1. »Ein Handbuch«, schreibt der
ungenannt bleibende Verfasser des einschlägigen Artikels der
Wikipedia, »ist eine geordnete Zusammenstellung eines
Ausschnitts des menschlichen Wissens und kann als Nachschlagewerk
dienen. Dabei kann die Anordnung des Wissensstoffes alphabetisch,
chronologisch oder nach thematischen Gesichtspunkten vorgenommen
werden.« Legt man diese Definition zu Grunde, dann wird man von
einem
Handbuch der Kulturwissenschaften eine ›geordnete
Zusammenstellung‹ des Wissens der einschlägigen Wissenschaften
erwarten. Da die Herausgeber weder eine alphabetische noch eine
chronologische Ordnung angestrebt haben, bleibt nach Lage der Dinge
nur die thematische übrig. Zu verlangen wäre also
eine ›geordnete Zusammenstellung‹ des Wissens der
Kulturwissenschaften. Üblicherweise deutet der Plural an, dass es
sich dabei um mehrere Wissenschaften handelt, der Leser sucht also
mit einer gewissen Berechtigung Aufschluss darüber, um welche
Wissenschaften es sich handelt und in welchem Verhältnis sie -
bedingt durch den Gegenstand ›Kultur‹ und die sich durch ihn
ergebenden interdisziplinären Bezüge – zueinander stehen.
2. Das
Handbuch besteht aus drei Bänden, passt daher
einigermaßen schlecht in die bereitwillig sich öffnende Hand. Die
einzelnen Bände tragen Titel. Sie lauten: »Grundlagen und
Schlüsselbegriffe« (Band 1), »Paradigmen und Disziplinen« (Band 2)
sowie »Themen und Tendenzen« (Band 3). Sollte es mit
der ›geordneten Zusammenstellung‹ seine Richtigkeit haben, so
müsste das Wissen der Kulturwissenschaften sich unter diesen
Stichworten erschließen lassen. Das erscheint schwierig, da es sich
um Allerweltsworte handelt, die auf jede beliebige Zusammenstellung
von Disziplinen passen. Die Schwierigkeit erhöht sich durch das
dreifache ›und‹: Ist es ›rein additiv‹ gemeint (dann
bestünde das Handbuch aus sechs Halbbänden), hat die jeweilige
Zusammenstellung ›etwas zu bedeuten‹ (was der Leser gern
erführe) oder steht sie für das Unvermögen der Herausgeber (das in
der Sache begründet sein mag), die einzelnen Bände mit passenden
Sachtiteln zu versehen? Ein Blick ins Innere der Bände zeigt, dass
alles drei zutrifft: Band 1 gliedert nach Schlüsselbegriffen, die
offenbar irgendwie ›grundlegend‹gemeint sind (»Erfahrung«,
»Sprache«, »Handlung«, »Geltung«, »Identität«, »Geschichte«), Band
2 liefert explizit Grundlagen nach (»Kulturwissenschaften und
Lebenspraxis«, »Grundlegende wissenschaftliche Problemstellungen«),
wäre also insoweit als Erweiterungsband zum ersten zu betrachten,
rafft sich dann zur Behandlung zumindest zweier ›Paradigmen‹
auf (»Handlungstheoretische Ansätze in den Kulturwissenschaften«,
»Die Kulturwissenschaften und das Paradigma der Sprache«), um
zuguterletzt »kulturwissenschaftliche Methoden und Ansätze in den
Disziplinen« zu versprechen, womit auch die Katze aus dem Sack ist:
Was aber die Kulturwissenschaften sind, das weiß ich nit.
Band drei liefert nach, was irgendwie in ein solches Unternehmen
hineingehört, aber - ›in der Ordnung gedacht‹- auch wieder
nicht, solange es in lauter Einzelpunkte zerfällt: »Brennpunkte
einer kulturwissenschaftlichen Interpretation der Kultur«,
»Wirtschaft und Kapitalismus«, »Gesellschaft und kulturelle
Vergesellschaftung«, »Politik und Recht« – schließlich ein
»Ausblick« (Jörn Rüsen) auf »Sinnverlust und Transzendenz«, der als
finale Handreichung das Handbuch als das erscheinen lässt, was es
auch ist: ein Sammelsurium aus präfabrizierten Texten, die von den
Autoren so oder leicht variiert den verschiedensten
Publikationsformen anvertraut werden könnten und wohl wirklich
werden.
3. Drei Ordnungen an Stelle von einer, die überdies unter dem
prüfenden Blick zerfallen: ein solcher Befund wirft notwendig die
Frage auf, was sich die Herausgeber dabei gedacht haben mögen. Da
sie bereitwillig Auskunft geben, sei zunächst aus dem Vorwort
zitiert: »Die Konzeption des Bandes« – gemeint ist Band 1 – »ist
von der Überzeugung geleitet, dass die Kulturwissenschaften sich
nicht selbst genügen.« (Vorwort, VII) Ein solcher Satz ist es wert,
bedacht zu werden: Man kommt über der Frage ins Grübeln, ob wohl
das muntere Treiben in den kulturwissenschaftlichen Disziplinen
ihnen selbst (also dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit) oder
ihren Vertretern nicht genügt, die bereits auf Abhilfe oder auch
nur auf Anderes sinnen – nach dem Motto
ars breve vita
longa. Dass letzteres gemeint sei, könnte der Folgesatz
bestätigen: »Vielmehr sollen sie die dem kulturellen Leben selber
inhärenten Ansprüche, Herausforderungen, Probleme und Aporien zur
Sprache bringen.« Was dann kommt, schießt allerdings den Vogel ab:
»In diesem Sinne präsentieren die Beiträge nicht etwa einen letzten
Erkenntnisstand, sondern sollen die kulturwissenschaftliche Arbeit
neu inspirieren.« (ebd.) Wie das? Wurden die Beiträge, die
dem ›letzten Erkenntnisstand‹ Rechnung trugen, rechtzeitig
zurückgezogen? Oder gibt es in den Kulturwissenschaften nichts zu
erkennen?
4. Das ist natürlich ironisch gemeint, wohingegen die Herausgeber
alles gut meinen. Es ist auch nicht so, dass sie
keine
Ordnung wollen – was man verstehen könnte und wofür sich vielleicht
sogar Gründe anführen ließen. Ordnung, Systematik, Voraussetzungen,
Implikationen – das sind Begriffe, mit deren Hilfe sie einen
Zusammenhalt
imaginieren, der in der Praxis wohl mehr von
ministeriellen Denkhilfen und dem geregelten Fluss der
Forschungsgelder bestimmt wird als von
irgendeinem ›Paradigma‹. Insofern hängen die Absage an die
»Selbstgenügsamkeit« der Wissenschaften und die mehrfach
unterstrichene Orientierung an »einflussreichen« Forschungsansätzen
(Vorwort VIII u.a.) sowohl enger als auch ›genauer‹ zusammen,
als die wolkige Erfahrungs- und »Lebenswelt«-Rhetorik zu
formulieren zulässt. Was immer im angelsächsischen Raum unter
dem ›cultural turn‹ verstanden wird – auf fatale Weise wird
daraus hierzulande der
Dreh interessierter Kreise, andere
Kreise, die nicht weniger interessiert sein mögen, aber die
begriffliche Arbeit weniger scheuen,
alt aussehen zu lassen
und im Kampf um Drittmittel und Curricula den kürzeren Weg zum
Erfolg zu suchen. Dies und nichts anderes steckt hinter der
Diskrepanz zwischen der – richtigen – Feststellung: »Auch gibt es
derzeit keinen Konsens in der Frage, ob die Kulturwissenschaften im
Sinne einer einheitlichen Disziplin institutionalisiert, oder ob
sie in der Pluralität teils traditioneller, teils neuer
Fachwissenschaften betrieben werden sollen« (Vorwort VII), und dem
erwähnten Abrücken vom »letzten Erkenntnisstand«, den eine
Disziplin, die keine sein will, eingebettet in Disziplinen, die
sich nicht mir-nichts-dir-nichts für ein Versprechen auf die
Zukunft aufgeben wollen, versüßt mit »ermutigenden Ergebnisse(n)«
(ebd.), scheut wie der Teufel das Weihwasser.
5. In dieser Hinsicht leistet vieles, was unter dem
Rubrum ›Kulturwissenschaften‹ an neueren Forschungen vorgelegt
wird, gegenüber den erfolgreichen, aber nur begrenzt importierbaren
Cultural Studies wenig mehr als die christliche
Rückbesinnung der liberalen Gesellschaft im Zeichen eines
aggressiven Islam: Verähnlichung durch regressive Mimesis. Es lässt
sich schwer verdrängen, dass der
cultural turn hierzulande
mehr als zweihundert Jahre zurückliegt und bis auf weiteres mit
Namen wie Herder, Hegel, Humboldt verbunden bleibt – nicht, weil es
auf Namen ankäme, sondern weil Philosophie, Geschichts- und
Literaturwissenschaften, Soziologie, Ethnologie und angrenzende
Fächer sich mit mächtigen Auslegungstraditionen konfrontiert sehen,
von denen nicht zuletzt der althergebrachte
Terminus ›Kulturwissenschaften‹ ein beredtes Zeugnis ablegt.
Viele, wenn nicht die meisten Autoren des
Handbuchs sehen
das so. Aber wenn es wahr ist, dass Sinnzusammenhänge in der
Gesellschaft, das symbolische Gewese der Kultur,
künstlich, ›gemacht‹ sind und nicht etwa
natural
und ›gegeben‹, dann gilt dies in verschärftem Maße für die
symbolischen Institutionen der Wissenschaften und unter ihnen der
Kulturwissenschaften: Es gibt keine Disziplinen, es gibt keine
Systematiken, es gibt weder gemeinsame Grundlagen
noch ›gesicherte Zusammenhänge‹, es sei denn, man stellt sie
her – und stellt sie vor. Alles übrige sind
kulturwissenschaftliche Studien, teils aufschlussreich,
teils skurril, warum denn nicht? Ein Handbuch, das einen offen als
defizitär beschriebenen Ist-Zustand als Option auf eine Zukunft
verkauft, der keiner der Beteiligten – Herausgeber und Autoren -
auch nur ein Jota vorgreifen möchte, ist fürwahr ein seltsam Ding.
Rez. schlägt vor, es als modernes
Theatrum Memoriae zu
verstehen – die »nahezu einhundert Autoren«, von denen die
Herausgeber sprechen, haben zwar wenig gemeinsam mit den
mythologischen Urhebern früherer Künste, aber
erfolgreich ›eingeschrieben‹in das Lektürepensum ihrer
Studenten und Kollegen haben sie sich schon. Applaus!
Ulrich Siebgeber