»Man erkennt«, schreibt Croce in der Einleitung zur Geschichte Europas im neunzehnten Jahrhundert, »die Überlegenheit eines philosophischen Systems an seiner Fähigkeit, andere Systeme zu beherrschen, ihre Teilwahrheiten in sich aufzunehmen, einzuordnen, auszugleichen und das Willkürliche und Phantastische an ihnen in logische Probleme zu verwandeln und aufzulösen. Die Überlegenheit eines ethischen und politischen Ideals bewährt sich dementsprechend im Aufnehmen, Läutern, Verwirklichen, Verwenden und Verwandeln von Wörtern und Forderungen aus dem Bereich der gegnerischen Ideale. Diese hinwiederum erweisen sich durch ihre Unfähigkeit, sterile Verschlossenheit und Schroffheit vor dem Feind als unbrauchbar.« (36f) Überlegenheit zu thematisieren ist keine einfache Sache: wer sie definiert, kommt nicht umhin, sie zu beanspruchen, denn er setzt die Parameter, an denen man sie erkennt. Jemand wie Croce, der weiß, was Überlegenheit ist, und keine Scheu trägt, sie als etwas schlechthin Erstrebenswertes zu preisen, bleibt eingebunden in das System, das er preist: eine offene Flanke und, von künftigen Entwicklungen her gesehen, ein möglicher Fehler der Theorie.
Die Überlegenheit, von der Croce schreibt, bleibt nicht beschränkt auf die Philosophie. Es ist die des liberalen Systems auf seinen klassischen Feldern: Wissenschaft, Ethik, Weltanschauung und Politik. Sie gründet darin, dass hier alle real vertretenen Ideen zugelassen sind und sich ihren Platz an der Sonne, sprich: im System erkämpfen können, jedenfalls, solange sie das System in seinem Bestand unangetastet lassen. Es ist, wie sich leicht bemerken lässt, eine Überlegenheit in der Selbstbeschreibung, wenn nicht qua Selbstbeschreibung, die Croce hier offeriert. Für jemanden, nennen wir ihn den ›Feind‹, dem das liberale System alle Freiheiten gibt außer der einen, auf die es ihm ankommt, die Freiheit, es um der eigenen Vorstellungen willen zu zerstören, sieht die Sache anders aus. Das gilt aber nicht allein für den Feind, sondern für jeden, der die theoretische Möglichkeit der Systemüberschreitung oder -relativierung in die Beschreibung des Systems aufgenommen sehen möchte. Demgegenüber gibt sich Croce wissentlich oder unwissentlich naiv: letztlich beruht die Überlegenheit des liberalen Systems, folgt man ihm, auf seiner Überlegenheit. Wer Zweifel an ihr bekundet, hat das System nicht verstanden, er ist ein theoretischer Ignorant und ein praktischer Defätist – oder der Feind.
Was für die Konkurrenz der Systeme gilt, gilt ebensogut für die im liberalen System selbst miteinander konkurrierenden Ideen. Entweder man denkt sie sich als liberal, das heißt integrations- und systemfähig, oder sie erscheinen als ewige underdogs, als Verlierer eines Systems, das sie auf Vorrat hält, sie belächelt, verlacht, liebt, verachtet und mit Bananen und Nüssen bewirft, wenn die Wärter gerade abwesend sind, wie dies den Tieren im Zoo zu ergehen pflegt. Nichts anderes heißt es, »das Willkürliche und Phantastische« – sprich: Befremdliche – »an ihnen [...] zu verwandeln und aufzulösen«.
In den Jahren, in denen der real existierende Sozialismus sich in einem Tempo zersetzte, wie dies seine frühen Theoretiker in entgegengesetzter Richtung kaum für möglich gehalten hatten, konnten die umständehalber geschärften Augen von West-Ost-Reisenden so manche Bizarrerie entdecken, für die weder vorher noch nachher ein gesellschaftlicher Bedarf bestand. Ich erinnere mich an einen thüringischen Grenzübergang, auf dessen Abfallbehältern, Tonne für Tonne, unverhofft der aus bayerischen Wahlkampf-Altbeständen stammende Aufkleber »Freiheit statt Sozialismus« prangte. Später fragte man sich, ob darin bereits die Aufforderung lag, künftig in gemeinsamer gesellschaftlicher Anstrengung die Freiheit anstatt, wie bisher, den Sozialismus zu Müll zu verarbeiten und zu entsorgen. Nicht leicht zu beantworten auch die sich zwangsläufig anschließende Frage, ob dies seither in ausreichendem Maße gelungen war. Immerhin lag in der Aufforderung zum Systemwechsel mittels einer Parole, die in grauer bundesrepublikanischer Vorzeit zu einer – von vielen damals für überzogen gehaltenen – Grundsatzentscheidung innerhalb des liberalen Systems aufgefordert hatte. Die Komik wurde nicht dadurch gemildert, dass die derart ummontierte Parole auf eigentümliche Weise die DDR-Nachkriegslosung ›Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen‹ in Blickrichtung München wiederholte. Unter dem Gesichtpunkt innerer Liberalität konnte sie nur dazu dienen, die verloren gegangene Überlegenheit durch intensive Befragung des siegreichen Feindes wiederherzustellen. Doch lässt sich das schroffe Entweder-Oder in beiden Fällen nicht übersehen. Vom Feind lernen heißt gelegentlich den eigenen Untergang provozieren. Die Überlegenheit, von der bei Croce die Rede ist, ist immer die Überlegenheit dessen, der überlebt. Nach den Untergegangenen kräht kein Hahn.
Auch von Croce lernen heißt siegen lernen. An der Überlegenheit des liberalen Systems besteht kein Zweifel, da der Zweifel zum System gehört, und ohne Zweifel hat es seine Fähigkeit, vom Feind zu lernen, von Pearl Harbor bis Afghanistan immer wieder eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Darin liegt das Dilemma. Irgendwann richtet sich der liberale Zweifel, ja der Zweifel schlechthin gegen die Überlegenheit selbst, und zwar sowohl gegen den Begriff wie gegen die Sache.
Die Überlegenheit der Handfeuerwaffe über Lanze und Säbel hat den Ruin ganzer Kulturen bewirkt, die in manchen Belangen vielleicht liberaler organisiert waren als die der Eroberer. Vielleicht – denn die unterlegene Kultur wird im Moment des siegreichen Angriffs und ihres Zerfalls zum finsteren Popanz, zu einer Welt ohne Sonne, Luft und Bewegungsfreiheit, ganz zu schweigen vom heute so schwer wiegenden Mangel an Jeans, Fun und Whisky, so dass im nachhinein schwer zu entscheiden ist, welches Lebensgefühl in ihr herrschte, welcher Grad an äußerem Feinsinn und innerer Freiheit sich der dem Sieger willkürlich und phantastisch dünkenden Formen bediente, wie hoch Art und Zahl der wirklichen Opfer in Relation zu denen des überlebenden Systems wohl anzusetzen sei. Selbstbeschreibung und Selbstzuschreibung gehen im liberalen System ebenso Hand in Hand wie in anderen auch. Allerdings – und darin unterscheidet es sich vielleicht wirklich grundlegend von anderen Systemen – kennt es die humane Vorratshaltung am Anderen, Ausgeschlossenen, Gedemütigten, Negierten, Fast-Ausgerotteten, zu Arbeits- und Versuchszwecken Importierten, kurz: Befriedeten, die letzterem sogar reale Macht, Einfluss und Subsidien verschaffen kann und wirklich verschafft, solange es keine Anstalten trifft, die Überlegenheit des Systems auf die Probe zu stellen.
Croce betrachtete die europäische Staatenwelt des neunzehnten Jahrhunderts als den sichtbaren Ausdruck des liberalen Systems, vielleicht als das liberale System schlechthin. Die Verhältnisse der Staaten untereinander reflektierten die Verhältnisse innerhalb der Staaten. In dieser Auffassung ist auch die Überlegenheit Europas über die restliche Welt festgeschrieben. Dass es letztere bereits zu Croces Zeiten nur noch pro forma behaupten konnte, unter Inanspruchnahme der zu Führungsmächten avancierten Flügelmächte Amerika und Russland, die sich in der Realität nicht lange bitten ließen, Europa zu deklassieren, legt einen Hauch von Ironie über seine Ausführungen, der sich durch keine historische Besinnlichkeit wegwischen lässt.
Eine der Sternstunden – buchdramaturgisch gesehen die Sternstunde – des Systems ist Croce zufolge der Krimkrieg mit seinen Auswirkungen auf das europäische Staatensystem, sprich: die Wiedergeburt Italiens aus dem Geist des liberalen Systems. Hier zeigt sich, dass der Kreuzzug gegen das Böse ein konstitutiver Bestandteil des liberalen Systems ist. Es zeigt sich auch, dass der Wahrnehmung jenes gegenstößigen Systems eine wundersame Beweglichkeit eignet, die es erlaubt, den Bösen einmal in diesem, einmal in jenem Lager zu orten.
Croces Ausführungen zu diesem Punkt sind von abgeklärter Prägnanz. Der Liberalismus ist kein Idealismus. »Der moralische Idealismus«, schreibt er, »stand, wenn es ihn überhaupt gegeben hat, auf der Gegenseite: bei dem Zaren Nikolaus, der höchst religiös und ein eifriger Verteidiger des Glaubens war. Er hielt es für eine Schande der Christenheit, wenn die türkische Herrschaft noch in Europa blieb. Er war ehrlich von der Gerechtigkeit und Heiligkeit seiner Sache und seiner Mission überzeugt und glaubte, zu einem Kreuzzug aufzubrechen.« (190) Der Zar fasst also die Kreuzzugsidee noch in ihrem mittelalterlichen, religiös geprägten Sinn – ähnlich wie islamische und christliche Islamisten dies heutzutage den Strategen im Weißen Haus unterstellen – und exponiert sich durch diese Gesinnung als der gegebene Repräsentant des Bösen. Die ganze Passage ist ausgesprochen süffisant formuliert: »Die Türkei«, lesen wir ein paar Zeilen weiter, »die der Zar als erster als ›kranken Mann‹ bezeichnet hatte, bewies genügend Vitalität, um die Hilfe und das Bündnis der Kulturstaaten zu verdienen. Männer wie Cobden und Bright bemühten sich vergebens, die bekannten Barbareien der Türken wieder in Erinnerung zu rufen; man wollte ganz einfach nichts davon wissen. Und so geschah es auch, wie das schon mehrmals in vergangenen Jahrhunderten der Fall gewesen war, als der Gegensatz zwischen Christentum und Islam noch viel lebendiger das Bewußtsein beherrschte. Auch die Fortschrittler und Demokraten wollten diese Dinge vergessen und vergaßen sie tatsächlich. Und es blieb ihnen ja auch gar nichts anderes übrig. Auch sie bezeichneten diesen Krieg als einen Kreuzzug, aber im entgegengesetzten Sinne als der Zar dies getan hatte. Sie nannten ihn einen Kreuzzug für die Freiheit und Unabhängigkeit der Völker. Sie stellten das Ziel des Krieges so dar, daß dies die wahrscheinliche Folge sein mußte; sie legten ihr eigenes Ziel in ihn hinein und begünstigten ihn auf diese Weise.« (191)
Man könnte sich fragen, ob Croce der Auffassung war, dass es schon eines christlich-antiliberalen Gemütes bedurfte, um ›diese Dinge‹, ›die bekannten Barbareien der Türken‹, nicht zu vergessen. Der Liberalismus beweist hier eine Fähigkeit zur Integration des Gegenläufigen, die Staunen, um nicht zu sagen Schwindel erregt: ›diese Dinge‹, die ›bekannten Barbareien‹ sind auch deshalb in hohem Maße unaussprechlich, weil sie außerhalb des zivilisierten Europa geschehen und damit in einer Zone, in der die Europäer selbst nichts weniger als zimperlich mit ihren humanen Artgenossen umgehen. Unaussprechlich ist alles, was nicht in die Selbstbeschreibung des liberalen Systems gehört. Der alten Türkei fällt in diesem System die Aufgabe zu, die Barbarei nach Europa zu tragen: sie steht damit ebensosehr innerhalb wie außerhalb des Systems, weniger weil sie sich diese Aufgabe ausgesucht hätte, vielmehr, weil der von ihr praktizierte Kolonialismus im eigenen Land die Härten des herrschenden europäischen Kolonialsystems überblendet. Das ›halbbarbarische Russland‹, der traditionelle zweite Kandidat für diese Aufgabe, ist zu groß, er ragt zu weit nach Europa hinein und ist ein zu aktiver Mit-und Gegenspieler der europäischen Mächte, um sie wirklich und auf Dauer erfüllen zu können; dazu bedarf es schon besonderer Gelegenheiten wie etwa des Krimkriegs. Die Türkei kommt hingegen als Handlungssubjekt im Konzert der Mächte nicht weiter in Betracht. Man kommt auf sie bei Bedarf zurück. Die Feststellung dieses Bedarfs ist eine innereuropäische Angelegenheit, übrigens bis heute, was man an gewissen Reaktionen auf das französisch-niederländische Nein zum Verfassungsvertrag der EU leicht ablesen konnte.
2.
Croces Türken spielen in der Topographie dessen, was man auch nach ihm das liberale System nennen könnte und heute eher pauschal als ›den Westen‹ bezeichnet, eine besondere, möglicherweise unverzichtbare Rolle. Sie gehören formal gesehen zum System, fallen aber, sobald es um Inhalte geht, aus ihm heraus. Formal gesehen ist die Türkei – und der Unterschied zwischen dem Osmanischen Reich und der modernen Türkei interessiert dabei nur am Rande – ein Teil des Westens, inhaltlich rechnet man sie zum Orient. Formal wird man nicht müde zu versichern, die kulturelle Differenz zwischen christlich und islamisch geprägter Kultur spiele im Umgang mit ihr keine Rolle, in der Sache beteuert man, diese Differenz sei schlechthin unaufhebbar und man müsse den Realitäten ins Auge sehen. Dasselbe Spiel wiederholt sich unterhalb der staatlichen Ebene. Formal gesehen besteht zwischen türkischen, kroatischen oder albanischen Migranten in den Ländern des Westens kein Unterschied, inhaltlich betrachtet gilt die türkische Subkultur als latente Gefahr für die kulturelle Identität und, wie neuerdings zu erfahren, sogar für die Sicherheit der Majorität im eigenen Land.
Wie man weiß, bestehen zwischen Form und Inhalt seltsame Relationen. Wer bloß formal dazugehört, der verfügt zwar im Verkehr mit seinesgleichen über eine Stimme, aber er kann fast sicher sein – obwohl er die Hoffnung nie ganz aufgeben wird, es möge sich anders verhalten –, dass er nicht gehört wird, sobald er sich ihrer in diesem Kreise bedient, obgleich ihn alle ganz gut verstehen. Ist er gewillt, sich Gehör zu verschaffen, so muss er – wie versteckt auch immer – drohen: das heißt, er sieht sich gezwungen, daran zu erinnern, dass er auch anders handeln könnte, sollte die formale Zugehörigkeit nicht von den anderen honoriert werden. Nur als potenziell fremde Macht kann er sich Zugang erzwingen. Damit erinnert er aber die anderen daran, dass er nicht ihresgleichen sei, das heißt, er bestärkt sie in ihrem Vorurteil und rechtfertigt die Haltung des Misstrauens und der informellen Ausgrenzung, auf die er reagiert.
Nun kann man natürlich – und das gewählte Beispiel legt den Gedanken nahe –, die Sache umkehren und darauf verweisen, dass jede Art des ›Dazugehörens‹ inhaltlich vermittelt ist und anders gar nicht gedacht werden kann. Der partiell Ausgegrenzte verfügt nur deshalb über ein Drohpotenzial, weil die Ausgrenzenden ein Interesse an seiner formalen Teilhabe besitzen – das kann im Verkehr der Staaten ökonomischer oder stabilitätspolitischer oder sogar sicherheitspolitischer Natur sein. Ein Interesse aber ist niemals rein formal, es ist niemals ›rein‹, es enthält den Erdenrest, den, nach Goethes Faust, zu tragen immer ein wenig peinlich ist, obwohl die Politik das selten so sieht. Der oder das Einbezogen-Ausgegrenzte kann sich so gesehen inhaltlich als zugehörig betrachten – mit welchen Konsequenzen sollte es sonst drohen? – und umso schmerzlicher die formale Ausgrenzung in Form einer verweigerten Anerkennung faktischer Zugehörigkeit erfahren.
Das liberale System scheint seine ›Türken‹ mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zu produzieren. Diese gewisse Zwangsläufigkeit erinnert an gruppendynamische Prozesse, in denen die Außenseiterposition immer neu besetzt wird. Mir scheint aber, dass der Fall ein wenig anders liegt und dass hier sowohl handlungstheoretische als auch kulturspezifische Elemente ins Spiel kommen. Um mit ersteren zu beginnen: so gewiss ›Anerkennung‹ als anthropologische Größe betrachtet werden kann (ungeachtet dessen, dass uns Ethnologen versichert haben, die Anthropologie selbst sei eine Strategie der Nicht-Anerkennung), so gewiss ist es alles andere als zwingend, Macht auf ausgeklügelte Mechanismen der Anerkennung zu gründen – zu gründen wohlgemerkt, denn dass reale Macht in jedem Fall auf Anerkennung angewiesen bleibt, ist eher eine Binsenweisheit. Das liberale Modell produziert einige logische und praktische Paradoxien, zu denen auch Croces ›Türken‹ – gemeint sei die mit beliebigen Namen und Namensträgern zu besetzende Funktion – zu rechnen sind. So ist nicht zu erzwingen (schon der Versuch, es zu versuchen, wäre widersinnig), dass sich die Zustimmung zu bestimmten Entscheidungen – zu denen bereits die Wahl herausgehobener Entscheidungsträger gehört – unter den prinzipiell Entscheidungsberechtigten gleichmäßig verteilt. Wer sich abstimmt, muss Federn lassen und kommt sich gelegentlich gerupft vor, was die ihm abverlangte Zustimmung graduell nicht mindern darf. Die Trennung zwischen dem formalen und dem inhaltlichen Gehör, das eine Partei oder Fraktion oder Nation in einer gegebenen Situation findet, liegt daher in der Natur der Sache, sie ist im Formalismus der Entscheidungsfindung bereits gegeben. Die Paradoxie liegt darin, dass das formale Gehör das inhaltliche überwiegt und überwiegen muss, wenn Entscheidungen fallen sollen, dass es aber in dem Maße, in dem letzteres überwiegt, als ein erzwungenes gelten muss. Die Zustimmung zu einer Entscheidung, die den eigenen Interessen entgegenläuft, fällt im Rahmen weiter gesteckter oder übergeordneter Interessen, hinter denen das Interesse an der Aufrechterhaltung des status quo, des Systems, aufscheint. Die Form, in der sich diese Paradoxie unterlaufen lässt, ist der Kompromiss, in dem die Interessen der Beteiligten gegeneinander verrechnet werden. Dass dieses Verrechnen seine problematische Seite besitzt und sogar beträchtlichen Hass entfachen kann, ist aus den Kinderzeiten des Parlamentarismus bekannt. Der Vorwurf, mit Interessen und, schlimmer, mit Werten zu schachern, zielt auf den immer einkalkulierten, von denen, die beiseite stehen, leicht als Verrat deklarierten Verzicht in der Sache zugunsten einer anderen Sache – genau darauf zielt schließlich das Verrechnen. Neben die Sache, die man in das politische Geschäft, das der Kompromiss darstellt, einzubringen bereit ist, tritt also, und zwar unabhängig vom guten Willen der Beteiligten, die Sache, in der, aus welchen Gründen auch immer, kein Kompromiss möglich ist, und hier wird es spannend.
Aus welchen Gründen auch immer: das hört sich so an, als seien diese Gründe beliebig oder könnten es wenigstens prinzipiell sein. Das Gegenteil ist der Fall. Formal gesehen steht es jeder Partei frei, jede beliebige Sache auf dem Altar der Anerkennung zu opfern oder auch nicht, sie sollte es nur nicht versuchen. Der Inhalt, der hier neben die Form tritt und sie zur leeren Form werden lässt, ist die jeweilige Kultur, die es erlaubt, dass sich der Einzelne um Kopf und Kragen redet, sich ruiniert, mit seinen Überzeugungen Schindluder treibt und wie die in diesem Fall anzuwendenden Formulierungen lauten mögen, aber nur solange genügend andere bereit sind, die von ihm verratenen Motive aufzunehmen und, unbeschadet des immer möglichen Versagens einzelner oder auch vieler, weiterzutragen.
Es ist an dieser Stelle nicht nötig, darauf einzugehen, welcher Begriff von Kultur dieser Rede zugrunde liegt. Es genügt, auf die prima vista unerschöpfliche Regenerationsfähigkeit der Einstellungen, Werthaltungen, Überzeugungen und Redensarten zu verweisen, die das prägen, was man gemeinhin, also intuitiv, als Kultur eines Landes oder einer Himmelsrichtung (›der Westen‹, ›der Osten‹ etc.) bezeichnet. Vor dem Hintergrund solcher Prägungen – die in sich vielfältig und different sein können –, also der ›lebendigen Wirklichkeit der Kultur‹, erscheint die Beliebigkeit der auf dem Altar der Gemeinsamkeit zu opfernden Sache als Negativismus, als ein wirkliches Negieren dessen, ›wofür es sich zu leben lohnt‹. Dass dies genauso für die andere Seite gilt, tut nichts zur Sache. Es ist die Sache: in ihm liegt der ganze Unterschied. Eine solche ›Sache‹ besitzt von Haus aus oder situationsbedingt eine bestimmte Symbolik. Beispiel Ökosteuer (ein Begriff, der ein Konzept zur Optimierung des Steuersystems unter einem bestimmten Gesichtspunkt bezeichnet): solange sie als ›Identitätsnachweis‹ grüner Politik fungiert, fällt es der Gegenseite leicht, sie als prinzipiell unzulässige Zusatzsteuer abzulehnen, während sie die darunter fallenden realen »steuerlichen Veränderungen«, anders kategorisiert, mit gleicher Vehemenz in eigener Sache vertreten und fordern kann oder bei Gelegenheit fordern könnte. Natürlich ist auch letztere nicht gegen Erosion gefeit – jenseits der Sache, für die sie streiten, pflegen sich Parteien zu regenerieren und ›nachzulegen‹, wie der etwas lax gewählte Ausdruck lautet. So geschehen im Fall der Türkei, die als ›moderner‹, westlich-laizistisch orientierter Staat erfahren muss, wie ihr – in der Wahrnehmung der Europäer – das osmanische Erbe aus immer neuen Quellen nachwächst, auf dass sie dem System in ihrer angestammten Funktion erhalten bleibe.
Nicht verhandelbar sind aus begreiflichen Gründen die Grundlagen des Systems – die Kultur der Anerkennung, aus der die Mechanismen des Anerkennens ihren Sinn und ihre Berechtigung erhalten. Am entgegengesetzten Ende des Spektrums nähern sich die Positionen der Nichtverhandelbarkeit an, je näher sie am Zentrum der Macht liegen. Macht ist innerhalb des liberalen Systems diffus, sie bildet hier und dort Zonen höherer Dichte aus, die miteinander korrespondieren und auf diese Weise Zentren entstehen lassen, die strukturierend auf das gesamte System zurückwirken. In welchem Maß eine Stimme sich innerhalb des Systems Geltung verschafft, hängt unmittelbar damit zusammen, an welcher Stelle sie sich in diesem dynamischen Machtgefüge erhebt. In einer Gesellschaft formal Gleicher sorgt die ungleiche Verteilung von Macht – oder Rechten – dafür, dass die Verhandelbarkeit von Positionen tatsächlich variiert. Eine Partei, die im Entscheidungspoker nichts weiter einzubringen hat als ihre Zugehörigkeit zum System selbst, befindet sich in der paradoxen Situation, dass dieses letzte Zugeständnis in gewisser Weise immer schon konsumiert ist – die formale Zugehörigkeit, der keine inhaltliche folgt und die als einziger Inhalt nicht verhandelbar erscheint, entzieht ihr das Gehör, das sie als zugehörige beanspruchen kann und muss. Eine solche Partei kann, auch – und gerade – wenn sie über ein beträchtliches Eigengewicht verfügt, leicht in einen circulus vitiosus der Vorleistungen hineingeraten, in der Hoffnung, die Machtbalance innerhalb des Systems zu ändern oder auch nur bestimmte Entscheidungen zu erzwingen, während sie, von außen betrachtet – und vielleicht nicht einmal zu ihrem eigenen Schaden – nur eine Konstellation reproduzieren hilft, in der ein bestimmtes kulturelles Dispositiv immer wieder geeignete Kandidaten für neue Unverzichtbarkeiten ihr gegenüber hervorbringt.
3.
Der religiös motivierte Fundamentalismus lässt sich auf zweierlei Weise beschreiben: als Rückfall in vorliberale Verhaltensmuster, als krasser Anachronismus in einer sich formierenden Weltgesellschaft, der über kurz oder lang ausgemerzt werden muss, soll das System nicht ernsthaft Schaden nehmen, oder als Antwort auf den Prozess der Formierung selbst. In diesem Fall hätte die Idee des gegen ihn gerichteten »Kreuzzugs« als anachronistisch zu gelten und es wäre zu fragen, welche Positionen der sogenannte ›Fundamentalismus‹ innerhalb des Stimmen- und Machtgefüges der nach westlichen ›Standards‹ konstruierten Weltgesellschaft besetzt. Man mag über den Realitätsgehalt der These vom ›Kontingenztrauma‹ streiten, der zufolge in bestimmten Weltgegenden aus dem Umstand, dass die Weltgesellschaft nicht aus den eigenen kulturellen Prämissen hervorgegangen ist, unüberwindliche Vorbehalte gegen sie resultieren. Abgesehen davon wird man in nicht wenigen Fällen auf das oben beschriebene Schema einer auf den Formalismus des Mitredens beschränkten Teilhabe stoßen.
In dieser Hinsicht repräsentieren die Vereinten Nationen und ihre Untergliederungen die klassische Differenz zwischen denen, die das Sagen, und denen, die etwas zu sagen haben. Auf der anderen Seite richtet sich das fundamentalistische Aufbegehren gegen das Eigenleben der Organe, mittels derer die zu erobernden (oder eroberten) Staaten an der, gemessen an ihren Statuten, liberalen Staatengemeinschaft partizipieren. Die (in der Regel subventionsgestützte) ›formale Mitsprache‹ gerät also von zwei Seiten unter Druck: von Seiten der bestimmenden Mächte ebenso wie von Seiten der Kräfte, die diese leere Mitsprache zu beenden wünschen, um zu einer substanziellen Politik zurückzukehren, deren erste und eigentliche Aufgabe in ihren Augen darin besteht, die Unverzichtbarkeiten der eigenen Kultur nicht nur formal einzufordern, sondern lebbar zu machen.
Der religiös motivierte Fundamentalismus – dessen Motive man verstehen kann, ohne ihm Sympathie entgegenzubringen – verdankt seine Erfolge einer Weltlage, die sich von der bei Croce beschriebenen in einem Punkt grundsätzlich unterscheidet. Seit dem Ende des Kalten Krieges ist mit dem Antagonismus der Systeme auch jene Grauzone des Weltgeschehens verschwunden, in der die ideologisch unterrepräsentierten Habenichtse durch geschicktes Lavieren zwischen den Lagern den Schein einer selbständigen, dem ewigen Antichambrieren entronnenen Politik erzeugen und eine Zeitlang aufrecht erhalten konnten. Der Spielraum für eine selbständige Politik, wie sie die Türkei im neunzehnten Jahrhundert und darüber hinaus noch selbstverständlich betrieb und die ihr – siehe Krimkrieg – von den Westmächten im gegebenen Augenblick sogar honoriert werden konnte, hat dem Prinzip des ›Mitredens mittels Mittuns‹ Platz gemacht, das die heutige Weltszene so unmittelbar beherrscht. Man könnte den Fundamentalismus daher als eine an den Westen gerichtete ›Herausforderung mangels Herausforderung‹, als Platzhalter eines alternativen Weltentwurfs bezeichnen, wenn seine realen Auftritte dies nicht als zynisch erscheinen ließen.
Dass die Sehnsucht nach der großen Alternative auch aus der westlichen Welt nicht verschwunden ist, zeigen, neben autoparodistischen Zügen, manche Aktionen der ökonomisch motivierten Globalisierungsgegner. Sie enthüllen die bittere Wahrheit eines Systems, das den Einzelnen – darunter fallen Individuen wie ganze Regionen – kein Entrinnen oder auch nur Beiseitestehen erlaubt und damit einem elementaren menschlichen Bedürfnis zuwiderläuft. Das liberale System selbst hat seine Vorzüge im Kampf entfaltet – ich zitiere Croce: »Merkwürdig, daß manche uns den Liberalismus gerne als einen Propheten ohne Schwert malen, wo es doch nicht nur im Begriff der Freiheit und der Politik, sondern durch die Tatsachen gegeben und erwiesen ist, daß für keine andere Idee so viele und heiße Schlachten gewagt, solche Ströme von Blut vergossen, so hartnäckig gekämpft und so großherzige Opfer gebracht wurden« (35) –, und es ist nach wie vor expansiv (und zwar aus Gründen, die ebenso im Begriff der Freiheit wie in der Freiheit des Begriffs liegen). Die Frage bleibt, wer innerhalb dieses Systems expandiert und auf wessen Kosten.
Croce zufolge ist der Liberalismus, der die Beziehungen zwischen den Staaten wie zwischen den Individuen auf der Grundlage wechselseitiger Anerkennung regelt, eine Religion, und zwar die Religion der Moderne. Das kommt den Fundamentalisten des Westens ebenso entgegen wie denen der islamischen Welt, weil sie eine der wesentlichen Errungenschaften der europäischen Neuzeit, die Trennung von Religion und Staat, in einem seltsamen Licht erscheinen lässt. Man kann sich fragen, ob letztere nicht immer – als Zustandsbeschreibung zweiten Grades – den Charakter einer Wirklichkeitsverfälschung besaß, insofern sie einen verblassenden Glauben, das Christentum, als Religion festschrieb und den neuen Glauben an das Individuum – als Staat und Person – und seine Rechte als etwas anderes fixierte, an das zu glauben zwar zu den Pflichten jedes mündigen Bürgers gehört, das aber von seinem – nunmehr privaten – Glauben kategorial vollständig unterschieden sei.
Als Religion betrachtet lädt der liberale Gedanke zu Spielen ein, die um den Begriff der Mündigkeit kreisen – einen Begriff, der implizit bereits hinter den bisherigen Überlegungen stand, insofern das Mitreden, von dem sie ihren Ausgang nahmen, die formale und inhaltliche Mitsprache, die ›Stimme‹, über die man in einem bestimmten Kreis, und sei es die ›Weltgemeinschaft‹, verfügt, die Identität dessen, der da spricht, auf eine eigentümliche Weise verbirgt und enthüllt. Das liberale Dogma (um Croces Terminologie zu verwenden) verlangt, dass der Sprechende von seiner Identität absieht, um unter seinesgleichen zu verkehren, wer immer sie sein mögen – also in etwa das herzustellen, was Dialektiker die Identität des Nichtidentischen genannt haben. Die Konstruktion des mündigen Individuums setzt die Privatsache voraus, die abgetrennte Sache des Einzelnen, welche die anderen nichts angeht. Darunter fällt, nach klassisch liberalem Verständnis, auch die Religion. Wenn also die Religion des Liberalismus auf Widerstand stößt – und zwar seitens solcher Religionen, die den für das Christentum geltenden Prozess der Selbstbeschränkung nicht oder nur unter dem Diktat eines Kolonialsystems durchlaufen haben –, so steht sie vor der Wahl, sich selbst oder ihre Prinzipien zu verabschieden, das heißt, sich als das zu erkennen zu geben, was sie ist, als identitätsprägende Instanz, oder als anonyme Verkehrsform zwischen Christen unterschiedlicher Konfession, Muslimen, Buddhisten, Hindus etc. die bestimmende Kraft in Bezug auf die zu verhandelnden Inhalte vollständig aufzugeben. Selbstverständlich versteht sie sich in der Realität weder zur einen noch zur anderen Alternative. Eine Parole wie die (im Vorfeld des Irak-Krieges seitens der amerikanischen Regierung erst lancierte, dann zurückgezogene) vom Kreuzzug gegen das Böse verrät den entschlossenen Vorwärtsdrang von Buridans Esel: die liberale Verkündigung steckt ebenso darin wie die christliche.
Als identitätsprägende Religion fordert der Liberalismus den Glauben an den mündigen Menschen. Nur unter dieser Voraussetzung erhält das Geltenlassen des Anderen einen vertretbaren Sinn. Mündigkeit: darin liegt das Wissen um die Disponibilität der menschlichen Dinge, einschließlich der erdachten, und damit die Abkehr von Formen der Frömmigkeit, die dem göttlichen Diktat in der Seele des Einzelnen oder den Verlautbarungen von Amtsträgern ein Übergewicht über das selbständig Erdachte einräumen. Weltreligionen wie das Christentum oder der gelehrte Islam haben Formen der Auslegung gefunden, die den Gegensatz zwischen dem göttlichen Wort und der Einsicht in die Eigengesetzlichkeit des Denkens weniger schneidend empfinden lassen, aber sie haben den Konflikt weder schlichten können noch schlichten wollen. Bezeichnenderweise verbindet der Fundamentalismus christlicher oder islamischer Provenienz extreme Wortgläubigkeit mit extremem Auslegungswillen. Der nicht wahrgenommene Widerspruch wird nach außen verlagert und setzt sich in Hass auf das autonome Denken um. Doch der Widerspruch ist im liberalen Denken selbst virulent. Die Konstruktion des privaten Menschen, der in seinen innersten Überzeugungen nicht behelligt werden darf, bietet zwar Schutz vor Verfolgungen, die nicht ausbleiben, wenn Menschen mit ihren Überzeugungen Ernst machen, aber sie verändert diese auch, und zwar im Kern. Ins Belieben des Einzelnen gestellt, also beliebig, erreichen sie nur in seltenen Fällen die Konsequenz und Dichte der liberalen Überzeugungen, die gerade nicht ins Belieben des Individuums gestellt sind, sondern überindividuell und beistimmungsheischend auftreten und auftreten müssen, wenn sie ihren Sinn nicht unmittelbar einbüßen sollen. Das ist Normalität. Hingegen erregen jene ›innersten‹, identitätsstiftenden Überzeugungen, sobald sie eine vergleichbare Dichte und Konsequenz erlangen, automatisch den Verdacht pathologischer oder verbrecherischer Umtriebe. In seinem Bild des fundamentalistischen Terroristen, das beide Züge enthält, fixiert das liberale Denken seinen selbst erschaffenen Gegenpol, und es ist im Grunde nur eine Frage der Zeit und der Gelegenheit, dass die logische Möglichkeit, die darin zum Ausdruck kommt, von wirklichen Personen und Personengruppen ergriffen und in Aktion umgesetzt wird.
Nun ist der islamische Fundamentalismus zunächst eine Erscheinung der islamischen Welt. Auch nach dem 11. September verlaufen die antiwestlichen Kampflinien weitgehend entlang den von westlichen Interessen gezogenen Linien innerhalb dieser Welt. Im Westen selbst – und insbesondere in Europa, dem Herkunftskontinent des liberalen Systems – liegen die Dinge anders. Die Gefahr für das System, von aufbegehrenden Gruppen herausgefordert zu werden, scheint gering zu sein. Aushebeln lässt es sich am ehesten durch Inanspruchnahme. Die liberale Option, das Recht gleichermaßen als instrumentell und als Gewalt über den Gewalten zu betrachten, enthält eine nicht zu verachtende Einladung, sein Recht zu fordern noch da, wo weder rechtliche Einstellungen noch Rechtstatbestände vorliegen. Das klingt paradox, ohne es zu sein. Europas terroristische Zukunft liegt in der massenhaften Inanspruchnahme von Rechtsprozeduren ohne ein entsprechendes Rechts- (und Unrechts)bewusstsein. Wenn das, was als juristischer ›Reformprozess‹ den Wechsel der regierenden Parteien begleitet und als notwendige Anpassung des ›Systems‹ an gewandelte Denk- und Verhaltensmuster in der Gesellschaft fungiert, im juristischen Alltag als geheime oder notdürftig bemäntelte Machtergreifung bestimmter Gruppen gehandelt wird, die ihrerseits Anpassung, Enrichez-nous, Renegatentum und heroischen Widerstand auslöst und damit neue Spiralen des Nachdenkens und -legens bei Regierenden wie Regierten in Gang setzt, dann schlägt fern jeder Legislative die Stunde derer, die im Bewusstsein des eigenen Weges der Welt die Stirn bieten, ohne sich durch etwas anderes als durch Gewalt oder unmittelbare Gewaltdrohung kurzfristig darin beirren zu lassen.
Ein frühes literarisches Dokument dieses fundamentalistischen Geistes hat im kulturellen Gedächtnis Europas einen wie es scheint, unauslöschlichen Eindruck hinterlassen. Heinrich von Kleists Einfall, die Idee der Gerechtigkeit in einem privaten Gemüt zu so bestimmender Größe anwachsen zu lassen, dass sie das reale Rechtssystem zu sprengen droht, berührt deshalb so unmittelbar, weil dem von ihm ersonnenen terroristischen Feldzug keine als anachronistisch empfundene religiöse Überzeugung zugrunde liegt, sondern eine dem kommenden liberalen System inhärente Größe. Innerhalb des liberalen Systems wird der Liberale selbst zum Terroristen, sobald er seine Überzeugungen fundamentalistisch missversteht. Kleist wusste, was er da schrieb. Das bezeugt das Gespräch zwischen Kohlhaas und dem knechtseligen religiösen Reformator Luther in Wittenberg, dessen Urteil der Terrorist sich unterwirft, ohne es zu verstehen. Wie sollte er auch, da doch seine Zeit, anders als die des frommen Mannes, noch nicht gekommen war. Er hätte schon den Dreißigjährigen Krieg und den Westfälischen Frieden prophezeien müssen. Dann hätte ja, wer weiß, ein beeindruckter Luther statt seiner freiwillig den Weg zum Schafott angetreten.
Kohlhaas, nicht Luther, geht als Sieger aus diesem historischen Zwiegespräch hervor. Das lässt sich in Den Haag ebenso wie in Karlsruhe oder an jedem Bezirksverwaltungsgericht an einer Vielzahl der dort verhandelten Fällen ablesen. Das Rechtsempfinden ist die vorletzte fundamentalistische Obsession Europas. Sie ist soweit Teil des Systems, dass alle die verschämten oder unverschämten Fundamentalismen, die in den Dach- und Gehirnkammern der ihm nominell angehörenden ›Mitmenschen‹ – ein Begriff mit Fußangeln – ersonnen werden, sich in einem wundersamen historischen Kompromiss mit ihm zu vereinigen streben. Wer immer in Europa ›glaubt‹, glaubt vor allem, dass er Recht hat – so sehr dominiert das liberale Empfinden seit dem Ende des Kalten Krieges, der RAF und der Brigate rosse das Denken dieses Erdteils, ohne es im Geringsten von seinen üblichen Narreteien abhalten zu können. Was immer im politischen Raum als nicht verhandelbar ausgegeben wird – manchmal aus einsichtigen, meist aus durchsichtigen Gründen –, findet früher oder später den Weg zu den Gerichten. Dort befindet es sich gut.
Dürfen Menschen ihre innersten Überzeugungen aufgeben? Das ist die Gretchenfrage des Liberalismus. Dass seine Feinde sie immer und überall mit einem mehr oder weniger aufrichtigen, mehr oder weniger heuchlerischen ›Nein‹ beantworten werden, versteht sich von selbst. Dem liberalen Denken selbst kann nicht daran gelegen sein, sie zu bejahen. Vielmehr muss es sich darin einrichten, Überzeugung unter Überzeugungen zu sein, will es nicht selbst zum Instrument des Terrors und der Lüge verkommen. Separation, Gehirnwäsche, Demütigungen aller Art, die Denunziation von Menschen anderer kultureller oder religiöser oder nationaler oder ethnischer Herkunft als künftiger Terroristen, die zu töten ins Belieben einer rachsüchtigen Politik gestellt wird – dies alles wären Auswüchse eines Systems, das sich die Lektionen seiner Feinde allzu schnell und allzu direkt zu eigen gemacht hat und überdies an einem Übermaß privat fabrizierter und über eine im Gewirr ihrer Rückkopplungen mediatisierten Öffentlichkeit kommunizierter Phantasien leidet.
Benedetto Croce, Geschichte Europas im neunzehnten Jahrhundert, übertr. v. K. Vossler u. R. Peters, Frankfurt/M. 1968. Original: Storia d'Europa Nel Secolo Decimonono, Bari 1932