaufwertung, mediale Aufmerksamkeit, Aufbau von Beziehungsnetzen, indem oder dadurch dass man als Teil der Veranstaltung sichtbar gemacht wird und sich sichtbar macht. Man braucht also eine Teilnahmezulassung und hat sich zum festgesetzten Zeitpunkt an den Handlungsort zu begeben. Aber auch der Veranstalter profitiert, weil er sich als Initiator einer Ritualgemeinschaft präsentieren kann, wobei stets auch die propagandistische Dimension mitspielt. Teilnahme bezeichnet also eine Bewegung von hier nach dort und zurück, die eine unaufhebbare Beziehung zwischen den Handlungspartnern stiftet, weil sie beide verändert.

Sichtbarmachung als Modus des rituellen Produktionsprozesses generiert die Sichtbarkeit einer Handlungskonstellation (›Dort‹), die durch Anschlusshandlungen in den zweckrationalen Alltag (›Hier ‹) transformiert werden soll. Das sichtbar gemachte Wertmuster soll in andere Kontexte diffundieren. Unter Anlehnung an Derrida kann der Satz ›Dort soll Hier werden‹ als Umschreibung für die Alltagswirkung rituellen Handelns gelesen werden. Daher ist von einem Kooperations- bzw. Komplementärverhältnis zwischen Ritual- und sog. Alltagshandlungen einer Institution auszugehen, die Ritualhandlung unterbricht nicht den zweckrationalen Alltag, sondern ist als spezieller Handlungstyp in ihn eingebettet; seine Funktionsfähigkeit soll dadurch erhöht, erhalten oder modifiziert werden, dass seine implizite Wertausrichtung explizit gemacht wird. Nur in diesem Sinne scheint die These vertretbar zu sein, dass rituelles Handeln die Aufgabe habe, Ordnung im Chaos der Alltagswirklichkeit zu schaffen, – angemessener wohl – zu gewährleisten. Es steht als Alternative zu anderen Handlungstypen zur Verfügung und kann angesichts bestimmter Symptome sowie als Ergebnis einer kultur- und zeitökonomischen, auch ordnungspolitischen Kosten-Nutzen-Rechnung von den Verantwortlichen eingesetzt werden, um die Kontinuitätserfahrung einer Ordnung zu inszenieren oder Zugehörigkeit sichtbar zu machen, um auf dieser Basis interessenfundierte Ziele zu erreichen. Auch rituelles Handeln entspricht dem Prinzip rationalen Handelns, ich habe dafür den Begriff des symbolrationalen Handelns geprägt.

Als Belege für die enge erinnerungspolitische Bindung von Alltags- und Ritualhandlung mögen in bezug auf die Moskauer Veranstaltung zwei Details dienen. Erstens blieben die Staatschefs der beiden baltischen Republiken Estland und Litauen der Veranstaltung wegen der Erinnerung an die sowjetische Besetzung ihrer Länder von 1945 bis zur Wende nach 1989 fern. In ihrer speziellen Erinnerungsperspektive dominiert nicht die Rolle Russlands als Befreier vom Nationalsozialismus, sondern die einer Besatzungsmacht. Für diese spezielle Erinnerung war im offiziellen Gedenkritual, das als Konsensproklamation der russischen Seite mit allen Gästen angelegt war, weder Stimme noch Raum vorgesehen. Es stellt sich die Frage, ob bei der Aushandlung der sichtbar zu machenden gemeinsamen Wertebasis eine Möglichkeit für die Berücksichtigung der Minderheitenperspektive bestanden hatte. Hätten die beiden Politiker sich durch ihre Teilnahme als zugehörig präsentieren lassen, wäre das Image des Ritualveranstalters Russland und seines Präsidenten größer gewesen, aber eine spezielle Erinnerungsperspektive wäre unsichtbar geblieben. Insofern kann auch eine Nichtteilnahme eine Wertebasis sichtbar machen.

Zweitens wird dieser Teilnahmeverzicht durch die Tatsache legitimiert, dass der amerikanische Präsident unmittelbar vor seiner Ankunft in Moskau ein Treffen mit seinen baltischen Kollegen inszenierte und unmittelbar nach Abschluss des Gedenkrituals nach Georgien reiste, dessen Präsident aus den gleichen Gründen wie die baltischen Politiker in Moskau nicht dabei war. So legitimiert Bush die besonderen Erinnerungsperspektiven gegen die eine Gedenkperspektive und verschafft ihnen weltweite Aufmerksamkeit. Auch die bewertete Nichtteilnahme geht in die Geschichte der betreffenden Ritualaufführung ein, weil die Absage einer Einladung ebenso wie die Annahme eine situationskonstitutive Beziehung zwischen den Handlungspartnern herstellt.

Am 10. Mai 2005 wurde das zentrale Holocaust-Mahnmal in Berlin, dessen offizielle Bezeichnung ›Denkmal für die ermordeten Juden Europas‹ lautet, nach 17jähriger Planungs- und Bauzeit (vgl. Kirsch 2003) der Weltöffentlichkeit übergeben. Unter Beteiligung von Repräsentanten zahlreicher Staaten, nationaler und internationaler Institutionen und Organisationen fand eine festlich-feierliche Einweihungsfeier statt, die als Erinnerungsritual inszeniert war. Neben dem Stelenfeld gehört ein unterirdischer Informationsbereich zum Denkmal, der zahlreiche Opfernamen nennt und individuelle Erinnerungsgeschichten und –perspektiven dokumentiert sowie durch bestimmte Links zu anderen Dokumentationszentren die Möglichkeit bietet, tendenziell alle ›erfassten‹ Erinnerungen kennenzulernen. Auch bei dieser Gelegenheit legitimiert die versammelte Ritualgemeinschaft einen Gegenwartsentwurf, indem sie eine zuvor ausgehandelte Konstruktion von Vergangenheit sichtbar macht und mit dem Denkmal dauerhaft sichert; das ausgehandelte Deutungsmuster entspricht den Interessen der Beteiligten und macht das Erfahrungspotential der Vergangenheit produktiv für die Gegenwartsgestaltung. Die Vergangenheit wird rituell kanalisiert. Bei jeder Wiederholung des Erinnerungsrituals wird die Deutung immer wieder neu legitimiert. So erscheint Erinnerung als unverzichtbar, weil sie vor dem Vergessen als Einfallstor der nicht rituell gerahmten und damit unkontrollierten Vergangenheit in die Gegenwart warnen und womöglich bewahren kann. Auf der jeweiligen Gegenwart liegt die Hypothek, eine unkontrollierte Wirksamkeit der Vergangenheit zu verhindern. Insofern befreien Erinnerungs- und Gedenkrituale nicht von der Geschichte, sondern machen sie konstitutiv für die Gegenwart.

Wenn zum Gedenkritual der Alliierten anlässlich des 60. Jahrestages des D-Day am 6. Juni 2004 erstmals ein deutscher Bundeskanzler als ritueller Akteur eingeladen wird, dann macht diese Geschichts- und Strukturdynamik des Rituals die Überwindung oder Suspendierung einer ›geschichtlichen Konfliktlinie‹ sichtbar, die unterschiedliche historische Erfahrungen und darauf basierende Erinnerungen des Weltkriegs markieren sollte und noch 1994 eine Teilnahme des deutschen Bundeskanzlers verhinderte. Dass dieser 2004 teilnehmen kann, weist auf ein neues Deutungsmuster dieser historischen ›Konfliktlinie‹ hin: Sie wird als symbolisches Zeichen des europäischen Einheitsprozesses gedeutet, was ihr einen Platz in der Vorgeschichte der gemeinsam zu gestaltenden aktuellen Gegenwart verschafft. Während die Alliierten ihre Deutung des D-Day als Beginn der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus rituell bestätigen, zeigt die Teilnahme des Bundeskanzlers, dass die Bundesrepublik Deutschland diese Deutung akzeptiert hat und dass die Alliierten zuvor diese Akzeptanz akzeptiert haben. Erst nachdem die ›historische Konfliktlinie‹ zwischen Alliierten und Deutschen in ritueller Sichtbarmachung als Gestaltungselement der Gegenwart legitimiert worden ist, kann sie Faktor gemeinsamer Erinnerung und Gegenwartsgestaltung werden. Insgesamt wird solches Erinnern zum Konstitutionsfaktor des ›Projekts Europa‹.

Schon diese wenigen Beispiele heben die elementare Tatsache hervor, dass Erinnerung, Gedenken und Vergangenheitskonstruktion sich unter den kontextuellen Bedingungen einer Gegenwart vollziehen, dass sie als Indikator und Faktor, als abhängige und unabhängige Variable nur im Gestaltungsprozess dieser Gegenwart zu verorten sind. Gedenkrituale sind eingebettet in einen Alltagskontext, dessen wertimplizites Handeln durch das wertexplizite rituelle Handeln legitimiert wird. Weiterhin zeigen die Beispiele die grundsätzlich dialogische Struktur nationaler Erinnerung, weil diese immer schon die Deutung anderer nationaler Erinnerungsbestände einschließt, was vor allem in bezug auf Konfliktkonstellationen deutlich wird. Nationale Erinnerung ist multiperspektivisch und hat einen multinationalen Kontext, dieser Stimmenpluralismus sollte gehört, also sichtbar gemacht werden. Ist nationale Erinnerung tendenziell monologisch angelegt, ist von einer Distanz zur europäischen Erinnerungskultur auszugehen.

Es leuchtet unmittelbar ein, dass die multinationale Dimension der Erinnerung, die Internationalisierung scheinbar nationaler oder bilateraler Erinnerungsbestände immer dann besonders stark ist, wenn es um die Verletzung von Menschenrechten geht; in diesem Fall überschreitet die erinnerungspolitische Aufmerksamkeit grundsätzlich den Rahmen der beteiligten Staaten, Ethnien oder Gruppen und wird zur Anforderung der institutionalisierten Weltgemeinschaft. Schon anlässlich des Prozesses (1921) gegen den Attentäter von Talaat Pascha, einen der für den Genozid an den Armeniern verantwortlichen Politiker, begründete Robert W. Kempner, der spätere Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen gegen die nationalsozialistischen Kriegsverbrecher, ein internationales Mitspracherecht in Fällen von staatlicher Menschenrechtsverletzung. So würde der Genozid an den Armeniern auch nicht ›vergessen‹ werden, wenn die Türkei kein Mitglied der EU würde.

EU-Erweiterung und europäischer Erinnerungsraum

Betrachtet man die aktuelle, in den deutschsprachigen Medien geführte Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei, so kann man deutliche Vorbehalte gegen ein Übergangsritual vom Nichtmitglied zum Mitglied Türkei in der EU feststellen; im intellektuellen Diskurs wird vor allem die türkische Erinnerungspolitik in bezug auf den Genozid an den Armeniern kritisiert, im politischen geht es um wirtschaftliche Probleme und kulturelle Differenzen. Wehler begründet seine Ablehnung eines Beitritts mit folgenden Argumenten:

»Das Land besitzt keine liberalisierte Marktwirtschaft, missachtet eklatant die Menschenrechte, verfolgt die kurdische Minderheit, vor allem aber ist es als muslimischer Staat durch eine tiefe Kulturgrenze von Europa getrennt. Der Konsens lautet: Nach geografischer Lage, historischer Vergangenheit, Religion, Kultur, Mentalität ist die Türkei kein Teil Europas. Weshalb sollte man 65 Millionen muslimischen Anatoliern die Freizügigkeit gewähren, sich auf unabsehbare Zeit mit einem kostspieligen Versorgungsfall belasten?« (Wehler, Die Zeit Nr. 38, 2002)

Ähnlich argumentiert der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt:

»Die EU würde sich mit einer Aufnahme der Türkei und weiterer Staaten ökonomisch und finanziell übernehmen, jedenfalls sind künftige Enttäuschungen unvermeidlich. [...] Deshalb gibt es fast überall in der Union Angst vor ungesteuerter Zuwanderung und vor kultureller Überfremdung. [...] Monnet und Schuman, Adenauer und de Gasperi, Churchill und de Gaulle waren Staatsmänner von ungewöhnlichem Weitblick – keiner von ihnen hat die europäische Integration bis über die kulturellen Grenzen Europas ausdehnen wollen.« (Schmidt, Die Zeit 25.11.2004)

Was den Genozid an den Armeniern betrifft, so sind die historischen Ereignisse in einer Reihe umfangreicher Untersuchungen und Darstellungen (z. B. Hofmann 1990, 1997, Akçan 1996/2004, Gust 1993, Dabag 2002, Kieser/Schaller (Hg.) 2002, Hosfeld 2005,) rekonstruiert und Gegenstand einer speziellen Genozidforschung, wie sie vom ›Institut für Diaspora- und Genozidforschung‹ (Ruhr-Universität Bochum) betrieben und in der Zeitschrift für Genozidforschung (seit 1999) diskutiert und dokumentiert wird. Zu verweisen ist auch auf die Informationsarbeit der Deutsch-Armenischen Gesellschaft (http://www.deutsch-armenische-gesellschaft.de/). Daher werden die historischen Ereignisse hier nur in aller Kürze zusammengefasst.

Schon zwanzig Jahre vor den Ereignissen von 1915 hatte es 1895 unter Sultan Abdul Hamid II. Ausschreitungen gegen die christliche armenische Bevölkerung in Teilen des Osmanischen Reiches gegeben, um – so die politische Begründung des Sultans – die Bildung eines türkischen Nationalstaats durch ethnische Reinigung voranzutreiben. Nach mehreren antiarmenischen Aktionen des türkischen Kriegsministers Enver Pascha Anfang 1915 wie der Entlassung der armenischen Soldaten aus dem türkischen Heer in die Zwangsarbeit, die Ermordung armenischer Repräsentanten in mehreren Regionen, setzt am 24. April 1915 die systematische Vernichtungsaktion gegen die Armenier mit der Festnahme, Deportation und schließlichen Hinrichtung von »2345 Menschen, die der armenischen Elite zugerechnet wurden« (www.tagesschau.de/aktuell/meldungen, Stand 21.04.2005) in Istanbul ein. Daraufhin wird die gesamte armenische Bevölkerung vor allem von ›Sondereinheiten‹ deportiert, auf sog. Todesmärsche in die syrische Wüste geschickt, dem Hungertod preisgegeben, von Schiffen ins Schwarze Meer geworfen oder auf andere Weise getötet. Die Zahl der Opfer wird von internationalen Organisationen und nichttürkischen Historikern weitgehend übereinstimmend mit 1,5 Millionen angegeben.

In zahlreichen westlichen Staaten (nicht in Deutschland und Israel) werden die Ereignisse als Völkermord bewertet, was auch der Einschätzung des europäischen Parlaments vom Juni 1987 entspricht, wonach »die tragischen Ereignisse von 1915-1917 Völkermord sind im Sinne der von den Vereinten Nationen am 09.12.1948 angenommenen Konvention« (zit. nach Schmidt-Häuer, Die Zeit 23.03.2005). Die türkische Seite begründet ihr Vorgehen gegen die Armenier mit dem – nicht haltbaren (vgl. Bayraktar / Seibel 2004, 389) – Argument von deren Unterstützung des russischen Kriegsgegners und Provokationen der türkischen Verwaltung (vgl. AUD: Die Position der Türkei, FR 23.04.2004); sie spricht von 200 000 Opfern, die Deutung dieser kriegsbedingten Aktion als ›planmäßiger Mord‹, Völkermord oder Genozid wird zurückgewiesen, tabuisiert und steht unter Strafandrohung (www.tagesspiegel.de/tso/aktuell/artikel.asp?TextID=49144; vgl. Hosfeld 2005, 310).

Notwendig erscheint das türkische Argument eines Umsiedlungsprogramms, um die Gründungsgeschichte des modernen türkischen Staates zu legitimieren, den Atatürk 1923 nach erfolgreich abgeschlossenem Unabhängigkeitskrieg gegründet hat. Die ethnische Trennung sei für den inneren Frieden, die Nationalisierung und Homogenisierung des Staates erforderlich gewesen. Wenn der türkische Botschafter in Berlin erklärt: »Es ist unfair, bei einem Thema, das die Historiker entzweit, die Türkei zu zwingen, ein unbewiesenes Verbrechen zu akzeptieren. Wenn die Armenier erwarten, dass die Türkei wegen des EU-Beitritts nachgibt — das werden wir nicht tun« (Schmidt-Häuer, Die Zeit 23.03.2005), dann greift er einen Argumentationstopos türkischer Politik auf, der schon seit der Zeit Abdul Hamids II. verwendet wird: den Vorwurf, die Europäer würden das Armenier-Problem für eigene Interessen instrumentalisieren (vgl. Bayraktar / Seibel 2004, 395). Diese Argumentation soll mehrere Zwecke erfüllen: Die EU soll als unglaubwürdig entlarvt werden, die Armenier könnten sich auch nur so lange auf die EU verlassen, wie sie für diese von Nutzen seien, den Türken seien nationale Geschichte, Erinnerung und Kultur so wichtig, dass sie dafür sogar wirtschaftliche und politische Nachteile in Kauf nähmen. Alte Ängste vor einer Einkreisung durch fremde Mächte (Bayraktar / Seibel 2004, 395) werden geschürt.

Deutschland hat eine historische Beziehung zum Genozid an den Armeniern, was auch umfangreiches Wissen über die Verantwortlichen begründet. So operierte die deutsche Armee unter Feldmarschall Colmar von der Goltz im Ersten Weltkrieg als Bündnispartner der Armee des Osmanischen Reiches in Anatolien und war unmittelbar mit den Maßnahmen gegen die Armenier konfrontiert, was aus diversen Dokumenten nachweisbar ist. Der protestantische Pfarrer Johannes Lepsius, der während des Ersten Weltkriegs als Gründungsmitglied der Deutsch-Armenischen Gesellschaft (1914) das Osmanische Reich bereiste, veröffentlichte 1919 eine den Genozid betreffende Dokumentensammlung, deren Publikation vor der Revolution nicht möglich war. Der für den Genozid maßgeblich verantwortliche Innenminister Talaat Pascha, der sich nach dem Krieg mit deutscher Unterstützung nach Berlin abgesetzt hatte, um einer Anklage in der Türkei zu entgehen, wurde am 15. März 1921 von einem armenischen Studenten in Berlin erschossen, der anschließende Prozess endete mit dem Freispruch des Täters. Besondere Aufmerksamkeit haben den Massakern an den Armeniern eine Reihe literarischer Veröffentlichungen (vgl. Dücker 2004) verschafft, so mehrere Texte von Armin T. Wegner, der als Sanitäter im Heeresteil von der Goltz die Notlage der Armenier kennengelernt und auch fotografisch dokumentiert hat, so die Romane Die vierzig Tage des Musa Dagh (1933) von Franz Werfel und Das Märchen vom letzten Gedanken (1989) von Edgar Hilsenrath. Hitler erwähnt den Genozid als Beispiel für die Vergesslichkeit der Welt, um so das Risiko als gering darzustellen, für den Holocaust zur Rechenschaft gezogen zu werden. In Deutschland findet eine umfassende juristische, pädagogische, theologische, erinnerungspolitische, -geschichtliche, literarisch-kulturelle Auseinandersetzung mit dem Holocaust statt, dessen Leugnung steht unter Strafe, dagegen konnte sich bis heute keine deutsche Regierung dazu durchringen, den türkischen Genozid an den Armeniern eindeutig als solchen zu bezeichnen und zu verurteilen, wie Frankreich es 2001 getan hat. Der Ratsvorsitzende der EKD, Bischof Wolfgang Huber, fordert denn auch »die Bundesregierung dazu auf, ›sich zur deutschen Mitschuld zu bekennen, den deutschen Anteil an den Ereignissen aufzuarbeiten und im eigenen politischen Handeln daraus Konsequenzen zu ziehen‹« (http://www.tagesspiegel.de/tso/aktuell/artikel.asp?TextID=49144, Zugriff 03.05.2005, vgl. SZ 25.04.2005).

Einerseits gibt es in Deutschland – wie erwähnt – ein Zentrum für Genozidforschung, andererseits versuchen türkische Diplomaten zumeist mit Erfolg Druck auf deutsche Stellen auszuüben, die nach türkischer Auffassung der armenischen Deutung zu weit Rechnung tragen, was im Zusammenhang mit dem Einschreiten gegen Lehrpläne des Landes Brandenburg allerdings gerade zur besonderen Publizität des Themas geführt hat (vgl. Schmidt-Häuer, Die Zeit 23.03.2005). Auf den Beschluss des Deutschen Bundestages vom 16. Juni 2005, der »die Türkei zur Aufarbeitung der Vertreibung und der Massaker an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs« auffordert, reagiert die türkische Regierung mit der Drohung, dass die Resolution »negative Auswirkungen auf das bilaterale Verhältnis haben« (Heftige Attacken NZZ 17.06.2005) werde. Kurz zuvor war von einer türkischen Trauerveranstaltung für Talaat Pascha am 15. März 2005 in Berlin berichtet worden; so wie die Ermordung Talaat Paschas als Befreiungstat gedeutet worden sei, werde heute – so die Teilnehmer dieser Trauerfeier – der Türkei der Genozid an den Armeniern unterstellt (Mönch, FAZ 16.03.2005). Talaat wurde 1943 auf dem Ehrenfriedhof in Istanbul beigesetzt, Enver Pascha, »der ehemalige Kriegsminister des Osmanischen Reiches« und als solcher mit verantwortlich für den Genozid, erhielt dort 1996 »ein posthumes Staatsbegräbnis« (Hosfeld 2005, 306ff.).

Vor allem in Armenien und in armenischen Diaspora-Gemeinden in vielen Ländern gab es aus Anlass des 90. Jahrestages des türkischen Genozids an den Armeniern am 24. April 2005 zahlreiche Gedenk- und Erinnerungsrituale; aber auch Parlamente mehrerer Staaten wie auch Repräsentanten nichtstaatlicher Organisationen nahmen dieses Ereignis zum Anlass wertbezogener erinnerungspolitischer Debatten. Weil die offizielle türkische Position die Deutung der historischen Ereignisse als Völkermord nicht zulässt, finden in der Türkei keine Gedenkveranstaltungen statt. Diese Erinnerungspolitik hat dem Thema Armenien im intellektuellen Diskurs in Deutschland zu prominenter Bedeutung verholfen (vgl. z.B. Dossiers in Die Zeit 23.03.2005, 21.04.2005, Beiträge in NZZ 23./24.04.2005, in Freitag 29.04.2005; auch die European Review/Cambridge widmet ihren Focus im Juliheft 2005 dem Thema Türkei, wobei allerdings die Frage Armenien nicht explizit behandelt wird).

»In den Vordergrund ist, nicht allein aus kalendarischen Gründen, ein geschichtspolitisches Thema getreten: der Massenmord an den Armeniern. Der Umgang der Türkei mit der Erinnerung an dieses dunkle Kapitel ihrer Geschichte wird immer häufiger als Beleg der angeblichen Europa-Untauglichkeit der Türkei angeführt« (Burgdorf, FAZ 18.05.2005). In zahlreichen Beiträgen wird die Anerkennung von Verantwortung und Schuld für den Genozid erwartet, eine symbolische Geste, die erinnerungs- und geschichtspolitische Konsequenzen haben, aber keine Reparationsforderungen begründen sollte. »Unabdingbare Voraussetzung für eine zukunftsfähige Erinnerungskultur ist die Anerkennung von Schuld durch diejenigen, die erkennbar Schuld auf sich geladen haben. Ohne eine solche Anerkennung gibt es keine Entschuldungschance. Schon dieser erste Schritt jedoch ist keine Selbstverständlichkeit. Wie schwer etwa tut sich Belgien, die Tatsache des Genozids in Kongo anzuerkennen... Wie schwer fällt es der Türkei, das Faktum des Ausrottungskriegs gegen die Armenier anzuerkennen. Wie zögerlich sind Grossbritannien und die USA, den Bombenterror von 1944/45 gegen fast wehrlose deutsche und japanische Städte einzugestehen. Wie hartnäckig zeigt sich Tschechien bei der Verharmlosung der Vertreibung der deutschstämmigen Bevölkerung. In internationaler Sicht wird man Deutschland im Hinblick auf die Anerkennung historischer Schuld geradezu als leuchtendes Vorbild bezeichnen müssen« (Mayer-Tasch, NZZ 08./09.01.2005). Im August 2005 (vgl. SZ 26.08.2005) hat Tschechien eine offizielle Entschuldigung gegenüber den sudetendeutschen Antifaschisten dafür ausgesprochen, dass auch sie Opfer der Vertreibung wurden; diese Vergangenheitsdeutung schließt nicht etwas ab, sondern markiert die Basis für eine neue Zukunft der Verständigung, die Entschuldigung ist kein Eingeständnis von Schwäche, sondern im Gegenteil ein Zeichen der Akzeptanz der eigenen Geschichte als dialogischem Deutungsraum.

Dass eine offizielle türkische Anerkennung des Genozids, die ein Entschuldigungsritual und eine entsprechende Erinnerungspolitik zur Folge haben könnte, eher unwahrscheinlich ist, belegen Verlautbarungen türkischer Politiker und Berichte über die veröffentlichte Meinung in der Türkei, die zwar eine offenere Diskussion dieses Themas für 2005 feststellen, dennoch aber eine »Identitätskrise« (Höhler, FR 12.04.05) diagnostizieren (»westwärts, ostwärts oder doch besser allein gegen alle?« Thumann, Die Zeit 21.04.2005), weil die Türkei sich zwischen Tradition und Moderne entscheiden müsse. »Beispielhaft zeigt sich der Identitätskonflikt an der wieder aufgebrochenen Kontroverse um die Armenier-Verfolgungen während und nach dem Ersten Weltkrieg. Über 80 Prozent der Türken wollen lieber auf den EU-Beitritt verzichten, wenn damit das Ansinnen verbunden sei, den offiziell geleugneten Völkermord an den Armeniern anzuerkennen. Das Thema bleibt in der Türkei tabu« (Höhler, FR 12.04.05). Dieses Tabu führt z. B. dazu, dass »in keinem türkischen Geschichtsbuch steht, dass 1915/16 im Osmanischen Reich, auf dessen Ruinen die Türkei entstand, bis zu 1,5 Millionen Armenier lebten, von denen Hunderttausende ermordet und in die syrische Wüste getrieben wurden« (Schlötzer, SZ 18.04.05).

Was bedeutet es, wenn der EU-Beitritt der Türkei als Übergangsritual analysiert wird? Unter diesem Begriff hat Arnold van Gennep (1909) rituelle Veränderungsprozesse in die drei Sequenzen von séparation (Aufkündigung der Zugehörigkeit zu einer Ordnung), marge (Neuorientierung zwischen aufgegebener Ordnung und anderen Angeboten), aggrégation (Angliederung an eine neue Ordnung) eingeteilt. Wendet man dieses prozessuale Schema auf den Beitritt der Türkei zur EU an, so ergibt sich Folgendes: 1963 wurde die wechselseitige Bereitschaft zu einer Annäherung zwischen Türkei und EWG mit dem Ziel der Zugehörigkeit vereinbart. Nach Jahren der Verhandlungen erhielt die Türkei bei der Gipfelkonferenz in Helsinki im Dezember 1999 von den EU-Staaten, die, »massiv gedrängt von der Chefin des State Department« (Wehler, Die Zeit Nr.38, 2002), damit »die Verwirklichung eines strategischen Zieles der USA« (Schmidt, Die Zeit 25.11.2004) fördern, den Status des Kandidaten, der am 17. Dezember 2004 auf Empfehlung des Abschlussberichts des ›Beitrittskommissars‹ Günter Verheugen bestätigt wurde, nun aber mit der Zusage, am 3. Oktober 2005 konkrete Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Diese sollen aber, wie es von EU-Seite heißt, »ergebnisoffen« geführt werden. Handelte es sich 1963 lediglich um die ohne Zeitvorgabe vereinbarte Möglichkeit einer Zugehörigkeit, die allerdings auch schon einen Hinweis auf eine séparation vom gültigen soziokulturellen Hintergrund enthielt, so markiert die Vereinbarung von Beitrittsverhandlungen sowohl die vollzogene séparation als auch die Zulassung der ersten Phase der marge. Alle Vereinbarungen erfüllen ritualwissenschaftlich den Tatbestand einer Ritualankündigung: ›Wir wollen ein Übergangsritual mit der Türkei (mit einem Aufnahmeritual als Abschluss) durchführen.‹ Die Empfehlung des Verheugen-Berichts wurde ausgesprochen, nachdem die Möglichkeit der Einhaltung der sogenannten Kopenhagen-Kriterien durch die Türkei überprüft worden war. »This was the debate about Turkey`s state of preparedness and the degree to which the country fulfilled the so-called ›Copenhagen Criteria‹, which stipulated that candidates for membership of the EU should have a stable democracy, the rule of law, respect for human rights and a functioning market economy« (Zürcher 2005, 377).

Als sichtbares Zeichen der Zugehörigkeit zu einer institutionalisierten Gemeinschaft kann die Teilnahme als Akteur an deren Festen, Feiern und rituellen Handlungen gelten, deren Aufführungen als Relais der Erinnerungsgeschichte ausgelegt, wenn nicht definiert sind. Damit ein Aufnahme-, Ernennungs- oder Initiationsritual stattfinden kann, hat der Kandidat einen Assimilationsprozess zu durchlaufen, der als Prüfungs-, ›Reinigungs‹- und Zulassungsverfahren, d. h. als Übergangs-, Aushandlungs- oder Konsensbildungsphase operationalisiert wird. Dabei geht es um die Bereitschaft des Kandidaten, das Wertesystem und die zugehörigen Handlungs-, Leistungs- und Symbolsysteme der Zielgemeinschaft als verbindlich für das eigene Handeln anzuerkennen, was in der Regel dessen Modifizierung zur Folge hat. Im Gegenzug ist die Gemeinschaft bereit, die Relationalität zwischen ihren Mitgliedern neu auszurichten, um den Kandidaten in die Funktionsverteilung aufzunehmen.

Ein Aufnahmeritual bietet der Gemeinschaft Gelegenheit zur Selbstpräsentation dadurch, dass sie das neue Mitglied öffentlich als ihren Repräsentanten legitimiert, dieser akzeptiert das Wertmuster der Gemeinschaft. Vollzogen wird das Aufnahmeritual verbal (Einsetzungsworte, Dank, programmatische Erklärungen) und nonverbal (Unterzeichnung und Überreichung von Urkunden, Musik usw.). Weil jede Ritualaufführung die Wieder-Holung der Gestaltungs-, Formungs- und Ordnungsfunktion des Anfangs für die jeweilige Gegenwart einschließt, ist auch eine neue Mitgliedschaft im Anfang fundiert. Es kann weitergehen, wenn oder weil im Ritual die Anfangsverheißung neu legitimiert wurde. Daher ist von jedem neuen Mitglied auch die institutionalisierte Gedenkkultur zu akzeptieren.

Demnach bezeichnet rituell hergestellte Sichtbarkeit keine Statik des Erreichten, sondern intendiert eine Handlungsdynamik jenseits der rituellen Situation, d. h. – um das Beispiel aufzunehmen – Zugehörigkeit und Statuswandel eines neuen Mitglieds in der EU sollen in Anschlusshandlungen eingelöst werden. Wer an einem Ritual teilnimmt, weiß in der Regel, auf was er sich einlässt und was von ihm erwartet wird. Ein Aufnahmeritual stellt eine Handlungsdisposition (Agency) bereit, die neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet, die auf keinem anderen Wege erreichbar gewesen wären. Ob auf ein Heilungsritual die erwartete Genesung folgt, ob ein Aufnahmeritual die erwartete Verhaltensweise des neuen Mitglieds bewirkt, ob ein Heiratsritual eine glückliche Ehe bedingt, ob politische Erinnerungs- oder Gedenkrituale die erwünschten Anschlusshandlungen praktischer Politik auslösen, zeigt sich jeweils erst in der Zukunft. Ohne die symbolischen Handlungen wäre eine entsprechende Wirksamkeit aber von vornherein ausgeschlossen. Ein Ritual ist Mittel zum Zweck, kein Selbstzweck. Rituale zeigen, was zu einem bestimmten Zeitpunkt möglich und notwendig ist, sie machen die Bilanz des Erreichten sichtbar.

Angesichts der realen Beitrittsmöglichkeit der Türkei und der für viele unkalkulierbaren Auswirkungen kommt es 2005 im Kontext der Ablehnung der EU-Verfassung in mehreren Gründungsstaaten ›Europas‹ zur Infragestellung des Zeitplans der Beitrittsverhandlungen, als Zeitrahmen für einen Beitritt werden 10 bis 20 Jahre genannt, in Frankreich soll es ein Referendum über den Beitritt geben. Neben dem erinnerungspolitischen Thema ist es die fehlende Anerkennung des EU-Mitglieds Republik Zypern durch die Türkei, die immer wieder als Hindernis aktualisiert werden kann. (Seit 1974 hat die Türkei nur den türkischen Teil der geteilten Insel anerkannt.) Am 2. August 2005 moniert der französische Premierminister Villepin eine einseitige türkische Erklärung zur Unterzeichnung der Zollunion mit den 2004 beigetretenen zehn Staaten als inakzeptabel; die Türkei teilte mit, dass ihre Unterschrift keine völkerrechtliche Anerkennung der Republik Zyperns bedeute. Villepin sieht darin einen Grund, den Beitritt zu verweigern, weil für eine erfolgreiche EU jedes Mitglied alle anderen anerkennen müsse (vgl. FAZ 03.08.2005).

Inzwischen geht die Debatte weit über den exemplarischen Fall hinaus; unterschiedliche Erinnerungskulturen und -politiken werden diagnostiziert, Kooperationsmöglichkeiten sind erst auszuloten. Spielen Religionen in der europäischen Erinnerungspolitik gegenüber einer Dimension des Religiösen, die auch in säkularen und profanen Segmenten Ausdruck findet, eher eine geringe Rolle, würde mit dem Türkei-Beitritt – so jedenfalls eine verbreitete Einschätzung – dem Islam eine dominierende Rolle für den wertexpliziten Bereich von Erinnerung und Kultur eingeräumt. Einer Religion zudem, die stets im Zusammenhang mit dem Terror der Islamisten erwähnt wird und negativ konnotiert ist. Ayan Hirse Ali, die niederländische Abgeordnete und Mitarbeiterin des ermordeten Regisseurs Theo van Gogh spricht von Angst vor dem Islam und fordert eine offene Diskussion (SZ 27./28.08.2005).

Vergleiche mit der deutschen Erinnerung des Holocaust werden gezogen. Im Leserbrief eines Schweizer Lesers in der NZZ heißt es: »Anders als Deutschland, das den Holocaust aufarbeitet, weigert sich die Türkei offenbar noch immer, trotz einer einberufenen Kommission, zu den dunklen Seiten der eigenen Geschichte zu stehen. Solange dies nicht geschieht, hat die Türkei in Europa und in der EU nichts zu suchen. Auch das pseudoreligionsfreiheitliche Verhalten gegenüber dem ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel (dessen Schule ist immer noch geschlossen) ist eines Rechtsstaates unwürdig« (Widmer, NZZ 7./8.05.05). Gefragt werden müsste elementar nach dem sozialen und historischen Wissen über den Genozid. Was bemerkten die Nachbarn, was konnten sie bemerken, was ist in den Familien tradiert worden? Leserbriefe türkischstämmiger Deutscher unterstützen eher die offizielle türkische Position. Eingeräumt wird, »dass zahlreiche Armenier während der Wirren des Ersten Weltkriegs zu Tode kamen« (Öztürk, FR 15.03.05), aber eben als Kriegsopfer, weil sie sich zugunsten Russlands am Krieg beteiligten, nicht als Opfer eines Völkermords. Im Gegenteil sei es gerade die »armenische Guerilla» gewesen, die Massaker an muslimischen Zivilisten verübt und diese »abgeschlachtet« hätte. Der Leserbriefschreiber weist die Vokabeln ›Schlächter, abschlachten‹, mit dem der Referenzartikel das türkische Vorgehen gegen die Armenier bezeichnet hatte, zurück, benutzt sie aber seinerseits in bezug auf die Armenier. Ein anderer Leserbrief rechtfertigt die Verweigerung der Auseinandersetzung um den Genozid mit dem Hinweis auf nicht aufgearbeitete Völkermorde europäischer Staaten und schließt mit der Feststellung: »Eine einseitige Anerkennung der Schuld, eine Anerkennung des sog. ›Genozids‹ und somit die Gleichsetzung mit den deutschen Nazis und Übernahme der Verantwortung wie beim Holocaust werden die Türkei und die Türken niemals akzeptieren« (Studenten der Uni Stuttgart, FR 15.03.05). In einem weiteren Leserbrief wird darauf hingewiesen, dass das türkische Staatsarchiv für jedermann offen, das armenische aber seit Jahrzehnten geschlossen (Yesilova, FR 15.03.05) sei. Auch der Vorschlag der türkischen Seite, eine unabhängige Historikerkommission einzusetzen, wird als Indiz für die Bereitschaft der Türkei zur Aufarbeitung dieser Vergangenheit bewertet. Insgesamt zeigen diese Leserbriefe in Bezug auf den Erinnerungsgegenstand eine »legitimatorische Grundhaltung«, die durch den »Tradierungstyp Rechtfertigung« (Welzer 1997, 159) und eine Verweigerungshaltung gekennzeichnet ist; letztlich sorgen aber gerade diese beiden Tradierungsformen dafür, dass das Thema Genozid seine Aktualität behält. Wer sich erinnert, wer eine umfassende wissenschaftliche und alltagsgeschichtliche Aufarbeitung seiner Erinnerungsgeschichte betreibt, gilt der von den Leserbriefschreibern markierten Position als politisch angreifbar.

Während die türkische Seite sich nicht durch die europäische Erinnerungskultur ›erfinden‹ lassen will, stünde die wertfundierte und damit auch die politische Glaubwürdigkeit der EU auf dem Spiel, wenn die derzeitige Erinnerungspolitik der Türkei rituell legitimiert würde; zugleich zeigt sich die Bedeutsamkeit symbolischer Politik als eine Form wertexpliziter Selbstpräsentation. Erinnerung nicht zuzulassen heißt, Biographien und Identitäten ihren Ort in der Geschichte zu nehmen, was strukturell einer Fortführung des Genozids entspräche, wie Dabag ausführt. »Die Struktur der Leugnung setzt die Strukturen des Genozids fort« (Dabag 2002, 41). Leugnungsdiskurse diagnostiziert Dabag auf einer »Ebene des Politischen, der wissenschaftlichen Verneinung, des Sozialen, der Verdrängung, der internationalen Politik und Wissenschaft, der Verneinung durch Anerkennung (Ja-Aber)« (Dabag 2002, 45ff.) Gilt Erinnerung in der abendländischen Kultur als Mittel, den physischen Tod zu überwinden, so fügt das Erinnerungsverbot dem physischen auch noch den historischen oder sozialen Tod des Vergessenwerdens hinzu.

Für die europäische Tradition ist Erinnerung als Derivat von Memoria von Anfang an auf die »Gegenwart der Toten« gerichtet, ihre Erforschung gilt einem »alle Aspekte des Lebens umfassenden historischen Phänomen« (Oexle 2001, 13). Deshalb ist es sinnvoll, von Erinnerungskultur zu sprechen, die als »die jeweilige Gesamtheit von Denkformen, sozialem Handeln und Institutionenbildung« zu definieren ist, »die für Gedächtnis, Erinnerung und Gedenken eines Einzelnen, einer Gruppe oder einer bestimmten Gesellschaft spezifisch sind« (Oexle 2001, 12). Demnach erschließt sich eine Kultur gerade durch die Form und den Rahmen ihrer Erinnerung, die Anlässe schafft zum offenen Dialog. Ein räumlich, zeitlich, personell begrenztes und damit tendenziell nicht öffentliches Erinnern entspricht nicht der europäischen Erinnerungskultur. Im Licht der Erinnerung an den Genozid der Armenier zeigt sich die türkische Kultur geprägt von Vorstellungen der Reinheit, Einheit und Homogenität; deshalb scheinen vor allem solche Themen die Beachtung deutscher Medien zu finden, die den Preis dieser kulturellen Konstruktion offenzulegen versprechen wie Zwangsheiraten, Ehrenmorde, Kopftuchstreit. Wenn Bundeskanzler Schröder einen ›Mentalitätswandel‹ anmahnt, meint er eine umfassende Veränderung, die auch als ›Reinigungsprozess‹ zu verstehen ist. Er bezieht sich damit »auf den vollen Respekt der Menschen- und Minderheitenrechte«, auf die Verbesserung der Situation der christlichen Kirchen, die Abschaffung der Folter und die Verurteilung von Folterern, die »kulturellen Rechte von Minderheiten», »den übersteigerten Nationalismus«, die Anerkennung der Republik Zypern und er unterstützt den Vorschlag, eine »Historikerkommission zur ›Aufarbeitung leidvoller historischer Ereignisse‹ vor 90 Jahren – gemeint ist der Genozid an den Armeniern – einzuberufen« (Hermann, FAZ 03.05.2005). Deutlich bewertet werden diese Empfehlungen im Kommentar mit der Formulierung, der Kanzler fordere eine Türkei, »die sich also enttürkisiert hätte« (K F., FAZ 03.05.2005).

Welcher Gebrauch darf in der türkischen Öffentlichkeit von der geschichtlichen Erinnerung gemacht werden? Weil der Schriftsteller Orhan Pamuk »in einem Interview mit dem Züricher Tages-Anzeiger bemerkte, man habe in der Türkei 30 000 Kurden und eine Million Armenier umgebracht, erhielt er Morddrohungen und musste eine Lesereise nach Deutschland absagen. [...] Dass Pamuk den Mord an Armeniern und Kurden benennt, verstößt gegen die türkische Staatsräson. Repressive Systeme stellen zuweilen die öffentliche Erwähnung dessen, was jedermann weiß, unter Strafe« (Greiner, Die Zeit 06.04.2005). Arend spricht von der »narzisstischen Kränkung, die Pamuk der türkischen Identität« zugefügt habe. In seinem Roman Schnee (2005 [2002]) gestalte er »die politischen Verwicklungen der Türkei«, den »Kampf der Kulturen« (Arend, Freitag 29.04.2005), ohne einer Priorität vor anderen einzuräumen. Pamuk selbst spricht »von der Sehnsucht, in Europa aufgenommen zu werden – und zugleich der Angst davor, [...] im Zuge der Verwestlichung die eigene Identität zu verlieren« (Pamuk, Die Zeit 14.04.2005), die er gestaltet habe. In seinem Roman geht es – modellhaft? – um die offene Aushandlung einer neuen Ordnung zwischen Nationalisten, Europäern, Islamisten, Vertretern eines aufgeklärten und eines politischen Islam, Kopftuchgegnern und –befürwortern.

Literatur

Akçan, Tanert: Armenien und der Völkermord. Die Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung. Hamburg (Neuausgabe) 2004 (1996).
Arend, Ingo: Der Agent des Zweifels. Dritter Weg. Orhan Pamuks neuer Roman »Schnee« ist ein Roman über den Zweikampf von Poesie und Politik. In: Freitag 29.04.2005.
Bayraktar, Seyhan / Wolfgang Seibel: Das türkische Tätertrauma. Der Massenmaord an den Armeniern von 1915 bis 1917 und seine Leugnung. In: Giesen, Bernhard / Christoph Schneider (Hg.): Tätertrauma. Nationale Erinnerungen im öffentlichen Diskurs. Konstanz 2004, 381-398.
Brumlik, Micha: Wer Sturm sät. Die Verreibung der Deutschen. Berlin 2005.
Burgdorf, Wolfgang: Nationale Ehrensache. Eine Armenien.Kommission liegt im türkischen Interesse. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 18.05.2005.
Dabag, Mihran: Massage an Kanzlers Rückgrat. Schuldflucht: Deutsche, Türken und der Völkermord an den Armeniern. In: FAZ 20.06.2005.
Dabag, Mihran: Der Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich. In: Knigge, Volkhard / Norbert Frei (Hg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord. München 2002, 33-55.
Dücker, Burckhard: L’Arménie comme thème de la littérature de langue allemande du 20e siècle. In: Estudios Filológicos Alemanes 2004/4, 161-179.
F., K.: Mental. In: FAZ 03.05.2005.
Greiner, Ulrich: In der Türkei ganz hinten. Die Bedrohung Orhan Pamuks. In: Die Zeit 06.04.2005.
Großklaus, Götz: Medien-Bilder. Inszenierung der Sichtbarkeit. Frankfurt am Main 2004.
Heftige Attacken Ankaras gegen Berlin. Armenien-Resolution als Streitursache. In: NZZ 17.06.2005.
Hempel, Leon / Jörg Metelmann )Hg.): Bild – Raum – Kontrolle. Videoüberwachung als Zeichen gesellschaftlichen Wandels. Frankfurt am Main 2005.
Hermann, Rainer: »Türkei braucht Mentalitätswandel«. Vor seinem Besuch lobt Schröder Erdogan. In: FAZ 03.05.2005.
Höhler, Gerd: Türkei in der Identitätskrise. In: Frankfurter Rundschau 12. April 2005.
Hosfeld, Rolf: Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern. Köln 2005.
Jeismann, Michael: Wie lange soll die verordnete Stummheit noch dauern? Verleugnete Wirklichkeit: Rolf Hosfeld schreibt über den türkischen Völkermord an den Armeniern. In: FAZ 16.03.2005.
Kirsch, Jan-Holger: Nationaler Mythos oder hsitorische Trauer? Der Streit um ein zentrales ›Holocaust-Mahnmal‹ für die Berliner Republik. Köln Weimar Wien 2003.
L. L.: Gescheitert am Musa Dagh. In: NZZ 30.04./01.05.2005.
Leggewie, Claus / Erik Meyer: Ein Mahnmal gegen Vetreibungen in Berlin? Die CDU will einen geschichtspolitischen Akzent setzen. In: NZZ 20./21.08.2005.
Meyer, Martin: Ein europäisches Selbstverständnis. Zwischen Chancen und Grenzen: »Europa – Macht und Ohnmacht«. In: NZZ 20./21.08.2005.
Mönch, Regina: Enntäuschte Ehre. Deutsche Szene: Berliner Türken trauern um Talaat Pascha. In: FAZ 16.03.2005.
Oz, Amos: Eine Geschichte von Träumen und Albträumen. Interview mit Julia Schröder in: Stuttgarter Zeitung 29.08.2005.
Oz, Amos: Aggression ist die Mutter aller Kriege. Nachdenken über Deutschland: Dankesrede zur Verleihung des Goethe-Preises der Stadt Frankfurt. In: FAZ 29.08.2005.
Pamuk, Orhan: Achte auf die Details des Lebens. Interview mit Jörg Lau. In: Die Zeit 14.04.2005.
Schaefgen, Annette: Der Völkermord an den Armeniern als Thema in der deutschen Politik nach 1949. In: Kieser, Hans-Lukas / Dominik J. Schaller (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah. Zürich 2002, 557-576.
Schlötzer, Christiane: Stolz statt Scham. Warum die Türkei den Völkermord an den Armeniern leugnet. In: Süddeutsche Zeitung 18.04.2005.
Schmidt, Helmut: Bitte keinen Größenwahn. Ein Beitritt der Türkei würde die Europäische Union überfordern. In: Die Zeit 25.11.2004.
Schmidt-Häuer, Christian: »Wer am Leben blieb, wurde nackt gelassen«. Dossier. In: Die Zeit 23.03.2005.
Schröder, Gerhard: “Wir stehen erst jetzt am Ende einer langen Nachkriegszeit”. Warum die Einigung Europas ein historisches Vermächtnis all derer ist, die gegen Hitler gekämpft haben – und warum sie ihre Grenzen noch nicht erreicht hat. Gedenken an den 08. Mai 1945. In: SZ 07./08.05.2005
Semprún, Jorge: Aufbruch in die Wüste des Schreibens. Vom Lager erzählen – ein Gespräch mit Franziska Augstein. In: Süddeutsche Zeitung 9./10.04.2005.
Semprún, Jorge: Niemand wird mehr sagen können: »Ja so war es«. Rede bei der Gedenkfeier für die Befreiung des KZ Buchenwald vor 60. Jahren. In: Die Zeit 14.04.2005.
Thumann, Michael: Das Ende des kalten Schweigens. Streit um die Erinnerung in der Türkei: Nationalisten feiern den Sieg über die Briten bei Gallipoli und leugnen die Massaker an den Armeniern 1915. In: Die Zeit 21.04.2005.
Wehler, Hans-Ulrich: Das Türkenproblem. Der Westen braucht die Türkei – etwa als Frontstaat gegen den Irak. Aber in die EU darf das muslimische Land niemals. In: Die Zeit Nr. 38, 2002. http://zeus.zeit.de/text/2002/38/200238_tuerkei_contra_xml (Zugriff 18.08.2005).
Zürcher, Erik-Jan: Introduction. Focus on Turkey. In: European Review Vol. 13 No. 3, July 2005, 377-378.