Herbert Ammon
DHM – Selbstbild einer
Nation ohne Eigenschaften
Fragwürdigkeiten und Fehler einer Ausstellung
Die ständige Ausstellung
im Deutschen Historischen Museum im Zeughaus Unter den Linden hat
ein geteiltes Echo gefunden. Die im Foyer ausliegende Sonderausgabe
der Welt (Sommer 2006) rühmt das Projekt als »Gedächtnis der
Nation.« Michael Jeismann bemängelt in seiner Kritik die
unzureichende Dokumentation der NS-Verbrechen. »An Auschwitz kann
man glatt vorbeilaufen, es scheint wie ein ferner Seitenarm der
deutschen Geschichte im Irgendwo zu verlaufen...« Diese Kritik ist
so unberechtigt wie falsch. Ein Achtel der gesamten Ausstellung auf
8000 Quadratmetern ist der NS-Ära gewidmet. Von dem Sektor
Hauptstraße, der detailliert die Entrechtung und Verfolgung
der Juden dokumentiert, geht es seitwärts in einen großen Raum, in
dem das von Mieczyslaw Stobierski 1995 gestaltete Inferno, ein
Holz-Gips-Modell des Krematoriums II in Auschwitz-Birkenau mit über
3000 Figuren, den Todgeweihten, zu sehen ist.
Von einer Tendenz zur Beschönigung kann keine Rede sein, im
Gegenteil. Wenn sich die gesamte deutsche Geschichte in den
»Zeittrichter« (Projektleiter Hans-Jörg Czech) der NS-Ära zu
entleeren scheint, so wäre es geboten, die tieferen Dimensionen der
»deutschen Katastrophe« (Friedrich Meinecke) auszuloten. Wie kam es
zum Absturz von den sittlichen Höhen des Idealismus in die
Ideologie der NS-»Herrenmenschen«? Zum Verstehen gehörte das
Erkennen der historischen Konfiguration, welche die
»Machtergreifung« ermöglichte und die nihilistischen Triebkräfte
des Nationalsozialismus entband.
Mit ironischer Klarsicht bemerkte 1934 Dietrich Bonhoeffer,
»Phantasten und Naive wie Niemöller glauben immer noch, die wahren
Nationalsozialisten zu sein – und es ist vielleicht eine gütige
Vorsehung, die sie in dieser Täuschung bewahrt, und es liegt
vielleicht auch im Interesse des Kirchenkampfes.« Martin Niemöller,
der Gründer des »Pfarrernotbundes« gegen die»Deutschen Christen«
und Vorkämpfer der »Bekennenden Kirche« zählte schon lange vor den
Septemberwahlen 1930 zu den NSDAP-Wählern. Karl Haushofer, der in
einen japanischen Zen-Orden eingeweihte Geopolitiker und Mentor von
Rudolf Heß, beging im März 1946 mit seiner »nichtarischen« Frau
Selbstmord. Wie schlägt ein unkundiger Ausstellungsbesucher den
Bogen von den auf einer Kleiderstange aufgereihten NS-Uniformen zu
Albrecht Haushofer, dem im April 1945 ermordeten Widerständler und
Dichter der Moabiter Sonette?
Die Identitätsfrage
»Wie verstehen die Deutschen sich selbst?« – die ein bestimmtes
Geschichtsbild suggerierende Identitätsfrage wird im Begleitbuch
explizit als ein Leitmotiv der Ausstellung genannt. Postnationale
und/oder Linksliberale, die darin eine ethnisch-nationale Verengung
wittern, ohne ihrerseits auf das deutsche Exempel singulären
Grauens zu verzichten, mögen die Frage an sich für degoutant,
zumindest für politisch inkorrekt halten. Gleichwohl: Die Frage
stellt sich eindringlich angesichts des – mittlerweile weniger
auffällig präsentierten - schwarz-rot-goldenen Werbeplakats mit der
Aufschrift »Wir sind ein Volk«.
Zur Beantwortung bedürfte es mehr als der bloßen Fülle des
Parcours. Es bedürfte der Ordnung der Eindrücke, des Mutes zur
Pointierung, der Darstellung markanter Geschichtsszenen zur
Veranschaulichung eines – möglichen – Begriffs: un grand
peuple (Charles de Gaulle), geprägt und befangen durch große
Widersprüche in Geographie, Geist und Geschichte. Die großen Namen
Fichte, Hegel, Schelling treten im DHM sowenig in Erscheinung wie
Hölderlin, Nietzsche und Heidegger. Auf Richard Wagner stößt der
Besucher zufällig in einem über eine Treppe erreichbaren, der
NS-Kulturpolitik gewidmeten Raum. Hegel bleibt gänzlich abwesend.
Ohne Hegel kein Feuerbach, kein Lassalle, kein Marx und kein
Marxismus, auch kein David Friedrich Strauß...
Dass es den Ausstellungsmachern an »nationalem« Selbstbewusstsein,
an Mut zur Dramatisierung eines grandiosen Stoffes fehlt,
erhellt aus ihrer Selbstexplikation: »Im deutlichen Gegensatz
zu Nationalmuseen des 19. und 20. Jahrhunderts entsteht somit kein
einseitiges, lineares oder zielgerichtetes Bild der historischen
Prozesse, sondern eine epochenspezifische Nachzeichnung der
vielfältigen Verläufe, Kontinuitäten, aber auch der Brüche und
Fehlentwicklungen der deutschen Geschichte. Der Rahmen aller
Betrachtungen ist dabei auf Europa erweitert, so dass die deutsche
Geschichte durchgängig in ihrem europäischen Bezugsfeld dargestellt
werden kann.« Als ob es, nach Abschluss aller
»Sonderwegs«-Debatten, noch immer einen historischen Königsweg
gäbe. Dass die verwirrende Geschichte am Ende doch in den
kleinstdeutschen Nationalstaat mündete, steht zur These in
Widerspruch. Es bedürfte einer Andeutung des Faktums, dass der mit
der Gründung des Bismarckschen Nationalstaats manifest gewordene
Gegensatz Staatsnation - Kulturnation auch durch die
Wiedervereinigung von 1989/90 nicht restlos aufgehoben ist.
Selbstverständlich kann es nicht um nationale
Selbstbeweihräucherung gehen. Selbstverständlich ist die deutsche
Geschichte von Anbeginn in den europäischen Kontext verwoben.
Selbstverständlich gehört zum nationalen Geschichtsbild der
Deutschen die Erkenntnis und Anerkenntnis des in der NS-Zeit
angerichteten Unheils. Dass die Geschichtslast eine unbefangene
Annäherung an die deutsche Geschichte kaum noch zulässt, steht auf
einem anderen Blatt.
Die von den Projektmachern angeführten Leitfragen verraten die
Unschärfe des Konzepts. Da heißt es: »Wer herrschte, wer gehorchte,
wer leistete Widerstand?« – »Wer mit wem gegen wen? Konflikt und
Kooperation in der Gesellschaft« – »Was führt zum Krieg, wie macht
man Frieden?« Das Scheitern von peace-enforcing
missions ist damit offensichtlich noch nicht erfasst. Derlei
Fragen, gutgemeint und ahistorisch, entstammen einem
Lernzielkatalog »Sozialkunde in Sekundarstufe I«. Sie packen die
Realität, Machtrealitäten, Außenpolitik als historisch-politische
Kategorie in begriffliche Watte. Wie lässt sich von der realen
Dialektik der Geschichte eine Vorstellung zu gewinnen, von den
Widersprüchen der von Europa ausgehenden neuzeitlichen
Emanzipation, von der Sprengkraft der Reformation und der
Revolution, von der Dynamik deutscher Philosophie, Wissenschaft und
Technik, von hohen Ideen und der banalen Wirklichkeit, vom
Durchbruch des Materialismus im 19. Jahrhundert, von der Realität
des neuzeitlichen Machtstaates und der Macht der Ideologien, von
Staatskunst und Kriegsglück, vom Imperialismus der europäischen
Mächte, von Größe und Versagen »großer Männer«, von maßloser
Unmenschlichkeit und vorbildlicher Humanität, kurz: von deutscher
und europäischer Geschichte?
Fehler und Fragwürdigkeiten
Die Fragwürdigkeit der Ausstellung liegt in Gesamtkonzeption und
Detail. Beim Rundgang, beginnend bei den Kelten, Germanen und
Römern, regen sich erste Zweifel angesichts der Präsentation des
Mittelalters. Vom Reich der Franken ist zu erfahren, König Chlodwig
sei »zum katholischen Christentum übergetreten«. Liegt die
historische Pointe nicht im Übertritt zum
römisch-katholischen Christenglauben, der die Franken fortan
von den früher christianisierten arianischen Germanenvölkern
unterschied? Karl Martell, Stammvater der Karolinger, und die für
das Abendland entscheidende Schlacht bei Tours und Poitiers (732)
kommen nicht vor. Es fehlen die großen, unentbehrlichen
Geschichtsexempel: der Investiturstreit und der Bußgang König
Heinrichs IV. nach Canossa, der Streit zwischen Kaiser Friedrich I.
Barbarossa und Heinrich dem Löwen, Glanz und Untergang der Staufer
in Sizilien-Neapel.
Ins Stutzen gerät der Besucher vor Albrecht Dürers idealisierendem
Kaiserporträt (1514) von Karl dem Großen. Die Reichskleinodien,
heißt es in Erläuterung der Kaiserkrone, wurden 1424 von Kaiser
Sigismund nach Nürnberg gebracht. Von dort schafften sie »die
Habsburger« 1796 nach Wien. Dass die Nationalsozialisten zur Glorie
des »Großdeutschen Reiches« die Reichssymbole 1938 nach Nürnberg
zurückbrachten, von wo sie 1945 der US-Militärbefehlshaber Dwight
D. Eisenhower wieder nach Wien transferierte, bleibt unerwähnt.
Fahrlässigkeit oder geschichtspolitische Korrektheit?
Für das Museum zeichnen außer dem Direktor Hans Ottomeyer und Hans
Jörg-Czech namhafte Historiker verantwortlich, darunter Jürgen
Kocka, Lothar Gall und Michael Stürmer als Kuratorium. Vor der
Eröffnung wurde anscheinend auf eine Inspektion des Werkes
verzichtet. Über Wochen hin zierte eine Reliefkarte das Foyer, auf
der Elsass und Lothringen noch anno 1919 zum Deutschen Reich
gehörten. Diesen Fehler hat man inzwischen korrigiert. Dafür ist
das Jahr 1945 aus der Chronologie verschwunden. Die deutschen
Nachkriegsgrenzen setzen jetzt – ohne »Perlenschnur« an Oder und
Neiße – mit der Gründung der beiden Staaten 1949 ein.
Andere Fehler im Faktischen wie im Semantischen, Auslassungen und
Fehldeutungen sind keineswegs behoben. Einige Beispiele: Das 1156
an die Babenberger verliehene Herzogtum Österreich gehörte längst
zum deutschen Sprach- und Siedlungsbereich, nicht erst im Zuge der
Siedlungsbewegung »von der Mitte des 12. bis zum Ende des
14.Jahrhunderts«. Im Sektor Reformation fehlt jeglicher
Hinweis auf die Genese des weltgeschichtlich zentralen Begriffs
»Protestanten«. Bei der Türkenschlacht vor Wien 1683 führte
angeblich der polnische König Jan Sobieski das Oberkommando über
ein »europäisches Heer«. Wie passt da die antihabsburgische
Neutralität Ludwigs XIV. zum Begriff? Zudem: Kaiserlicher
Befehlshaber war Herzog Karl V. von Lothringen.
In der Multivisionsschau zur Revolutionsära ist zu hören: »Die
Monarchen Europas eröffneten den Krieg gegen den neuen
Nationalstaat.« Von der Kriegserklärung der Französischen
Nationalversammlung an »Franz, König von Ungarn« – gemeint war
Kaiser Franz II. – ist nicht die Rede.
In der Abteilung Bismarckreich (Bismarck´s Empire) – dank
stolzer Gemälde und technischer Glanzstücke lädt sie am ehesten zur
Identifikation ein – heißt es: »Die katholische Kirche und das
Zentrum wehrten sich gegen Bismarcks Anspruch auf Allgewalt im
kulturpolitischen Bereich.« Wo ist der Hinweis auf die wichtigste
Triebkraft im »Kulturkampf«, den Liberalismus von Rudolf Virchows
oppositioneller Fortschrittspartei bis zu Bismarcks Verbündeten,
den Nationalliberalen? Über die »innere Reichsgründung« (The
Internal Founding of the Empire), über Kulturkampf und
Sozialistengesetz ist folgendes zu erfahren: »[Bismarck] half mit,
[den politischen Katholizismus und die Sozialisten] auszugrenzen,
zu verfolgen und zu marginalisieren.«
Unzutreffend ist beim Thema ›Freikorps‹ die Rolle der »Baltikumer«,
die gemäß den Waffenstillstandsvereinbarungen auf Weisung der
Westmächte nicht abgezogen wurden, um die vordringenden
Bolschewiken aufzuhalten. Falsch, gerade im Hinblick auf die
unglücklichen Anfänge Weimars, ist die Aussage, der Versailler
Vertrag habe die »Gesamtreparationen in Höhe von 132 Mrd. Goldmark
festgesetzt.« Zu den Gesamtreparationen gehörten die
Sachleistungen, einschließlich der Auslieferung von Teilen der
Handels- und Fischfangflotte. Die Summe, in Versailles nach oben
offen, im Januar 1921 in Paris auf 269 Mrd. festgesetzt, wurde im
April von der Reparationskommission halbiert und als »Londoner
Ultimatum« von der neuen Regierung unter Joseph Wirth akzeptiert.
Dass sich auch die KPD aggressiv-polemisch gegen den Versailler
Vertrag und den Young-Plan wandte, scheint nicht erwähnenswert zu
sein. Schließlich: Der »lang geplante Putsch«, der den Spanischen
Bürgerkrieg auslöste, wurde nicht »unter dem faschistischen General Franco«, sondern anfangs
von dem am 20. Juli 1936 verunglückten General José Sanjurjo
geplant, in der entscheidenden Phase vor dem 17. Juli 1936 von General Emilio Mola (el
director). (Hugh Thomas, The Spanish Civil War, New York – Evanston – London 1963 (1961), S. 100-2,
126.)
Fehlende Geschichtssymbole
Vergeblich suchen wir nach den vertrauten Geschichtssymbolen. Wo
sind die Wartburg, der Dom zu Speyer, der Kyffhäuser? Ohne die
Geschichtsromantik und den Historismus des 19. Jahrhunderts ist
Deutschland im 20. Jahrhundert nicht zu verstehen. Eine
unscheinbare Innenansicht der Walhalla bei Regensburg reicht dafür
keineswegs aus.
Warum tritt die zentrale Figur Wallenstein beim großen Thema
›30jähriger Krieg‹ (im Sektor 1600-1650 Krisen und Krieg in
Deutschland) gegenüber dem Großporträt des Grafen Piccolomini
nur in einem Kupferstich vor Augen? Wäre in der Präsentation etwas
von Schillers Drama zu erkennen, ließe sich über den Namen »Graf
Papenheim« hinwegsehen. Statt dessen drängen sich Fragen nach der
Bedeutung der Klassiker im zeitgenössischen Deutschunterricht
sowie nach dem Verschwinden von Sprichwörtern aus der ansonsten
überreich präsentierten Alltagskultur auf. Die Vorgeschichte des teutschen
Krieges« liest sich wie eine Einführung in
Sozialpädagogik: »Um
1600 verschärften sich im Reich konfessionelle Gegensätze und politische Zwiste.
Polemik und Fanatismus bestimmten das Leben. Unter dem Eindruck
einer anhaltenden Wirtschaftskrise verstärkten sich
Endzeitstimmung, Hexenangst und Judenhass. Die Ordnung des
Augsburger Religionsfriedens wurde nicht mehr akzeptiert, die
Kontrahenten brachen die Kommunikation ab. Es kam zum
Krieg.«
Warum überragen zwei »lange Kerls« Antoine Pesnes Porträt des
Soldatenkönigs? Die Büste Kants, in einer Vitrine eine Etage unter
Diderot, Montesquieu, Rousseau und Voltaire untergebracht, ist kaum
zu entdecken. Eine Rotunde mit Büsten der Amerikanischen
Revolution, Washington – Jefferson fehlt – Franklin, Steuben,
Lafayette und Kosciuszko soll die Verbundenheit der aufgeklärten
Geister Europas mit dem Mutterland der Demokratie dokumentieren. Wo
ist der Hinweis, dass unter den europäischen Mächten der roi des
Prusses als erster die Republik in der Neuen Welt anerkannte?
Angesichts des in Philadelphia auf deutsch gedruckten Originals der
amerikanischen Unabhängigkeitserklärung drängt sich die ironische
Frage auf, warum im Sektor Entdeckung der Welt keine Kopie
der in die Library of Congress ausgewanderten Weltkarte des
Straßburger Geographen Georg Waldseemüller (1508) zu sehen ist.
Unter den preußischen Reformern fehlt der reichspatriotische
Freiherr vom Stein. Ein Porträt eines Burschenschafters (aus dem
Jahr 1848) steht für die Nationalbewegung. Vom Pathos der frühen
Burschenschaft erfahren wir nichts, das Wartburgfest (1817), die
Karlsbader Beschlüsse (1819) sowie Georg Büchners Hessischer
Landbote fehlen vollständig.
Nachdem man unter einer mächtigen schwarz-rot-goldenen Fahne
durchgegangen ist, erscheint die 1848er Revolution unter der
abwegigen Überschrift »1848 – Epochenschwelle zur Moderne«. Welcher
Begriff von ›Moderne‹ liegt hier zugrunde? Was hat der
»Völkerfrühling« 1848/49 damit zu tun? Die Anfänge der Aufklärung
weisen ins 17. Jahrhundert zurück, die Triebkräfte der
Industriellen Revolution liegen im 18. Jahrhundert. Wie lassen sich
Episoden der gescheiterten Revolution, z.B. die Erschießung des
»deutsch-katholischen« Demokraten Robert Blum auf der Brigittenau
bei Wien, mit einem fehldatierten Epochenbegriff verknüpfen?
Vom eigentlichen Revolutionsdrama bleibt nur ein blasser Eindruck.
Wie gelangt der Betrachter zum Verständnis des im »Völkerfrühling«
angelegten Nationalismus? Dass die 1848er Revolutionäre anfangs
gleich doppelt scheiterten – an der Spaltung im Inneren und der
Schwäche im Äußeren, in der »Schlacht von Kandern« wie in Schleswig
gegen die Dänen –, wird in der Ausstellung nur dem wissenden Auge
sichtbar. Unter dem harmlosen Titel »Zankapfel Schleswig« heißt es
in Bezug auf den Waffenstillstand von Malmö (26. 8. 1848): »Die
große Mehrheit der Nationalversammlung empfand dieses Nachgeben
[gegenüber England und Russland] als Demütigung.« Kein Hinweis auf
den linksradikalen Septemberaufstand.
Wo bleibt die Absage František Pálackys an die Frankfurter
Nationalversammlung sowie der Verweis auf den Prager
»Slawenkongress« mit Michail Bakunin? Von den großen Debatten der
Paulskirche, nicht zuletzt um die »großdeutsche« oder
»kleindeutsche« Frage, erfahren wir wenig. Auf der einen Tafel wird
die Problematik richtig dargestellt, auf der Tafel gegenüber heißt
es über das Verfassungswerk der Paulskirche: »Die meisten deutschen
Staaten, darunter auch Preußen und Österreich, lehnten die
Reichsverfassung ab.« Die Männer der Paulskirche, die Friedrich
Wilhelm IV. vergeblich die demokratisch gesalbte Kaiserkrone
antrugen, hatten Österreich nach dem Sieg der Reaktion in Wien
bereits zugunsten der »kleindeutschen Lösung« aus dem Reich
ausgeschieden.
Das 20. Jahrhundert im DHM
Weimarer Republik: »Die schwierigen Anfänge« der Weimarer
Republik werden auf 1918-25 datiert. Historisch einleuchtender ist
nach wie vor die herkömmliche Datierung der frühen Krisenjahre bis
1923. Dass Spartakus und linke USPD-Revolutionäre sich gegen die
vom Rätekongress im Dezember beschlossenen Wahlen zur
»bürgerlichen« Nationalversammlung stellten und zum Aufstand
erhoben, geht aus dem Arrangement – räumlich getrennt von den
Revolutionsszenen in der ersten Etage – hervor. Aus dem Begleittext
ist zu erfahren, dass Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zur
Teilnahme an den Wahlen drängten. Fortfahrend heißt es: »In Berlin
tobten vom 5. bis 12. Januar blutige Kämpfe. Liebknecht und
Luxemburg riefen ebenfalls zum gewaltsamen Sturz der Regierung
auf.« Von der Revolutionsrhetorik in den Tagen vor und nach der
Gründung der KPD (1. Jan. 1919) bis zum fatalen Losschlagen der
Genossen am 5. Januar wird nichts spürbar. Warum fehlt der Name
Karl Radek?
Revolutionen sind historische Momente der Unübersichtlichkeit. Umso
wichtiger, die Revolutionsspirale sichtbar zu machen, den Blick für
die Dialektik »Revolution - Konterrevolution« zu öffnen. Das
bayerische Exempel, grundlegend für das Verständnis des deutschen
Dramas, führt vom Sturz der Wittelsbacher am 7. November 1918 über
die Ausrufung der Räterepublik am 7. April 1919 zum Einmarsch der
»Weißen« am 1. Mai 1919. Ohne chronologische Anleitung stiften die
Bilder und Dokumente nur Verwirrung. Kurt Eisners revolutionäre
Proklamation der »Bayerischen Republik« hängt als Plakat im
Obergeschoss, davon abgesetzt befinden sich Dokumente zur Münchner
Revolution im Parterre. Hinsichtlich der »eigentlichen«
Räterepublik wäre die anarchistische Episode mit Gustav Landauer
und Erich Mühsam von der längeren zweiten, kommunistischen Phase
unter Eugen Leviné, Tobias (Towia) Axelrod,
Max Levin zu unterscheiden. Wenn die Rolle von Gustav Landauer,
Ernst Mühsam und Ernst Toller angedeutet wird, dürfte, um dem
deutschen Verhängnis auf die Spur zu kommen, der Name Ernst
Niekisch nicht fehlen.
Keine Frage: Unter der Schutzhaube reaktionärer Kräfte in München
(und Berlin) wurde 1919-1923 das Ei des Leviathan ausgebrütet.
Welche Kräfte waren an seiner Zeugung beteiligt? Liegt die
alleinige Verantwortung bei den völkischen Kreisen, den
rechtsradikalen Verschwörern der »Thule«-Gesellschaft und ihren
Verbündeten? »Hitler trat im September 1919 einer der völkischen
Parteien bei.« Seit der Öffnung sowjetischer Archive liegt eine
Aufnahme vor, die belegt, dass Hitler noch im Februar 1919 als
Soldatenrat mit roter Armbinde beim Begräbnis des von Graf
Arco-Valley erschossenen USPD-Revolutionsführers Kurt Eisner
auftrat. (Vgl. die TV-Dokumentation »Aufstieg und Fall Adolf
Hitlers, Teil I«) Die unheilvolle Dialektik, der Weg ins deutsche
und europäische Verderben, erfährt durch dieses Faktum eine
entscheidende Ergänzung. Hitler, der an der Niederwerfung der
Revolution nicht beteiligt war, trat ein paar Wochen später bei
einer Protestveranstaltung gegen den Versailler Vertrag in der Aula
der Münchner Universität erneut in Erscheinung. Denkbar wären drei
Bilder als Augenöffner: Hitler in der jubelnden Menge auf dem
Marienplatz im August 1914, Hitler 1919 als Soldatenrat, Hitler als
»Trommler« der »nationalen Rechten«. Gezeigt wird ein Bild von
Hitler im Zirkus Krone von 1923.
Der Hitler-Ludendorff-Putsch 1923 erfährt eine Hintergrund und
Ablauf grotesk verzerrende Interpretation: »Für den Marsch nach
Berlin waren zunächst auch Adolf Hitler und seine SA
vorgesehen. Als Hitler erkannte, dass er durch rechtskonservative
Politiker von der Erhebung ausgeschlossen und ins politische
Abseits gestellt werden sollte, rief er am Abend des 8. November
1923 die Nationale Revolution aus.«
NS-Diktatur und Zweiter Weltkrieg: »Die NSDAP avancierte zu
einem Auffangbecken für Gegner der nicht vom Volk legitimierten
Präsidialkabinette.« – »Die Präsidialkabinette hatten auch
nach der Reichstagswahl am 6. November 1932 nur wenig
parlamentarischen Rückhalt.« Historisches oder sprachliches
Unvermögen? »Reichspräsident von Hindenburg hatte seinen Ratgebern
aus Politik und Wirtschaft nachgegeben und Hitler zum Reichskanzler
ernannt.« Die Intrigen, die im April 1932 zum Sturz Brünings sowie
nach dem Sturz Kurt von Schleichers als Reichskanzler im Dreieck
Papen - Oskar von Hindenburg - Hugenberg zum 30. Januar führten,
werden in einem solchen Satz nicht sichtbar.
Beim »Ermächtigungsgesetz« wird die Rolle des von Hitler düpierten
Zentrums und der dahingeschmolzenen Liberalen, DVP und Deutsche
Staatspartei, nicht hinreichend beleuchtet. Aus dem Lautsprecher
ist die Rede des SPD-Führers Otto Wels zu vernehmen. Denkbar wäre,
der Dramatik der Szene zuliebe, auch die Einblendung der
höhnisch-stolzen Entgegnung des erfolgreichen Diktators. Vor allem
sollte neben der Herausstellung der Extreme, zwischen denen die
Republik zerrieben wurde, deutlich werden, dass – selbst unter dem
Eindruck des Reichstagsbrandes – nicht »das deutsche Volk« per
Stimmzettel Hitler an die Macht gewählt hat, sondern dass die
Diktatur im Machtzentrum des Systems etabliert und auf
parlamentarischem Wege legitimiert wurde.
Ohne Anführungszeichen ist der »Röhm-Putsch« als propagandistischer
Terminus dank der fetten Kursivschrift schwerlich zu
identifizieren. Erläuternd heißt es: »Hitler schreckte vor Röhms
Forderung nach einer zweiten sozialen Revolution zurück und
entschied sich für eine radikale Entmachtung von Röhm.« Nur
Eingeweihte können mit dem Namen des ermordeten Edgar Julius Jung,
des jungkonservativen Gegners der Weimarer Republik (»Herrschaft
der Minderwertigen«, 1927) und Vertrauten Franz von Papens, etwas
anfangen.
Inmitten der Jubel- und Pogromszenen (»Kristallnacht«) werden
Abstufungen von Regimeloyalität und –distanz nicht sichtbar. Zu
wenig erfahren wir von den für das Regime anfangs nicht
unbedeutsamen Konflikten zwischen NS-frommen »Deutschen Christen«
und »Bekennender Kirche« – laut Textunterschrift hielt Niemöller
den Vortrag vom 6. 12. 1936 in der »Dahlemer Marienkirche« –, noch
weniger von der anhaltenden Resistenz der Katholiken, der von den
Nationalsozialisten gehassten »Schwarzen«. Dagegen stehen unter der
Rubrik »Religion und Nationalsozialismus« (»Der NS-Staat stand den
Kirchen misstrauisch gegenüber und betrachtete sie als Konkurrenz
zu seinem eigenen Anspruch auf Deutungshoheit.«) Dokumente zur
Verfolgung der »Zeugen Jehovas« – gegen 250 »Bibelforscher« wurden
Todesurteile verhängt – gleichrangig neben den beiden großen
Konfessionen. Deutlicher zu erhellen wäre die Schwäche des
kommunistischen und sozialdemokratischen Widerstands sowie die ab
1935 wachsende Einbindung großer Teile der Arbeiterschaft in das
System.
Die Dialektik von Propaganda, Terror, Anpassung und Zustimmung zu
den »Erfolgen« des Regimes wird immerhin vermittelt. Beim
»Anschluss« Österreichs im Frühjahr 1938 fehlt jeglicher Hinweis
auf das »Ja« des großdeutschen Sozialdemokraten Karl Renner und des
Wiener Kardinals Theodor Innitzer bei der Abstimmung. Das
Anschlussverbot, so die Erläuterung, »war laut NS-Propaganda ein
klarer Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker.«
Der Suggestion des Satzes nach war der von allen Parteien Weimars und
des republikanischen Österreich unter Berufung auf das
Selbstbestimmungsrecht verfochtene »Anschluss«
eine Art vorweggenommener NS-Propaganda.
»Mit dem deutschen Überfall auf Polen begann am 1. September 1939
der von Adolf Hitler seit langem geplante Krieg um Lebensraum im
Osten.« Die rassenimperialistische Aggressionsabsicht wird u.a.
anhand der Rede Hitlers vor der Reichswehrführung im Februar 1933
belegt, die Ausführung der darwinistischen Ideologie mit Dokumenten
des »Generalplans Ost« (1942). Gegenüber der ideologischen
Konstanten wird der propagandistisch hervorgekehrte Aspekt der
Revision von »Versailles« nicht mehr erkennbar, wohl aber der 1941
erneut propagierte Antibolschewismus. Die Vorgeschichte des Zweiten
Weltkriegs wird großflächig anhand des Spanischen Bürgerkriegs
erläutert – im Hinblick auf München 1938 und das Mächtespiel 1939
eine schiefe Perspektive. Dass 1939 außer dem Dritten Reich auch
andere Mächte revisionistisch gesonnen waren, wird nicht
vermittelt. Weder gibt es einen Hinweis auf die – von Polen
abgelehnte – britische Garantieerklärung für Rumänien noch auf
Stalins »Winterkrieg« 1939/40 gegen Finnland.
Zu Recht wird das Ribbentrop-Molotow-Abkommen
(»Hitler-Stalin-Pakt«) als Voraussetzung des deutschen Angriffs auf
Polen herausgestellt. Danach wird die Kriegslogik nicht mehr
ersichtlich. Umso nachhaltiger wirken die Schreckensszenen, die der
»Wehrmachtsausstellung« in nichts nachstehen. »Die sowjetische
Bevölkerung litt in ihrer Gesamtheit unter dem Besatzungsterror,
der häufig in einen erbitterten Partisanenkrieg mündete. Die
Sowjetunion hatte bis 1945 mehr als 25 Millionen Tote zu beklagen.«
Die Realität und Kausalität des Besatzungsregimes – der
Partisanenkrieg wurde auf Stalins Befehl unabhängig vom Terror der
SS-»Einsatzgruppen« eröffnet – wird in dieser Aussage verkürzt. Die
Kritik begibt sich auf gefährliches Eis, wenn sie festhält, dass es
sich bei der zuletzt von Präsident Gorbatschow genannten Opferzahl
um eine nicht eindeutig belegbare Größe handelt. Die Ziffern liegen
entweder zu niedrig (12 Millionen) oder zu hoch (40 Millionen). Die
furchtbaren Fakten des von Hitlers Wehrmacht eröffneten Krieges,
der Judenmord, die Verantwortung für den Tod ungezählter Millionen
von Weißrussen, Russen und Ukrainern wird durch diese Anmerkung
nicht im geringsten gemindert. Dennoch bedarf das Zitat der
Abstufung: Es gab das Leiden zwischen den Fronten, freiwillige und
erzwungene Kollaboration, »Hiwis« und den General Andreij
Wlassow.
Hinter den Schrecken des Krieges verblasst die realpolitische
Dimension. Machtpolitik im Krieg findet nicht statt. Molotows
Berlin-Besuch samt Forderungskatalog im November 1940, der Hitlers
Angriffspläne gegen die Sowjetunion zur »Weisung Barbarossa«
zuspitzte, kommt nicht vor. Stalins Misstrauen gegenüber den
Westmächten müsste angedeutet werden. Wie erschließt sich das
Verständnis des unter »Stalingrad« dokumentierten »Nationalkomitee
Freies Deutschland«?
Die Filmszenen von der Landung der Alliierten in der Normandie
überlagern die Problematik der Kriegskoalition. Die
Kriegskonferenzen von Teheran und Jalta werden dokumentiert, nicht
aber die bis Potsdam wechselnden Nachkriegskonzepte, darunter das
Londoner Protokoll vom September 1944. Der auf die
»Westverschiebung« Polens gerichtete Grenzschacher wird erwähnt,
die frühzeitigen Vertreibungspläne bleiben bis auf ein Bild der
Großen Drei in Potsdam ausgespart.
Das NS-Mordsystem: In der Geschichte des »Dritten Reiches«
signalisiert der auf den 1. September 1939 rückdatierte Erlass
Adolf Hitlers die Eröffnung des systematischen Mordens aus
rassistisch-biologistischen Motiven. Bekanntlich stieß das Regime
bei dieser Mordpraxis 1941 auf seine Grenzen. Die Ausstellung zeigt
dazu ein Porträt des Bischofs von Münster Clemens Graf von Galen.
Es fehlt der Hinweis auf andere Proteste wie den des
württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm.
Anhand der »Euthanasie«-Morde und der in der Berliner
Tiergartenstraße operierenden Mordzentrale »T 4« ließe sich der
fließende Übergang zur Judenvernichtung erhellen. Ein Schaukasten
enthält die Todesmeldung (»verstorben«) einer jüdischen Frau aus
Berlin, die am 30. Januar 1941 in Chelmno, als »Geisteskranke« zu
Tode gebracht wurde. Daneben hängt das Bild eines Schuppens in der
Anstalt Grafeneck, der für Morde mit Gas verwendet wurde. Eine
junge Führerin erläutert vor einer Schulklasse: »Solche Schuppen
standen in ganz Deutschland überall herum.« Die fahrlässige
Verallgemeinerung entspringt der fehlenden Präzision in der
Dokumentation – eine Landkarte mit den Mordstätten (Grafeneck,
Bernburg, Hadamar, Pirna-Sonnenstein, Brandenburg-Görden, Hartheim
bei Linz) fehlt.
Die These, die Deportation der Juden habe vor aller Augen
stattgefunden, impliziert deren allgemeine Billigung. Es geht nicht
um die Verharmlosung der Neigung zum »Wegsehen«. Dennoch: Nicht
alle erlagen den ideologischen Suggestionen. Dass kirchlich
gebundene und nonkonforme Jugendliche die Schaukästen des
Stürmer zerstörten, ist belegt und bedürfte gegenüber der
pauschalisierenden Aussage der Erwähnung. Gewiss, offener
Widerstand wurde von wenigen geübt. Brutalitäten gegenüber
KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern waren an der Tagesordnung. Doch
wo zeigt die Ausstellung die Beispiele der hinreichend bezeugten
Menschlichkeit? Wie sollen junge Betrachter inmitten solcher
Arrangements zu differenzierender Anschauung kommen? Selten, fast
nie erwähnen bundesrepublikanische Geschichtsbücher den Einspruch
der Bekenntnissynode der Altpreußischen Union in Breslau gegen die
Judenverfolgung im Oktober 1943 (!).
Der Einwand, eine auf »authentische« Dokumente gestützte Schau sei
für historische Nuancierungen nicht geeignet, ist nicht
stichhaltig. Die Ausstellung enthält zum einen durchaus auch
Repliken und Facsimiles, zum anderen böten die Begleittexte Raum
für Differenzierungen. Vor allem ginge es – wenn schon als Maxime
stets unerreichbar – um die Vermittlung eines »objektiven«
Gesamtbildes. Der Einwand, historische Details und Spezifizierungen
seien aus den mancherorts angebrachten Ausziehtafeln sowie den
themenvertiefenden PC-Präsentationen zu erschließen, zielt an der
auf Gesamteindruck ausgerichteten Ästhetik einer Ausstellung
vorbei.
Widerstand und 20. Juli: Zum Ärgernis wird die Ausstellung
in der Behandlung des deutschen Widerstands. Er verkommt zur
historischen Bedeutungslosigkeit. Eine Stellwand, die dem
»Politischen Widerstand« gewidmet ist, bezieht sich auf die Jahre
1933-1939. Zu den Exponaten gehören zwei Radierungen von Lea
Grundig, Totenmasken und Personalien der 1935 bzw. 1936
hingerichteten Kommunisten Fiete Schulze und Edgar André sowie Foto
und Amtsrobe des Rechtsanwalts Jens Litten, der 1938 in Dachau
Selbstmord beging.
Was bleibt vom 20. Juli als dem tragischen Ruhmesblatt der
deutschen Geschichte? Auf den die Hauptstraße markierenden
Leuchtstelen kommt das Datum nicht vor. Statt dessen dominiert die
Aufschrift: »1943-1945 Totaler Krieg und Völkermord«. Neben einem
mächtigen Flak-Geschütz verweist eine Stellwand mit Bildern des
Terrors in Lidice nach dem Heydrich-Attentat (1942) auf den
»Widerstand in den besetzten Gebieten«. Daneben stehen achtzehn (6
x 3) übereinandergestellte Vitrinen. Sie zeigen von links u.a. eine
Büste von Ulrich von Hassell und das Manuskript seiner im KZ
Ravensbrück verfassten »Lebenserinnerungen«, darunter ein mit
»Moabiter Sonett« (!) bezeichnetes Blatt (»Der Geograf Albrecht
Haushofer stand in Verbindung zu konservativen Widerstandskreisen.
Seit 1944 in Haft, verfasste er Gedichte über den NS-Staat, Krieg
und Widerstand.«), schließlich Blätter mit satirischen Zeichnungen.
und Texten zum Gefängnisalltag in Berlin-Moabit. In der dritten
Reihe steht eine Stauffenberg-Büste (1929 von einem russischen
Künstler geschaffen) vor dem Foto der zertrümmerten Baracke in der
»Wolfsschanze«, darunter teilweise unbezeichnete Porträts des
Kreisauer Kreises, zuunterst ein Skizzenbuch zum Tausendjährigen
Reich von Karl Josef Weimar. Des weiteren zu sehen sind in
ähnlicher Reihung neben Bildern von Hans Scholl und Christoph
Probst ein von britischen Bombern im Sommer 1943 abgeworfenes
Flugblatt zur »Weißen Rose«, drei Abschiedsbriefe aus der Gruppe um
Harro Schulze-Boysen, Bilder von Mitgliedern der Gruppe um Herbert
Baum, der Personalbogen eines von 250 hingerichteten »Zeugen
Jehovas«, die Gestapo-Abschrift einer Galen-Predigt (20. 7. 1941),
ein Sendegerät einer Münchner Jugendgruppe, ein Stempelkasten und
Handzettel mit dem Aufdruck »Schluss mit dem sinnlosen Krieg«.
Nichts erfährt der Besucher von der frühen Militäropposition,
nichts von den seit 1941 im Auftrag von Ludwig Beck von General
Friedrich Olbricht betriebenen Planungen »Walküre«, nichts von den
patriotischen Motiven des Scholl-Kreises, von den »vaterländischen
Gefühlen« (Peter Graf Yorck von Wartenburg) der Männer um
Stauffenberg. [Im Museumsführer (Anm. 5, S. 153) schreiben die
Autoren, die Chronologie verfehlend, unter dem Titel »Der
zersplitterte Widerstand«: »Ab 1943 entwarfen Wehrmachtsoffiziere
in Verbindung mit dem zivilen Widerstand Pläne für einen
Staatsstreich.« Von den Staatsstreich-Plänen während der
Sudetenkrise abgesehen, nahmen die Verschwörer um Beck im Herbst
1939 ihre Bestrebungen wieder auf. »Spätestens um die Jahreswende
1940/41« wurde Olbricht von Ludwig Beck mit der Ausarbeitung eines
Umsturzplanes beauftragt. Vgl. Helena P. Page, General Friedrich
Olbricht. Ein Mann des 20.Juli, Bonn-Berlin, 1992, S.203f.]
Es fehlt der klare Hinweis auf das Dilemma der »verlassenen
Verschwörer« (Klemens von Klemperer) sowie das tragische Finale im
Bendlerblock. »Es lebe das heilige Deutschland!« – ob nun
Stauffenbergs Anruf dem »heimlichen Deutschland« galt, das Motiv
darf nicht unterschlagen werden. Wie wäre es mit einem Gedichtband,
in dem Stefan Georges Antichrist aufgeschlagen ist, oder mit
einem Bild des Porphyr-Sarkophags im Dom zu Palermo? Jeden
Nicht-Historiker lässt der auf einer Stele ausgelegte Bericht
Friedrich Georgis über seine letzte Begegnung mit seinem
Schwiegervater Olbricht ratlos. Welcher mit den Fakten unvertraute
Besucher könnte auf einem Propaganda-Plakat mit Ritterkreuzträgern
(ca. 1942) den Widerstandskämpfer Georg Freiherr von Boeselager
identifizieren? Wer nach einer genaueren Darstellung des 20. Juli
fragt, wird auf die PC-Installation verwiesen.
Kriegsende und Vertreibung: Unter dem Foto der Großen Drei
heißt es: »Um die wilden Vertreibungen zu stoppen, beschlossen
Stalin, Churchill und Truman auf der Potsdamer Konferenz, [die
Aussiedlungen] in ordnungsgemäßer und humaner Weise
durchzuführen«. Kommentar eines Besuchers: »Es handelte sich wohl
um einen Humanistenklub.« Nur der Kundige erkennt an den kursiv
gedruckten Zeilen Zitatfragmente aus dem Potsdamer Abkommen.
Corrigendum: Bei Abschluss des Protokolls am 2. August
weilte Churchill, der im Dezember 1944 selbst Vertreibungen im
Millionenmaßstab offen angekündigt hatte, aber in Potsdam an der
östlichen Glatzer Neiße als Grenzlinie festhalten wollte, längst
nicht mehr in Cecilienhof. Für die Briten unterzeichnete der
Labour-Premier Clement Attlee.
Ein Handkarren mit Koffer dokumentiert das Schicksal eines im Juni
1945 ausgewiesenen Deutschen – seine Frau starb am 3. August 1945
in einem Berliner Krankenhaus – aus Landsberg/Warthe. Für die
Ausstellungsmacher lag die Stadt bereits vor der Potsdamer
Konferenz und ungeachtet des Friedensvertragsvorbehalts in Polen.
Aus ihrer Sicht begingen »rund 200 000 Deutsche« hauptsächlich aus
Scham über die Niederlage und Schuldverstrickung Selbstmord (»weil
der bisher propagierte Endsieg ausblieb und sie viel zu sehr in die
NS-Verbrechen verstrickt waren«). Was wissen sie von der
Verzweiflung der von der Front überrollten Menschen, vom Schicksal
der Familie Tresckow auf dem Gut in der Neumark, vom Freitod
geschändeter Frauen, darunter die jüngste Schwester der
Widerstandskämpfer von Haeften?
Nachkriegszeit: Wer sich durch den mit Schreckensszenen
erfüllten »Zeittrichter« der NS-Ära durchgearbeitet hat, den
umfängt die mit Ramsch vollgestellte deutsch-deutsche
Nachkriegszeit: hier VW, dort Trabbi, hier String-Regal und
Bubble-Gum, dort Plaste und Elaste, hier Fernsehtruhe, dort
LPG-Traktor (im Modell). »Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft
zielte auf den sozialen Ausgleich zwischen Arbeitern und
Angestellten.« Zwischen DDR-Planwirtschaft und
bundesrepublikanischem »Wirtschaftswunder« steht ein DDR-Grenzpfahl
im Original.
Wo nach 1945 noch Gesamtdeutsches geboten wird, kommt es zu
seltsamen Arrangements. Für den »kulturellen Neubeginn« stehen die
Porträts von Gräfin Dönhoff, Axel Eggebrecht, Rudolf Herrnstadt und
Alfred Kantorowicz. Namen wie Eugen Kogon, Paul Sethe, Margaret
Boveri, Rudolf Augstein oder auch Winfried Martini tauchen nicht
auf.
Säuberlich teilt sich die Schau sodann räumlich in die Geschichte
der beiden Staaten. Unter Parolen, roten Transparenten und Plakaten
erscheint die Geschichte der SBZ/DDR in mildem Licht. Zu dem in
Westdeutschland einhellig abgelehnten Görlitzer Vertrag (6. 7.
1950) heißt es: »Die DDR verzichtete damit endgültig auf die im
Potsdamer Abkommen abgetretenen ehemaligen Ostgebiete.« Ist der
Begriff ›Abtretung‹ irreführend, so erscheint die DDR fast als
Friedensstaat. Das Ausmaß der Umfang der Verfolgungen in der SBZ
tritt so wenig hervor wie der Charakter der SED-Diktatur. Der
»Kirchenkampf« in der DDR findet keine Erwähnung, die für die
Gegenwart bedeutsamen Folgen einer weitreichenden Entchristlichung
der Regionen zwischen Elbe und Oder werden ausgeblendet.
Die »Deutsche Frage«, das zentrale Thema der Siegermächte und die
großen Debatten der deutschen Politik in den 50er Jahren finden
außer der Frage der Wiederbewaffnung keine Erwähnung. Die
nationalen Parolen des Volksaufstandes am 17. Juni, in einem
Seitenraum zum Randereignis herabgestuft, bleiben unterbelichtet.
Wo ein rotes Schild mit dem dreigeteilten Deutschland in den
Grenzen von 1937 samt Brandenburger Tor hängt, assoziiert der
Unkundige das Emblem mit Vertriebenenparolen statt mit dem
offiziösen Kuratorium »Unteilbares Deutschland«. Dazu die
Erläuterung: »Die Potsdamer Konferenz hatte Polen, der
Tschechoslowakei und der Sowjetunion früher deutsche Gebiete
zugesprochen. Für die Mehrheit der rund 8 Millionen Vertriebenen in
der Bundesrepublik war die Abtretung der Ostgebiete inakzeptabel.
Sie erkannte die Oder-Neiße-Grenze nicht an. Diese Position
vertraten auch Bundesregierung und Opposition.«
1968: Die Überschriften »Die Schuld der Väter« und »Der
Aufstand der Söhne« – der Anteil der Töchter war beträchtlich –
entstammen der Selbstinterpretation der Protestgeneration. Das
Hakenkreuz-Gemälde (Stilleben für die Große Koalition, 1967)
von Sarah Haffner – mit der pointierten Gleichsetzung von
»Springer-Presse«, »Nationalzeitung« und NPD – lässt, vom
Studentenprotest abgerückt, die psychologische Vielschichtigkeit
des Protests nur erahnen. Benno Ohnesorgs Tod bei der
Anti-Schah-Demonstration (2. Juni 1967) wird dokumentiert, der
Vietnam-Krieg als Katalysator der »antiimperialistischen« Emotionen
bleibt faktisch ausgeblendet. [»Die Studenten protestieren gegen
den Besuch des Schahs von Persien, die Springer-Presse, die
Notstandsgesetze und den Vietnamkrieg und kritisierten das
deutsch-amerikanische Verhältnis.«] Rudi Dutschke, charismatische
Führungsfigur und Märtyrer der Revolte, taucht nirgends auf.
»In der Studentenbewegung gab es ein breites Spektrum theoretischer
Positionen. Es reichte von strengen Marxisten, Antiautoritären bis
zu Anarchisten.« Zu sehen ist unter einem Armee-Parka und dem
SDS-Plakat (»Alle reden vom Wetter«) neben Wilhelm Reichs Opus
Die Funktion des Orgasmus, der Mao-Bibel und einigen
Konkret-Ausgaben »antifaschistische« Enthüllungsliteratur
(Führer durch das braune Bonn) aus dem DDR-finanzierten
Röderberg-Verlag. Außerdem kommt in örtlicher Nähe zum Feminismus
(»Frauenpower«) – dokumentiert mit frühen Exemplaren von
Emma und Courage – auch der Sex-Aufklärer Oswald
Kolle zu Ehren. Der RAF-Terror wird neben Bildern vom Münchner
PLO-Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft (1972) zum
unvermittelten Randphänomen (»Herausforderung Terrorismus«).
1981: Unter dem Rubrum »Bürgerbewegungen« ist zu lesen: »Die
geplante Stationierung amerikanischer Raketen in Westdeutschland
trug zur Entstehung der deutschen Friedensbewegung bei. Sie rief zu
einer Demonstration am 10. Oktober 1981 in Bonn auf.« Die
gesamtdeutschen Emotionen, die anno 1981/82 dank des Offenen
Briefes des DDR-Regimekritikers Robert Havemann an den sowjetischen
Parteichef Leonid Breschnew in Ost und West hervortraten, finden
keine Erwähnung.
1989: Die DDR-Flüchtlinge, deren Exodus über Ungarn und Prag
das Ende des SED-Staates signalisierte, schwenkten »die Fahne der
Bundesrepublik« (»the West German flag«).
Fazit
Wer durch die trivial anmutenden Zeugnisse der friedlichen
Revolution im Herbst 1989 – Protesttransparente samt
schwarz-rot-goldenem Pappschild mit Herz (»Wir sind ein Volk«) –,
ständig begleitet von den Klängen der Nationalhymne, an Christos
Wrapped Reichstag zum Ausgang gelangt, dem ist selbst die
Freude über den Mauerfall längst erstorben.
Die Realitäten der Gegenwart bleiben ausgeklammert, die politische
Geographie Europas tritt nirgends hervor. Von der faktischen
Aufhebung des Nationalstaats durch die EU-Verträge ist auf der
Hauptstraße nichts zu erkennen, die Problematik der unklaren
EU-Grenzen sowie die Gefahr des Verschwindens der
europäischen Nationen, nicht nur der Deutschen, im globalen
Multikulti des 21. Jahrhunderts wird nicht einmal angedeutet.
Den Kopf des eingangs erwähnten Blattes ziert links das
schwarz-rot-goldene Pappschild mit Herz, rechts eine Karikatur. Sie
zeigt Heinrich von Gagern, den Präsidenten der Paulskirche, als
Hampelmann. Geschichte – mal harmlos, mal herrlich, mal gemütlich,
mal grauenhaft, am Ende ganz glücklich. Das Bestreben, mit dem
historischen Selbstbild nirgends anzuecken, ein EU-verträgliches
Geschichtspanorama zu präsentieren, mag lobenswert sein. Was im
Deutschen Historischen Museum zu Berlin als Resultat erscheint, ist
das Selbstbild einer Nation ohne Eigenschaften.
Literatur:
Etienne François, Gedächtnis der Nation, in: Die Welt,
Sonderausgabe Deutsches Historisches Museum, Sommer 2006
M. Jeismann, Die Weisheit des Fernando, in: Frankfurter
Allgemeine Zeitung v. 14.7.2006
Ferdinand Schlingensiepen, Dietrich Bonhoeffer 1906-1945. Eine
Biographie, 2. Aufl. München 2006
Hans Ottomeyer / Hans-Jörg Czech, Ein Ort mit Geschichte – ein Ort
für Geschichte, in: Deutsches Historisches Museum. Deutsche
Geschichte in Bildern und Zeugnissen, hrsg. v. Leonore Koschnick,
München-Berlin-London-New York 2006
Hugh Thomas, The Spanish Civil War, New York – Evanston – London 1963
(1961)
TV-Dokumentation »Aufstieg und Fall Adolf Hitlers, Teil I«,
produziert von Guido Knopp und Maurice Philip Remy, ZDF und Arte
1997