Frank Grimm
Gerhard Altenbourg oder:
Machen wir, was wir wollen?
Wollen wir, was wir machen?

Zerfaserte Köpfe, zerklüftete Figuren, zerbröselte Landschaften
Eduard Beaucamp

1.

Wir wissen, dass er nie ein Objekt als solches darstellen wollte, sondern immer das Wesen einer Sache – weniger von raschen Eindrücken als von der Erinnerung geführt.

2.

Sie waren vier Geschwister in einer Pfarrerfamilie der Freikirchlichen Gemeinde: Baptisten. Eine Sekte, die zur Hofstadt Altenburg gehörte, nicht wenige, meistens Kleinbürger, jedenfalls nicht gerade die Erfolgreichen. Mit ihnen hörte der Schuljunge Gerhard die Predigten des Vaters. Hugo Ströch hat alle seine Reden aufgeschrieben, in altdeutscher Handschrift wie ein Bürofachmann. Es sind fast hundert Schulhefte, er hat sich kaum wiederholt, trotzdem handeln fast alle nur von der Sünde, von den kleinen Sünden des Tages, das heißt von »Fleisch« und heiligem Geist. Das Leben des Menschen besteht im Streben nach dem hl. Geist, vermittelt durch Jesu Christi Blut. So entsteht eine Überwelt, in die nur ganz selten reale Geschehnisse Eingang finden. Der hochbegabte Gerhard hat sie in sich aufgenommen, indem er die Worte und Sätze des Vaters in bildliche Vorstellungen umwandelte. Mit dem Begriff Sünde wusste er nichts anzufangen, es ist zu vermuten, dass er sich dabei Gesichter, Menschen vorstellte – allgemein, ohne genauen Bezug auf den einen oder anderen Bekannten. Die Gesichter haben ihn ein Leben lang begleitet.

3.

Wir haben von dem Hochbegabten gesprochen. Als 10-12jähriger fuhr er mit dem Fahrrad durchs Altenburger Land und fotografierte: auf den wenigen erhaltenen Bildern ist deutlich zu erkennen, dass es ihm schon damals nicht auf den Gegenstand ankam. Wichtig war die Beziehung. Er lieh gleichsam dem Baum einen ›Charakter‹. Genauso wollte ich es machen, wird er beim Vorzeigen gedacht haben.

4.

Der Kern der Dinge, das war er selbst. Gerhard Ströch hat sich schon sehr zeitig als ›Person‹ begriffen, als einer, der sich von anderen nicht nur durch Haarfarbe und Körpergröße unterscheidet. Der differenziert empfundene Vergleich mit den älteren Brüdern hat den Prozess beflügelt. Mit Unlust oder Einsamkeit hatte das nichts zu tun. Der junge Ströch entwickelte seine Form des selbstverständlichen Beiseitestehens. Er kletterte auf einen Baum und las oben zwischen den Blättern ein Buch, wenn unten zuviel Besuch war. Als Erwachsener blieb er dabei. »Wo Menschen sind, sind auch Meuten«, zitierte er später Canetti, und ›Volksgemeinschaft‹ betrachtete er ironisch. Die Eingeweihten treffen sich.

5.

Die Militär- und Kriegszeit musste in einem solchen Menschen über das Entsetzen hinaus, das alle betraf, intensivere Wirkungen zeitigen. Obwohl er nur ein dreiviertel Jahr Militärdienst leistete, reichen die Folgen bis in sein letztes Werk – 40 Jahre später. »Ich habe nichts als das Gymnasium besucht. Keine Frauen.« Der Vater war drei Jahre vorher verstorben, ohne diverse Ratschläge. Das wirft die Frage auf, ob es primär die Ereignisse, die Erlebnisse sind, die Veränderungen und Zerstörungen bewirken, oder ob nicht überkommene Bewusstseinshaltungen gerade solche Erfahrungen eigentümlich prägen. Das Entscheidende: der Beiseitegeher musste in Reih und Glied, der Seine-Person-Entwickler wurde (wie er schrieb) »ein Namenloser unter fremden Gefährten, ein Spielzeug für Launen und Befehle«. Das ging allen so, aber ihn musste es besonders treffen, die Abkapselung der Sekte tat ein übriges.

6.

»Die physische Nähe der Menschen kann ich nicht ertragen, sie kriechen mir in den Arsch und nennen mich Du, sie rädern und summen: Du, du liegst mir im Herzen ... wenn mich der Gefreite antippt, sticht er durch meine Rippen... Ich? Einmal war ich... und sie sagen, ich bin gesund...«. Endlich meldete er sich krank, wieder »beiseite« und kam ins Lazarett. Aber dort ging es eher schlimmer, »er habe bewegungslos im Bett gelegen, was die anderen dazu benutzten, ihm pausenlos Zoten ins Ohr zu blasen« - einem also, dem es noch dreckiger ging und der bei sexuellen Zumutungen Wirkung zeigte.

7.

Er kehrt schon vor Kriegsende nach Hause zurück. Er steht vor der Situation, was mache ich und wie mache ich es: Er will Künstler werden. Er liest Gustav Frenssen: »Es waren immer nur wenige, die all dies vermochten, deshalb prüfet, ob ihr Glauben und Kraft genug im Herzen habt, dem Leben entsagen zu können – um es zu ergründen.« Dieser fast kitschige Text, den er in der väterlichen Bibliothek findet, ist schon ein Anstoß zur späteren Beschäftigung mit berühmten Außenseitern und bestätigt die Bedeutung der Kunst für die vom Erlebnischaos beeinträchtigte Person. Er fühlt sich berufen.

8.

»Diejenigen, bei denen der apostolische Eifer und die Erinnerung an die klassische Vollkommenheit lebendig geblieben waren, verließen die Städte und die Gemeinschaft derer, die ein nachlässigeres Leben als zulässig ansahen, ließen sich an den Rändern der Städte und an abgelegenen Orten nieder und begannen, die Regeln allein und auf sich gestellt zu befolgen.« So beschrieb Joh. Cassianus im 5. Jahrhundert die Ursprünge der monastischen Gemeinschaften. Ein bisschen hat sich Gerhard Altenbourg immer daran gehalten. Er hat nicht versucht, an dieser Rolle vorbeizuleben oder sie herauszustellen, er hat sie in den Arbeits- und Kunstprozess einbezogen, gepflegt, entwickelt – ja stilisiert. Zunächst jedoch arbeitet er intensiv schriftstellerisch. »Ich werde an meinem Roman schaffen. Diesen Sommer (1945!) werde ich nur meiner Kunst leben.« Obendrein liest er, was er nur auftreiben kann. Er ist überzeugt von der Notwendigkeit einer totalen Bildung, einmal äußert er: »Man müsste eigentlich jeden Tag eine Seite vom Lexikon auswendig lernen.« Nur Kluge werden klüger, das hat er verstanden. Wenn er als Kind die väterlichen Predigten auf eine bestimmte bildliche Weise umgesetzt hat, so nimmt er die Texte jetzt beim Wort. Im Herbst 1945 sucht er sich eine Rede aus den 30er Jahren heraus.

9.

(Wir zitieren ausführlich, weil die darin vorgetragenen Gedanken den Sohn derart beeinflussen, dass er nie ganz damit fertig wird.) »Der Wandel im Geist« (Gal.5): »Auf einer Ausstellung in Leipzig... ist auch eine Darstellung des Sündenfalles. Man kann über das Gemälde eine geteilte Meinung haben, aber was daran wichtig ist, das ist die symbolische Darstellung des Kampfes zwischen Geist und Fleisch. Denn über dem Gemälde schwebt der hl. Geist in Gestalt einer Taube, und daneben sieht man die zischende Schlange! Seit der Stunde des Sündenfalls ist der Kampf entbrannt, zwischen Geist und Fleisch, zwischen Wahrheit und Lüge und zwischen Licht und Finsternis. Wie wird dieser Kampf enden? Mit der restlosen Beseitigung des Bösen, dafür bürgt der Sieg Jesu Christi am Kreuz auf Golgatha!... Paulus hatte den Galatern ernste Wahrheiten zu sagen... von der Gefahr, aus der Lebensgemeinschaft des Geistes herauszufallen und im Fleische zu enden... das ist unsere Gefahr... darum wandelt im Geist, so werdet ihr die Lüste des Fleisches nicht vollbringen... und was ist Fleisch? Fleisch ist der Wunsch und der Hang zur Sünde... und was ist Geist? Es ist der hl. Geist Gottes... aus dieser kurzen Gegenüberstellung sehen wir die Gegensätze... Daraus ergibt sich die Tatsache, dass wir, solange wir kein Geistesleben haben, über die Sünde nicht Herr werden können... Ich weiß, dass die Welt mich nicht beglücken kann... es ist unser Lebensbedürfnis, im Geiste zu wandeln... dann werden die Leidenschaften des Fleisches außer Wirkung gesetzt.«

Dann kommt der Prediger zur Sache: »Hier wird das Urteil über die moderne Aufklärung ausgesprochen, denn die Forderung unserer Zeit lautet: Schafft überall Aufklärung und die Not ist überwunden. Und wir haben Aufklärung in Hülle und Fülle. Sind die Menschen besser geworden? Sind Unzucht und Habsucht verschwunden? Ach, hier hilft die Aufklärung nicht. Hier brauchen wir Hilfe von oben. Wir brauchen den hl. Geist.«

10.

Der Kampf des Baptistenpredigers ist zu verstehen aus den Grundsätzen des Gemeindelebens: kein Theater, kein Tanz, kein Kino. Kultur ist verdächtig, gehört zum ›Fleisch‹. Als Zeichen für den Untergang eines Stammes Israels wird der Bau eines Schauspielhauses erwähnt... Daneben finden sich subtilere Bemerkungen wie die über Lessing, »der an Gott glaubte, aber die Erlösung nicht fand, weil er nicht erlöst werden wollte«. Wichtig sind auch Dinge, die wir nicht wollen. Der Sohn hat ein schweres Erbe. »Ich arbeite, um mich zu begreifen«, sagt er: ein Künstlerwort. Er sagt ›Ich‹ und meint das Leben, das, wie er nun erkannt hat, »nicht zu umgreifen ist«. Er fängt an, nach einer Methode, einem Muster zu suchen, um wenigstens Bilder oder Worte davon zu machen. Er hat Glück, als eine Jury ihn mit einem Stipendium für ein Studium an der Hochschule für Baukunst und Bildende Kunst in Weimar bedenkt. Dort gerät er mitten in die Auseinandersetzungen zwischen Bauhauslehre und verordnetem sozialistischem Realismus. Gleich steht er wieder vor der Notwendigkeit, sich herauszuhalten. Genau genommen, passt er zu keiner Richtung. Die sündige Existenz des Menschen hängt ihm noch zu sehr an. Er nimmt kaum an Vorlesungen teil und wird »als gesellschaftlich ungeeignet, völlig indifferent« charakterisiert: längst hat er seinen eigenen Studienplan festgelegt. Sein bestes denkbares Anderswo ist die Druckwerkstatt der Hochschule. Dort findet er Leute, die ihn verstehen. »Ich habe die Hauptzeit meines Studiums in der Werkstatt zugebracht.«

11.

In der Werkstatt kristallisiert sich die bildende Kunst als das wesentliche Medium heraus, wo die Intuitionen erscheinen, denen er folgen kann. Er befasst sich gründlich mit dem Expressionismus und der Literatur vom 1. Weltkrieg (außerdem mit DADA, einer Außenseitersache) und lernt, dass die provokante Umsetzung von Bildern in Wörter nicht ausreicht. Er probiert alle möglichen Anordnungen; die fließende intuitive Verbindung der Wörter und Sätze gelingt ihm nicht zwingend (obwohl er oft neue und treffende Wortbildungen findet). Er beschäftigt sich mit der Weltliteratur, hauptsächlich in der Landesbibliothek Weimar und im Austausch unter Bekannten der alten Weimarer Bildungsschicht. Es ist ja auch die Zeit der Aufarbeitung der Nazi-Verbote und der Aneignung der neuesten Gegenwartsliteratur.

Der Student macht die Erfahrung, dass die Verhältnisse nicht der Lage entsprechen, anders: dass die an Heidenchristen gerichteten Apostelbriefe die Katastrophen des 20. Jahrhunderts nicht erklären können. An die Stelle des hl. Geistes treten die komplizierten Schönheiten und Probleme Griechenlands, des Westens seit Augustin und von ferne der Osten.

12.

Einen solchen Burschen, den die Verantwortlichen sogar erwischen, wie er die Menschen in seinen Zeichnungen und Drucken als Sünder darstellt (Familienangehörige und sich selber eingeschlossen), will die neugegründete Klassenkampfrepublik nicht fördern. Den Außenseiter trifft die Relegation. Was Strafe sein soll, nimmt er nicht sehr tragisch, im Realen ist er befreit von einem »Lernsoll«, das ihm nicht passt. Es sind also äußere Umstände, zunächst, die ihn veranlassen, wieder ins Vaterhaus zurückzugehen; es bleibt ihm, aus der Not eine Tugend zu machen – die Absetzbewegung, welche er langsam umformt in eine Daseinsweise, von der er später überzeugt ist: Ich habe es so gewollt. Das Anderswo und doch Zuhausesein konstituiert das Verhältnis von Selbstentfremdung und Beisichselbstsein, Ichselbstsein verstanden als »Warten auf Anwesenheit und Verwandlung«, damit Kunst entsteht. (In unseren Gesprächen redete er nicht von Bewusstsein, sondern von Reflexion, von Reflexion der Reflexion: einem Prozess.)

13.

Von nun an gilt sein Verhalten strikt dem Bleiben im »Unwägbaren«. Die Zeit nach Weimar (wo er, als Fuß zur Welt, ein Zimmer behält) bringt in der Arbeit den Durchbruch: neue Ausdrucksweisen, Materialien, Farben und Formen. Die Person bringt sich in eine gewisse Funktion zur Welt – zur Welt im Allgemeinen. Seine reale Welt dagegen besteht aus wenigen Freunden und der DDR, damals ohne Mauer. »Darf ich meine Bilder überhaupt zeigen?« Das ist die Hauptsorge neben den üblichen Problemen eines jungen Künstlers. Wer ihn ablehnt, zählt zu den Sündern. Jetzt nennt er sich Altenbourg, Blick ins zukünftige Publikum, an Ströch soll sich keiner die Zunge brechen.

Er beginnt, das nicht sehr geräumige Haus überall künstlerisch auszustatten, zu verwandeln, Stil hinein zu bringen: er will ganz bei sich selber zu Hause sein. Er freut sich, Besitz zu haben. Als Vorbild und Aufforderung lesen wir Mose 2, Kap. 34-40 (die Errichtung der Stiftshütte): »Wer unter euch kunstverständig ist, der komme und mache, was der Herr geboten hat...«

14.

Versuchen wir endlich, in Kenntnis der Person die Frage zu erörtern: Wie macht man aus all dem Bilder, die Kunst sind? Neben erinnerten Aussagen, die er zu verschiedenen Zeiten verschieden formuliert, gibt es Indizien. Im Sinne Paul Klees ist für ihn Kunst das sichtbar Gemachte, man kann es deuten, aber nicht darauf deuten. Wie kann man etwas sehen, dem man ansieht, dass es unsichtbar ist, aber die Imagination verstärkt? Oder, für den Betrachter: Wie man auf das Bild schaut, so erscheint das ›Was‹ des Bildes. Man muss eine bestimmte Realitätserwartung vermeiden, muss »Laune« haben, wie Jean Paul meinte. Altenbourg ist sich klar, dass er besonderen psychischen und sozialen Energien ausgesetzt ist, die er durch das Hervorbringen visueller Formen entäußern und so beherrschen kann. Er braucht ein System, das Methode und Intuition speziell seiner Person anpasst – etwas verquer: Was muss er wollen, damit das Ungewollte erscheint, das Erscheinende als solches, nicht als Gewolltes? Darin steckt das Problem der Dauer – im Bergsonschen Sinne –: das Werk gehört dem Stil, nicht dem Ereignis: Picassos Demoiselles, nicht seinem Besuch in Avignon.

15.

Wie funktioniert die Wahrnehmung des Äußeren (um den Begriff Wirklichkeit zu vermeiden) bei Gerhard Altenbourg? Realität als etwas Fertiges existiert für ihn nicht. Als visuell determinierter Charakter bemerkte er in erster Linie Formen, Farben im Verhältnis zum Raum (Striche gibt es in der Natur nicht, meint er) – und, wichtig, Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten, die eigenwillig geordnet im Gedächtnis behalten werden. Das Eigenwillige entstammt dem Begriff oder der Potenz der Person. Im Verlauf der Jahre entwickelt sich das Ordnen immer mehr zu einer geahnten oder manchmal schon präzisierten Bildvorstellung: wie es Gestalt werden könnte und wo. Es liegt auf der Hand, dass dieses Ordnen und Wahrnehmen vom jeweiligen Befinden abhängt und, dies vor allem, von spezifischen, etwa Kunst-Erinnerungen und -Motiven. Der Satz: »Wir sind, was wir erinnern«, ist also zu erweitern. Entscheidend ist, wie man im Augenblick oder Hörmoment gerade geistig »arbeitet« – wann, wozu und in welcher Präzision man erinnert, welches Interesse einen leitet.

16.

Machen wir einen Schritt nach vorn. Was unternimmt der mit tausend kleinen Dingen beschäftigte Gerhard Altenbourg, um aus dem Komplex der Erinnerungen »das ganz Andere, das Aufschließende« herauszufiltern? Er hat die Impulsgeber der Meister gründlich getestet, von den faulen Äpfeln Schillers, den Kaffeetassen Balzacs bis hin zu modernen Dopingmitteln. Das alles passt nicht zu ihm.

Hauptsächlich gelten ihm solche Praktiken als Sünde, denn es wird dabei etwas außer Kraft gesetzt, zum Beispiel die Demut. Das originäre Leib-Seele Verhältnis darf nicht beschädigt werden. Er achtete auf richtige Ernährung und Getränke. Lange Spaziergänge lassen ihn »in einen luziden, ganz gereinigten Vorgang kommen, der die Materie absorbiert«. Sein Problem sind die Beschädigungen im täglichen Dasein: wie der Finger des Gefreiten in seinen Rippen.

Es geht ihm, andererseits, nicht schlecht. Zwängen vermag er auszuweichen. Er ist aber immer davor auf der Hut, es sich »zu einfach zu machen«. Trotz seiner unendlichen Arbeitslust und dem Gefühl, während des Schaffens außerhalb der Sünde zu sein, braucht er etwas wie Intention für die Intuition. Eingeleitet durch stundeslanges Lesen, wie bei den Mönchen vorgeschrieben, dient eine Form der Konzentration, vermischt mit Meditation, der »Kunst des Wartens«, wie er es nennt – um das Einheitsprinzip der Persönlichkeit zu verstärken, die Autorität transzendenter Wesen im Leib zu vergrößern (er hat Eliade gründlich studiert).

Endlich (wir wissen nicht wie) entsteht das Moment, das die spontane Aktivität der Hand auslöst. Das Geistige und das Motorische verbinden sich. Meditation bei Altenbourg muss man sich vorstellen als ein Sich-Fähigmachen in anderen Wirkungszusammenhängen, Predigt und Selbstbeschwörung aus einem surrealen Gedankenstrom. »Grauen, samtig rauhes Grauen, sagt eine Stimme im Haus. Da kommt ein Gesicht, dessen Blumen aufblühendes Verwelken ist, durch die Speichen des Rades... das Entfernte wird das Nahe... Hier lebt das Fleisch durchlässig, die Poren sind geöffnet, geweitet dem Durchlassen der Nacht. Und da steigt der Solanum Dulcamara auf, der Bittersüß, in den Büschen der Nacht...« Die umgekehrte Goethe-Sentenz: »das Entfernte wird das Nahe« bezeichnet vielleicht den Drehpunkt, an dem die Kontrolle der Hand beginnt, die Bildidee sich formt.

17.

Altenbourg hat die Entstehung des Bildes Im Fluß der Zeit aufgeschrieben. Es ist ein meditativer Text: »Ein Kopf entschwebt dem Bodenlosen, heraufbeschworenes Bild, gegriffen aus dem Nichts, hinüber ins Haus des Vergessens. Das ist der wiederkehrende Adonis aus dem Schattenreich... da wird Zeitlichkeit erinnert unter Klagegesängen. Was geschieht, ist etwas mit uns Geschehendes...«

Da wird die Person vergessen und in ihrer Zeitlichkeit wieder hingestellt als Geschehendes. Interessant die Bezugnahme auf Adonis. Nach der ›Konzeption‹ einer solchen Bildidee hat er oft lange daran gearbeitet, meistens gleichzeitig an verschiedenen Werken: Nachdem er wollte, was er gemacht hatte, machte er, was er wollte. Immer in intensiver Klein-klein-Anstrengung, Striche, Punkte, Flächen, Farben, eine Stelle stärker, eine schwächer: die Dauer, der Stil erscheint. Über Picassos Tun hat jemand gesagt: »Er picasst«. Altenbourg »altenbourgt«. Allerdings gibt es auch Werke wie aus einem Zug, vor allem in späteren Jahren, man glaubt an eine besondere Stunde oder an das Verschwinden aller Hemmungen. Auch seine Landschaften sind aus dem Inneren eines lange Bewahrten zurückgebracht. Eine Gruppe zeigt die Ewigkeit: Entstehen, Wesen, Vergehen, die Tektonik, alles gleichzeitig mit den verschiedensten Zeichen; eine andere Gruppe vermittelt optisch genau soviel Zeit, wie nötig wäre, um den Ausschnitt zu durchwandern. Man kann gute und weniger gute Werke daran erkennen, ob Methode und Intuition, Machen und Wollen im richtigen Verhältnis sind, mag sein, dass da manchmal verschiedene Einsichten wirken.

Gottfried Benn schreibt:
Die Form, die Formgebärde,
die sich ergab, die wir uns gaben –,
du bist zwar Erde,
doch du musst sie graben.

 

Publikationen des Autors zu Gerhard Altenbourg:

1958 - Einführung zum Maler-Buch Gerhard Altenbourg 10 Reproduktionen und zwei Originalzeichnungen, Berlin, Galerie Springer

1986 - Nachbar Altenbourg (mit Christa Grimm), in: Ausstellungskataloge Leipzig 1986, Berlin 1987, Bremen 1988

1990 - Beratung und Mitarbeit am Film Die Brücke – Tagträume und Nachtbilder. Der Maler Gerhard Altenbourg. Fernsehen der DDR. Marie-Luise Rode

1996 - Die Fährte. Altenbourgs Kunst der Erinnerung, in: Katalog zur Ausstellung Altenbourg nach Altenburg, Sammlung von Gisela und Hans-Peter Schulz, Leipzig, hrsg. von der Kulturstiftung der Länder, Berlin und dem Lindenau Museum Altenburg.

1999 - Altenbourg in Altenburg, in: Oltener Neujahrsblätter, 57. Jahrgang 1999