Peter Brandt
Über den Umgang mit einer Frage,
die eigentlich keine mehr ist
Es ist kein originelles
Bild und muss auch nicht immer stimmen, das von den Hardlinern
beider Seiten, die sich halb unbewusst, halb absichtlich
gegenseitig die Bälle zuspielen, um Dialog und Kompromiss im Ansatz
zu zerstören; aber gerade bei Konflikten zwischen Staaten und
Völkern (de facto: ihren sich berufen fühlenden Sprechern), ihren
Geschichtsbildern, Selbst- und Fremdwahrnehmungen passt es meist
recht gut, so auch bei den gegenwärtigen ›erinnerungs‹- bzw.
›geschichtspolitischen‹ Irritationen zwischen Deutschland und
Polen, sowie – innerhalb der Bundesrepublik – bei den
Auseinandersetzungen zwischen den Unterstützern und den Gegnern der
Vertriebenenverbände bzw. ihres gegenwärtigen Hauptprojekts. Vor
allem von der zweitgenannten Ebene soll hier die Rede sein.
Insbesondere von jüngeren Deutschen hört man oft die Meinung, mit
der literarischen und verstärkt auch politischen Hinwendung zu
Phänomenen wie dem Bombenkrieg gegen die Zivilbevölkerung und der
Flucht und Vertreibung aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße
sei erstmals das ›Tabu‹ der Opferrolle deutscher Menschen in dem
und um den Zweiten Weltkrieg gebrochen worden. Wer die ersten
beiden Nachkriegsjahrzehnte ganz oder teilweise bewusst erlebt hat,
kann über eine solche Einschätzung nur den Kopf schütteln.
Abgesehen davon, dass es eine regelrechte Tabuisierung nie gegeben
hat, für die wissenschaftliche Forschung ohnehin nicht, war das
Gedenken in der frühen Bundesrepublik, zur Zeit des Kalten Krieges,
deutlich stärker auf die deutschen Opfer gerichtet – die jüdischen
Deutschen, die weltanschaulich und politisch Verfolgten bzw.
Widerständler einschließend, aber, schon wegen der Quantität, vor
allem die Kriegsgefangenen und die Vertriebenen betreffend –,
während die mörderischen Begleiterscheinungen der
nationalsozialistischen Schreckensherrschaft im besetzten Europa,
falls überhaupt, eher allgemein thematisiert wurden. Die Dominanz
des einst von der NS-Propaganda geschürten, doch durch direkte oder
indirekte Erfahrungen mit der sowjetischen Siegermacht eher
bestärkten Antibolschewismus war erdrückend. Die Erinnerung an den
›anglo-amerikanischen Bombenterror‹, im Westen so weit wie möglich
entpolitisiert, versuchte sich ihrerseits die SED mit Hinweis auf
die Zerstörung Dresdens Mitte Februar 1945 zunutze zu machen. Der
Völkermord an den Juden wurde erst nach und nach von der deutschen
(und übrigens nicht allein von der deutschen) Öffentlichkeit in
ihrer ganzen Dimension wahrgenommen; nachdem der Eichmann-Prozess
in Jerusalem 1961/62 einen Beginn gemacht hatte, wurde der große
Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963-65 diesbezüglich zum
Durchbruch. Die Massenverbrechen Hitlerdeutschlands gegenüber
Polen, Russen und anderen Völkern gerieten mit der Neuen Ostpolitik
der Regierung Brandt/Scheel um 1970 langsam in das Bewusstsein
größerer Bevölkerungskreise und wurden spätestens mit der Rede des
damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 8. Mai 1985
nun auch vom überwiegenden Teil des Mitte-Rechts-Spektrums als
Selbstverpflichtung Deutschlands zu einem andauernden Bemühen um
Frieden und Versöhnung angenommen. Es ist nicht zu leugnen, dass im
Zuge dessen die Erinnerung der bundesdeutschen Gesellschaft an die
Leiden des eigenen Volkes zeitweise unangemessen weit
zurücktrat.
Man muss sich diese hier nur knapp skizzierte Entwicklung vor Augen
führen, um zu verstehen, warum derzeit links der Mitte die Furcht
wächst, das heute vorherrschende Narrativ, mit der Shoah im
Zentrum, solle verändert, die kritische Selbstbesinnung der
Deutschen in den vergangenen vierzig Jahren zurückgedreht werden.
Die Beschwörung der Gefahr eines ›Geschichtsrevisionismus‹ gewinnt
ihre Plausibilität aus einer ganzen Reihe paralleler Vorgänge und
Einzelereignisse der letzten Zeit, wobei, neben der
Vertreibungsproblematik, das nachhaltige Bestreben einiger
Zeithistoriker (wie etwa Hubertus Knabe), einer bestimmten Fraktion
der früheren DDR-Bürgerrechtsopposition (keineswegs
aller Vertreter derselben) und einiger Politiker der CDU/CSU
(etwa des brandenburgischen Innenministers Jörg Schönbohm) zu
registrieren ist, die Totalitarismustheorie in ihren krudesten
Formen wieder verbindlich zu machen und die Sozialdemokratie, links
davon stehende Gruppen ohnehin, als bundesdeutsche Schönredner und
Beschwichtiger, wenn nicht Helfershelfer der SED-Diktatur in der
Teilungsepoche innenpolitisch zu entlegitimieren. Auch wenn das
Eine, die Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg und den
Kriegsfolgen, nicht zwingend mit dem Anderen verknüpft ist, der
›kritischen Aufarbeitung‹ des Systems des ›real existierenden
Sozialismus‹ in der DDR und dessen vermeintlichen Nachwirkungen im
vereinten Deutschland – in der obsessiven Art und Weise, wie diese
Aufgabe in Angriff genommen wird, läuft das auf die Fortsetzung des
Kalten Krieges als Kulturkampf hinaus –, ergibt sich eine große
Nähe und partielle Verbindung beider geschichtspolitischer
Themenfelder über den parteipolitischen Hintergrund der Akteure.
Was, außer der Parteipolitik, könnte den Bund der Vertriebenen, der
unter heutigen Verhältnissen fast verzweifelt um mehr Verständnis
für seine Anliegen wirbt, dazu veranlasst haben, sich mit der
Forderung nach Rückgabe des Literatur-Nobelpreises ausgerechnet in
den Medienstreit um die Mitgliedschaft von Günter Grass in der
Waffen-SS einzumischen? Ähnlich abwegig die Gleichsetzung der (wenn
auch nominellen) NSDAP-Mitgliedschaft des verstorbenen
CDU-Bundeskanzlers der Jahre 1966-69, Kurt-Georg Kiesingers (Jg.
1904), mit der, ob eingezogen oder freiwillig gemeldet,
kurzzeitigen Militärzeit in der Waffen-SS von Grass (Jg. 1927)
durch den stellvertretenden Bundesbeauftragten für Kultur und
Medien, Hermann Schäfer, bei seinem umstrittenen Grußwort zum
Auftakt des Kulturfests in Weimar am 25. August 2006. Wer so
agiert, sollte sich über die reflexartige Abwehr der anderen Seite
nicht beschweren.
Aber ich darf mich darüber beklagen. Zunächst: es war seinerzeit
uneingeschränkt richtig, dass die Bundesrepublik Deutschland durch
den deutsch-polnischen Vertrag vom 7.12.1970 – und zwar in
der damals rechtlich allein möglichen Form – die Oder-Neiße-Grenze
anerkannte. Vielleicht wäre es Anfang oder Mitte der 50er Jahre bei
einer, sofern unter akzeptablen Umständen realisierbar – das ist
unter den Historikern umstritten –, Verständigung mit der
Sowjetunion über die Wiedervereinigung Deutschlands möglich
gewesen, Stettin und einen Streifen Hinterpommerns, Ostbrandenburgs
und Niederschlesiens für Deutschland zurück zu gewinnen. Spätestens
mit dem Scheitern der westdeutschen ›Politik der Stärke‹ am 13.
August 1961, dem Beginn des Berliner Mauerbaus, dürfte eine solche
von mir angenommene Möglichkeit obsolet gewesen sein. Die
westlichen Bündnispartner der Bundesrepublik und die übrigen
europäischen Nachbarstaaten gaben klar zu erkennen, dass eine
Revision der faktischen deutschen Ostgrenze für sie überhaupt nicht
in Frage käme und als ein Preis Deutschlands für Krieg und
Niederlage angesehen wurde, ganz abgesehen davon, dass die Polen
als Hauptbetroffene, Kommunisten, Nichtkommunisten und
Antikommunisten gleichermaßen, unter Aufrechterhaltung der Drohung
einer eventuellen Rückverschiebung ihrer Westgrenze nicht das
geringste Interesse an der Wiederherstellung der Einheit
Rumpfdeutschlands aufbringen konnten. In der Bundesrepublik setzte
sich diese Erkenntnis etwa seit Mitte der 60er Jahre schrittweise
durch; eine wichtige Rolle spielte dabei die Denkschrift der Kammer
für öffentliche Verantwortung der EKD vom 1. Oktober 1965: Die
Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu
seinen östlichen Nachbarn, worin auch die friedenspolitischen
und gesamteuropäischen Aspekte der deutsch-polnischen Verständigung
und Versöhnung zunehmend in die Debatte einbezogen wurden.
Die Denkschrift, deren Inhalt damals auch in der oppositionellen
SPD noch keineswegs mehrheitsfähig war – der Karlsruher Parteitag
von 1964 hatte unter Bildern von Kurt Schumacher und Erich
Ollenhauer sowie einer Deutschlandkarte in den Grenzen von 1937 mit
dem darauf bezogenen Motto ›Erbe und Auftrag!‹ getagt –, ordnete
die Vertreibung in historische Zusammenhänge ein, namentlich
bezüglich der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft mit
(einschließlich der polnischen Juden) 6 ½ Millionen Todesopfern,
und arbeitete die existenzielle Bedeutung der Oder-Neiße-Gebiete
für den polnischen Nachkriegsstaat und die, ihrerseits großenteils
vertriebenen, Neusiedler aus dem früheren Ostpolen heraus. Aus
heutiger Sicht ist mindestens ebenso bemerkenswert, mit welcher
Bedachtsamkeit und Differenziertheit sich die Denkschrift mit dem
Schicksal der insgesamt über 14 Millionen Ostflüchtlinge und
Vertriebenen (von denen über 2 Millionen bei und kurz nach
Kriegsende ums Leben gekommen waren) auseinandersetzte. Jenseits
der wirtschaftlich-sozialen Eingliederung sei die westdeutsche
Gesellschaft diesem Teil des Volkes »Vieles und Wesentliches«
schuldig geblieben. Die Formel der Denkschrift von der moralischen
wie völkerrechtlichen ›Schuldverflechtung‹ des deutschen und des
polnischen Volkes beschrieb, neben nüchternem Interessenkalkül,
dann auch die Motive der Bonner Vertrags- und Entspannungspolitik
nach 1969.
Kaum jemandem wäre damals in den Sinn gekommen, die Installation
der Oder-Neiße-Grenze einschließlich der Aussiedlung der meisten
Bewohner der früheren Ostgebiete nachträglich mit den Weihen einer
gerechten Strafe für das NS-Regime oder gar einer klugen
Friedensregelung zu versehen. Auf das monströse Unrecht der
deutschen Annexion Westpolens, der ergänzenden Einrichtung des
quasi kolonialen ›Generalgouvernements‹ und des Versuchs, Polen als
Nation auszulöschen, folgte die bis heute größte Massenaustreibung
der Geschichte und die in erster Linie polnische, in zweiter Linie
sowjetische Inbesitznahme eines Viertels des deutschen
Staatsgebiets von 1937. (Die Stellung der Sudetendeutschen und der
anderen deutschen Minderheiten in Mittel- und Osteuropa bleibe hier
außer Betracht.)
Was die aktuelle Diskussion über das vom Bund der Vertriebenen
geplante Informations- und Gedenkzentrum so unerquicklich macht,
ist das Ausmaß an Unkenntnis selbst über die (oder an bewusster
Ignorierung der) elementarsten historischen Gegebenheiten in den
deutsch-polnischen Beziehungen. Hinweise darauf gelten als
unzulässig, so derjenige, dass die rassenimperialistische
Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten nach dem Überfall auf
Polen nicht einer friedlichen Demokratie, sondern – inmitten einer
Epoche des Imperialismus, eines neuen Autoritarismus und der
Weltanschauungsdiktaturen – einer durchaus aggressiven,
chauvinistischen und antisemitisch eingefärbten, verschleierten
Militärdiktatur nachfolgte, die die nationalen Minderheiten Polens,
von den Juden abgesehen, vor allem Ukrainer, Weißrussen, Litauer
und Deutsche, unterdrückte und seit 1919 eine Million
Deutsche aus ihrer Heimat verdrängte – der 1939 aufgrund des
Hitler-Stalin-Pakts bzw. modifiziert 1945 aufgrund alliierter
Absprache an die Sowjetunion gefallene, 1919/20 in einem
Angriffskrieg eroberte Osten des polnischen Staates war
mehrheitlich von Ukrainern und Weißrussen bewohnt, weshalb die
Westverschiebung Polens 1945, entgegen einer häufigen Annahme,
nicht einfach eine Kompensation darstellte; dass es sich ferner bei
den nach dem Versailler Frieden (28.6.1919) und den daraufhin
vollzogenen Volksabstimmungen beim Deutschen Reich verbliebenen
ostdeutschen Gebieten nicht um ein irgendwie strittiges
Territorium, bewohnt von einer Mischbevölkerung, sondern nach
ethnisch-kulturellen Kriterien wie nach dem Selbstverständnis und
Willen der Betroffenen ganz überwiegend um schlichtweg deutsches
Land handelte; dass weiterhin die komplette Annexion der östlich
von Oder und Neiße gelegenen deutschen Gebiete (einschließlich der
Odermündung mit Stettin) im Frühjahr 1945 durch Polen und die UdSSR
nicht das Ergebnis eines interalliierten Strafgerichts über
Deutschland war, sondern aus – großenteils improvisierten –
machtpolitischen Schachzügen der Siegermächte, vor allem der
Sowjetunion, und der rivalisierenden exil- und innerpolnischen
Gruppierungen resultierte; dass nicht zuletzt die Flucht und die
Vertreibung der Deutschen ab 1945 keineswegs – wie es im Potsdamer
Abkommen hieß – »in ordnungsgemäßer und humaner Weise« erfolgten,
sondern von unbilligen Härten, ständigen Übergriffen und
zahlreichen Grausamkeiten begleitet waren – der junge Hitlergegner
Willy Brandt, ein sicherlich unverdächtiger Gewährsmann,
nannte auf dem Weg zum Nürnberger Kriegsverbrecherprozess in
einem Privatbrief, was er in Hannover exemplarisch über einen
Vertriebenentransport erfahren hatte, einen »Bericht aus der
Hölle«.
Kein Vertriebener oder Vertriebenen-Nachkomme, der noch bei Trost
ist, wird heutzutage die auch nur partielle Wiedergewinnung und
deutsche Wiederbesiedelung der im Gefolge (aber eben nicht in
zwingender Folge) des Nationalsozialismus und des Krieges
verlorenen früheren Ostgebiete ins Auge fassen. Doch gerade weil
das so ist, dürfen die Vertriebenen auch nach 60 Jahren mehr
Mitgefühl ihrer Landsleute erwarten, als ihnen namentlich von den
70er bis 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zuteil geworden
ist. Und dem deutschen Staat, dem deutschen Volk muss es angesichts
der unzweideutigen Rechtsgültigkeit und breiten Akzeptanz der
Ostgrenze erlaubt sein, die Erinnerung an die frühere Geschichte
Ostpreußens, Hinterpommerns, der Neumark und Schlesiens, ja: auch
Danzigs und anderer Orte, die bereits 1919 verloren gegangen waren,
zu pflegen, ohne in den Verdacht des Revanchismus zu geraten. Wir
können aus dem Königsberger Immanuel Kant, vielleicht unserem
größten Philosophen, keinen Kaliningrader machen, aus dem Begründer
der organisierten Arbeiterbewegung in Deutschland, dem in Breslau
geborenen Ferdinand Lasalle keinen polnischen Wroszlawer, um von
zahllosen Beispielen der historisch-kulturellen Zugehörigkeit der
frühen preußischen Ostprovinzen zur deutschen Gesamtnation nur zwei
zu nennen. Verrenkungen in der Art rückwirkender Anwendung
russischer oder polnischer Bezeichnungen, die man ohne jede Ironie
immer häufiger in der Publizistik finden kann, sind ein Zeichen für
den Verlust jeden nationalgeschichtlichen Bewusstseins,
einschließlich seiner selbstkritischen Dimension bei Teilen der
mittleren und jüngeren Generationen.
Die Tragik des Vertriebenen-Schicksals setzte sich ab 1945 nach der
Ankunft der Ausgesiedelten in den Westzonen bzw. der Bundesrepublik
fort: Wie die Dinge lagen, hätten sich die Ziele der
Heimatvertriebenen – friedliche Revision der provisorischen
Grenzziehung und des Bevölkerungstransfers – allenfalls bei einer
Totalkapitulation des sowjetisch geführten Ostblocks verwirklichen
lassen. Deshalb klammerten sich diese, nach einer Übergangsperiode,
in der sie großenteils eher der Schumacherschen SPD zuneigten,
mehrheitlich an die Verheißungen der CDU-geführten
Adenauer-Regierung in Bonn, die UdSSR im Bündnis mit dem Westen und
insbesondere mit der Weltmacht USA aus Ost-Mitteleuropa verdrängen
und somit, nach der ›Befreiung der Sowjetzone‹, die politischen und
territorialen Verhältnisse im Osten völlig neu ordnen zu können.
Die Suche nach einem Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands, der
für die Sowjetunion hinnehmbar gewesen wäre, wie er die
sozialdemokratische Politik in den 50er Jahren auszeichnete, konnte
höchstens Korrekturen der Oder-Neiße-Linie, aber keine Revision in
großem Stil beinhalten, auch wenn die SPD-Führung dieser Konsequenz
bis in die zweite Hälfte der 60er Jahre widerstrebte und gegenüber
den Landsmannschaften zunehmend lavierte, deren Vorständen auch
etliche Sozialdemokraten angehörten. Inwieweit der Realist Adenauer
und seine Leute an das Konzept ›Wiedervereinigung durch Verhandeln
aus einer Position der Stärke‹ selbst glaubten, ist schwer
auszumachen. Unbestreitbar sind der Adenauersche Primat der
Westbindung und die Funktion seines nach Osten gerichteten
Befreiungsantikommunismus als deren psychologische Absicherung
gegenüber den Heimatvertriebenen und dem deutschnationalen Flügel
des bürgerlichen Lagers.
Um es zu wiederholen: es gab in den 60er Jahren m. E. keinen
anderen Weg als die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Diese
Einschätzung ändert aber nichts daran, dass die Vertriebenen
doppelt Opfer wurden: Nach den Leiderfahrungen des Kriegsendes und
der frühen Nachkriegszeit wurden sie zur umworbenen Klientel in der
bundesdeutschen Innenpolitik und ab Mitte der 60er Jahre –
unvermeidlicherweise – erst von der einen und dann, seit 1982,
gipfelnd in der definitiven Grenzanerkennung von 1990, von der
anderen Seite fallen gelassen, als die Gefahr jeweils reduziert
schien, eine neue Flüchtlingspartei nach Art des BHE der 50er Jahre
oder ein massives Überlaufen zur extremen Rechten zu provozieren.
Wie bescheiden, fast Mitleid erregend bescheiden, ist, bei diesem
Licht betrachtet, die aktuelle Forderung des Bundes der
Vertriebenen, in Berlin ein Zentrum gegen Vertreibungen zu
errichten.
Gewiss: es gibt gute Gründe, eine internationale, insbesondere
europäische Einbettung des Vorhabens anzustreben (wie sie übrigens
die Ausstellung im Berliner Kronprinzenpalais Erzwungene
Wege ansatzweise durchaus eingelöst hat). Ich vermag nicht
einzusehen, warum es, von der Sache her und gegen alle
wechselseitigen Unterstellungen, nicht möglich sein sollte, die
Initiative von Erika Steinbach an ein größeres europäisches
Netzwerk anzubinden. Zumindest sollte man sich gezielt darum
bemühen. Dass das in Polen nicht gewünscht wird, können wir nicht
ignorieren; es darf aber nicht ausreichen, auf die weit
verbreiteten Aversionen der polnischen Öffentlichkeit zu verweisen.
Die klerikal-nationalistischen Politiker, die derzeit in Warschau
das Sagen haben, werden dort nicht ewig regieren. Ein europäisches
Netzwerk zur Vertreibungsproblematik, was immer konkret daraus
entstehen mag, ohne Beteiligung der wohl wichtigsten und größten
Opfer-Organisation wäre jedenfalls abwegig, so abwegig wie die
kollektive Zuordnung der Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts, die
nach wie vor die sachliche Auseinandersetzung mit der
Zeitgeschichte vergiftet und die wechselseitige Perzeption der
europäischen Nationen in vielfach grotesker Weise verzerrt.