Herbert Ammon
DHM – Selbstbild einer Nation ohne Eigenschaften
Fragwürdigkeiten und Fehler einer Ausstellung

Die ständige Ausstellung im Deutschen Historischen Museum im Zeughaus Unter den Linden hat ein geteiltes Echo gefunden. Die im Foyer ausliegende Sonderausgabe der Welt (Sommer 2006) rühmt das Projekt als »Gedächtnis der Nation.« Michael Jeismann bemängelt in seiner Kritik die unzureichende Dokumentation der NS-Verbrechen. »An Auschwitz kann man glatt vorbeilaufen, es scheint wie ein ferner Seitenarm der deutschen Geschichte im Irgendwo zu verlaufen...« Diese Kritik ist so unberechtigt wie falsch. Ein Achtel der gesamten Ausstellung auf 8000 Quadratmetern ist der NS-Ära gewidmet. Von dem Sektor Hauptstraße, der detailliert die Entrechtung und Verfolgung der Juden dokumentiert, geht es seitwärts in einen großen Raum, in dem das von Mieczyslaw Stobierski 1995 gestaltete Inferno, ein Holz-Gips-Modell des Krematoriums II in Auschwitz-Birkenau mit über 3000 Figuren, den Todgeweihten, zu sehen ist.

Von einer Tendenz zur Beschönigung kann keine Rede sein, im Gegenteil. Wenn sich die gesamte deutsche Geschichte in den »Zeittrichter« (Projektleiter Hans-Jörg Czech) der NS-Ära zu entleeren scheint, so wäre es geboten, die tieferen Dimensionen der »deutschen Katastrophe« (Friedrich Meinecke) auszuloten. Wie kam es zum Absturz von den sittlichen Höhen des Idealismus in die Ideologie der NS-»Herrenmenschen«? Zum Verstehen gehörte das Erkennen der historischen Konfiguration, welche die »Machtergreifung« ermöglichte und die nihilistischen Triebkräfte des Nationalsozialismus entband.

Mit ironischer Klarsicht bemerkte 1934 Dietrich Bonhoeffer, »Phantasten und Naive wie Niemöller glauben immer noch, die wahren Nationalsozialisten zu sein – und es ist vielleicht eine gütige Vorsehung, die sie in dieser Täuschung bewahrt, und es liegt vielleicht auch im Interesse des Kirchenkampfes.« Martin Niemöller, der Gründer des »Pfarrernotbundes« gegen die»Deutschen Christen« und Vorkämpfer der »Bekennenden Kirche« zählte schon lange vor den Septemberwahlen 1930 zu den NSDAP-Wählern. Karl Haushofer, der in einen japanischen Zen-Orden eingeweihte Geopolitiker und Mentor von Rudolf Heß, beging im März 1946 mit seiner »nichtarischen« Frau Selbstmord. Wie schlägt ein unkundiger Ausstellungsbesucher den Bogen von den auf einer Kleiderstange aufgereihten NS-Uniformen zu Albrecht Haushofer, dem im April 1945 ermordeten Widerständler und Dichter der Moabiter Sonette?

Die Identitätsfrage

»Wie verstehen die Deutschen sich selbst?« – die ein bestimmtes Geschichtsbild suggerierende Identitätsfrage wird im Begleitbuch explizit als ein Leitmotiv der Ausstellung genannt. Postnationale und/oder Linksliberale, die darin eine ethnisch-nationale Verengung wittern, ohne ihrerseits auf das deutsche Exempel singulären Grauens zu verzichten, mögen die Frage an sich für degoutant, zumindest für politisch inkorrekt halten. Gleichwohl: Die Frage stellt sich eindringlich angesichts des – mittlerweile weniger auffällig präsentierten - schwarz-rot-goldenen Werbeplakats mit der Aufschrift »Wir sind ein Volk«.

Zur Beantwortung bedürfte es mehr als der bloßen Fülle des Parcours. Es bedürfte der Ordnung der Eindrücke, des Mutes zur Pointierung, der Darstellung markanter Geschichtsszenen zur Veranschaulichung eines – möglichen – Begriffs: un grand peuple (Charles de Gaulle), geprägt und befangen durch große Widersprüche in Geographie, Geist und Geschichte. Die großen Namen Fichte, Hegel, Schelling treten im DHM sowenig in Erscheinung wie Hölderlin, Nietzsche und Heidegger. Auf Richard Wagner stößt der Besucher zufällig in einem über eine Treppe erreichbaren, der NS-Kulturpolitik gewidmeten Raum. Hegel bleibt gänzlich abwesend. Ohne Hegel kein Feuerbach, kein Lassalle, kein Marx und kein Marxismus, auch kein David Friedrich Strauß...

Dass es den Ausstellungsmachern an »nationalem« Selbstbewusstsein, an Mut zur Dramatisierung eines grandiosen Stoffes fehlt, erhellt aus ihrer Selbstexplikation: »Im deutlichen Gegensatz zu Nationalmuseen des 19. und 20. Jahrhunderts entsteht somit kein einseitiges, lineares oder zielgerichtetes Bild der historischen Prozesse, sondern eine epochenspezifische Nachzeichnung der vielfältigen Verläufe, Kontinuitäten, aber auch der Brüche und Fehlentwicklungen der deutschen Geschichte. Der Rahmen aller Betrachtungen ist dabei auf Europa erweitert, so dass die deutsche Geschichte durchgängig in ihrem europäischen Bezugsfeld dargestellt werden kann.« Als ob es, nach Abschluss aller »Sonderwegs«-Debatten, noch immer einen historischen Königsweg gäbe. Dass die verwirrende Geschichte am Ende doch in den kleinstdeutschen Nationalstaat mündete, steht zur These in Widerspruch. Es bedürfte einer Andeutung des Faktums, dass der mit der Gründung des Bismarckschen Nationalstaats manifest gewordene Gegensatz Staatsnation - Kulturnation auch durch die Wiedervereinigung von 1989/90 nicht restlos aufgehoben ist.

Selbstverständlich kann es nicht um nationale Selbstbeweihräucherung gehen. Selbstverständlich ist die deutsche Geschichte von Anbeginn in den europäischen Kontext verwoben. Selbstverständlich gehört zum nationalen Geschichtsbild der Deutschen die Erkenntnis und Anerkenntnis des in der NS-Zeit angerichteten Unheils. Dass die Geschichtslast eine unbefangene Annäherung an die deutsche Geschichte kaum noch zulässt, steht auf einem anderen Blatt.

Die von den Projektmachern angeführten Leitfragen verraten die Unschärfe des Konzepts. Da heißt es: »Wer herrschte, wer gehorchte, wer leistete Widerstand?« – »Wer mit wem gegen wen? Konflikt und Kooperation in der Gesellschaft« – »Was führt zum Krieg, wie macht man Frieden?« Das Scheitern von peace-enforcing missions ist damit offensichtlich noch nicht erfasst. Derlei Fragen, gutgemeint und ahistorisch, entstammen einem Lernzielkatalog »Sozialkunde in Sekundarstufe I«. Sie packen die Realität, Machtrealitäten, Außenpolitik als historisch-politische Kategorie in begriffliche Watte. Wie lässt sich von der realen Dialektik der Geschichte eine Vorstellung zu gewinnen, von den Widersprüchen der von Europa ausgehenden neuzeitlichen Emanzipation, von der Sprengkraft der Reformation und der Revolution, von der Dynamik deutscher Philosophie, Wissenschaft und Technik, von hohen Ideen und der banalen Wirklichkeit, vom Durchbruch des Materialismus im 19. Jahrhundert, von der Realität des neuzeitlichen Machtstaates und der Macht der Ideologien, von Staatskunst und Kriegsglück, vom Imperialismus der europäischen Mächte, von Größe und Versagen »großer Männer«, von maßloser Unmenschlichkeit und vorbildlicher Humanität, kurz: von deutscher und europäischer Geschichte?

Fehler und Fragwürdigkeiten

Die Fragwürdigkeit der Ausstellung liegt in Gesamtkonzeption und Detail. Beim Rundgang, beginnend bei den Kelten, Germanen und Römern, regen sich erste Zweifel angesichts der Präsentation des Mittelalters. Vom Reich der Franken ist zu erfahren, König Chlodwig sei »zum katholischen Christentum übergetreten«. Liegt die historische Pointe nicht im Übertritt zum römisch-katholischen Christenglauben, der die Franken fortan von den früher christianisierten arianischen Germanenvölkern unterschied? Karl Martell, Stammvater der Karolinger, und die für das Abendland entscheidende Schlacht bei Tours und Poitiers (732) kommen nicht vor. Es fehlen die großen, unentbehrlichen Geschichtsexempel: der Investiturstreit und der Bußgang König Heinrichs IV. nach Canossa, der Streit zwischen Kaiser Friedrich I. Barbarossa und Heinrich dem Löwen, Glanz und Untergang der Staufer in Sizilien-Neapel.

Ins Stutzen gerät der Besucher vor Albrecht Dürers idealisierendem Kaiserporträt (1514) von Karl dem Großen. Die Reichskleinodien, heißt es in Erläuterung der Kaiserkrone, wurden 1424 von Kaiser Sigismund nach Nürnberg gebracht. Von dort schafften sie »die Habsburger« 1796 nach Wien. Dass die Nationalsozialisten zur Glorie des »Großdeutschen Reiches« die Reichssymbole 1938 nach Nürnberg zurückbrachten, von wo sie 1945 der US-Militärbefehlshaber Dwight D. Eisenhower wieder nach Wien transferierte, bleibt unerwähnt. Fahrlässigkeit oder geschichtspolitische Korrektheit?

Für das Museum zeichnen außer dem Direktor Hans Ottomeyer und Hans Jörg-Czech namhafte Historiker verantwortlich, darunter Jürgen Kocka, Lothar Gall und Michael Stürmer als Kuratorium. Vor der Eröffnung wurde anscheinend auf eine Inspektion des Werkes verzichtet. Über Wochen hin zierte eine Reliefkarte das Foyer, auf der Elsass und Lothringen noch anno 1919 zum Deutschen Reich gehörten. Diesen Fehler hat man inzwischen korrigiert. Dafür ist das Jahr 1945 aus der Chronologie verschwunden. Die deutschen Nachkriegsgrenzen setzen jetzt – ohne »Perlenschnur« an Oder und Neiße – mit der Gründung der beiden Staaten 1949 ein.

Andere Fehler im Faktischen wie im Semantischen, Auslassungen und Fehldeutungen sind keineswegs behoben. Einige Beispiele: Das 1156 an die Babenberger verliehene Herzogtum Österreich gehörte längst zum deutschen Sprach- und Siedlungsbereich, nicht erst im Zuge der Siedlungsbewegung »von der Mitte des 12. bis zum Ende des 14.Jahrhunderts«. Im Sektor Reformation fehlt jeglicher Hinweis auf die Genese des weltgeschichtlich zentralen Begriffs »Protestanten«. Bei der Türkenschlacht vor Wien 1683 führte angeblich der polnische König Jan Sobieski das Oberkommando über ein »europäisches Heer«. Wie passt da die antihabsburgische Neutralität Ludwigs XIV. zum Begriff? Zudem: Kaiserlicher Befehlshaber war Herzog Karl V. von Lothringen.

In der Multivisionsschau zur Revolutionsära ist zu hören: »Die Monarchen Europas eröffneten den Krieg gegen den neuen Nationalstaat.« Von der Kriegserklärung der Französischen Nationalversammlung an »Franz, König von Ungarn« – gemeint war Kaiser Franz II. – ist nicht die Rede.

In der Abteilung Bismarckreich (Bismarck´s Empire) – dank stolzer Gemälde und technischer Glanzstücke lädt sie am ehesten zur Identifikation ein – heißt es: »Die katholische Kirche und das Zentrum wehrten sich gegen Bismarcks Anspruch auf Allgewalt im kulturpolitischen Bereich.« Wo ist der Hinweis auf die wichtigste Triebkraft im »Kulturkampf«, den Liberalismus von Rudolf Virchows oppositioneller Fortschrittspartei bis zu Bismarcks Verbündeten, den Nationalliberalen? Über die »innere Reichsgründung« (The Internal Founding of the Empire), über Kulturkampf und Sozialistengesetz ist folgendes zu erfahren: »[Bismarck] half mit, [den politischen Katholizismus und die Sozialisten] auszugrenzen, zu verfolgen und zu marginalisieren.«

Unzutreffend ist beim Thema ›Freikorps‹ die Rolle der »Baltikumer«, die gemäß den Waffenstillstandsvereinbarungen auf Weisung der Westmächte nicht abgezogen wurden, um die vordringenden Bolschewiken aufzuhalten. Falsch, gerade im Hinblick auf die unglücklichen Anfänge Weimars, ist die Aussage, der Versailler Vertrag habe die »Gesamtreparationen in Höhe von 132 Mrd. Goldmark festgesetzt.« Zu den Gesamtreparationen gehörten die Sachleistungen, einschließlich der Auslieferung von Teilen der Handels- und Fischfangflotte. Die Summe, in Versailles nach oben offen, im Januar 1921 in Paris auf 269 Mrd. festgesetzt, wurde im April von der Reparationskommission halbiert und als »Londoner Ultimatum« von der neuen Regierung unter Joseph Wirth akzeptiert. Dass sich auch die KPD aggressiv-polemisch gegen den Versailler Vertrag und den Young-Plan wandte, scheint nicht erwähnenswert zu sein. Schließlich: Der »lang geplante Putsch«, der den Spanischen Bürgerkrieg auslöste, wurde nicht »unter dem faschistischen General Franco«, sondern anfangs von dem am 20. Juli 1936 verunglückten General José Sanjurjo geplant, in der entscheidenden Phase vor dem 17. Juli 1936 von General Emilio Mola (el director). (Hugh Thomas, The Spanish Civil War, New York – Evanston – London 1963 (1961), S. 100-2, 126.)

Fehlende Geschichtssymbole

Vergeblich suchen wir nach den vertrauten Geschichtssymbolen. Wo sind die Wartburg, der Dom zu Speyer, der Kyffhäuser? Ohne die Geschichtsromantik und den Historismus des 19. Jahrhunderts ist Deutschland im 20. Jahrhundert nicht zu verstehen. Eine unscheinbare Innenansicht der Walhalla bei Regensburg reicht dafür keineswegs aus.

Warum tritt die zentrale Figur Wallenstein beim großen Thema ›30jähriger Krieg‹ (im Sektor 1600-1650 Krisen und Krieg in Deutschland) gegenüber dem Großporträt des Grafen Piccolomini nur in einem Kupferstich vor Augen? Wäre in der Präsentation etwas von Schillers Drama zu erkennen, ließe sich über den Namen »Graf Papenheim« hinwegsehen. Statt dessen drängen sich Fragen nach der Bedeutung der Klassiker im zeitgenössischen  Deutschunterricht sowie nach dem Verschwinden von Sprichwörtern aus der ansonsten überreich präsentierten Alltagskultur auf. Die Vorgeschichte des teutschen Krieges« liest sich wie eine Einführung in Sozialpädagogik: »Um 1600 verschärften sich im Reich konfessionelle Gegensätze und politische Zwiste. Polemik und Fanatismus bestimmten das Leben. Unter dem Eindruck einer anhaltenden Wirtschaftskrise verstärkten sich Endzeitstimmung, Hexenangst und Judenhass. Die Ordnung des Augsburger Religionsfriedens wurde nicht mehr akzeptiert, die Kontrahenten brachen die Kommunikation ab. Es kam zum Krieg.«

Warum überragen zwei »lange Kerls« Antoine Pesnes Porträt des Soldatenkönigs? Die Büste Kants, in einer Vitrine eine Etage unter Diderot, Montesquieu, Rousseau und Voltaire untergebracht, ist kaum zu entdecken. Eine Rotunde mit Büsten der Amerikanischen Revolution, Washington – Jefferson fehlt – Franklin, Steuben, Lafayette und Kosciuszko soll die Verbundenheit der aufgeklärten Geister Europas mit dem Mutterland der Demokratie dokumentieren. Wo ist der Hinweis, dass unter den europäischen Mächten der roi des Prusses als erster die Republik in der Neuen Welt anerkannte? Angesichts des in Philadelphia auf deutsch gedruckten Originals der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung drängt sich die ironische Frage auf, warum im Sektor Entdeckung der Welt keine Kopie der in die Library of Congress ausgewanderten Weltkarte des Straßburger Geographen Georg Waldseemüller (1508) zu sehen ist. Unter den preußischen Reformern fehlt der reichspatriotische Freiherr vom Stein. Ein Porträt eines Burschenschafters (aus dem Jahr 1848) steht für die Nationalbewegung. Vom Pathos der frühen Burschenschaft erfahren wir nichts, das Wartburgfest (1817), die Karlsbader Beschlüsse (1819) sowie Georg Büchners Hessischer Landbote fehlen vollständig.

Nachdem man unter einer mächtigen schwarz-rot-goldenen Fahne durchgegangen ist, erscheint die 1848er Revolution unter der abwegigen Überschrift »1848 – Epochenschwelle zur Moderne«. Welcher Begriff von ›Moderne‹ liegt hier zugrunde? Was hat der »Völkerfrühling« 1848/49 damit zu tun? Die Anfänge der Aufklärung weisen ins 17. Jahrhundert zurück, die Triebkräfte der Industriellen Revolution liegen im 18. Jahrhundert. Wie lassen sich Episoden der gescheiterten Revolution, z.B. die Erschießung des »deutsch-katholischen« Demokraten Robert Blum auf der Brigittenau bei Wien, mit einem fehldatierten Epochenbegriff verknüpfen?

Vom eigentlichen Revolutionsdrama bleibt nur ein blasser Eindruck. Wie gelangt der Betrachter zum Verständnis des im »Völkerfrühling« angelegten Nationalismus? Dass die 1848er Revolutionäre anfangs gleich doppelt scheiterten – an der Spaltung im Inneren und der Schwäche im Äußeren, in der »Schlacht von Kandern« wie in Schleswig gegen die Dänen –, wird in der Ausstellung nur dem wissenden Auge sichtbar. Unter dem harmlosen Titel »Zankapfel Schleswig« heißt es in Bezug auf den Waffenstillstand von Malmö (26. 8. 1848): »Die große Mehrheit der Nationalversammlung empfand dieses Nachgeben [gegenüber England und Russland] als Demütigung.« Kein Hinweis auf den linksradikalen Septemberaufstand.

Wo bleibt die Absage František Pálackys an die Frankfurter Nationalversammlung sowie der Verweis auf den Prager »Slawenkongress« mit Michail Bakunin? Von den großen Debatten der Paulskirche, nicht zuletzt um die »großdeutsche« oder »kleindeutsche« Frage, erfahren wir wenig. Auf der einen Tafel wird die Problematik richtig dargestellt, auf der Tafel gegenüber heißt es über das Verfassungswerk der Paulskirche: »Die meisten deutschen Staaten, darunter auch Preußen und Österreich, lehnten die Reichsverfassung ab.« Die Männer der Paulskirche, die Friedrich Wilhelm IV. vergeblich die demokratisch gesalbte Kaiserkrone antrugen, hatten Österreich nach dem Sieg der Reaktion in Wien bereits zugunsten der »kleindeutschen Lösung« aus dem Reich ausgeschieden.

Das 20. Jahrhundert im DHM

Weimarer Republik: »Die schwierigen Anfänge« der Weimarer Republik werden auf 1918-25 datiert. Historisch einleuchtender ist nach wie vor die herkömmliche Datierung der frühen Krisenjahre bis 1923. Dass Spartakus und linke USPD-Revolutionäre sich gegen die vom Rätekongress im Dezember beschlossenen Wahlen zur »bürgerlichen« Nationalversammlung stellten und zum Aufstand erhoben, geht aus dem Arrangement – räumlich getrennt von den Revolutionsszenen in der ersten Etage – hervor. Aus dem Begleittext ist zu erfahren, dass Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zur Teilnahme an den Wahlen drängten. Fortfahrend heißt es: »In Berlin tobten vom 5. bis 12. Januar blutige Kämpfe. Liebknecht und Luxemburg riefen ebenfalls zum gewaltsamen Sturz der Regierung auf.« Von der Revolutionsrhetorik in den Tagen vor und nach der Gründung der KPD (1. Jan. 1919) bis zum fatalen Losschlagen der Genossen am 5. Januar wird nichts spürbar. Warum fehlt der Name Karl Radek?

Revolutionen sind historische Momente der Unübersichtlichkeit. Umso wichtiger, die Revolutionsspirale sichtbar zu machen, den Blick für die Dialektik »Revolution - Konterrevolution« zu öffnen. Das bayerische Exempel, grundlegend für das Verständnis des deutschen Dramas, führt vom Sturz der Wittelsbacher am 7. November 1918 über die Ausrufung der Räterepublik am 7. April 1919 zum Einmarsch der »Weißen« am 1. Mai 1919. Ohne chronologische Anleitung stiften die Bilder und Dokumente nur Verwirrung. Kurt Eisners revolutionäre Proklamation der »Bayerischen Republik« hängt als Plakat im Obergeschoss, davon abgesetzt befinden sich Dokumente zur Münchner Revolution im Parterre. Hinsichtlich der »eigentlichen« Räterepublik wäre die anarchistische Episode mit Gustav Landauer und Erich Mühsam von der längeren zweiten, kommunistischen Phase unter Eugen Leviné, Tobias (Towia) Axelrod, Max Levin zu unterscheiden. Wenn die Rolle von Gustav Landauer, Ernst Mühsam und Ernst Toller angedeutet wird, dürfte, um dem deutschen Verhängnis auf die Spur zu kommen, der Name Ernst Niekisch nicht fehlen.

Keine Frage: Unter der Schutzhaube reaktionärer Kräfte in München (und Berlin) wurde 1919-1923 das Ei des Leviathan ausgebrütet. Welche Kräfte waren an seiner Zeugung beteiligt? Liegt die alleinige Verantwortung bei den völkischen Kreisen, den rechtsradikalen Verschwörern der »Thule«-Gesellschaft und ihren Verbündeten? »Hitler trat im September 1919 einer der völkischen Parteien bei.« Seit der Öffnung sowjetischer Archive liegt eine Aufnahme vor, die belegt, dass Hitler noch im Februar 1919 als Soldatenrat mit roter Armbinde beim Begräbnis des von Graf Arco-Valley erschossenen USPD-Revolutionsführers Kurt Eisner auftrat. (Vgl. die TV-Dokumentation »Aufstieg und Fall Adolf Hitlers, Teil I«) Die unheilvolle Dialektik, der Weg ins deutsche und europäische Verderben, erfährt durch dieses Faktum eine entscheidende Ergänzung. Hitler, der an der Niederwerfung der Revolution nicht beteiligt war, trat ein paar Wochen später bei einer Protestveranstaltung gegen den Versailler Vertrag in der Aula der Münchner Universität erneut in Erscheinung. Denkbar wären drei Bilder als Augenöffner: Hitler in der jubelnden Menge auf dem Marienplatz im August 1914, Hitler 1919 als Soldatenrat, Hitler als »Trommler« der »nationalen Rechten«. Gezeigt wird ein Bild von Hitler im Zirkus Krone von 1923.

Der Hitler-Ludendorff-Putsch 1923 erfährt eine Hintergrund und Ablauf grotesk verzerrende Interpretation: »Für den Marsch nach Berlin waren zunächst auch Adolf Hitler und seine SA vorgesehen. Als Hitler erkannte, dass er durch rechtskonservative Politiker von der Erhebung ausgeschlossen und ins politische Abseits gestellt werden sollte, rief er am Abend des 8. November 1923 die Nationale Revolution aus.«

NS-Diktatur und Zweiter Weltkrieg: »Die NSDAP avancierte zu einem Auffangbecken für Gegner der nicht vom Volk legitimierten Präsidialkabinette.« – »Die Präsidialkabinette hatten auch nach der Reichstagswahl am 6. November 1932 nur wenig parlamentarischen Rückhalt.« Historisches oder sprachliches Unvermögen? »Reichspräsident von Hindenburg hatte seinen Ratgebern aus Politik und Wirtschaft nachgegeben und Hitler zum Reichskanzler ernannt.« Die Intrigen, die im April 1932 zum Sturz Brünings sowie nach dem Sturz Kurt von Schleichers als Reichskanzler im Dreieck Papen - Oskar von Hindenburg - Hugenberg zum 30. Januar führten, werden in einem solchen Satz nicht sichtbar.

Beim »Ermächtigungsgesetz« wird die Rolle des von Hitler düpierten Zentrums und der dahingeschmolzenen Liberalen, DVP und Deutsche Staatspartei, nicht hinreichend beleuchtet. Aus dem Lautsprecher ist die Rede des SPD-Führers Otto Wels zu vernehmen. Denkbar wäre, der Dramatik der Szene zuliebe, auch die Einblendung der höhnisch-stolzen Entgegnung des erfolgreichen Diktators. Vor allem sollte neben der Herausstellung der Extreme, zwischen denen die Republik zerrieben wurde, deutlich werden, dass – selbst unter dem Eindruck des Reichstagsbrandes – nicht »das deutsche Volk« per Stimmzettel Hitler an die Macht gewählt hat, sondern dass die Diktatur im Machtzentrum des Systems etabliert und auf parlamentarischem Wege legitimiert wurde.

Ohne Anführungszeichen ist der »Röhm-Putsch« als propagandistischer Terminus dank der fetten Kursivschrift schwerlich zu identifizieren. Erläuternd heißt es: »Hitler schreckte vor Röhms Forderung nach einer zweiten sozialen Revolution zurück und entschied sich für eine radikale Entmachtung von Röhm.« Nur Eingeweihte können mit dem Namen des ermordeten Edgar Julius Jung, des jungkonservativen Gegners der Weimarer Republik (»Herrschaft der Minderwertigen«, 1927) und Vertrauten Franz von Papens, etwas anfangen.

Inmitten der Jubel- und Pogromszenen (»Kristallnacht«) werden Abstufungen von Regimeloyalität und –distanz nicht sichtbar. Zu wenig erfahren wir von den für das Regime anfangs nicht unbedeutsamen Konflikten zwischen NS-frommen »Deutschen Christen« und »Bekennender Kirche« – laut Textunterschrift hielt Niemöller den Vortrag vom 6. 12. 1936 in der »Dahlemer Marienkirche« –, noch weniger von der anhaltenden Resistenz der Katholiken, der von den Nationalsozialisten gehassten »Schwarzen«. Dagegen stehen unter der Rubrik »Religion und Nationalsozialismus« (»Der NS-Staat stand den Kirchen misstrauisch gegenüber und betrachtete sie als Konkurrenz zu seinem eigenen Anspruch auf Deutungshoheit.«) Dokumente zur Verfolgung der »Zeugen Jehovas« – gegen 250 »Bibelforscher« wurden Todesurteile verhängt – gleichrangig neben den beiden großen Konfessionen. Deutlicher zu erhellen wäre die Schwäche des kommunistischen und sozialdemokratischen Widerstands sowie die ab 1935 wachsende Einbindung großer Teile der Arbeiterschaft in das System.

Die Dialektik von Propaganda, Terror, Anpassung und Zustimmung zu den »Erfolgen« des Regimes wird immerhin vermittelt. Beim »Anschluss« Österreichs im Frühjahr 1938 fehlt jeglicher Hinweis auf das »Ja« des großdeutschen Sozialdemokraten Karl Renner und des Wiener Kardinals Theodor Innitzer bei der Abstimmung. Das Anschlussverbot, so die Erläuterung, »war laut NS-Propaganda ein klarer Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker.« Der Suggestion des Satzes nach war der von allen Parteien Weimars und des republikanischen Österreich unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht verfochtene »Anschluss« eine Art vorweggenommener NS-Propaganda.

»Mit dem deutschen Überfall auf Polen begann am 1. September 1939 der von Adolf Hitler seit langem geplante Krieg um Lebensraum im Osten.« Die rassenimperialistische Aggressionsabsicht wird u.a. anhand der Rede Hitlers vor der Reichswehrführung im Februar 1933 belegt, die Ausführung der darwinistischen Ideologie mit Dokumenten des »Generalplans Ost« (1942). Gegenüber der ideologischen Konstanten wird der propagandistisch hervorgekehrte Aspekt der Revision von »Versailles« nicht mehr erkennbar, wohl aber der 1941 erneut propagierte Antibolschewismus. Die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs wird großflächig anhand des Spanischen Bürgerkriegs erläutert – im Hinblick auf München 1938 und das Mächtespiel 1939 eine schiefe Perspektive. Dass 1939 außer dem Dritten Reich auch andere Mächte revisionistisch gesonnen waren, wird nicht vermittelt. Weder gibt es einen Hinweis auf die – von Polen abgelehnte – britische Garantieerklärung für Rumänien noch auf Stalins »Winterkrieg« 1939/40 gegen Finnland.

Zu Recht wird das Ribbentrop-Molotow-Abkommen (»Hitler-Stalin-Pakt«) als Voraussetzung des deutschen Angriffs auf Polen herausgestellt. Danach wird die Kriegslogik nicht mehr ersichtlich. Umso nachhaltiger wirken die Schreckensszenen, die der »Wehrmachtsausstellung« in nichts nachstehen. »Die sowjetische Bevölkerung litt in ihrer Gesamtheit unter dem Besatzungsterror, der häufig in einen erbitterten Partisanenkrieg mündete. Die Sowjetunion hatte bis 1945 mehr als 25 Millionen Tote zu beklagen.« Die Realität und Kausalität des Besatzungsregimes – der Partisanenkrieg wurde auf Stalins Befehl unabhängig vom Terror der SS-»Einsatzgruppen« eröffnet – wird in dieser Aussage verkürzt. Die Kritik begibt sich auf gefährliches Eis, wenn sie festhält, dass es sich bei der zuletzt von Präsident Gorbatschow genannten Opferzahl um eine nicht eindeutig belegbare Größe handelt. Die Ziffern liegen entweder zu niedrig (12 Millionen) oder zu hoch (40 Millionen). Die furchtbaren Fakten des von Hitlers Wehrmacht eröffneten Krieges, der Judenmord, die Verantwortung für den Tod ungezählter Millionen von Weißrussen, Russen und Ukrainern wird durch diese Anmerkung nicht im geringsten gemindert. Dennoch bedarf das Zitat der Abstufung: Es gab das Leiden zwischen den Fronten, freiwillige und erzwungene Kollaboration, »Hiwis« und den General Andreij Wlassow.

Hinter den Schrecken des Krieges verblasst die realpolitische Dimension. Machtpolitik im Krieg findet nicht statt. Molotows Berlin-Besuch samt Forderungskatalog im November 1940, der Hitlers Angriffspläne gegen die Sowjetunion zur »Weisung Barbarossa« zuspitzte, kommt nicht vor. Stalins Misstrauen gegenüber den Westmächten müsste angedeutet werden. Wie erschließt sich das Verständnis des unter »Stalingrad« dokumentierten »Nationalkomitee Freies Deutschland«?

Die Filmszenen von der Landung der Alliierten in der Normandie überlagern die Problematik der Kriegskoalition. Die Kriegskonferenzen von Teheran und Jalta werden dokumentiert, nicht aber die bis Potsdam wechselnden Nachkriegskonzepte, darunter das Londoner Protokoll vom September 1944. Der auf die »Westverschiebung« Polens gerichtete Grenzschacher wird erwähnt, die frühzeitigen Vertreibungspläne bleiben bis auf ein Bild der Großen Drei in Potsdam ausgespart.

Das NS-Mordsystem: In der Geschichte des »Dritten Reiches« signalisiert der auf den 1. September 1939 rückdatierte Erlass Adolf Hitlers die Eröffnung des systematischen Mordens aus rassistisch-biologistischen Motiven. Bekanntlich stieß das Regime bei dieser Mordpraxis 1941 auf seine Grenzen. Die Ausstellung zeigt dazu ein Porträt des Bischofs von Münster Clemens Graf von Galen. Es fehlt der Hinweis auf andere Proteste wie den des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm.

Anhand der »Euthanasie«-Morde und der in der Berliner Tiergartenstraße operierenden Mordzentrale »T 4« ließe sich der fließende Übergang zur Judenvernichtung erhellen. Ein Schaukasten enthält die Todesmeldung (»verstorben«) einer jüdischen Frau aus Berlin, die am 30. Januar 1941 in Chelmno, als »Geisteskranke« zu Tode gebracht wurde. Daneben hängt das Bild eines Schuppens in der Anstalt Grafeneck, der für Morde mit Gas verwendet wurde. Eine junge Führerin erläutert vor einer Schulklasse: »Solche Schuppen standen in ganz Deutschland überall herum.« Die fahrlässige Verallgemeinerung entspringt der fehlenden Präzision in der Dokumentation – eine Landkarte mit den Mordstätten (Grafeneck, Bernburg, Hadamar, Pirna-Sonnenstein, Brandenburg-Görden, Hartheim bei Linz) fehlt.

Die These, die Deportation der Juden habe vor aller Augen stattgefunden, impliziert deren allgemeine Billigung. Es geht nicht um die Verharmlosung der Neigung zum »Wegsehen«. Dennoch: Nicht alle erlagen den ideologischen Suggestionen. Dass kirchlich gebundene und nonkonforme Jugendliche die Schaukästen des Stürmer zerstörten, ist belegt und bedürfte gegenüber der pauschalisierenden Aussage der Erwähnung. Gewiss, offener Widerstand wurde von wenigen geübt. Brutalitäten gegenüber KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern waren an der Tagesordnung. Doch wo zeigt die Ausstellung die Beispiele der hinreichend bezeugten Menschlichkeit? Wie sollen junge Betrachter inmitten solcher Arrangements zu differenzierender Anschauung kommen? Selten, fast nie erwähnen bundesrepublikanische Geschichtsbücher den Einspruch der Bekenntnissynode der Altpreußischen Union in Breslau gegen die Judenverfolgung im Oktober 1943 (!).

Der Einwand, eine auf »authentische« Dokumente gestützte Schau sei für historische Nuancierungen nicht geeignet, ist nicht stichhaltig. Die Ausstellung enthält zum einen durchaus auch Repliken und Facsimiles, zum anderen böten die Begleittexte Raum für Differenzierungen. Vor allem ginge es – wenn schon als Maxime stets unerreichbar – um die Vermittlung eines »objektiven« Gesamtbildes. Der Einwand, historische Details und Spezifizierungen seien aus den mancherorts angebrachten Ausziehtafeln sowie den themenvertiefenden PC-Präsentationen zu erschließen, zielt an der auf Gesamteindruck ausgerichteten Ästhetik einer Ausstellung vorbei.

Widerstand und 20. Juli: Zum Ärgernis wird die Ausstellung in der Behandlung des deutschen Widerstands. Er verkommt zur historischen Bedeutungslosigkeit. Eine Stellwand, die dem »Politischen Widerstand« gewidmet ist, bezieht sich auf die Jahre 1933-1939. Zu den Exponaten gehören zwei Radierungen von Lea Grundig, Totenmasken und Personalien der 1935 bzw. 1936 hingerichteten Kommunisten Fiete Schulze und Edgar André sowie Foto und Amtsrobe des Rechtsanwalts Jens Litten, der 1938 in Dachau Selbstmord beging.

Was bleibt vom 20. Juli als dem tragischen Ruhmesblatt der deutschen Geschichte? Auf den die Hauptstraße markierenden Leuchtstelen kommt das Datum nicht vor. Statt dessen dominiert die Aufschrift: »1943-1945 Totaler Krieg und Völkermord«. Neben einem mächtigen Flak-Geschütz verweist eine Stellwand mit Bildern des Terrors in Lidice nach dem Heydrich-Attentat (1942) auf den »Widerstand in den besetzten Gebieten«. Daneben stehen achtzehn (6 x 3) übereinandergestellte Vitrinen. Sie zeigen von links u.a. eine Büste von Ulrich von Hassell und das Manuskript seiner im KZ Ravensbrück verfassten »Lebenserinnerungen«, darunter ein mit »Moabiter Sonett« (!) bezeichnetes Blatt (»Der Geograf Albrecht Haushofer stand in Verbindung zu konservativen Widerstandskreisen. Seit 1944 in Haft, verfasste er Gedichte über den NS-Staat, Krieg und Widerstand.«), schließlich Blätter mit satirischen Zeichnungen. und Texten zum Gefängnisalltag in Berlin-Moabit. In der dritten Reihe steht eine Stauffenberg-Büste (1929 von einem russischen Künstler geschaffen) vor dem Foto der zertrümmerten Baracke in der »Wolfsschanze«, darunter teilweise unbezeichnete Porträts des Kreisauer Kreises, zuunterst ein Skizzenbuch zum Tausendjährigen Reich von Karl Josef Weimar. Des weiteren zu sehen sind in ähnlicher Reihung neben Bildern von Hans Scholl und Christoph Probst ein von britischen Bombern im Sommer 1943 abgeworfenes Flugblatt zur »Weißen Rose«, drei Abschiedsbriefe aus der Gruppe um Harro Schulze-Boysen, Bilder von Mitgliedern der Gruppe um Herbert Baum, der Personalbogen eines von 250 hingerichteten »Zeugen Jehovas«, die Gestapo-Abschrift einer Galen-Predigt (20. 7. 1941), ein Sendegerät einer Münchner Jugendgruppe, ein Stempelkasten und Handzettel mit dem Aufdruck »Schluss mit dem sinnlosen Krieg«.

Nichts erfährt der Besucher von der frühen Militäropposition, nichts von den seit 1941 im Auftrag von Ludwig Beck von General Friedrich Olbricht betriebenen Planungen »Walküre«, nichts von den patriotischen Motiven des Scholl-Kreises, von den »vaterländischen Gefühlen« (Peter Graf Yorck von Wartenburg) der Männer um Stauffenberg. [Im Museumsführer (Anm. 5, S. 153) schreiben die Autoren, die Chronologie verfehlend, unter dem Titel »Der zersplitterte Widerstand«: »Ab 1943 entwarfen Wehrmachtsoffiziere in Verbindung mit dem zivilen Widerstand Pläne für einen Staatsstreich.« Von den Staatsstreich-Plänen während der Sudetenkrise abgesehen, nahmen die Verschwörer um Beck im Herbst 1939 ihre Bestrebungen wieder auf. »Spätestens um die Jahreswende 1940/41« wurde Olbricht von Ludwig Beck mit der Ausarbeitung eines Umsturzplanes beauftragt. Vgl. Helena P. Page, General Friedrich Olbricht. Ein Mann des 20.Juli, Bonn-Berlin, 1992, S.203f.]

Es fehlt der klare Hinweis auf das Dilemma der »verlassenen Verschwörer« (Klemens von Klemperer) sowie das tragische Finale im Bendlerblock. »Es lebe das heilige Deutschland!« – ob nun Stauffenbergs Anruf dem »heimlichen Deutschland« galt, das Motiv darf nicht unterschlagen werden. Wie wäre es mit einem Gedichtband, in dem Stefan Georges Antichrist aufgeschlagen ist, oder mit einem Bild des Porphyr-Sarkophags im Dom zu Palermo? Jeden Nicht-Historiker lässt der auf einer Stele ausgelegte Bericht Friedrich Georgis über seine letzte Begegnung mit seinem Schwiegervater Olbricht ratlos. Welcher mit den Fakten unvertraute Besucher könnte auf einem Propaganda-Plakat mit Ritterkreuzträgern (ca. 1942) den Widerstandskämpfer Georg Freiherr von Boeselager identifizieren? Wer nach einer genaueren Darstellung des 20. Juli fragt, wird auf die PC-Installation verwiesen.

Kriegsende und Vertreibung: Unter dem Foto der Großen Drei heißt es: »Um die wilden Vertreibungen zu stoppen, beschlossen Stalin, Churchill und Truman auf der Potsdamer Konferenz, [die Aussiedlungen] in ordnungsgemäßer und humaner Weise durchzuführen«. Kommentar eines Besuchers: »Es handelte sich wohl um einen Humanistenklub.« Nur der Kundige erkennt an den kursiv gedruckten Zeilen Zitatfragmente aus dem Potsdamer Abkommen. Corrigendum: Bei Abschluss des Protokolls am 2. August weilte Churchill, der im Dezember 1944 selbst Vertreibungen im Millionenmaßstab offen angekündigt hatte, aber in Potsdam an der östlichen Glatzer Neiße als Grenzlinie festhalten wollte, längst nicht mehr in Cecilienhof. Für die Briten unterzeichnete der Labour-Premier Clement Attlee.

Ein Handkarren mit Koffer dokumentiert das Schicksal eines im Juni 1945 ausgewiesenen Deutschen – seine Frau starb am 3. August 1945 in einem Berliner Krankenhaus – aus Landsberg/Warthe. Für die Ausstellungsmacher lag die Stadt bereits vor der Potsdamer Konferenz und ungeachtet des Friedensvertragsvorbehalts in Polen. Aus ihrer Sicht begingen »rund 200 000 Deutsche« hauptsächlich aus Scham über die Niederlage und Schuldverstrickung Selbstmord (»weil der bisher propagierte Endsieg ausblieb und sie viel zu sehr in die NS-Verbrechen verstrickt waren«). Was wissen sie von der Verzweiflung der von der Front überrollten Menschen, vom Schicksal der Familie Tresckow auf dem Gut in der Neumark, vom Freitod geschändeter Frauen, darunter die jüngste Schwester der Widerstandskämpfer von Haeften?

Nachkriegszeit: Wer sich durch den mit Schreckensszenen erfüllten »Zeittrichter« der NS-Ära durchgearbeitet hat, den umfängt die mit Ramsch vollgestellte deutsch-deutsche Nachkriegszeit: hier VW, dort Trabbi, hier String-Regal und Bubble-Gum, dort Plaste und Elaste, hier Fernsehtruhe, dort LPG-Traktor (im Modell). »Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft zielte auf den sozialen Ausgleich zwischen Arbeitern und Angestellten.« Zwischen DDR-Planwirtschaft und bundesrepublikanischem »Wirtschaftswunder« steht ein DDR-Grenzpfahl im Original.

Wo nach 1945 noch Gesamtdeutsches geboten wird, kommt es zu seltsamen Arrangements. Für den »kulturellen Neubeginn« stehen die Porträts von Gräfin Dönhoff, Axel Eggebrecht, Rudolf Herrnstadt und Alfred Kantorowicz. Namen wie Eugen Kogon, Paul Sethe, Margaret Boveri, Rudolf Augstein oder auch Winfried Martini tauchen nicht auf.

Säuberlich teilt sich die Schau sodann räumlich in die Geschichte der beiden Staaten. Unter Parolen, roten Transparenten und Plakaten erscheint die Geschichte der SBZ/DDR in mildem Licht. Zu dem in Westdeutschland einhellig abgelehnten Görlitzer Vertrag (6. 7. 1950) heißt es: »Die DDR verzichtete damit endgültig auf die im Potsdamer Abkommen abgetretenen ehemaligen Ostgebiete.« Ist der Begriff ›Abtretung‹ irreführend, so erscheint die DDR fast als Friedensstaat. Das Ausmaß der Umfang der Verfolgungen in der SBZ tritt so wenig hervor wie der Charakter der SED-Diktatur. Der »Kirchenkampf« in der DDR findet keine Erwähnung, die für die Gegenwart bedeutsamen Folgen einer weitreichenden Entchristlichung der Regionen zwischen Elbe und Oder werden ausgeblendet.

Die »Deutsche Frage«, das zentrale Thema der Siegermächte und die großen Debatten der deutschen Politik in den 50er Jahren finden außer der Frage der Wiederbewaffnung keine Erwähnung. Die nationalen Parolen des Volksaufstandes am 17. Juni, in einem Seitenraum zum Randereignis herabgestuft, bleiben unterbelichtet. Wo ein rotes Schild mit dem dreigeteilten Deutschland in den Grenzen von 1937 samt Brandenburger Tor hängt, assoziiert der Unkundige das Emblem mit Vertriebenenparolen statt mit dem offiziösen Kuratorium »Unteilbares Deutschland«. Dazu die Erläuterung: »Die Potsdamer Konferenz hatte Polen, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion früher deutsche Gebiete zugesprochen. Für die Mehrheit der rund 8 Millionen Vertriebenen in der Bundesrepublik war die Abtretung der Ostgebiete inakzeptabel. Sie erkannte die Oder-Neiße-Grenze nicht an. Diese Position vertraten auch Bundesregierung und Opposition.«

1968: Die Überschriften »Die Schuld der Väter« und »Der Aufstand der Söhne« – der Anteil der Töchter war beträchtlich – entstammen der Selbstinterpretation der Protestgeneration. Das Hakenkreuz-Gemälde (Stilleben für die Große Koalition, 1967) von Sarah Haffner – mit der pointierten Gleichsetzung von »Springer-Presse«, »Nationalzeitung« und NPD – lässt, vom Studentenprotest abgerückt, die psychologische Vielschichtigkeit des Protests nur erahnen. Benno Ohnesorgs Tod bei der Anti-Schah-Demonstration (2. Juni 1967) wird dokumentiert, der Vietnam-Krieg als Katalysator der »antiimperialistischen« Emotionen bleibt faktisch ausgeblendet. [»Die Studenten protestieren gegen den Besuch des Schahs von Persien, die Springer-Presse, die Notstandsgesetze und den Vietnamkrieg und kritisierten das deutsch-amerikanische Verhältnis.«] Rudi Dutschke, charismatische Führungsfigur und Märtyrer der Revolte, taucht nirgends auf.

»In der Studentenbewegung gab es ein breites Spektrum theoretischer Positionen. Es reichte von strengen Marxisten, Antiautoritären bis zu Anarchisten.« Zu sehen ist unter einem Armee-Parka und dem SDS-Plakat (»Alle reden vom Wetter«) neben Wilhelm Reichs Opus Die Funktion des Orgasmus, der Mao-Bibel und einigen Konkret-Ausgaben »antifaschistische« Enthüllungsliteratur (Führer durch das braune Bonn) aus dem DDR-finanzierten Röderberg-Verlag. Außerdem kommt in örtlicher Nähe zum Feminismus (»Frauenpower«) – dokumentiert mit frühen Exemplaren von Emma und Courage – auch der Sex-Aufklärer Oswald Kolle zu Ehren. Der RAF-Terror wird neben Bildern vom Münchner PLO-Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft (1972) zum unvermittelten Randphänomen (»Herausforderung Terrorismus«).

1981: Unter dem Rubrum »Bürgerbewegungen« ist zu lesen: »Die geplante Stationierung amerikanischer Raketen in Westdeutschland trug zur Entstehung der deutschen Friedensbewegung bei. Sie rief zu einer Demonstration am 10. Oktober 1981 in Bonn auf.« Die gesamtdeutschen Emotionen, die anno 1981/82 dank des Offenen Briefes des DDR-Regimekritikers Robert Havemann an den sowjetischen Parteichef Leonid Breschnew in Ost und West hervortraten, finden keine Erwähnung.

1989: Die DDR-Flüchtlinge, deren Exodus über Ungarn und Prag das Ende des SED-Staates signalisierte, schwenkten »die Fahne der Bundesrepublik« (»the West German flag«).

Fazit

Wer durch die trivial anmutenden Zeugnisse der friedlichen Revolution im Herbst 1989 – Protesttransparente samt schwarz-rot-goldenem Pappschild mit Herz (»Wir sind ein Volk«) –, ständig begleitet von den Klängen der Nationalhymne, an Christos Wrapped Reichstag zum Ausgang gelangt, dem ist selbst die Freude über den Mauerfall längst erstorben.

Die Realitäten der Gegenwart bleiben ausgeklammert, die politische Geographie Europas tritt nirgends hervor. Von der faktischen Aufhebung des Nationalstaats durch die EU-Verträge ist auf der Hauptstraße nichts zu erkennen, die Problematik der unklaren EU-Grenzen sowie die Gefahr des Verschwindens der europäischen  Nationen, nicht nur der Deutschen, im globalen Multikulti des 21. Jahrhunderts wird nicht einmal angedeutet.

Den Kopf des eingangs erwähnten Blattes ziert links das schwarz-rot-goldene Pappschild mit Herz, rechts eine Karikatur. Sie zeigt Heinrich von Gagern, den Präsidenten der Paulskirche, als Hampelmann. Geschichte – mal harmlos, mal herrlich, mal gemütlich, mal grauenhaft, am Ende ganz glücklich. Das Bestreben, mit dem historischen Selbstbild nirgends anzuecken, ein EU-verträgliches Geschichtspanorama zu präsentieren, mag lobenswert sein. Was im Deutschen Historischen Museum zu Berlin als Resultat erscheint, ist das Selbstbild einer Nation ohne Eigenschaften.

Literatur:
Etienne François, Gedächtnis der Nation, in: Die Welt, Sonderausgabe Deutsches Historisches Museum, Sommer 2006
M. Jeismann, Die Weisheit des Fernando, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 14.7.2006
Ferdinand Schlingensiepen, Dietrich Bonhoeffer 1906-1945. Eine Biographie, 2. Aufl. München 2006
Hans Ottomeyer / Hans-Jörg Czech, Ein Ort mit Geschichte – ein Ort für Geschichte, in: Deutsches Historisches Museum. Deutsche Geschichte in Bildern und Zeugnissen, hrsg. v. Leonore Koschnick, München-Berlin-London-New York 2006
Hugh Thomas, The Spanish Civil War, New York – Evanston – London 1963 (1961)

TV-Dokumentation »Aufstieg und Fall Adolf Hitlers, Teil I«, produziert von Guido Knopp und Maurice Philip Remy, ZDF und Arte 1997