Europa ist eine Brückenlandschaft. Der Kontinent wächst zusammen, wird als Kontinuum wiederhergestellt: in seinem südwestlichen Winkel soll dank des EU-Programms INTERREG III-A endlich die kleine andalusische Grenzstadt Sanlúcar mit ihrer Nachbarstadt Alcoutim in der Algarve verbunden werden. Während der Diktaturen Francos und Salazars herrschte zwar die »Brüderschaft der iberischen Völker«, die Grenze jedoch war eine scharf überwachte Trennlinie, und selbst danach sollte es noch drei Jahrzehnte dauern, bis eine Brücke den Río Guadiana überspannen - und das Zusammenwachsen dieser nunmehr transnationalen, europäischen Region symbolisieren würde. An der deutsch-französischen Grenze soll im Jahre 2006 auch eine zwölfte Rheinbrücke das französische Fessenheim mit dem deutschen Hartheim verbinden, doch wie der französische Bürgermeister betont, wird sie kaum für den Transitverkehr gebraucht, vielmehr gehe es darum, einmal mehr symbolisch eine »Achse der Annäherung« zu schaffen.
Europa als Brückenlandschaft. Am anderen Ende der EU, in der deutsch-polnischen Grenzregion, wird der Reisende darauf hingewiesen, dass hier Europa zusammengeflickt wird: die blau gestrichenen Brücken – manchmal sind sie sogar mit einem gelben Streifen gesäumt – in Frankfurt(Oder)/Slubice, oder auf der Strecke zwischen Szczecin (Stettin) und Swinoujscie (Swinemünde) sind die europäischen Akzente, die in diese Landschaft an der Grenze zwischen den zwei Staaten gesetzt werden, die goldenen EU-Brücken der Versöhnung... Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und nach der Wiedervereinigung Deutschlands entwickelten sie sich langsam zu punktierten Linien, die in dem europäisch zusammenwachsenden Raum der Euroregionen über die Grenze führten.
Hatten vor dem Zweiten Weltkrieg noch mehr als hundert Brücken Oder und Neiße überspannt, so konnten 1990 nur noch drei benutzt werden. Nach Kriegsende waren sie Orte gewesen, an denen die deutsche Kontinuität auseinandergesprengt - die neue deutsch-polnische Grenze materialisiert und verfestigt wurde. Die nicht zersprengten Brücken wurden selbst zu Grenzpunkten und dienten zur konkreten Bekräftigung der sich herauskristallisierenden Identität der neuen Staaten, Polens und der DDR. Aus den Brücken wurden Bastionen, sie verriegelten die Landschaft, und da, wo die Brücken ins Nichts führten, in tote Winkel einer neu entstehenden Geographie, mussten sich die neuen Grenzregionen umorientieren. Deutschland hatte alle Brücken hinter sich abgebrochen, nun nahm man in Gebieten, die aus der polnischen Perspektive als ›wiedergewonnen‹ galten, poniemieckie (ehemals deutsches) Land und Güter in Besitz. Die architektonischen Spuren preußischer/deutscher Präsenz wurden zu postnationalen Überbleibseln, nicht etwa, weil die deutsche Nation in den Anfangsjahren der Bundesrepublik als überwunden gegolten hätte, sondern weil sie das ›Erbe ohne Erben‹ einer nicht mehr zu findenden Nation waren. Nach dem Untergang des ›deutschen Osten‹, lebten ostdeutsche Städte, Sehenswürdigkeiten im Osten als Photographien in Bildbänden oder sogar in Reiseführern ein postnationales Leben weiter: im Dezember 1955 beschrieb ein Merianheft die Stadt Königsberg, als sei sie ein lohnendes Reiseziel, doch sie hieß seit neun Jahren Kaliningradskaja Oblast, auf der kurz vor dem Krieg gebauten Autobahn Elbing – Königsberg wucherte Gras, und die Stadt war für Ausländer gesperrt. Auf dem Glanzpapier der ab Mitte der Achtziger in der Bundesrepublik immer häufiger veröffentlichten Bildbände mit den sich wiederholenden Titeln Unvergessenes Ostpreußen, Schlesien gestern und heute…wurden Tore, Bahnhöfe, Brücken ›im Osten‹, die an sich Orte des Übergangs, Signa eines dynamischen Raums gewesen waren, nun aus ihrem Umfeld herausgelöst und zu immobilen Markierungspunkten einer nostalgisch verklärten Erinnerungskultur, einer Mythogeographie der verloren gegangenen Nation.
Die erstarrte Ost-West Front brach zusammen, und die Ostbrücken wurden zu neuem Leben erweckt. Im Laufe des deutschen Wiedervereinigungsprozesses – der, wie auf der deutschen Seite immer wieder betont wurde, fest mit der Vereinigung des europäischen Kontinents verwoben war – und bereits vor der Ratifizierung des Grenzregelungsvertrags am 14. November 1990, gab der damalige Bundeskanzler eine erstaunliche Definition der deutsch-polnischen Grenze. »Das polnische Volk«, sagte Kohl, solle wissen, dass »ein freies und vereintes Deutschland Polen ein guter Nachbar, ein zuverlässiger Partner auf dem ›Weg nach Europa‹ sein wolle. Dazu gehört«, betonte er, »dass Grenzen nicht in Zweifel gezogen werden. Nur wenn sie unumstritten sind, verlieren sie ihren trennenden Charakter. Wir wollen Grenzen einen neuen, einen zukunftsweisenden Charakter verleihen – nicht den der Trennung, sondern den der offenen Wege und der Begegnung in Freiheit«. Kaum als endgültig befunden und proklamiert, war, aus der bundesdeutschen Perspektive, die Grenze dazu da, übersprungen zu werden.
Gleichzeitig musste sich das wiedervereinigte Deutschland nolens volens mit der neu formulierten deutschen Frage, mit der Frage der Nation, auseinandersetzen. So wie nach dem Zweiten Weltkrieg der Aufbau der Europäischen Gemeinschaft für die neue Bundesrepublik einen Weg der »Erlösung« (Zbiginiew Brzezinski) bedeutet hatte, waren die postnationalen Visionen, in die sich sowohl der Bundeskanzler als auch z. B. Oskar Lafontaine eingangs flüchteten, der Versuch einer ›Erlösung‹ aus der neuen geopolitischen Lage, der sich zu stellen die neue ›Zentralmacht Europas‹ Schwierigkeiten hatte. Jetzt glaubte man offensichtlich allen Ernstes, der gefürchtete wiedervereinigte Nationalstaat werde sich in einer sich zu einem Bundesstaat entwickelnden Europäischen Gemeinschaft auflösen, wie ein Stück Zucker im Tee. Auch die Grenze wurde nun postnational: in ihrer postnationalen Form hieß sie Brücke.
In einer parallelen Vision definierte sich das neue Deutschland immer häufiger als Mittler zwischen Ost und West, als ›Anwalt‹ der mittel- und osteuropäischen Staaten bei deren Bemühungen um den Beitritt zur EG/EU. Da an der innerdeutschen Grenze, an der Trennlinie zwischen den zwei Blöcken, die Teilung überbrückt worden war, sah sich das wiedervereinigte Deutschland – Osten des Westens und Westen des Ostens – dazu bestimmt, eine ›Brücke‹ zu werden in einem Europa, das, wenn nicht postnational, so doch supranational zusammenwachsen würde. Nicht nur die Ostgrenze war Brücke geworden, ganz Deutschland würde nur noch Brücke sein, ein postnationales Bindeglied in Transeuropa.
Hier fiel den Euroregionen, die ab 1991 an der deutsch-polnischen und später an der deutsch-tschechischen Grenze entstanden, eine ganz besondere Rolle zu. Auch sie sollten, aus den nationalen Substruktionen herauswachsend, als Brücken fungieren. Verständlicherweise erweckte die Vorstellung solcher supranationaler Gewächse und transnationaler Gespinste in Gebieten, die noch vor 1945 deutsch gewesen waren, auch Ängste. Nicht selten wurde z. B. das 1991-1992 entworfene Projekt einer ›Oderregion‹ in der polnischen Presse als ›Oderland‹ abgetan. Doch von diesem Zeitpunkt an wurde systematisch auf diese banale Brückenmetaphorik zurückgegriffen: grenznahe Gemeinden, Reisegesellschaften, alle wollten ›Brücken schlagen‹. Die Brücken über Oder und Neiße in Frankfurt/Oder/Slubice, Guben/Gubin und Görlitz/Sgorzelec wurden zu besonders beliebten Treffpunkten von deutschen und polnischen Politikern. Am 8. November 1996 endete ein gemeinsames Manöver der bundesdeutschen und polnischen Armee mit der Zusammenfügung einer Pontonbrücke über die Oder bei Kostrzyn (Küstrin). Am 1. Mai 2004 wurden ganz selbstverständlich ›Brückenfeste‹ gefeiert, und als ihr am 28. November 2004 der Marion Dönhoff-Preis verliehen wurde, lobte Bundeskanzler Schröder Gesine Schwan als große ›Brückenbauerin‹.
Die Brücke war weiterhin die Metapher, die Interessengruppen in Deutschland und in Polen benutzten, um sich selbst zu definieren: Heimatvertriebene in Deutschland sahen sich in dieser Brückenfunktion, und sofort nach 1990 betonte der Zentralrat der deutschen Gesellschaften in Polen, nun sei die Zeit der »Regionen ohne nationale Grenzen« gekommen, die deutsche Minderheit spiele dabei die Rolle einer »natürlichen Brücke«. Gewiss erklärt die Verschränkung deutscher und polnischer Geschichte den Rückgriff auf das Sinnbild, da diese aber nicht symmetrisch ist, wurde in Polen oft befürchtet, die heraufbeschworenen Brücken würden ausschließlich in eine Richtung führen.
Doch spätestens mit der Wahl der rot-grünen Koalition war der deutsche europäisch-postnationale Traum ausgeträumt, die Normalisierung der nun – wie der neue Kanzler immer wieder gern betonte – erwachsenen Nation bedeutet Rückbesinnung auf die Nation. Die ›Brückenfunktion‹ zwischen Ost und West aber ist geblieben, eigentlich wurde sie mit der Normalisierung der Nation, am Ende des »langen Weges nach Westen« (Heinrich August Winkler) erst möglich, ohne Ängste zu wecken. Zuvor konnte sie aus der polnischen Perspektive leicht als ›Drang nach Osten‹ im postnationalen Gewand interpretiert werden. Erst das neue, gelassenere Verhältnis der ›Berliner Republik‹ zum Nationalstaat einerseits – das auch eine neue historische Kontinuität ermöglichte – und die Demontage nationaler Mythen (die ›wiedergewonnenen‹ Territorien als urpolnisches Land), die in Polen allerdings schon in den achtziger Jahren begonnen hatte – andererseits waren die Ausgangsbasis für sich normalisierende deutsch-polnische Beziehungen: so wurde auch ein neuer Umgang mit deutschen Spuren in Polen, und darüber hinaus mit dem ›deutschen Osten‹ möglich. Nicht der postnationale Weg, sondern die Rückbesinnung auf die Kontinuität der Nation und die nochmalige Unterstreichung des endgültigen Charakters der Grenzen machten den ›deutschen Osten‹ zum Erinnerungsort, zur kalten Geschichte also, erlaubten es, deutsche Spuren außerhalb des Nationalstaates (insbesondere in Polen) trans- oder supranational zu lesen. Und so konnte die ja durchaus positiv besetzte Brücken-Metapher als geopolitisches Instrument zur Umkehrung des verruchten ›Drangs nach Osten‹ triumphieren. Die ›Brückenfunktion‹ war das mentale Konstrukt, das die Überwindung der in der Vergangenheit geopolitisch fatalen Mittellage ermöglichte.
Blickt man jedoch auf die geo-historische Entwicklung Preußens/Deutschlands und Polens bis 1945 zurück, wird klar, wie historisch beladen dieses scheinbar harmlose Sinnbild ist. 1945 wurde die deutsch-polnische Grenze ›begradigt‹: die in der deutschen Vorkriegsgeographie als ›Keile‹ nach Nordosten (Pommern, Ostpreußen) und nach Südosten (Schlesien) wahrgenommenen Territorien wurden weggeschnitten. Davor waren Brücken immer preußisch-deutsche Brückenschläge nach Osten gewesen: um seine Streulage zu überwinden, musste Preußen real und im übertragenen Sinne Landbrücken, Dämme, Brückenköpfe und Festungen (Küstrin, Glogau) bauen. Insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als der ›Drang nach Osten‹ apologetisch neu thematisiert wurde, wurden Gebiete, die heute gern als transnationale Brücken bezeichnet werden, immer als Lebensadern Preußens charakterisiert – und gleichzeitig als Bollwerke gegen das Slawentum. In diesem Sinne war, nach den berühmten Worten des jungen Bismarck, 1848 die Wiederherstellung Polens unvorstellbar, denn sie hätte die besten ›Sehnen‹ Preußens durchschnitten. Genauso eindrucksvoll war das Bild, das Heinrich von Treitschke gebrauchte, um die sich seit dem 14. Jahrhundert entwickelnde Dynamik nach Osten zu unterstreichen. Tatsächlich beschrieb er den Ordensstaat als einen »fest(en) Hafendamm, verwegen hinausgebaut vom deutschen Ufer in die wilde See der östlichen Völker«. Die ›Brückenfunktion‹ hatte ein Vorleben gelebt, als ›Drang nach Osten‹: aus polnischer Perspektive – nach der deutschen Wiedervereinigung und als in Deutschland postnationale Träume geträumt wurden – schimmerte der ›Drang nach Osten‹ des ›aggressiven Preußen‹, später der ›bösen Nation‹, immer noch durch.
Nach 1945 verwandelte der polnische Staat über Nacht die verlorenen deutschen Territorien in ›wiedergewonnene‹ Gebiete, in altes Piasten-Land (das Gebiet der Piasten erstreckte sich sogar um das Jahr 1000 bis in Gebiete jenseits der Oder). Mit dem zusammengebastelten piastischen Mythos wurden mehrere Jahrhunderte deutscher Geschichte, deutscher Identität übersprungen. Die preußischen/deutschen Spuren, die nicht weggewischt werden konnten, die Gebäude und Denkmäler, die nicht Opfer einer ›Translokation‹ waren, wurden von den polnischen Siedlern, die selbst aus dem verlorenen Osten kamen, nach und nach akzeptiert, bzw. ignoriert. In Königsberg/Kaliningrad wurden die wenigen Denkmäler, die der tabula rasa entkommen konnten – insbesondere das Kant-Mausoleum oder auch das Schillerdenkmal – auf sowjetische Weise postnational: sie wurden zum ›kulturellen Welterbe‹ deklariert. Nach 1990 begann eine frenetische Phase der Europäisierung der deutschen Spuren und der deutsch-polnischen Vergangenheit in Gebieten, die, nachdem sie ›poniemecki‹ gewesen waren, nun postkommunistisch wurden: das Grenzgebiet wurde in Polen nicht als deutsch-polnische Region bezeichnet, es wurde immer wieder als ›europäische Region‹ zelebriert, 1997 feierte man in Danzig 1000 Jahre ›europäische Geschichte‹. Die vage Europa-Weihe sollte Regionen und Städten, die auf eine konfliktreiche, plurikulturelle Geschichte zurückblicken, eine posttraumatische Existenz ermöglichen, als könne die europäische Salbung die nationalen Wunden heilen.
Doch am Rande dieses offiziellen vor sich ›Hinsalbaderns‹ hatte die zweite, in diesen Gebieten aufgewachsene polnische Generation begonnen, die sedimentierten Schichten der regionalen Geschichte freizulegen. Die Sprengung des zentralistischen Rahmens machte eine Rückbesinnung auf das Regionale möglich. Sie setzte die Anknüpfung an eine Identität voraus, die nicht abstrakt ›europäisch‹ war, und nicht monoethnisch: der neue polnische Regionalismus hatte auch deutsche Akzente, hier »sprachen Steine deutsch«. In Stefan Chwins Roman Tod in Danzig (Hanemann in der polnischen 1995 erschienenen Originalausgabe) waren es die von den deutschen Flüchtlingen zurückgelassenen Objekte, die Möbel, das Geschirr, die deutsch sprachen, sie waren die überlebenden Zeichen der untergegangenen, der offiziell übersprungenen deutschen Zeit, und sie waren es in dem Haus, das 1945 von polnischen Heimatvertriebenen, den ›Repatriierten‹, in Besitz genommen worden war, die die Geschichte der alten und der neuen Bewohner verflochten. Der große Erfolg des Romans in Polen bezeugte, dass die junge Generation, aufgewachsen in einer Region, die ihr zur Heimat geworden war, nun nach der deutschen Vergangenheit fragte, um eine gewisse Kontinuität herzustellen zwischen ihrem Leben und den ›fossilen‹ Erinnerungen in ihrer Umwelt an die vorpolnische Zeit. Nach dem Zusammenbruch des marxistisch-zentralistischen Staates, nach der Bestätigung der deutsch-polnischen Grenze, die die Einfriedung der polnischen Identität untermauerte, konnte die Aneignung der polynational geprägten ›Kulturlandschaften‹, einen neuen regionalen Bewusstseinsraum schaffen, zum Instrument der Selbstfindung der zweiten Generation werden. Nach 1990 machten die Stabilisierung, die ›Normalisierung‹ Deutschlands und die Demontage nationaler Mythen in Polen die Überwindung der in der Zeit des Kalten Krieges produzierten historischen und geographischen Horizontverkürzung möglich.
Erinnerungsorte werden heute neu konstruiert, weil Erinnerungsschichten in Bewegung geraten sind. Die neue Identität dieser Regionen ist nicht postpolnisch, sie ist ein facettenreiches Nebeneinander von alten und neuen Bewusstseinsformen. Heute können Denkmäler wieder preußisch werden, ohne die polnische Identität zu gefährden. ›Brücken bauen‹, wie es die Kulturgemeinschaft Borussia (mit Sitz in Olsztyn/Allenstein) in Nordostpolen tut, bekommt hier einen ganz neuen Sinn: die Bewohner der Region werden dazu angeregt, die sedimentierten Schichten der ›Kulturlandschaft‹ Ostpreußens – die in nicht monoethnischen Phasen entstanden – zu erschließen und sie sich anzueignen. Unter der Mitarbeit von Historikern und allerdings auch von deutschen Vertriebenen wird das Atlantis des Nordens aus einer nicht nationalen Perspektive aufgespürt. Deutsche Vertriebene bringen auch Objekte in diese Region zurück, die sie in bundesdeutsche ›Heimatmuseen‹ gerettet hatten, sie überführen Geschichtsspuren und stoßen oft auf mehr Interesse als bei ihren bundesdeutschen Nachkommen, die nichts mehr mit diesen Relikten verbinden. Auch aus deutscher Perspektive muss der transnationale, polynationale Umgang mit der deutschen Geschichte außerhalb der Grenzen des deutschen Nationalstaates möglich werden, denn die junge deutsche Generation muss daran erinnert werden, dass deutsche Geschichte sich nicht nur in den Grenzen der BRD abgespielt hat.
Das polynationale Palimpsest der regionalen ›Kulturlandschaft‹ ist kein postnationales Kulturerbe, es produziert keine Postexistenz, sondern es stiftet, parallel zu der nationalen, eine regionale Identität, die möglich wird, weil Konnexionen an den polnischen, den deutschen, den jüdischen Pol – im Kaliningrader Oblast auch an den russischen oder den ukrainischen – alternativ oder simultan hergestellt werden. Dem Konnexionsprozess kommt hierbei mehr Bedeutung zu als den nationalen Polen. Diese heute als polynationale Gebilde neu entdeckten Regionen sind auch transnational, wenn Teile der alten Region heute in anderen Staaten liegen – das ist für das alte Ostpreußen (heute in Polen, Kaliningrad und Litauen) und für Schlesien (ein kleiner Teil des heutigen Ostdeutschlands und der Tschechischen Republik befand sich zeitweilig auch in Schlesien) der Fall.
In diesen neuen Artikulationsräumen können Formen einer neuen europäischen Identität entstehen, vielleicht fällt ihnen gar eine besondere europäische Bestimmung zu. In Grenzgebieten, an alten Schnittstellen von verschiedenen Einflusssphären, definieren sich immer häufiger poly- und transnationale Regionen auch als ›europäische Kernländer‹. Bei näherem Hinschauen weckt dieses Pochen auf die europäische Identität, z. B. die Selbstzelebrierung Oberschlesiens als besonders ›europafreundliche Brückenregion‹ Unbehagen, denn sie bedeutet hier eigentlich auch Abgrenzung von den östlichen ökonomischen Krisenregionen. Die Sprengung des rein nationalen Rahmens der Historiographie kann sich für den Nationalstaat als höchst gefährlich erweisen, wenn Gruppierungen diese neue mögliche Form der Regionalgeschichte instrumentalisieren, eine ›Postexistenz‹ als Autonomie leben möchten (so einige deutsche Minderheitenorganisationen in Schlesien kurz nach 1990), wenn sie behaupten, sie seien europäischer als andere mehr national geprägte Regionen. Zwar entwickeln die mitteleuropäischen Grenzregionen, die als polynationale Mikrokosmen im Makrokosmos Europa wieder entdeckt werden, ein anderes Verhältnis zur Nation und zu ihrer europäischen Identität als etwa die meisten französischen Regionen, sie sind ein gewaltiges Laboratorium, aber das macht aus ihnen keine Postexistenzen. Die Auseinandersetzung mit den Folgen von Grenzverschiebungen für die Identität von Menschengruppen ist seit dem Zeitalter der Herausbildung der Nationen kein neues Phänomen, doch in Polen ist sie auf nationalstaatlicher Ebene erst seit dem Zusammenbruch des kommunistischen Staates möglich.
Seit dem Zusammenbruch des Ostblocks, seitdem deutsche Spuren jenseits der Oder als Element der nationalen/europäischen Erinnerungskultur gelesen werden können und Brücken geschlagen werden, sind auch Landschaft, Kulturlandschaft und Kulturgeographie wieder in Mode gekommen. War in den 80er Jahren in der Bundesrepublik die Bedeutung der ›Kulturlandschaft‹ auf Konzerte und Theaterleben geschrumpft, so wird sie seit Anfang der 90er wieder als Geschichts- und Erlebnisraum aufgefasst, in dem sich die kulturelle Tätigkeit von Generationen niedergeschlagen hat: in den Baudenkmälern, in den Grundrissen der Städte, in der Anordnung von Ackerland, im Verlauf der Verkehrswege usw. So wie die Normalisierung des Nationalstaates in der ›Berliner Republik‹ eine neue historische Kontinuität ermöglicht, die die Zäsur von 1945 nicht aufhebt, sondern, wie es Heinrich August Winkler formuliert, »überwölbt«, also eine historische Entgrenzung produziert, so ist die Rückbesinnung auf die Kulturlandschaft das Zeichen einer geographischen Entgrenzung und daher einer gesteigerten Aufmerksamkeit für eine lange tabuisierte Räumlichkeit, für die Räume der Geschichte. Es entstehen neue mental maps.
Nach der Definition der UNESCO umfassen Kulturlandschaften alle menschlichen Aktivitäten zwischen Natur, Architektur und Kunst, die einer bestimmten Landschaft ihren spezifischen Stempel aufdrücken, worüber sie Identifikation vermittelt. Landschaften sind eine komplizierte Struktur übereinander geschobener Zeitschichten (jenseits der Oder wurde sie durch die Grenzverschiebungen noch komplizierter), in denen das kollektive Gedächtnis von Gemeinschaften, von Regionen und Nationen gespeichert ist. Sie enthalten viele nicht-wissenschaftliche, psychologische, ästhetische Aspekte. Der Umgang mit ›Kulturlandschaften‹ ist daher höchst problematisch und der Gebrauch des Begriffs ist heute – insbesondere in den Medien – immer paradox: bald sind nämlich »alte deutsche Kulturlandschaften im Osten« gemeint (die »alte Kulturlandschaft Ostpreußen« wird z. B. wieder entdeckt), also Spuren der Nation, bald ist die Kulturlandschaft Ausdruck einer geteilten Geschichte und einer neuen europäischen Regionalidentität (in dem Beispiel entspricht sie nicht dem alten Ostpreußen, auch keiner heutigen polnischen, russischen oder litauischen Region). Manchmal spricht der Genius loci nur deutsch, manchmal ist er polyglott.
In diesem Ausdruck schwingt viel Geschichte mit, und er erinnert an historisch stark belastete vergleichbare Begriffe: in den 30er Jahren ging es den Geographen und den Kunsthistorikern darum zu belegen, ›Kunstlandschaften‹ in mittel- und osteuropäischen Ländern seien von Deutschen geschaffen worden, hätten also daher deutscher Kulturboden zu sein. Dies gilt insbesondere für die Architektur: Städte im Osten, sei es in deutsch-polnischen Mischzonen oder außerhalb der Grenzen des Reichs, seien rein deutsch geprägt. Es gab sogar den Versuch, Landschaften zu ethnisieren, national zu deuten. Nachdem lange die Theorie der ›Kulturträger‹ im Osten gegolten hatte, war nach 1949 in der Bundesrepublik nur noch von ›europäischer‹ Kunst im ›Osten‹ die Rede, Polen indessen betonte die nationalen, ethnischen Elemente der Kunst und der Architektur in der Landschaft: das 19. und 20. Jahrhundert wurden geleugnet, man verfiel der piastischen Obsession.
Die Kulturlandschaft ist seit dem Zusammenbruch des Ostblocks eine weniger verdächtigte – oft auch stark ästhetisierende – Form der Wiederkehr des bis zu diesem Zeitpunkt höchst tabuisierten Raums. So wie der Kulturraum Ethnisierung bedeutete, so wird heute aus der deutschen Perspektive, ab der Oder, die Kulturlandschaft häufig als Ausdruck einer lokalen, regionalen, polynational geprägten und daher europäischen Identität interpretiert.
Dennoch haben sich in die Kulturlandschaft Spuren der verloren gegangenen Kulturnation gerettet. Der Ausdruck ›Kulturlandschaft im Osten‹ enthält noch Elemente der alten Nation, ist aber auch gleichzeitig die postnationale Erlösung aus dem deutschen Raum. Die Oder, lange nur als deutsch-polnische Grenze wahrgenommen, wird heute als europäische Landschaft erfunden. Schilf, Baumgruppen, Einsamkeit, sumpfige Wiesen, Raine aus Weißdorn, Ulmen und Eschen charakterisieren nicht mehr die ›deutsche Landschaft im Osten‹, sie sind Merkmale der Stromlandschaften im europäischen Osten. Somit wird die Oderlandschaft postnational, in der neuen Wahrnehmung der Natur werden nationale Identitäten übersprungen.
Die Natur macht heute das Postnationale möglich, doch sobald die Kulturlandschaft gepflegt, saniert und restauriert wird, stellt sich die Frage, welche ›Kultur‹, welche Gebäude, welche Wahrzeichen restauriert werden, wie die Restaurierung finanziert wird, und hier verfügt Deutschland eindeutig über mehr Mittel als seine östlichen Nachbarn – ganz zu schweigen von den jüdischen Spuren, die nicht aufgedeckt werden können, weil sie ausgelöscht wurden. Kulturlandschaften können also auch zum Instrument einer geopolitischen Wahrnehmung werden, sie sind nicht nur fossile Landschaften, sie können retuschiert und ästhetisiert, ›nationalisiert‹, oder ›europäisiert‹ werden.
An der deutsch-polnischen Grenze ist seit 1993 ein postnationaler Landschaftspark entstanden, ein Naturdenkmal, das in transnationaler Form über die Neiße hinweg zusammengewachsen ist: der Muskauer Park/Park Muzakowski. Das deutsch-polnische Unterfangen, nämlich die Wiederbelebung des in der Zeit von 1811 bis 1845 von Fürst von Pückler-Muskau gestalteten, und 1945 in eine deutsche und eine polnische Hälfte geteilten Landschaftsgartens, erlebte 2004 seine Krönung: es wurde als binationale Realisierung in das Weltkulturerbe aufgenommen (und soll allerdings auch ein Zeichen setzen für grenzübergreifende Naturparks in Afrika!). Die lange überwucherten Sichtachsen des Parks wurden als Entwicklungslinien über die Grenze hinweg restauriert: der Muskauer Park bedeutet gleichzeitig Überwindung der Teilung und Rückkehr zur Vergangenheit. Nach Ansicht des Vorsitzenden des Stiftungsrats Karl Heinz Carl wird hier »politische Gartendenkmalpflege« gehandhabt, der Park soll als »Katalysator für die grenzübergreifende Verständigung in der Euroregion Neiße« fungieren. Die Grenze selbst wird retuschiert, ästhetisiert, die restaurierte historische Doppelbrücke führt wieder über den Fluss und zelebriert das postnationale grüne Zusammenwachsen des Landschaftsraums. Die Urheber des Projekts träumen von einer deutsch-polnischen Generation, die in dieser Region heranwächst - und dieses Kulturerbe als das ihre, gemeinsame empfindet. Der postnationale locus amoenus ist ihr geopolitisches Produkt, auch er bekommt eine ›Brückenfunktion‹. In jeder Generation nimmt der Mensch erneut Besitz von der Landschaft und von dem Raum, er richtet sie ein, benutzt und erlebt sie: für die Polen der zweiten Generation ist die Aneignung dieser Denkmal-Landschaft, welche die nationalen Grenzen sprengt, möglich. Die Tatsache, dass Landschaften sich an sich nicht gut eingrenzen lassen, immer wieder neue Ausblicke und Horizonte zeigen, wird hier auf ihren Höhepunkt getrieben, die Landschaft ist offen. Gleichzeitig ist dennoch die Parkidylle an der Grenze ein verkapselter Raum, eine gezähmte Naturinsel außerhalb der Zeit, eine Zone des Schönen, in der die Geschichte, die Katastrophe des Untergangs, überwunden wird.
An der deutsch-französischen Grenze, zwischen dem Saarland und dem Département der Moselle, war es 1954 die Entdeckung einer gallo-römischen Siedlung, die zur Keimzelle des ›europäischen Kulturparks‹ Bliesbruck-Reinheim wurde, einem grenzübergreifenden Projekt. In der Anfangsphase der deutsch-französischen Versöhnung wurde das Grab der ›Keltenfürstin von Reinheim‹ zum gemeinsamen Totem, der Park entstand 1989.
In der Zeit der postnationalen Fahrradwege, die an der Oder entlang und über sie führen, da wo die historischen Beziehungen zur Umgebung an den meisten Stellen verschwunden sind, wird die Vorform der Landschaft, die urige Natur, das Eden der Zeiten vor der Herausbildung der gefährlichen Nation(en), zelebriert! Sie ist gleichzeitig Proto- und Postexistenz, ersetzt die Geschichte, die von den Menschen als Nation konstruierten Räume, und europäisiert den tabuisierten ›Raum‹. Im deutsch-polnischen Nationalpark ›Unteres Odertal‹ (nördlich und südlich von Schwedt) wird damit geworben, dass hier eine der letzten naturnahen Flussauenlandschaften Mitteleuropas erlebt werden kann, eine primäre, archaische Landschaft also, in einem heute für ›heilig‹ erklärten grenzüberschreitenden Schutzgebiet. Die Grenze wird »vergrünt«, die Narben der Zeit, der Geschichte werden verwischt, eine transnationale und postnationale Urlaubslandschaft wird – allerdings auch in einem Gebiet wo die Bevölkerung zurückgeht – als ewige, ökologische Idylle, als Mythos, produziert. Doch zu viel Grün sollte in dieser Zone verdächtig bleiben, es erinnert an Stacheldraht.
Ganz ähnlich basiert das Projekt Das Grüne Band Europa auf der Idee eines gemeinsamen Naturerbes in Europa, das entlang des Eisernen Vorhangs erhalten wurde, denn die Zeit des Kalten Krieges, die Zeit der Fixierung der Grenzen als Fronten war auch, so die Leiter des Projekts, »eine Atempause für die Natur«. Seltene Tierarten haben z. B. in diesem Niemandsland eine Heimat gefunden. Heute soll es dank einer grenzüberschreitenden Arbeit im Naturschutz gepflegt werden, der alte Eiserne Vorhang soll zur »Lebenslinie Europas werden«, zum »ökologischen Rückgrad«, damit der Besucher »Natur unbegrenzt« erleben kann. Das grüne Band Europa, dieser vom Eismeer bis zum Schwarzen Meer sich über 6800 km erstreckende Streifen Natur, ›verbindet‹ die Wunden der Geschichte, die Natur heilt sie, wächst über die Narben (auch über die Narben entlang der alten innerdeutschen Grenze). Die grüne Zone ist aber auch Mahnmal, Vergegenwärtigung der jüngst überwundenen Trennlinie.
Seit 15 Jahren greifen auseinander gerissene Geschichtsketten im europäischen Raum wieder ineinander, der Anteil von Menschen mit einem Migrationshintergrund, seien sie Deutsche (Spätaussiedler z. B.) oder Ausländer, ist in Deutschland gestiegen, das macht sie auch für polynationale Identitäten empfänglicher. Doch die bis zum Überdruss herunter geleierte ›Brückenfunktion‹, die enthusiastisch zelebrierten europäischen ›Kultur- und Naturlandschaften‹, die Tendenz zur systematischen Europäisierung (Mythologisierung?) bleiben das Zeichen eines unbehaglichen Umgangs mit Relikten der nationalen Geschichte außerhalb der heutigen Grenzen. Zu schnell werden historische Zäsuren übersprungen. Da, wo wieder Kontinuität hergestellt wird, sollte auch an die Geschichte erinnert werden, die zur Teilung geführt hat. Krystof Wojciechowski, der seit einiger Zeit Zeugnisse menschlicher Schicksale für ein Archiv sammelt, schwebt die Vision eines Gebäudes vor, das auf einer Landzunge in der Oder zwischen den zwei Staaten entstehen könnte. Individuelle Schicksale, in der Oder versunken, würden im deutsch-polnischen Schicksalsstrom den Raum ausfüllen. In dieser Brückenfunktion würde nämlich der Fluss nicht Spuren der Geschichte hinwegspülen - Menschenschicksale würden Bindestrich und Erinnerungsstätte.