Will man den Vertrag (kritisch) beurteilen, so stellt sich die
Frage, welchen Maßstab man dabei zugrundelegen will, woran man den
Vertrag messen will oder von welchem Standpunkt aus man ihn
beurteilen will. Denkbar wäre ein rein rechtspolitischer Ansatz,
wonach man sich fragen könnte, ob denn dieser Vertrag die
Europäische Union mit den Handlungsinstrumenten ausstattet, die wir
benötigen, um den heutigen nationalen wie internationalen
Herausforderungen gewachsen zu sein oder etwa ob dieser Vertrag den
Anforderungen des demokratischen Prinzips genügt. D. h. man würde
den Europäischen Vertrag mit einem bestimmten Vertragsideal
vergleichen und aus diesem Vergleich Wertungskriterien
gewinnen.
Diese Vorgehensweise hat manches für sich, vor allem zwingt sie, sich darüber klar zu werden, was für eine Europäische Union man will und warum. Und das ist bei der heute herrschenden Konfusion nichts Geringes. Die Methode hat aber auch einen Nachteil: ist der festgestellte Abstand zwischen Ideal und Realität zu groß, drohen die Kritik oder eventuelle Reformvorschläge mangels konkreter Anhaltspunkte ins Leere zu laufen.
Deshalb ziehe ich es vor, einem anderen, etwas komplexeren Ansatz zu folgen, der auf der rationalen Rekonstruktion unserer Rechtsordnung, insbesondere unserer Verfassungsrechtsordnung (unserer Verfassungstraditionen) beruht. Wie sich zeigen wird, lassen sich auch hieraus klare normative Maßstäbe für die Beurteilung des europäischen Gemeinschaftsrechts gewinnen. Und sie haben zwei Vorteile: zum einen handelt es sich dabei nicht um ideale Vorgaben, sondern um positivrechtliche Normen, die Bestandteil des gemeineuropäischen Acquis sind; zum anderen sind die so gewonnenen Maßstäbe auch dann von Nutzen, wenn es darum geht, die auftretenden Spannungen zwischen Europarecht und nationalem Verfassungsrecht auf interpretativem Wege ein Stück weit zu entschärfen. Natürlich hat Interpretation ihre Grenzen, jenseits derer man eine Reform des Vertrags anstreben muss, will man ihn inhaltlich korrigieren. Doch ein bestimmter Spielraum für die Auslegung ist immer vorhanden - und den sollte man auf methodologisch fundierte Weise auch auszuschöpfen versuchen.
Im folgenden möchte ich daher zunächst auf diese Spannungen zwischen Europa- und Verfassungsrecht eingehen. Sodann werde ich versuchen, die dogmatischen Grundlagen zu identifizieren, die uns sowohl bei der juristischen Auslegungsarbeit, als auch bei der Beurteilung des Europäischen Verfassungsvertrags von Nutzen sein können. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei dem allgemeinen Gleichheitsprinzip zu widmen sein, weil sich an ihm besonders klar die Möglichkeiten und Grenzen der Interpretation aufzeigen lassen.
1.
Allgemeine Spannungen zwischen dem Europarecht und den
Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten
Der Vorrang des Europarechts (Art. I - 6 EVV) ist unabwendbar, denn heutzutage spielen sich die Wahrnehmung von Interessen und die Schlichtung von Konflikten mehr und mehr im überstaatlichen Rahmen ab. Dadurch werden Rechtsordnungen nötig, die den Aktionsradius der souveränen Staaten ausdehnen und so ist die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft entstanden.
Nun beeinflusst das Gemeinschaftsrecht wiederum den Inhalt unserer Verfassungen und ihre normative Kraft. Die Funktionen, die in der klassischen Theorie eine Verfassung materiell bestimmten, werden jetzt von einem neuen Rechtsgefüge erfüllt, in dem dem Europarecht ein relevanter Stellenwert zukommt. Das zeigt sich bereits an einem einfachen Beispiel: Die Verfassung beansprucht zwar, die Verfahren und Grenzen der Rechtsschöpfung zu regeln, aber das Europarecht, ein quantitativ und qualitativ wichtiger Ordnungsfaktor, bleibt dabei unberücksichtigt, denn es entsteht ja in einer nicht von nationalen Verfassungen geregelten Form und schränkt nicht nur den Gestaltungsspielraum des nationalen Gesetzgebers ein, sondern setzt sich auch über die nationalen Verfassungsregeln hinweg. So sind die Aufgaben der öffentlichen Gewalten und das Recht, das das Verhalten der Staatsbürger regelt, nicht mehr direkt von Verfassungsmandaten oder von verfassungsmäßig geregelten Verfahren abzuleiten, weil Europarechtsnormen und -verfahren in vielerlei Hinsicht mit ihnen verflochten sind. Häufig verliert dadurch das Recht der Staaten selbst seine Geltungskraft.
Die Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofs bringt durch die Übernahme des Gemeinschaftsrechts als allgemeine Interpretationsregel Europarecht zum Tragen, manchmal sogar in Fällen rein nationaler Kompetenz. Dies geschieht insbesondere, weil es immer schwieriger wird, eine klare Trennungslinie zwischen Fällen nationaler oder gemeinschaftlicher Zuständigkeit zu ziehen und trägt dazu bei, die verschiedenen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zu vereinheitlichen. Diese Entwicklung scheint unumkehrbar zu sein.
Auf der anderen Seite berücksichtigt aber die europäische Rechtsprechung ihrerseits die Kriterien und Prinzipien, die in den einzelnen Mitgliedstaaten gelten. Das Gemeinschaftsrecht wird durch eine Rechtsprechung gestaltet, die sich auf allgemeine Grundsätze stützt, deren harmonisierende Interpretation den Verfassungstraditionen der Mitgliedländer verpflichtet ist.
Konrad Hesse hat schon 1999 festgestellt, dass sich eine zunehmende Konkordanz von europäischem und nationalem Verfassungsrecht wie auch eine Konkordanz des Verfassungsrechts der Mitgliedstaaten herausbildet. Und er gibt seiner Überzeugung Ausdruck, dass nicht zu befürchten sei, dass die nationalen Verfassungen in diesem Prozess ihre Bedeutung einbüßen, weil sie erstens aufeinander angewiesen sind und zweitens die demokratischen Prinzipien in der Grundordnung der Union nur rudimentär ausgeformt sind.
Doch noch in einem zweiten, mindestens ebenso wichtigen Aspekt ist das Europarecht als rudimentär zu bezeichnen: Die klassische Verfassungstheorie besagt seit der französischen Revolution, dass der Zweck ein jeder politischer Vereinigung darin besteht, die natürlichen und unveräußerlichen Rechte der Menschen zu realisieren (Art. 2, Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 1789). Vor diesem Maßstab können unsere nationalen Verfassungen bestehen. Nicht aber das Europarecht, denn seit der Gründung der europäischen Gemeinschaften und durch ihre gesamte Entwicklung hindurch, sind bestimmte Grundrechte und Grundfreiheiten hauptsächlich als Funktionsbedingungen für eine freie Marktwirtschaft verstanden worden und nicht umgekehrt, die freie Marktwirtschaft in den Dienst der Realisierung der Grundrechte gestellt worden. Demgegenüber haben die Verträge von Nizza und Rom zwar die Achtung der Grundrechtscharta explizit in das Europarecht aufgenommen. Doch was fehlt, ist die kopernikanische Wende, nach der die Verwirklichung der Grundrechte immer nur das Ziel einer politischen Vereinigung und nie ein Mittel für andere Zwecke sein kann.
Nimmt man das demokratische und das Grundrechtsdefizit zusammen, so drängt sich folgende Schlussfolgerung auf: Sollen eine öffentliche Gewalt und eine Gesellschaftsordnung unter der Herrschaft des Rechts in Europa konstituiert werden, kann das Vermächtnis der klassischen Verfassungslehre nur von Nutzen sein, um das neue Europarecht zu schmieden. Die Herausforderung für uns besteht also darin, das Europarecht auf dem Erfahrungshintergrund des Verfassungsrechts zu gestalten.
Was bisher geschehen ist und geschieht, ist tendenziell eher das
Gegenteil, eine Aushöhlung des Verfassungsrechts durch das
europäische Gemeinschaftsrecht. Denn was Hesse vielleicht nicht
voraussehen konnte, ist die Tatsache, dass das Europarecht mit
seinem demokratischen Defizit durchaus eine unerwünschte
Eigendynamik entwickeln kann, wie es z. B. in Spanien geschehen
ist: Art 93 der spanischen Verfassung eröffnet nicht nur den Weg
zur europäischen Integration, sondern schlägt gleichzeitig eine Art
Bresche, durch die das Europarecht auf die institutionellen
Prozesse und unsere Rechtsordnung Einfluss genommen hat.
(Art. 93 SV: Durch organisches Gesetz kann der Abschluss von
Verträgen autorisiert werden, durch die einer internationalen
Organisation oder Institution die Ausübung von aus der Verfassung
abgeleiteten Kompetenzen übertragen wird. Die Gewährleistung für
die Erfüllung dieser Verträge und der Beschlüsse, die die
internationalen oder supranationalen Organismen, denen die
Kompetenzen übertragen wurden, fassen, obliegt je nach Fall den
Cortes Generales oder der Regierung.)
Auf diese Weise ist unsere Verfassung inzwischen über die speziell der Reform gewidmeten Artikel hinaus verändert worden. So ist etwa der Grundsatz der institutionellen Autonomie der Mitgliedstaaten eigentlich nur noch als eine fromme Lüge zu bezeichnen, die den tatsächlichen Impakt der europäischen Integration verschleiern soll. In ähnlicher Weise hat der Vorrang der Gemeinschaftsfreiheiten, insbesondere das Prinzip des freien Wettbewerbs, die staatliche Garantie der Grundrechte ihrer Wirksamkeit beraubt (Lassalle). Schließlich haben auch die wirtschaftlichen Freiheiten und die gemeinschaftliche Bestimmung der Wirtschaftspolitik der Nationalstaaten – soweit sie die Staatsaufgaben berührt haben – zu mehr als nur simplen Verfassungswandlungen geführt.
Somit heißt die Alternative, die sich im gegenwärtigen europäischen konstituierenden Prozess stellt, nicht Reform oder Stabilität unserer nationalen Verfassungen, sondern wir müssen wählen zwischen einer mit unserem verfassungsrechtlichen Acquis konsistenten Reform der europäischen Verträge oder einem kritiklosen Hinnehmen von Normwandlungen auf nationaler Verfassungsebene, die eine erhebliche Tragweite haben.
Unzureichend wäre also eine Verfassungspolitik, die sich als Reaktion auf politische Prozesse und rechtliche Änderungen, die sich außerhalb des Staatsbereichs vollziehen, darauf beschränken würde, mit Modifizierungen ad hoc die eigenen durch die europäische Integration gefährdeten Verfassungsgrundsätze abzusichern. Wenn wir wirklich wollen, dass die Europäische Union unsere Verfassungsprinzipien respektiert, wird es wenig nutzen, wenn wir sie in unserer Verfassung lediglich formal garantieren.
In dem Maße, in dem man dem Europarecht Vorrang über das Verfassungsrecht einräumt, würde die Verfassungsordnung der Mitgliedstaaten – konkret von Deutschland, Griechenland und Spanien – die Möglichkeit verlieren, die eigene Verfassungsordnung zu erhalten - es sei denn, die eigenen Verfassungsprinzipien würden im Vorhinein auf das Europarecht projiziert. Es handelt sich also darum, die mit dem Postulat der Verfassungshomogenität in unserem Verfassungsverbund angelegten Möglichkeiten auszuschöpfen, nicht nur in Bezug auf eine harmonisierende Interpretation, sondern auch hinsichtlich einer Vertragsreform, die die europäischen Institutionen zur Garantie der Grundrechte befähigt.
Dies lässt sich konkret darstellen am Beispiel der Spannungen zwischen der Gewährleistung der Wirtschaftsfreiheiten und des freien Wettbewerbs und dem Gleichheitsprinzip, denen ich mich nun zuwenden möchte.
2.
Spannungen zwischen den Wirtschaftsfreiheiten und dem
Wettbewerbsprinzip und der gleichen Freiheit
Man unterscheidet bekannterweise bei den Grundrechten zwischen einer subjektiv- und einer objektivrechtlichen Dimension. Aus letzterer folgen positive Handlungspflichten für die öffentlichen Gewalten, d. h. es geht nicht nur darum, den einzelnen in seiner subjektiven Sphäre vor staatlichem Eingriff zu schützen, was die subjektive oder Abwehrrechtskomponente der Grundrechte bezweckt, sondern um die Herstellung eines sozialen und wirtschaftlichen Zustandes, in dem die Grundrechte ihr maximales Wirkungspotential entfalten können. Kurz ausgedrückt ist dies der Zustand der gleichen Freiheit für alle.
Betrachten wir nun den europäischen Verfassungsvertrag aus dieser Perspektive, so sind normative Spannungen von erheblicher Tragweite nicht zu übersehen. Denn die Grundrechte werden dem Prinzip des freien Wettbewerbs untergeordnet (Art. II -112.2 EVV)
Im Ganzen ist der Vertragstext enttäuschend, was die Wirtschaftspolitik anbelangt. Die Bezugnahme auf die soziale Marktwirtschaft (Art. I - 3 3. EVV) ist ambivalent. Der Begriff erscheint zwar in Teil I, der sich mit den allgemeinen Grundsätzen befasst. Aber er erscheint nicht in Teil III, der die Politikbereiche und die Arbeitsweise der Union definiert. Die Formel, die statt dessen öfter auftaucht, ist: eine offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb. Das Adjektiv sozial und was es beinhaltet, ist einfach verschwunden. Stattdessen präzisiert Art. III - 209 EVV, dass die Konvergenz der Sozialpolitik die Notwendigkeit zur Grenze hat, die Wettbewerbsfähigkeit der Union zu erhalten, und dass sie vor allem aus dem begünstigenden Wirken des Binnenmarktes hervorgehen wird. Über den Sinn dieser Normen kann kein Zweifel bestehen: Die Sozialpolitik wird im Vertrag als Diagonale im Parallelogramm der freien Kräfte des Marktes konzipiert.
Ähnlich rhetorische Referenzen tauchen im Vertrag auf, wenn es um die Ziele des nachhaltigen Wachstums, der Vollbeschäftigung und des sozialen Fortschritts oder des Umweltschutzes geht (Art. I - 3 3. EVV). Auch diese Ziele verschwinden in Teil III, dem harten Kern des Vertrags. Dort wird dagegen bezeichnenderweise erklärt, dass die richtungsweisenden Grundsätze stabile Preise, gesunde öffentliche Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen sowie eine dauerhaft finanzierbare Zahlungsbilanz sind (Art. III - 177 EVV). Das bedeutet nichts anderes als die harte neoliberale Politik, wie wir sie seit den achtziger Jahren kennen und die heute einer tiefgehenden Revision unterworfen wird.
Schaut man sich den Text im Ganzen an, so kommt das Wort Markt 78 Mal vor, der Begriff freier Wettbewerb 27 Mal, dagegen ist nur 3 Mal von sozialem Fortschritt und ein einziges Mal von sozialer Marktwirtschaft die Rede.
Werden wir mit der Ratifikation des Vertrags einen Schritt in Richtung auf eine gemeinschaftliche Wirtschaftspolitik der Euro-Länder hin tun? In keiner Weise, denn die Gemeinschaftsinstitutionen machen nur Währungspolitik. Die anderen Aspekte der Wirtschaftspolitik werden lediglich europäisch koordiniert und es ist offensichtlich, dass diese Koordination bisher nicht nur nicht funktioniert hat, sondern dazu noch verhindert, dass sich irgend jemand für eine europäische Wachstums- und Beschäftigungspolitik verantwortlich fühlt.
Das Hauptziel der Währungspolitik ist die Erhaltung der Preisstabilität (Art. I - 30 2.; III - 177; III - 185 EVV), sie ist ausschließlich Kompetenz der Europäischen Zentralbank (Art. I - 30 1 EVV) und den nationalen Regierungen und europäischen Institutionen ist es untersagt, auf die Politik der Zentralbank Einfluss zu nehmen (Art. III - 188 EVV).
Was man in diesem Bereich hätte regeln sollen, ist die Einsetzung einer europäischen Wirtschaftsregierung, deren Notwendigkeit sich aus der Natur der Wirtschaftspolitik, der europäischen Tradition und der allgemeinen Vernunft ergibt. Aber der Widerstand dagegen war zu gross – so bleibt die Währungspolitik weiter exklusiv der Zentralbank vorbehalten. Gesetzt den Fall, dass es morgen eine Mehrheit von linksgerichteten Regierungen für angebracht hielte, eine expansionistische Währungspolitik zu entwickeln, würden sie auf den vom Vertrag abgesicherten Widerstand der orthodox-liberalen Zentralbank stoßen.
In den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich ein europäischer Konsens bezüglich der Idee herausgebildet, dass sich die Menschheit darum bemühen sollte, ein Gleichgewicht zwischen den auseinanderstrebenden wirtschaftlichen und sozialen Interessen zu finden, indem für alle ein gewisses Minimum an öffentlichen Dienstleistungen, Wohlfahrt und Sozialleistungen sichergestellt wird.
Das bedeutet, dass nach Maßgabe der uns allen gemeinsamen Verfassungstraditionen den Rechten der Charta und der neu entstehenden europäischen Föderation ein bestimmter Begriff der Freiheit, verstanden als gleiche Freiheit für alle, zugrundeliegt. Ein rascher Blick auf bestimmte Kernbestimmungen unserer Verfassungen, die den Grundsatz der Gleichheit zum Gegenstand haben, kann dies veranschaulichen.
In den Verfassungen der Mitgliedstaaten der Union, in der europäischen Menschenrechtskonvention und in anderen völkerrechtlichen Dokumenten sind Bestimmungen zu finden, die übereinstimmend das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz und das Verbot jeglicher Diskrimination aufführen. Auch die europäische Gesetzgebung hat dem Gleichheitsgrundsatz als allgemeinem Vernunftkanon (ragionevolezza) Aufmerksamkeit gewidmet. Doch von diesem formalen Gleichheitsbegriff ist der materielle Gleichheitsbegriff zu unterscheiden, der vielen Verfassungen zugrundeliegt. Die italienische (1948), deutsche (1949) und spanische (1978) Verfassung lassen in dieser Hinsicht keinen Zweifel zu: Art. 3 der italienischen Verfassung enthält z. B. die vergleichsweise ausführlichsten Leitsätze des Gleichheitsprinzips, da er den öffentlichen Gewalten nicht nur die Abschaffung der Diskriminierung als Aufgabe zuweist, sondern auch ihre direkte Intervention verlangt, um Ungleichheiten zu beseitigen, die sich auf Ungerechtigkeiten in der Vergangenheit oder auf rein natürliche Ursachen zurückführen lassen. Im Grundgesetz bilden die Art. 20, 72.2 und 106 die dogmatische Grundlage für die Sozialgesetzgebung und Rechtsprechung. Und auch der Art. 9.2 der spanischen Verfassung, der sich an Art. 3 der italienischen orientiert, strahlt auf den Verfassungstext im Ganzen aus (Art. 39 - 52; 40.1; 138.1 SV).
Dieser Begriff der gleichen Freiheit für alle in der europäischen Verfassungstradition muss als Gegensatz zu der wirtschaftlichen Konzeption verstanden werden, die den Wirtschaftsfreiheiten des Vertrags zugrundeliegt: freier Personen-, Waren-, Kapital- und Dienstleistungsverkehr, Niederlassungsfreiheit und freier Wettbewerb (Art. I - 4; III - 161 - 169 EVV). Für die liberale Doktrin, auf die sich die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza stützen, beschränkt sich die Freiheit auf die subjektiven Rechte gegenüber der öffentlichen Gewalt, unter besonderer Berücksichtigung der wirtschaftlichen Initiative. Mit ihrem ideologischen Credo haben die Neoliberalen die gleiche Freiheit angefochten, indem sie das Öffentliche so beschnitten haben, dass nur noch seine Gendarmen-Funktion für das Funktionieren des Marktes übriggeblieben ist. Das Kapital weiß nur zu gut, dass in einer atomisierten Gesellschaft, die sich aus der Summe von Individuen im Konkurrenzkampf zusammensetzt, die Herrschaft der Stärkeren gesichert ist. Das liegt in der Logik des Profitdenkens und daran ändert sich auch dann nichts, wenn sich unter den Liberalen selbst einige tolerantere finden, die mit ihrer Freiheitsidee die Gleichheit vor dem Gesetz, die Nichtdiskriminierung auf Grund von Rasse, Religion, Geschlecht oder auch die Chancengleichheit verbinden - alles Prinzipien, die in dem Vertrag normativ verankert sind.
Was die Chancengleichheit betrifft, so geht die Proklamation der subjektiven Rechte nicht mit der Garantie eines universellen Zugangs zu menschenwürdigen Lebensbedingungen einher, insbesondere zum Recht auf Arbeit. Die merkantilistische Wurzel der Chancengleichheit wird leicht übersehen, nämlich die Idee vom darwinistischen Kampf zur Maximierung von Eigennutz und Profit als wilde Utopie der menschlichen Glückseligkeit (Adam Smith). Die sogenannte Chancengleichheit (Tony Blair, New Labour Regierung, Anthony Giddens) ist letzten Endes bestenfalls die Gleichheit, sich am Wettbewerb zu beteiligen. Und wir wissen alle, welche neuen Knechtschafts-Verhältnisse der Wettbewerb auf dem Markt hervorbringt. Historisch gesehen würde es einen Rückschritt bedeuten, wenn wir mit einer kompensatorischen Politik der Einkommensverteilung brechen wollten, wie es der Neoliberalismus im Sinn hat. Allein mit der Freiheit der Chancengleichheit wird ein großer Teil der europäischen Bürger niemals real und wirklich frei sein. Wie jede andere Freiheit so dürfen auch das Recht auf wirtschaftliche Initiative und die Wirtschaftsfreiheit nicht dazu missbraucht werden, die reale Freiheit eines anderen zu zerstören oder zu beeinträchtigen; ebensowenig darf man sie dazu benutzen, die Arbeit und die Bewusstseinsbildung der anderen zu bestimmen – ein Freiheitsrecht vermittelt niemals Herrschaft über einen anderen Freien (Kirchhof, 1991). Andernfalls würde der contrat social als gegenseitige Garantie für den Gebrauch der Freiheiten sinnlos werden.
Nachdem wir die normativen Spannungen zwischen dem Vertrag und unseren Verfassungen herausgearbeitet haben, stellt sich die Frage, wie sie dogmatisch zu behandeln sind. Die Europarechtler und der Vertrag kommen uns dabei mit den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts zu Hilfe, mit denen wir uns deshalb etwas näher befassen wollen.
3.
Mögliche Wege zur Entschärfung der Spannungen zwischen Europarecht
und den Verfassungsüberlieferungen
3.1 Positivrechtliche Normen, die durch konkordante Interpretation die Spannungen aufheben können
Die normative Kraft der Charta rührt daher, dass sie einen Corpus von Grundsätzen systematisiert, der von dem Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten, d. h. also von den Traditionen, die das gemeinsame Verfassungsgut darstellen, abgeleitet werden kann. Daher darf die Charta nicht abgesondert von der normativen Kraft der anderen Rechtsquellen, mit denen sie im Zusammenhang steht und kooperiert (staatliche Verfassungen, Gemeinschaftsrecht, Völkerrecht, usw.) betrachtet werden. Vielmehr gewinnt die Charta ihre bindende Kraft aus ihrer Funktion, durch Auslegung Grundsätze zu vereinheitlichen, zu präzisieren und zu entwickeln, die der Vielfalt Europas gemeinsam sind.
Die Bedeutung der Verfassungstraditionen wird noch dadurch verstärkt, dass die Rechte der Charta weniger die Funktion erfüllen sollen, einzelne Rechtsverletzungen zu ahnden, als vielmehr die Grundrechtsordnung der Mitgliedsländer, die sich in den staatlichen Verfassungen, den Dokumenten des Völkerrechts und in der Rechtslehre niederschlägt, zu harmonisieren. Wie aus der Präambel selbst hervorgeht, ist die Charta ja nicht aus dem Nichts entstanden, sondern stützt sich auf die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und die Rechtsprechung des Gerichtshofes der Union. Dazu bestätigt die Präambel, dass in der Charta die gemeinsamen Werte sichtbarer gemacht werden sollen, deren Erhaltung und Entwicklung die Union fördern will.
Das bedeutet für die Rechtspraxis, dass es im Wesentlichen darum geht, die Charta mit den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten in Verbindung zu bringen. Da es keinen formellen Beginn für das In-Kraft-Treten der Charta gibt, und es unter den gegebenen Umständen auch nicht ratsam erscheint, eine Frist dafür anzusetzen, muss im Moment jede Grundrechtsfrage im europäischen Bereich auf dem in Art. I - 9 EVV vorgesehenen Wege behandelt werden. Diese Vorschrift beinhaltet, dass die Rechte durch den Gerichtshof anerkannt und abgegrenzt werden sollen, und dass dieser seinerseits die Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und die Europäische Konvention für Menschenrechte als Rechtsquellen in Anspruch nehmen soll.
Da die Verfassungstraditionen, die bei der Interpretation der Charta abgewogen werden müssen, vielfältiger und oft heterogener Art sind, müsste meiner Ansicht nach unter den Verfassungsüberlieferungen das Postulat nach gleicher Freiheit für alle einen hervorragenden Platz einnehmen. Hier gilt es, unter den vielfältigen möglichen Interpretationen die herauszuarbeiten, die dem europäischen und globalen Gemeinwohl am ehesten gerecht wird und die subversiven Tendenzen korrigiert, die das Europarecht in den letzten zwei Jahrzehnten erfahren hat.
Das Vorverständnis in den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten verweist uns auf eine sozial determinierte Freiheitsidee. Wenn sich nun die Rechte der Charta als Gründungsdokument eines neuen europäischen Konstitutionalismus durchsetzen, wird der neuen europäischen Staatenföderation eben diese Konzeption der Freiheit als Referenzrahmen dienen. So kann die Freiheit, verstanden als gleiche Freiheit für alle als Kondensation der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten zum Angelpunkt des im Entstehen begriffenen europäischen Bundes werden.
3.2 Rechtspolitische Lösungen durch Vertragsreform nach dem Prinzip der Verfassungshomogenität
In den Verfassungen verschiedener Mitgliedstaaten sind
Integrationsklauseln eingefügt, die die strukturellen Erfordernisse
für die Entwicklung von Gemeinschafts-Organen festlegen, denen der
Staat die Ausübung eigener Kompetenzen zu überlassen bereit ist.
Art. 23 GG erklärt:
Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die
Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen
Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und
föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität
verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen
vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. ...
Andere Verfassungen sind weniger explizit, verlangen aber auch, dass der Grundrechtsschutz, das Subsidiaritätsprinzip und der Grundsatz der sozialen und wirtschaftlichen Kohäsion wie auch die Rechtsgleichheit der Mitgliedstaaten bei der Willensbildung der Union respektiert werden.
Diese Integrationsklauseln sollten sich allerdings auch auf die europäische Regierungsform erstrecken: Hier tritt der Widerspruch deutlich zu Tage, dass in der Charta das demokratische Prinzip feierlich proklamiert wird, während
– die politischen Rechte in der Trickkiste verschwinden;
– in Teil III des Vertrags oligarchische Entscheidungsformen
entwickelt und Politiken definiert werden, die gegen die
Ausstrahlung der Grundrechte abgesichert sind;
– und ein demokratisches Defizit auch bei der Produktion von Recht
(Art.I - 34,I - 23 3.; III-396 EVV) festzustellen ist.
Diese Unvereinbarkeiten sind so schwerwiegend, dass die Grenze erreicht ist, wo die Interpretation allein nicht mehr greift, sondern eine Vertragsreform unerlässlich ist. Fragen wir uns deshalb, welche dogmatischen Folgerungen wir aus dem Grundsatz der Verfassungshomogenität ziehen können, um eine europäische Regierungsform zu erarbeiten, die ihre Funktion – die Wirksamkeit der Rechte zu garantieren – kohärent erfüllen kann. Auch hier wollen wir uns wieder am Gleichheitssatz orientieren.
Gleiche Freiheit für alle hat in der europäischen Geschichte das gleiche Wahlrecht als Voraussetzung. Die Abstimmung in den Wahlen zum Europäischen Parlament ist davon weit entfernt. Dass das Parlament die europäischen Mandatträger politisch kaum zur Verantwortung ziehen kann, hängt damit zusammen. Und dass die europäischen Institutionen nicht nach dem Prinzip der Gewaltenteilung eingerichtet und funktionell nicht als Garantie der Grundrechte verstanden worden sind, erklärt sich ebenfalls daraus, dass die Bürger seit fünfzig Jahren nur über begrenzte politische Rechte verfügen.
So müssen wir im Hinblick auf das gleiche Wahlrecht, die Volkslegitimität oder die politische Verantwortung bei der Machtausübung – alles Materien, die das demokratische Prinzip betreffen – fordern, dass die europäische Regierungsform stärker an den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten ausgerichtet und der Widerstand aufgegeben wird, den Grundsatz der Verfassungshomogenität ernst zu nehmen. Der einzige Weg zu einer proportionalen Repräsentation der europäischen Bürger wäre – unter Verzicht auf die Verteilung der Parlamentssitze unter den Staaten – Wahlkreise, nach dem Kriterium der Bevölkerungszahl über die nationalen Grenzen hinweg festzulegen. Um bei der Ausübung des Wahlrechts von Gleichheit sprechen zu können – eine unverzichtbare Voraussetzung für eine echte demokratische Bürgerschaft – ist es nicht nur erforderlich, dass die in den verschiedenen Staaten abgegebenen Stimmen gleiches Gewicht haben, sondern auch, dass die Wahlordnung im ganzen Wahlbereich einheitlich ist.
Im Moment müssen sich die Bürger an die von den verschiedenen Staaten etablierten Regeln halten, wenn sie Kandidaten zum Europaparlament wählen wollen. Das bedeutet, dass das Parlament, obwohl es die direkt durch die Bürger gewählte Kammer ist und sich daher als demokratische Repräsentation auf europäischer Ebene ausgibt, in Wirklichkeit – wie auch im Vertrag steht – die Völker der Staaten repräsentiert und nicht die Bürger der Union.
Über eine echte demokratische Repräsentation wären auch die Spannungen zwischen Wirtschaftsfreiheiten und Wettbewerbsprinzip einerseits und dem Grundsatz gleicher Freiheit für alle andererseits aufzulösen. Durch die öffentliche Wahrung der Rechte und die staatliche Steuerung des Marktes (Art. 72.2; 106 (3) GG; 39 - 52; 138.1 SV; 3 IV) wäre es möglich, zu einer realen Freiheit für alle vorzustoßen, das heißt zu einer gleichen Freiheit. Glücklicherweise können wir dabei in Europa auf eine Tradition zurückgreifen, die es wieder zu beleben gilt: die öffentliche Gewalt als Regulator des Marktes und Verteiler des erzielten Profits. Unser historisches Gedächtnis braucht nicht sehr weit zurückzugehen, um auf die bedeutenden Leistungen einer Steuerpolitik zu stoßen, die bis in die achtziger Jahre imstande war, die öffentlichen Dienstleistungen wie Gesundheitswesen, Kultur, Erziehungswesen, Gerichtsschutz, öffentliches Verkehrswesen, Sozialversicherung, Wohnungs- und Umweltschutz zu finanzieren.
Dieses Modell des Wohlfahrtstaates gehört heute in den National-Staaten, deren Befugnisse und Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt sind, der Vergangenheit an. Niemand kann das Rad der Geschichte zurückdrehen und auf Biegen oder Brechen ein Sozial-System zu erhalten versuchen, das an die fordistisch- tayloristische Produktionsweise, die Sozialdemokratie und die keynesianischen Politiken gebunden ist. Aber statt uns dazu zu entschließen, unveräußerliche soziale Rechte einfach aufzugeben, sollten wir uns klarmachen, wie dringend nötig es ist, eine Sozialpolitik im europäischen Maßstab zu entwerfen, die sich auf das Gleichheitsprinzip stützt.
Nur demokratische Macht kann die Wirtschaftsmacht regulieren, zur Rechenschaft ziehen und ihren subversiven Tendenzen entgegenwirken. Die reale Freiheit von allen macht es nicht nur erforderlich, über subjektive Abwehrrechte dem Staat und der öffentlichen Verwaltung gegenüber zu verfügen, sondern auch über die materiellen Grundlagen, um sich von der Macht, die das private Kapital auf das gesellschaftliche und politische Leben ausübt, zu emanzipieren. Der wirtschaftlichen Freiheitsidee wollen wir Europäer eine egalitäre Freiheitsidee entgegen setzen, die die Bedürfnisse der Menschen berücksichtigt. So wäre es uns möglich, solidarisch zusammenzuarbeiten und durch eine allgemeine Daseinsfürsorge materielle Lebensbedingungen zu schaffen, die eine Gesellschaft - selbst im Konkurrenzkampf - zusammenhält. Damit würden wir die Funktion des Rechts erfüllen, die Wirtschaftslogik, den freien Markt und das technologische Instrumentarium einer allgemeinen Vernunft zu unterstellen, die wir als Autonomie des individuellen moralischen Bewusstseins und ein Zusammenleben ohne Unterdrückung verstanden wissen wollen (L. Gómez Llorente, 2002).
* * *
In der anschließenden Debatte zu diesem Vortrag hat Prof. Tsatsos mich mit sachlichen Argumenten davon überzeugt, dass es besser wäre, wenn jeder Staat eine eigene Wahlordnung hätte. Ich mache mir diese These zu eigen, unter dem Vorbehalt, dass die Wahlkreise und Kandidaturen europäisch, d. h. supranational sein sollen. Ich kenne keinen Experten im europäischen Raum, der besser geeignet wäre als Prof. Tsatsos, um eine föderale Wahlordnung für Europa zu erarbeiten. Wir warten auf seinen Vorschlag.
Literatur:
A. López-Pina, Europa, un proyecto irrenunciable. La Constitucion
para Europa desde la teoría constitucional, Madrid: Ed. Dykinson,
2004
Konrad Hesse, Deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit an der Schwelle
zum neuen Jahrhundert, in: Verfassungsrecht und
Verfassungsgerichtsbarkeit im Zeichen Europas, Jürgen Schwarze,
Hg., Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 1999
A. López-Pina, Hg., Spanisches Verfassungsrecht, Heidelberg: C. F.
Müller Verlag, 1993
Ingolf Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht.
Bericht VVDStrl
Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of
Nations, Oxford: Oxford University Press, 1998
Paul Kirchhof, Fuerza normativa e interpretación de los derechos
fundamentales. Efectividad de los derechos fundamentales - en
particular, en relación con el ejercicio del poder legislativo, in:
La garantía constitucional de los derechos fundamentales. Alemania.
Españia. Francia e Italia, edición de A. López-Pina, Madrid:
CIVITAS; Servicio de Publicaciones, Facultad de Derecho,
Universidad Complutense, Madrid, 1991
A. López-Pina, Die Bürgerschaft als Voraussetzung einer
Europäischen Republik: Rechtspolitische Reflexionen, in: Das
Grundgesetz im Prozess europäischer und globaler
Verfassungsentwicklung, U. Battis; Ph. Kunig; I. Pernice; A.
Randelzhofer, Hg., Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft,
2000
Luis Gómez Llorente, El valor de la Igualdad, in: Izquierda
Socialista, Un futuro para la izquierda. 20 años de Izquierda
Socialista, Madrid: Biblioteca Nueva, 2002