Die demographische
Situation Deutschlands ist ein extremes Beispiel für eine
bedenkliche Entwicklung in der westlichen Welt. Die Zukunft ist
hier auf eine Weise gefährdet, an die man so kaum je gedacht hätte,
vielleicht auch nicht denken wollte. Deutschland partizipiert an
einem ökonomischen Fortschrittsmodell, das letztendlich auf dem
Bestreben nach Konsum basiert. Dieses Modell, wie sich nun zeigt,
widersetzt sich einer Dynamik der Akkumulation, die durch Mäßigung
Zukunft ermöglichen würde. So modern diese schematische
Lagebeschreibung aber auch anmuten mag, so enthält sie doch
Faktoren, die sich im Durchgang durch einige Texte der chinesischen
Antike weiter aufhellen lassen. Es sind dies Faktoren, die mit der
Gabe, den rituellen Grenzen des Konsums und dem Verhältnis
der Nachgeborenen zu den Ahnen zu tun haben. Das Problem, das ich
hier behandeln werde, ist das Verhältnis unterschiedlicher
Gesellschaften zum ›Vorher‹ und ›Nachher‹. In dieser Perspektive
möchte ich die heutige westliche Welt mit der Situation
kontrastieren, die in einer Anzahl von Texten des archaischen China
aus der Zhou-Dynastie (11. bis 3. Jahrhundert v. Chr.) bezeugt
ist.
*
Die soziale und symbolische Ökonomie der Zhou-Dynastie beruht auf
dem Ritus. Dieser findet nicht Anwendung auf jeden, sondern nur auf
Angehörige des Adels. Das Volk bleibt ausgeschlossen. Der Adel ist
als Netzwerk von Verbindungen und Austauschmöglichkeiten
organisiert, in dem die Stelle eines Individuums durch die
Fähigkeit markiert ist, sowohl die Gaben des Höherstehenden zu
empfangen als auch dem Untergeordneten Gaben zukommen zu lassen.
Das Volk, von dem es heißt, dass der Ritus nicht bis zu ihm reiche,
ist von einem der Glieder des Gebens ausgeschlossen. Es kann
empfangen, nicht aber geben. Außerdem ist es nicht Glied der Kette,
durch welche die Gegenwart der Vergangenheit (der vergangene
Vorfahre) mit der Vergangenheit der Gegenwart (der Gegenwart als
Vorbereitung auf den Zustand des Vorfahren) verbunden ist.
Der Ritus vereinigt den Adel in einem Geflecht asymmetrischer
Gaben, das durch Rechte und Verpflichtungen strukturiert ist. Das
Recht besteht darin, Gaben darzubringen und als Folge daraus
Vorfahren zu haben. Die Verpflichtung besteht darin, dem rangmäßig
Niedrigeren etwas darzubringen. Die so geregelte Großzügigkeit
bezeugt die Zugehörigkeit zu einer Ordnung, die sich aus dem König
und seinen Vorfahren herleitet, und diese Verpflichtung ist es, die
den Empfänger der Großzügigkeit von oben in eine Position versetzt,
die derjenigen des Gebenden analog ist. Die asymmetrische Gabe
(insbesondere die Gabe bzw. Schenkung von Nahrung) bildet den Kern
der zeitlichen Gliederung, durch die Vergangenes (Vorfahren) und
Zukunft (Nachkommen) verbunden sind. Der Verpflichtung zu geben
(zugleich der Macht zu geben) entspricht dabei, dass derjenige, der
etwas erhält und zu geben vermag, nicht alles verbrauchen kann. Auf
der anderen Seite kann derjenige, der etwas erhält und nichts
weiterzugeben vermag (das Volk, das buchstäblich ›von der Hand in
den Mund‹ lebt), alles, was er erhalten hat, verbrauchen.
Die heutige westliche Welt ist demgegenüber von einem Denken
beherrscht, das den Menschen auf die Rolle des Konsumenten
reduziert. Dies zeigt sich einerseits in der Abwertung des
Vergangenen als Vergangenheit, indem es nämlich zu etwas
Konsumierbarem wird, andererseits durch das Einfrieren oder die
Negation der Zukunft, insofern sie notwendig zur Vernichtung und
zum Tod führt. Mit dem Tod erst kommt der Konsum an ein Ende.
*
Was können hier die Texte des alten China lehren? Welcher Frage
entspricht die Lösung, die sie anbieten? Es handelt sich um die
Frage nach der
Übertragung, die zwischen Vorfahren und
Nachkommen statthat.
Die Übertragung kommt allein denen zu, die empfangen und geben, und
wird denen verweigert, die nur empfangen können. Diese letzteren,
die sogleich alles verbrauchen, was ihnen allein deshalb zur
Verfügung gestellt wird, damit sie sich für den Augenblick sättigen
können, sind im selben Moment der Möglichkeit beraubt, Vorfahren zu
sein – und somit auch Nachkommen (vgl. z.B.
Lĭjì, Shisanjing
Ed., 49.376 und 23.240;
Yili, Kap.
Xiangsheli,
Shisanjing Ed., 11.52).
Während eine innerhalb der Adelsklasse empfangene Gabe die
Gelegenheit bietet, ein Netzwerk asymmetrischer Verpflichtungen zu
schaffen, in dem jedes einzelne Netz das ursprüngliche Netz, das
den König mit seinen obersten Lehnsherren verbindet, spiegelt und
auf diese Weise die Möglichkeit ihrer gesellschaftlichen Beziehung
anzeigt, setzt die Weitergabe von augenblicklich und gänzlich zu
konsumierenden Gütern an diejenigen, die außerhalb des Ritus
stehen, den, der diese Güter gibt, zu denen in ein disjunktives
Verhältnis, die als Kollektiv zusammen genannt werden und doch
gleichzeitig anonym und isoliert sind (also außerhalb des durch den
Ritus geschaffenen Netzes stehen). Es sind diese Anonymität und
dieser Reduktionismus, die sie zur gesichtslosen Masse machen.
Die heutige Welt kennt dieses Problem der Übertragung als
Koexistenz zweier gegensätzlicher Praxen: 1) als ihre
Bewerkstelligung oder ihren Erhalt durch die Familie mit der
Perspektive einer Übertragung auf die Zukunft hin (Kinder); 2) als
Erscheinen eines Individuums, das keine anderen Bezugspunkte kennt
als einerseits das längstmögliche Überleben (geleitet vom Phantom
der Unsterblichkeit) und andererseits die Konsumgüter, deren Erwerb
es erstrebt. Die Dynamik dieses Konsumhungers erinnert geradezu an
ein Schwarzes Loch, das alles in seiner Reichweite verschlingt. Er
markiert einen fortgesetzt destruierenden Endpunkt, der jede Art
von Austausch unmöglich macht. In Reinform gibt es diesen absoluten
oder, wie ich ihn nennen will,
mythischen Konsumenten
freilich nicht. In vielen Bildern aber, die unsere Welt überfluten,
zeichnen sich seine Züge deutlich genug ab.
*
Als Lösung (oder Anti-Lösung) für das Problem der Übertragung kann
der mythische Konsument auf folgende Weise dem alten China
gegenübergestellt werden:
Chinesische Antike:
– Adelsklasse, die als einzige von der Normativität der Riten
betroffen ist. Allein der Adlige verbraucht nicht alles, um auch
geben zu können; als Nachkomme hat er Vorfahren und ist selbst
virtuell ein Vorfahre.
– Volk, das klassenlos ist und außerhalb der rituellen Normen
steht. Es verbraucht alles augenblicklich und ohne Einschränkung;
es hat weder Vorfahren noch Nachkommen.
Moderne Welt
– Mythischer Konsument, der zwar nicht in Reinform existiert, aber
als äußerste Projektion des normativen Ideals des Konsums fungiert.
Der mythische Konsument konsumiert alles, wenn auch nicht wahllos.
Er ist weder Vorfahre noch Nachkomme.
In der modernen Welt gibt es kein genaues Äquivalent für die
genannte Klassenlosigkeit im alten China. Der mythische Konsument
steht nicht in struktureller Opposition zu irgendjemandem. Er
schließt
per definitionem alles ein, indem er alles
konsumiert, während im alten China diejenigen, die zu geben
vermögen und diejenigen, die allein empfangen können eine Einheit
bilden, in der die Glieder sich wechselseitig bestimmen.
Im Hinblick auf den Staat und aus der Perspektive der Kette der
Gaben im alten China ist sorgfältig zwischen denen, die zu geben
vermögen (und in ihrem Konsum zurückhaltend sind) und denen, die
das nicht können (und alles sofort und sogleich verbrauchen) zu
unterscheiden. Die Beziehung dieser verschiedenen Klassen auf den
Staat offenbart sich in der Behandlung, die sie von ihm erfahren.
So heißt es im Buch
Lĭjì: »Der Ritus steigt nicht bis zum
Volk hinab, die Strafe erreicht nicht die höheren Beamten.«
(
Lĭjì, Kap.
Qulishang, Shisanjing Ed., 3.21). Die
Zugehörigkeit zum Netz des Adels (der eingeschränkt ist in seinem
Konsumverhalten) ist von einer Zurückhaltung der obersten Autorität
gegenüber den Mitgliedern dieses Netzes begleitet. Umgekehrt
entspricht der mangelnden Zurückhaltung im Konsumverhalten eine
Ausdehnung der Strafmaßnahmen.
*
Wie stellt sich der heutige mythische Konsument im Vergleich zu
diesen alten Gegebenheiten dar? Der mythische Konsument ist durch
die Fähigkeit zu uneingeschränktem Konsum definiert, ohne dass sich
ihm die Frage stellte, ob dem anderen etwas zu geben oder im
Konsumverhalten Mäßigung zu üben sei. Er geht in seinem Verhalten
also bis an die Grenze, an der er gemäß der mythischen Ordnung nur
noch die unmittelbare Realisierung aller seiner Möglichkeiten ist,
und seien es Möglichkeiten der Zerstörung. In diesem Verhalten sehe
ich besonders für zwei Bereiche Gefahren.
Einerseits ist der Konsument auf einen fortdauernd unvollendeten
Akt reduziert, da der ›ideale‹ oder mythische Konsum kein Ende
kennt. Ein Produktionssystem, das allein auf Konsum ausgerichtet
ist, zielt zudem auf einen zukunftslosen Reichtum, eben einen, der
zur unmittelbaren Zerstörung bestimmt ist, zur fortwährenden
Herstellung des Augenblicks des Konsums. Als instantane
Verwirklichung aller seiner Möglichkeiten vernichtet der so
beschaffene Reichtum Zukunft.
Der zweite Bereich kann durch dieselben antiken Texte erhellt
werden, die bereits oben für eine erste Überlegung herangezogen
wurden: Die Kette der Gaben innerhalb der Klasse des Adels beginnt
mit dem König, der Quelle der Reichtümer (aufgrund der Gnade seiner
Vorfahren), welche als Gaben dazu dienen, Verbindungen und
Verpflichtungen zu schaffen. Die Texte erwähnen nun die
Möglichkeit, dass der König zu seinem eigenen Nutzen die
Reichtümer, deren Quelle er nach dem Gesagten ist (als zweiter,
nach seinen Vorfahren), einbehalten könne, eine Möglichkeit, die
heftig kritisiert wird (vgl. Buch
Lĭjì, Kap.
Jitong,
Shisanjing Ed., 49.376). Diese Texte spiegeln eine ganze Reihe von
historischen Veränderungen wider. Für meine Zwecke ist vor allem
die Logik, die die genannte Kritik stützt, von Interesse.
Die Einbehaltung des Reichtums durch den, der auch dessen Quelle
ist, blockiert das System als ganzes. »Die Quelle«, so heißt es,
»versiegt« und der König kommt außerhalb des Systems zu stehen. Was
er zur Verfügung hat, bleibt allein ihm verfügbar. Dieses
Einbehalten scheint seine Macht, die Macht eben des Gebens, zu
stärken. Doch es führt zu deren Zerstörung, zum Schwinden ihrer
Legitimität. Wenn die Macht nicht länger diejenigen verpflichtet,
die ihr in der Situation des Gebens unterworfen sind (indem sie
alles von ihr aufgrund der Teilhabe an ihrer besonderen Aktivität
empfangen), so zwingt sie sie dazu, selbst zu einem Außerhalb des
Systems zu werden. Da sie nichts mehr empfangen, können sie auch
nichts geben. Sie werden damit aller Vorfahren und Nachkommen
beraubt. So gesehen stellt der mythische Konsument gleichfalls ein
Systemaußen dar, da sein unvollendeter Akt
per definitionem
weder etwas voraussetzt, das ihm vorangeht und von dem er abhängen
würde, noch etwas, das ihm folgt und dessen Basis er wäre.
*
Der Augenblick des Konsums erfordert die Erhaltung des Konsumenten.
Dieser kann in seinem Sein nur in der Bewegung fortdauern, die
seine Sterblichkeit negiert, was allein in Bezug auf etwas, das
nach ihm kommt, Sinn macht. Nun kennt der Konsum aber kein Nachher.
Er erfordert die Herstellung von Reichtümern, deren Sinn es ist,
zerstört zu werden. Ganz genauso wie das Überleben des mythischen
Konsumenten die Zerstörung von etwas erfordert, wird auch sein
physisches Überleben, als Folge dieses aufbauend-zerstörenden
Augenblicks ohne Ursprung und Bestimmung, für ihn zwingend. Wenn er
kein Nachher kennt, so deshalb, weil dieses Nachher
ihm
zukommt und
nicht dem Anderen. Folglich konsumiert er, so
wie er auch den Reichtum-um-der-Zerstörung-willen konsumiert, das
Andere, das in der Zeitordnung erst nach ihm kommt.
*
Wenn man die Frage der Übertragung – also des Übergangs des Lebens
oder des Glücks auf die Nachkommen in der Weise, dass sie
ihrerseits die Möglichkeit haben, als Vorfahren zu dienen – stellt,
so sieht man, dass sie nicht ohne Verzicht auf das eigene Glück
oder Leben erfolgt. In vielen Fällen wird der Verzicht durch eine
Rangerhöhung kompensiert; allerdings erfolgt diese Rangerhöhung
erst
post mortem. Für unseren mythischen Konsumenten kann
diese Kompensation nicht existieren, da sein Sein vor allem als ein
Sein-für-den-Konsum bestimmt ist. Mit anderen Worten: Vergangenheit
und Zukunft laufen in ihm zusammen. als
Alpha und
Omega des Universums. Das Produzieren (ein Vorher bzw. das
Alpha), das ein Produzieren um des Konsumierens, also des
Zerstörens willen ist, erstreckt sich direkt auf das
Omega,
das keineswegs einen Endpunkt darstellt, da eine Erfüllung
unvereinbar mit dem Sein-für-den-Konsum ist. Infolgedessen
existiert keinerlei Intervall zwischen einem Ausgangspunkt, der als
ein nicht abgeschlossenes aber versunkenes Vorher konzipiert wäre,
und einem unmöglichen Zielpunkt. Gibt es ein Intervall (wobei es
sich um eine Spannung im Hinblick auf eine Vollendung hin
handelte), so entfaltet sich in diesem Geschichte in allen ihren
Möglichkeiten. Was aber geschieht, wenn einbehalten wird, was
empfangen wurde, um weitergegeben zu werden?
Wenn der Konsument ein König ist (›Der Kunde ist König!‹), so lehrt
der Mythos, dass dieser König – eine paradoxe Figur, da er zugleich
Sohn (des Königs) und ohne Vater ist, weil er erst nach dem Tod
seines Vaters zum Herrscher wird – versucht sein könnte, das von
seinem Vorgänger (seinem Vater) Erhaltene für sich zu behalten.
Sofort fällt einem das Beispiel
Kronos ein, der die eigenen
Kinder vertilgte, um sie daran zu hindern, den eigenen Platz
einzunehmen. Andere Mythen erlauben es, das Bild zu
vervollständigen. Ich stelle einige Mythen vor, die aus dem
indoeuropäischen Gebiet stammen. Sie zeigen, was der König für sich
einbehalten wollen kann (vgl. G. Dumézil,
Entre les dieux et les
hommes: un roi, in:
Mythe et épopée II, Paris 1986, 4ème
éd., pp. 258-265).
*
Zunächst ist es das Leben. Dumézil berichtet von der Geschichte des
Königs Ani von Upsal Aun, der seinen erstgeborenen Sohn Odin
opferte, um dafür weitere sechzig Jahre des Lebens (und der
Herrschaft) zu erhalten, und nach dieser Frist alle zehn Jahre
einen weiteren Sohn – bis keiner mehr da ist – zur Erneuerung der
Frist. Ganz genauso kann der König, der bei Antritt seiner
Regentschaft der Welt die Jugend (das Versprechen der Zukunft)
bringt, die Jugend an sich reißen. König Yayati schlägt im ersten
Buch des
Mahabharata jedem seiner fünf Söhne vor, ihm ihre
Jugend zu überlassen. Nach 1000 Jahren werde sie ihnen
zurückgegeben. Vier der Söhne lehnen ab und bezeugen einer nach dem
anderen, in Wendungen, die unsere ultra-modernen
baby-boomer
nicht schlecht finden würden, ihren Schrecken vor dem Alter. Wenn,
wie Dumézil sagt, »der Tausch für den jungen Spender nicht den Tod,
aber doch einen Verlust bedeutet« (p. 265), so resultiert aus ihm
nicht weniger, als dass der Ursprung, also der Vater-König, sich
erhält oder auf Kosten eines anderen verjüngt. Es ist wichtig zu
bemerken, dass dieses Hamstern nicht auf Kosten von Fremden
geschieht, sondern auf Kosten jener Alterität, die vom König
selbst, auf die Zukunft gerichtet, herrührt: auf Kosten der
Nachkommen. Die hier beschriebene Versuchung besteht exakt darin,
sich nicht auslöschen zu wollen, auch auf die Gefahr hin, für sich
das zurückzubehalten, was in erster Linie eine Gabe für den anderen
ist, d.h. für die Nachkommenschaft. Der Ursprung bewältigt das, was
er für einen Seinsverlust hält, durch eine Anhäufung, von der der
Mythos sagt, dass sie unmöglich sei. Zugleich spiegelt, wie
unschwer aus der Geschichte des Königs Yayati zu entnehmen, die
Angst vor dem Verfall, die die Söhne zeigen, letztlich die Angst
des Königs selbst wider.
In beiden Fällen bereichert der König sein Leben – quantitativ
durch den Zugewinn an Lebensjahren oder qualitativ durch den
Rückgewinn der Jugend – auf Kosten der Nachkommen, wobei
Konsum aber metaphorisch zu verstehen ist. China bietet
indessen Beispiele, in denen der gegenseitige Tausch (Sohn-Vater)
sich auf einer ganz konkreten Ebene des Konsums abspielt.
Aufgenommen wird das Fleisch des Sohnes.
Das erste der beiden Beispiele, die ich auswählen möchte, ist
zugleich das älteste und betrifft den berühmten König Wen, einen
der großen Ahnen der Zhou-Dynastie, deren Taten durch einen seiner
Söhne, den König Wu, bis zur Einnahme der Shang reichen sollten.
Huang Fumi erzählt im
Diwang Shiji (édition des Sibu
Congshu, vol. 54, n. 23, 35 a-b), dass der König der Shang,
Zhouxin, um die Weisheit von Wen zu prüfen, einen seiner Söhne,
Boyi Kao, gekocht und dem Vater zur Speise vorgesetzt habe, der ihn
daraufhin aß. Er ist dann von Zhouxin befreit worden, während König
Shang nun von dem Verlust der Kraft von Wen überzeugt war. Das
zweite Beispiel ist die Geschichte eines Generals, der eine Stadt
belagerte. Der König dieser Stadt kochte den Sohn des Generals, der
sich als Gefangener in den Mauern seiner Stadt befand. Das Gericht
wurde dem General vorgesetzt, und er aß und besiegte die Stadt
(vgl. das Buch von Hanfeizi, einem Rechtsgelehrten des 3.
Jahrhunderts v. Chr., Kap.
shuolinshang). Man kann sagen,
dass der General die Stadt auf Kosten seines Sohnes erobert hat.
All das erinnert an einige Berichte der Bibel (besonders 1 Kön. 16,
34 und 2 Kön. 3, 26-27), in denen Städte wie die des Königs Moab
oder wie Jericho durch das Opfer des Königssohns geschützt bzw.
wiederaufgebaut worden sind. Der wesentliche Unterschied zwischen
diesen Berichten und dem des Hafeizi besteht darin, dass in der
Bibel die Zukunft der Stadt durch die unmittelbare Zerstörung der
Zukunft des Königs gesichert ist. Man kann das als den Versuch
interpretieren, sich selbst durch die gemeinsame Sache zu erhalten,
wenn man hinzufügt, dass diese Sache (die Stadt) nur insofern eine
gemeinsame ist, indem sie die Stadt des Königs ist.
Im Mythos oder/und in der antiken Geschichte sind Fälle dieser Art
zahlreich und zeigen immer dasselbe: das Opfer oder die Vertilgung
des Erben (der Zukunft) zugunsten dessen, der zum Erblass
verpflichtet ist. Sollte darin mehr zu sehen sein als eine bloße
Metapher für etwas, das einem zugleich fortgesetzten und
plötzlichen Konsum der Ressourcen entspricht, einem Konsum, der
keine Rücksicht auf ein Nachher, das für Vergreisung und Tod steht,
kennt?
*
Die Entwicklung der sogenannten Stammzellenforschung legt es nahe,
die Frage neu zu formulieren. Diese totipotenten Zellen können auf
dreierlei Weise gewonnen werden: 1) aus dem Fettgewebe des
erwachsenen Menschen; 2) aus der Nabelschnur; 3) aus dem Fötus, der
bei der Entnahme zerstört wird. Die Stammzellen werden als der
Schlüssel zur Erneuerung des Gewebes oder doch als eine mögliche
Spenderquelle für Organe betrachtet, sofern es gelingt, ihre
Entwicklung zu steuern. Die Tatsache, dass diese Zellen noch nicht
auf bestimmte Funktionen spezifiziert sind, macht sie mehr als
andere Gewebe (bspw. eines bereits ausgebildeten Individuums) dazu
tauglich, vom Organismus des Empfängers angenommen zu werden und
gleichsam die individuellen und spezifizierenden Merkmale dieses
Empfängers, der sie selbst nicht mehr entwickeln kann, zu erhalten.
Die totipotenten Zellen können als reine Potentialitäten, die der
Individuation harren, aufgefasst werden.
Die beiden ersten Quellen der Stammzellen stellen kaum ethische
Probleme, es handelt sich um Gewebe, die nicht direkt an einen
Organismus gebunden sind oder jedenfalls nicht von essentieller
Bedeutung für das Überleben des Organismus sind. Die ›Gabe‹ von
Stammzellen, die auf eine dieser beiden Weisen gewonnen werden,
können mit dem Spenden von Blut verglichen werden.
Dagegen setzt die dritte Quelle voraus, dass ein Prozess in Gang
gesetzt wird, dessen natürlicher Abschluss das ausgebildete und
existenzfähige Individuum ist, existenzfähig aus und für sich
selbst; genau dieser Prozess wird aber brutal unterbrochen, wenn
man die Potentialitäten der Stammzellen zugunsten eines bereits
fertigen Individuums nutzen will. Letztlich handelt es sich
durchaus um die Vernichtung des noch nicht geborenen Lebens durch
ein anderes Leben, d.h. um die gewaltsame Verletzung einer
zukunftsorientierten Potentialität durch eine Gegenwart, die sich
als beständig und unabänderlich dieselbe begreift. In diesem
Transfer, heißt das, findet man sowohl die Idee einer Vertilgung –
einer durch die Technik ermöglichten Vertilgung – des Jungen durch
den Älteren, als auch die Idee der Verletzung einer (jungen) Kraft
zugunsten einer nachlassenden Kraft.
Die mythischen Geschichten inszenieren diese Vertilgung und diese
Verletzung als beständige Versuchung des Menschen. Sie erzählen von
der Verweigerung der Zeit und interpretieren diese ausschließlich
als ein Verderben des Seins. In düsterster Weise stellen sie die
Generationenfolge als einen Krieg dar, der buchstäblich zum Tod
führt, in dem der Vorgänger in niemandem weiterlebt, außer in sich
selbst. Der alte König von Upsal Aun gelangt ans Ziel und
konsumiert buchstäblich seine Söhne bis ihr Leben ausgeschöpft ist,
aber sein Überleben – durchaus endlich – ist auf Kosten der Zukunft
erkauft.
*
Der mythische Konsument findet kein anderes Ende als in sich
selbst, erschöpft aber die materiellen Ressourcen, die in ein
Sein-für-die-Zerstörung verwandelt sind, und riskiert dabei
zugleich, dasselbe im Hinblick auf seine eigene Zukunft zu tun,
seine Nachkommenschaft auf unmittelbarste Weise zu kennen, indem er
nämlich sein eigenes Fleisch isst. Es befremdet, dass die Technik
dem Menschen eine reale Möglichkeit zu geben scheint, das zu tun,
wovon die Mythen sprechen. Wir müssen uns entscheiden, ob wir
unserem gegenwärtigen und erstarrten Sein alle Ressourcen einer
erst noch bevorstehenden Zukunft opfern wollen. Nach dem Tod seines
letzten Sohnes stirbt auch der alte König von Upsal Aun. Die
Vertilgung seiner eigenen Zukunft – einer Zukunft für seine
Nachkommen – hat ihn nicht gerettet. Auch die alternde westliche
Welt wird sich nicht retten können, indem sie die eigenen Kinder –
qua
mythischer Konsument und anderweitig – vernichtet.
Aus dem Französischen übertragen von Reinhard Düßel und Frank
Higasi