Jörg Büsching
Familie oder Ich-AG?
Demographisches Problem und
wirtschaftswissenschaftlicher Reduktionismus
Themen und Tabus der
öffentlichen Diskussion
Das Problem der demographischen Entwicklung Deutschlands ist seit
langem bekannt. Nun, da die Generation der sogenannten ›Baby
Boomer‹ das vierte Lebensjahrzehnt erreicht hat und zumindest in
den Schlüsselstellungen der Medien die lange Zeit dominierenden
›68er‹ abzulösen beginnt, steht das Thema ›Alterung der
Gesellschaft‹ plötzlich ganz oben auf der Tagesordnung. Als
besonders publizitätsträchtig haben sich hierbei die Bücher und
Artikel des Herausgebers der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung, Frank Schirrmacher, erwiesen, wenngleich sie eher
sekundäre Phänomene wie den Jugendwahn in der deutschen Wirtschaft
und Gesellschaft (2004) oder die ›Auflösung der Familie‹ (2006)
thematisieren und durch dramatisierende Darstellungen versuchen,
die Konsequenzen der Entwicklung für den Einzelnen fassbar zu
machen. Dahinter steht ein konservativ-liberales Weltbild, das naiv
auf emotionale Appelle an hergebrachte ›Werte‹ setzt, um
individuelle Bewusstseinsprozesse in Gang zu bringen, von denen
letztlich eine Besserung der Lage erhofft wird. Solche medialen
Strategien können aber schon deshalb nicht greifen, weil sie auf
ein weit verbreitetes Ohnmachtsgefühl angesichts weltumspannender
Prozesse treffen, die heute direkter und stärker als je zuvor die
individuelle Lebensgestaltung der Menschen zu beeinflussen
vermögen. Wenn diese aber selbst von Regierenden und Konzernlenkern
bloß noch als ›Sachzwänge‹ wahrgenommen werden, an die man sich
flexibel anzupassen habe, woher soll dann wohl die Zuversicht bei
den Bürgern erwachsen, sich auf ein Lebensprojekt einzulassen, das
für zwanzig Jahre oder mehr einen wesentlichen Teil ihrer
wirtschaftlichen und persönlichen Kräfte bindet?
Immerhin: dass ein gesellschaftliches Problem, dessen
Auswirkungen sich letztlich niemand entziehen kann, auf solch
breiter Basis öffentlich diskutiert wird, ist begrüßenswert (wenn
auch an sich noch kein Verdienst). Leider muss aber festgestellt
werden, dass das Niveau der Diskussion der Tragweite und
Komplexität des Themas keineswegs angemessen ist. So reicht das
Spektrum der Meinungsäußerungen von sensationslüsternem Alarmismus
über zynische Schuldzuweisungen und altbackene Ratschläge bis hin
zu (gruppen-)egoistischer Larmoyanz (vgl. die Titelgeschichte des
Nachrichtenmagazins Der Spiegel, Nr. 2/05.01.2004, Der
letzte Deutsche. Auf dem Weg zur Greisenrepublik, in der
entsprechende Stellungnahmen von Politikern, Journalisten und
Wissenschaftlern zitiert werden). Auf politischer Ebene hat der
sich anbahnende Zusammenbruch des Sozialstaats Adenauerscher
Prägung zu einem ebenso hektischen wie (bislang) fruchtlosen
Aktionismus geführt. Hier wird das Problem im Wesentlichen in drei
Bereiche unterteilt, die, je nach den politischen
Einflussmöglichkeiten, sehr unterschiedlich gewichtet werden:
1. Die Finanzierung der Sozialversicherungen. Da sich in absehbarer
Zeit das Verhältnis von Erwerbspersonen zu Ruheständlern sehr zu
Ungunsten der ersteren verschieben wird, steht das System der
umlagefinanzierten Rentenversicherung vor dem Kollaps; auch die
anderen solidarischen Versicherungssysteme werden, zusätzlich zu
den strukturellen Defiziten, die ihre Substanz heute schon
auszehren (›Kostenexplosion im Gesundheitswesen‹), durch diesen
Effekt weiter geschwächt werden. – Die Zahl der diskutierten
Rezepte zur Beilegung der Krise ist zwar recht ansehnlich, doch
entscheidende Reformschritte scheitern meistens am politischen
Opportunismus der beteiligten Akteure.
2. Die Umverteilung von Einkommen zugunsten von Personen, die
Kinder erziehen, sowie der Ausbau von öffentlichen Institutionen,
die zu einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie
beitragen. – Angesichts leerer öffentlicher Kassen und eines
ungebrochenen Einflusses neoliberaler Ideen beschränkt sich, von
einzelnen Anstrengungen abgesehen, die Aktivität der
Verantwortlichen in diesem Bereich vor allem auf Lippenbekenntnisse
und Maßnahmen, die nichts kosten.
3. Eine Zuwanderungspolitik, die dem zu erwartenden Rückgang der
Bevölkerung entgegenwirkt und gleichzeitig für Nachwuchs an
hochqualifizierten Arbeitskräften sorgt. – Hier sind bereits von
der letzten Regierung Initiativen ergriffen worden (Änderung des
Einbürgerungsrechts und die sogenannte ›Greencard‹), die allerdings
kaum sichtbare Erfolge gezeitigt haben. Unterdessen gewinnt die
Zuwanderungsproblematik unter dem Stichwort ›Integration‹ in
jüngster Zeit neue Brisanz.
Wiewohl alle hier skizzierten Gesichtspunkte des demographischen
Problems direkt oder indirekt mit der wirtschaftlichen Entwicklung
des Landes zusammenhängen, werden beide Felder, was die Frage nach
den Ursachen angeht, als unabhängig voneinander betrachtet.
Allenfalls wird konzediert, dass die Politik ›Rahmenbedingungen‹
für ein ausreichendes Wirtschaftswachstum schaffen müsse (d. h. im
Wesentlichen ein für Unternehmen günstiges ›Investitionsklima‹,
sprich: steuerliche Nachlässe, den Abbau von bürokratischen und
arbeitsrechtlichen ›Hindernissen‹ sowie die Bereitstellung von
Infrastruktur), um auch in Zukunft in der Lage zu sein, einen –
wenngleich abgemagerten – Sozialstaat finanzieren zu können. Auf
welches Niveau sozialen Ausgleichs sich die Deutschen künftig
einzustellen haben werden (das spanische, das polnische oder gar
das russische?) ist heute weniger denn je absehbar. So kann es auch
kaum wundernehmen, dass das Vertrauen der Menschen in die
Gestaltungsfähigkeit der Politik ständig sinkt. In den Jahrzehnten
nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der gesellschaftliche Fortschritt
an der Tatsache gemessen, dass es jeder Generation besser ging als
der vorhergehenden. Hiervon hängt letztlich auch die Akzeptanz der
demokratischen Institutionen ab, wie die letzten Jahre der Weimarer
Republik zur Genüge bewiesen haben. Auch wenn nicht zu befürchten
steht, dass die Geschichte sich wiederholt, sollte niemand sich der
Illusion hingeben, dass die beispiellose Entwicklung
Nachkriegseuropas hin zu Frieden, Demokratie und Prosperität eine
Selbstverständlichkeit sei und sich womöglich mit den bekannten
Rezepten im globalen Maßstab wiederholen lasse. Genau dies
entspricht aber der Doktrin der Verfechter eines globalen
Freihandels, die, nach dem Niedergang der Sowjetunion und der
Selbstauflösung des Ostblocks vor allem von US-amerikanischen
Wirtschaftswissenschaftlern der neoklassischen Schule und den von
ihnen beratenen konservativen Politikern als alleinseligmachendes
Prinzip der sogenannten ›neuen Weltordnung‹ gepriesen, trotz
zahlreicher Krisen, die auf das Konto völlig deregulierter
Finanzmärkte gingen, auch von einflussreichen europäischen
Wissenschaftlern und Publizisten kritiklos übernommen wurde, so
dass sie selbst für linke Politiker mittlerweile zum Maßstab
›modernen‹ Handelns geworden ist. Der Verdacht ist nicht von der
Hand zu weisen, dass ein reduktionistisches Denkschema die
Wahrnehmung der Tatsachen behindert und Handlungsperspektiven so
einschränkt, dass von einer politischen Gestaltung des
gesellschaftlichen Miteinanders im Sinne einer gelebten Demokratie
schwerlich noch die Rede sein kann.
Der wirtschaftswissenschaftliche Reduktionismus
In seiner Einführung in die Volkswirtschaftslehre schreibt
der Ökonom Erich Preiser Ende der fünfziger Jahre des 20.
Jahrhunderts: »Die Vermehrung der Menschen ist für uns kein
wirtschaftlicher Vorgang, wir betrachten sie als ein
außerwirtschaftliches Datum […]« (1990, S. 53). Er begegnet damit
einem Argument der klassischen Nationalökonomie, und zwar der
sogenannten ›Arbeitswertlehre‹. Nachdem Adam Smith 1776 die Arbeit
als den entscheidenden Faktor bei der Hervorbringung von Mehrwert
gekennzeichnet hatte, versuchte David Ricardo 1817 die Frage zu
beantworten, wie hoch der angemessene Lohn zu sein habe und
gelangte zu der Antwort, dass dieser die Kosten für die
Arbeitsleistung widerspiegele, mithin gerade das Subsistenzniveau
halten müsse. Bekanntermaßen entfaltete Karl Marx seine
Kapitalismuskritik vor allem an dieser Antwort. Die
Arbeitswertlehre wurde später von den Wirtschaftswissenschaften
fallengelassen; die Fragestellung, welches der angemessene Lohn für
eine Arbeit ist und wie er sich auf dem Markt bildet, ist bis heute
eines ihrer wichtigsten Themen.
Sprechend im Sinne der hier zu behandelnden Problematik ist vor
allem die unterschiedliche Gewichtung der, wie wir heute sagen
würden, familienpolitischen Überlegungen. Während Preiser die
Nachwuchsplanung, ganz im Sinne der bundesdeutschen
Nachkriegsgesellschaft, als Privatsache betrachtet, war es für die
Ökonomen des frühen 19. Jahrhunderts noch ganz selbstverständlich,
sich Gedanken über die wirtschaftlichen Konsequenzen der Vermehrung
der ›unteren Klassen‹ zu machen. Dabei ging Thomas Robert Malthus
noch weiter als sein Kollege Ricardo: Mit seinem Essay on the
Principles of Population (1798) avancierte er zum Propheten der
Bevölkerungsexplosion lange bevor diese tatsächlich einsetzte; er
gab damit seinen sozialdarwinistischen Nachfolgern im späten 19.
Jahrhundert einige ziemlich drastische Überlegungen ein, wie mit
der Vermehrungswut der Armen fertigzuwerden sei (Vgl. Galbraith
1988, S. 148 ff).
Dass Preiser das Thema als »außerwirtschaftliches Datum«
bezeichnet, mag auch mit den Erfahrungen der Naziherrschaft
zusammenhängen. Es spiegelt aber vor allem den Umstand wider, dass
in den hochentwickelten Industriegesellschaften nicht mehr die
Frage der Subsistenz der Arbeitnehmer den Ausschlag gibt, sondern
deren Nachfrage nach Sachgütern über den dringenden täglichen
Bedarf hinaus die Industrieproduktion derart beflügelt hat, dass
die meisten Löhne und Gehälter deutlich über dem Existenzminimum
liegen. Zudem sorgt in den demokratischen Staaten des Westens ein
mehr oder weniger dichtes Netz sozialer Leistungen dafür,
existenzgefährdende Härten bei den abhängig Beschäftigten zu
vermeiden. In den Jahrzehnten des Kalten Krieges wurden die
sozialen Errungenschaften, wie gesagt, als Zeichen
gesellschaftlichen Fortschritts betrachtet. Sie trugen nicht
unwesentlich zur Stabilisierung der kapitalistischen Wirtschafts-
und Gesellschaftsordnung bei.
Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme scheint dieses
Thema nicht mehr aktuell zu sein: Die Stabilität der Demokratien
nach westlichem Muster wird für selbstverständlich gehalten, seit
die Länder des ehemaligen Ostblocks sich ebenfalls für diese
Gesellschaftsordnung entschieden haben. Dementsprechend werden die
volkswirtschaftlichen Überlegungen seit Ende des 20. Jahrhunderts
von der sogenannten neoklassischen Schule dominiert. Dies
beinhaltet vor allem einen Reduktionismus in den Fragestellungen,
wie Paul A. Samuelson und William D. Nordhaus in ihrem Standardwerk
Volkswirtschaftslehre betonen: »Der klassische
makroökonomische Ansatz ist deshalb so attraktiv, weil er sich gut
mit einem Großteil der mikroökonomischen Theorien über Angebot und
Nachfrage verträgt.« (S. 705.) Ganz ähnlich, wenn auch im Ton
deutlich kritischer urteilt John Kenneth Galbraith über diesen
Paradigmenwechsel:
»Was die Wirtschaftstheorie außerdem an die Vergangenheit und das
klassische Modell bindet, ist die technische Wirklichkeitsflucht,
wie man es nennen könnte. Die zentrale Annahme der klassischen
Nationalökonomie – ein Markt mit vollkommenem Wettbewerb von den
Produktionspreisen bis zu den Preisen der Produktionsfaktoren –
läßt sich vorzüglich technisch und mathematisch immer ausgefeilter
darstellen. Diese Verfeinerungen werden aber nicht daraufhin
geprüft, wie weit sie die wirkliche Welt abbilden, sondern auf ihre
innere Logik und die theoretische und mathematische Stringenz, die
sich in Analyse und Darstellung zeigt.« (S. 340)
Die wirkliche Welt von heute, das ist die Welt des grenzenlosen
Freihandels und der global vernetzten Computersysteme. Nach der
orthodoxen Wirtschaftstheorie sollte der freie Markt allen
Teilnehmern Vorteile bringen. Jeder bietet das an, was er am besten
und kostengünstigsten produzieren kann; über den Marktpreis stellt
sich ein Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage her. Schon ein
flüchtiger Blick auf die volkswirtschaftlichen Basisdaten indes
zeigt ein ganz anderes Bild: Während Deutschland gleichzeitig
rekordverdächtige Handelsbilanzüberschüsse und Arbeitslosenzahlen
produziert, leistet sich die stärkste Volkswirtschaft der Erde, die
der USA, seit Jahrzehnten gewaltige Handelsbilanzdefizite, die
unter republikanischen Präsidenten regelmäßig mit ebenfalls
exorbitanten Budgetdefiziten einhergehen; zwar ist die
Arbeitslosenquote gering, doch eine wachsende Zahl von Menschen
arbeitet in schlecht bezahlten, unproduktiven Jobs im
Dientleistungsbereich, während Industriearbeitsplätze in
Billiglohnländer verlagert werden. Es ist offensichtlich, dass die
modernen volkswirtschaftlichen Theorien weder schlüssige
Erklärungen dieser Entwicklung noch Lösungsvorschläge für die
entstandenen gesellschaftlichen Probleme anzubieten haben.
Nichtsdestotrotz greift der ökonomistische Reduktionismus auf immer
weitere Bereiche der Gesellschaft über. Das marktwirtschaftliche
Kalkül gilt als Inbegriff rationalen Handelns und die berufliche
Karriere als bevorzugte Quelle gesellschaftlicher Anerkennung.
Und das demographische Problem? Nun, warum sollte ein Individuum,
das für sich allein im Markt schwimmt wie ein Fisch im großen
blauen Ozean, einen nicht unbeträchtlichen Teil seines Produktions-
und Konsumtionspotentials für die Hervorbringung und Aufzucht eines
anderen Individuums abzweigen? Die Antworten der Politik vermochten
bislang nicht zu überzeugen; ihre Maßnahmen verschlingen Unsummen,
ohne dass eine Trendwende sich auch nur andeuten würde. Der Nutzen
komplizierter, bürokratisch aufwendiger Umverteilungsarithmetiken
liegt, so darf vermutet werden, eher darin, das eigene Machtgefühl
zu steigern und vor Wahlen die Unzufriedenheit dieser oder jener
sozialen Gruppe zu besänftigen.
Die Art und Weise, wie die demographischen und
wirtschaftspolitischen Debatten seit mehr als zwanzig Jahren in
Deutschland geführt werden, lassen sich leicht als spezifisch
deutsche Ausprägung dessen identifizieren, was der französische
Historiker und Forschungsdirektor des Institut national d’études
démographiques (INED) Emmanuel Todd als »Nulldenken« der
jeweiligen Machteliten der westlichen Industrienationen (1999, S.
223-253) bezeichnet hat. Es ignoriert beharrlich die
ökonomische und politische Realität und klammert sich stattdessen
an wenige Gemeinplätze ökonomischer und sozialer Theorie, deren
Geltung verabsolutiert werden. An erster Stelle steht die
»Vergötterung des Geldes« (S. 225). Dem Geld wird die alleinige
Macht zugesprochen, die wirtschaftliche Entwicklung zu steuern.
Gleichzeitig ist es der maßgebliche Indikator für Erfolg oder
Misserfolg wirtschaftspolitischer Entscheidungen und
Managementstrategien. Bleibt die Inflation niedrig und steigt der
Aktienindex, so die gängige Meinung, dann geht es der Wirtschaft –
und damit auch der Gesellschaft insgesamt – gut. Der Vorteil dieser
schlichten Denkweise ist, dass sie sich im globalen Maßstab
anwenden lässt. Verborgen bleibt dabei jedoch, dass die Welt der
Nikkei-, Dow-Jones- oder DAX-Werte kaum noch die ökonomische
Realität der Länder widerspiegelt, in denen sie erhoben werden. Die
Kapitalmärkte haben sich längst in den virtuellen Raum global
vernetzter Banken und Börsen verabschiedet und verlassen sich
völlig auf die obskuren Fähigkeiten sogenannter ›Analysten‹, die,
gefüttert mit den Quartalszahlen der großen Konzerne, vorgeben, sie
könnten die zukünftige Entwicklung prophezeien. Galbraith hat
diesen Glauben immer wieder kritisiert (vgl. 1988, S. 314 f.; 2004,
S. 75 – 79).
Auf gesellschaftspolitischer Ebene, so führt Todd aus, sei das
Nulldenken gekennzeichnet durch eine merkwürdige Form von Toleranz,
die einhergehe mit der Leugnung der Nation als sozialer und
politischer Entität. (›Nation‹ ist hier im französischen Sinne zu
verstehen als Staatsvolk, das eine Sprache spricht und sich eine
Regierung wählt, nicht im hergebrachten deutschen Sinn als
›Volksgemeinschaft‹ von bestimmter Herkunft.) Die von den
Herrschenden geübte Toleranz gehe über kulturelle Differenzen
leichtfertig hinweg, d. h. sie akzeptiere insbesondere die
Machteliten anderer Kulturen als Ihresgleichen und ignoriere die
daraus resultierenden Widersprüche, während andererseits die
Unterprivilegierten der eigenen Nation in beinahe
sozialdarwinistischer Manier als Ungleiche betrachtet und behandelt
würden. Das Nulldenken verweigere sich jeder
gesellschaftspolitischen Vision und betrachte den Status quo
gleichsam als naturgegeben.
Todd erweitert die theoretischen Grundlagen der Nationalökonomie
durch einen Forschungsansatz, welcher sowohl die strukturelle
Ungleichheit der globalen Wirtschaft als auch die »Stagnation der
entwickelten Gesellschaften« (wie es im Untertitel heißt) erklärt.
Im Gegensatz zu so manchem wirtschaftswissenschaftlichen Experten
ist er sich bewusst, dass auch sein Modell ›reduktionistisch‹ (S.
34) ist, aber indem er den abstrakten Größen, mit denen die
Ökonomie arbeitet, eine anthropologische Basis gibt, holt er die
heute freischwebenden Bezugsgrößen Individuum, Markt, Wert usw. auf
den Boden der (menschlichen) Tatsachen zurück: Er stellt das Modell
vom Kopf auf die Füße – und die sind weit mehr, als die meisten von
uns wahrhaben wollen, kulturell geprägt.
Die anthropologischen Grundlagen des Wirtschaftens
Warum wirtschaften wir? Jedes Lehrbuch der Ökonomie beantwortet
diese Frage schon auf den ersten Seiten: Weil die Ressourcen knapp
sind. Das war so seit Anbeginn der Menschheit, und es galt überall
auf der Welt. Der Boden liefert nicht genug Ertrag, also muss er
bearbeitet werden, die Wildnis bietet kein Obdach, also muss eine
Behausung gebaut werden, die Kräfte des Menschen sind begrenzt,
also müssen sie durch Werkzeuge verstärkt werden. Und weil die
Produkte ausgetauscht werden, so dass alle einen Vorteil davon
haben, muss, bildlich gesprochen, das Rad nicht jedesmal neu
erfunden werden. Der heutige Stand der Zivilisation wäre schlicht
undenkbar ohne diese frühen Kulturleistungen. Kein einzelnes
Individuum hat sie vollbracht, sondern Gruppen, Familien,
Stammesverbände. Mindestens ebenso wichtig wie die Innovation sind
die Überlieferung des Wissens und die gesellschaftliche
Organisation. Ein Mensch, der schon im Kindheitsalter zur Arbeit
herangezogen wird, weil er sonst nur als unnützer Esser gilt, hat
keine Chance zu lernen und sich und seine Gesellschaft
weiterzuentwickeln. Diese einfache Lektion war bereits zu Beginn
der industriellen Revolution in Vergessenheit geraten und trug
nicht unwesentlich zur Diskreditierung der kapitalistischen
Wirtschaftsweise bei.
Anthropologische Basis der Gesellschaft ist die Familie. Todds
Erklärungsmodell setzt bei der (an sich nicht neuen, für so manchen
überzeugten Neoliberalen aber vielleicht doch überraschenden)
Erkenntnis an, dass deren Funktion »sich nicht auf die biologische
Reproduktion [beschränkt].« (S. 21.) Sie organisierte auf jeder
Ebene die Kontinuität des menschlichen Lebens lange bevor es
Institutionen gab, die die dafür notwendigen Praktiken und
Prozeduren formalisierten und rationalisierten. Ihre überlieferten
Regeln bilden nach Todds Auffassung das »anthropologische
Unbewusste« (ebd.) Auch in den entwickelten Gesellschaften haben
sie ihre Funktion behalten:
»Das unterschwellige Wirken familialer Werte und Formen prägt heute
nicht nur den Erziehungsbereich. Auch das Wirtschaftsleben selbst
wird stark durch diese anthropologischen Systeme geformt und
reguliert. Sie sind der unsichtbare und unbewusste Rahmen, in dem
sich rational und berechnend der Homo oeconomicus bewegt.«
(Ebd.)
Todd unterscheidet die Familientypen nach den Heirats- und
Erbregeln, d. h. danach, wie sich das Verhältnis der Kinder zu
ihren Eltern und untereinander gestaltet und ob Ehen unter
Verwandten geduldet werden oder nicht. Alle diese Regeln sind
ökonomisch relevant, ihr Sinn besteht in der Verteilung der knappen
Ressourcen. Die Differenzierung der Familienstrukturen erfolgt nach
dem Grad der Individualisierung der Mitglieder. Danach lassen sich
in den modernen Industrienationen zwei grundlegende Typen
kennzeichnen, die die Pole einer abgestuften Skala bilden: der
angelsächsische Typ der »absoluten Kernfamilie« (S. 35), bei der
die Kinder so früh wie möglich das Elternhaus verlassen müssen, und
der in Deutschland, Schweden, Japan und Südkorea
vorherrschende Typ der »Stammfamilie« (S. 37) bei dem die
Generationen stärker in den Familienverband integiert sind und die
elterliche Autorität länger fortbesteht. (Die Stammfamilie ist
nicht der absolut entgegengesetzte Pol, noch stärker integrativ
wirkt die vor allem in arabischen Ländern vorherrschende »exogame
kommunitarische Familie« , aber von diesen gehört keines zu den
entwickelten Industrienationen. Vgl. S. 41.) Diese Familientypen,
so Todds Erkenntnis, prägen nicht nur das unmittelbare Lebensumfeld
der Menschen, vielmehr handelt es sich um »zwei sozioökonomische
Regulierungsmodelle und zwei Kapitalismen, die sich asymmetrisch
gegenüberstehen und den Globalisierungsprozess zu einem guten Teil
erklären« (S. 23). Die Kernfamilie dringt auf rasche
Selbständigkeit der Kinder und fördert demgemäß die Ausbildung nur
schwach. Volkswirtschaftlich sind Gesellschaften, in denen dieser
Typ vorherrscht, durch hohe berufliche und geografische Mobilität,
das Streben nach raschem Profit und eine Betonung des Konsums
gekennzeichnet. Im Gegensatz dazu unterstützt die autoritäre
Stammfamilie lange Ausbildungszeiten und richtet ihre ökonomischen
Bestrebungen eher darauf aus, stabile Erträge zu erwirtschaften,
die den Besitz der Familie mehren. Im Hinblick auf die
globalisierte Wirtschaft sind Gesellschaften, in denen der
Stammfamilientyp vorherrscht, an einer positiven Handelsbilanz
interessiert. Deshalb sind die exportorientierten Industrien
Deutschlands, Japans und Südkoreas diejenigen Kräfte, welche die
Globalisierung (zumindest auf dem Gebiet der Produktion von
Sachgütern) vorantreiben. Erkauft wird diese Ausrichtung allerdings
mit Fruchtbarkeitsraten, die mittlerweile die zur langfristigen
Erhaltung der Gesellschaften notwendige Quote unterschritten haben:
Für Deutschland und Japan liegt sie zur Zeit bei etwa 1,3 Kindern
pro gebärfähiger Frau, für Südkorea sogar nur bei 1,2 (Quelle:
OECD.) Ein Nebeneffekt der langen Ausbildungszeiten und niedrigen
Fruchtbarkeitsraten ist, dass die Binnenkonjunktur unter einer
strukturellen Nachfrageschwäche leidet. Deshalb sind mittlerweile
aus den Antreibern Getriebene geworden: Die hochproduktiven
Volkswirtschaften von Deutschland, Japan und Südkorea sind abhängig
vom Export, weil sie ohne die dadurch realisierten Wachstumsraten
auch nicht annähernd genügend Ausbildungs- und Arbeitsplätze
bereitstellen können. Langfristig dürfte der Nachwuchsmangel an
qualifizierten Fachkräften zu einer erheblichen Schwächung der
Wirtschaftskraft führen, was sich wiederum negativ auf die
Arbeitsplätze auswirkt usw. Es handelt sich um einen Teufelskreis,
der von Todd auf die asymmetrische Struktur der globalisierten
Wirtschaft zurückgeführt wird und der nach seiner Prognose
letztlich auf eine Stagnation aller daran beteiligten
Volkswirtschaften hinausläuft, denn auch die Länder des
Kernfamilientyps mit ihren höheren Fruchtbarkeitsraten,
insbesondere die USA (2 Kinder pro gebärfähiger Frau), können die
Nachfrageschwäche nicht auffangen. Zudem wirkt sich die in der
Masse geringere Qualifikation ihrer Arbeitskräfte negativ auf die
Kaufkraft aus.
Der Aufstieg der Industrienationen ist untrennbar mit der
Produktion von Massengütern verbunden: Autos, Waschmaschinen,
Konfektionskleidung – kurz: all die Dinge, die den Lebensstandard
der Bevölkerung auf ein nie zuvor gekanntes Maß angehoben haben.
Politisch ist diese Entwicklung mit dem demokratischen Ideal der
Gleichheit verknüpft. Voraussetzung für beides war die
Massenalphabetisierung. Bildung ist daher ein weiterer
anthropologischer Faktor, welcher der ökonomischen Entwicklung
vorausliegt. Todd bezeichnet sie als das »kulturelle Unterbewusste«
(S. 18). Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat der Anteil der
Menschen mit Sekundar- und Hochschulbildung stark zugenommen. Diese
an sich positive Entwicklung habe, so Todd, allerdings seit den
sechziger Jahren dazu geführt, dass sich »eine regelrechte
soziokulturelle Schicht mit ihren eigenen intellektuellen
Fähigkeiten, moralischen Gewohnheiten und politischen Werten
[bildete], die heute […] weit davon entfernt ist, den
Fortschrittsglauben zu fördern« (S. 146 f). Die Angehörigen dieser
Schicht sind die Protagonisten des ›postindustriellen Zeitalters‹
der ›Informationsgesellschaft‹. In den entwickelten
Volkswirtschaften haben sie die alte technokratische Elite
abgelöst: Nicht mehr die Naturwissenschaftler und Ingenieure
bestimmen die ökonomische Entwicklung, sondern die von Robert B.
Reich, dem ehemaligen Arbeitsminister Bill Clintons, so genannten
›Symbol-Analytiker‹ (vgl. S. 139 f). Am anderen Ende der
Bildungsskala gibt es eine (in den USA wachsende, in den
europäischen Ländern stagnierende) Schicht von Unterprivilegierten,
die auf der untersten Stufe der Primarschulbildung stehenbleiben
und somit von den Errungenschaften des gesellschaftlichen Wandels
von vornherein ausgeschlossen sind. Der daraus resultierende
Prozess der Bildungsstratifikation führe letztlich zu einer
»soziokulturellen Zersplitterung« (S. 150). Todd registriert in den
USA seit den siebziger, in Europa seit den achtziger Jahren ein mit
dem faktischen Aufklaffen der Einkommensschere zwischen Arm und
Reich einhergehendes Wiedererstarken von Doktrinen, die »das
Konzept der Ungleichheit als gesellschaftlich vorteilhaft
verteidigen« (S. 135). Das Argument, mit dem auch hierzulande
Steuersenkungen für Spitzenverdiener (die von der gegenwärtigen
Bundesregierung beschlossene ›Reichensteuer‹ ist nichts weiter als
ein Beruhigungsmittel für die Anhängerschaft der kleineren
Regierungspartei und dürfte am grundsätzlichen Trend nichts ändern)
bei gleichzeitig wachsender finanzieller Belastung der Mittel- und
Unterschichten verteidigt werden, dass es nämlich gelte, die
›Leistungsträger‹ der Gesellschaft zu entlasten, damit neue
Arbeitsplätze geschaffen würden, reklamiert die ökonomische
Vernunft für sich, dient letztlich aber nur dazu, die Privilegien
der neuen Eliten in einem zur Stagnation neigenden
Wirtschaftssystem zu sichern. Makroökonomisch hat die
›angebotsorientierte Wirtschaftspolitik‹, wie sie von den Experten
genannt wird, die offiziell verkündeten Ziele verfehlt, und so
resümieren Samuelson und Nordhaus für die USA (die diese
Entwicklung bereits unter den Präsidenten Reagan und Bush senior
durchlaufen hat): »Obwohl das zunehmend schleppende Wachstum des
potentiellen BIP während der achtziger Jahre nicht zur Gänze der
damaligen Wirtschaftspolitik anzulasten ist, lassen die Daten doch
darauf schließen, daß die Wirtschaftsleistung während der
angebotsseitig orientierten Jahre nicht wesentlich verändert werden
konnte.« (S. 714)
Homo oeconomicus vs. Homo sapiens?
Die Grundlagen der klassischen Wirtschaftstheorie, auf die sich
Ökonomen bis heute berufen, wurden im Zeitalter der Aufklärung
geschaffen. Folglich – und diese Einsicht ist so trivial, dass man
sie eigentlich gar nicht erwähnen müsste – ist das Menschenbild der
Aufklärung in sie eingeflossen: das Individuum als freies,
selbstmächtiges Subjekt, das sich durch sein eigenes Denken von den
überlieferten Vorurteilen lösen und sein Handeln rational auf die
Erreichung selbstgesteckter, vernünftiger Ziele ausrichten kann.
Diese Prämisse der Aufklärung wurde von der Philosophie schon bald
in Frage gestellt und findet sich in den meisten
Humanwissenschaften heute nur noch als historische Denkfigur. Nicht
so in der neoklassischen Wirtschaftstheorie; diese geht sogar so
weit, zu behaupten, »der Großteil der Arbeitslosigkeit sei
freiwillig. Ihrer [scil. der neoklassischen Ökonomen, J. B.]
Ansicht nach passen sich die Arbeitsmärkte nach wirtschaftlichen
Schocks rasch an, um Angebot und Nachfrage wieder auszugleichen«
(Samuelson/Nordhaus, S. 705; »wirtschafliche Schocks« werden nach
dieser Auffassung vorwiegend von staatlichen Eingriffen in den
Markt hervorgerufen).
Mit der philosophischen Prämisse des autonomen Subjekts verbindet
sich – und dieser Zusammenhang ist vielleicht nicht ganz so trivial
– eine methodologische, die sich zuerst in den Naturwissenschaften
jener Zeit entfaltete: Die Natur wird als grundsätzlich
determiniert und somit berechenbar angenommen. Die Newtonsche
Physik gab den Weg vor, schon bald folgten jene Entdeckungen, die
der industriellen Revolution erst ihre Dynamik verliehen; sie
betrafen das Verhalten von Gasen sowie die Umwandlung von Energie
in Arbeit. Dabei trat das Problem auf, dass die beobachteten
Systeme so komplex waren, dass es unmöglich erschien, einen
theoretischen Ansatz zu finden, der es erlaubte, ihr Verhalten
vorherzusagen. Reproduzierbarkeit ist aber die wichtigste
Voraussetzung für die naturwissenschaftliche Erkenntnis. Diese ist
bei komplexen dynamischen Systemen nur im Gleichgewichtszustand
gegeben: »Die Gleichgewichtsbedingungen eines Systems sind
reproduzierbar und lassen sich durch bestimmte Eigenschaften
definieren, die wir Zustandseigenschaften
(Zustandsfunktionen) nennen« (Moore/Hummel 1983). Einfache
physikochemische Systeme (die zudem fast ausschließlich unter
Laborbedingungen vorkommen) streben auch tatsächlich diesen
Gleichgewichtszustand an, doch die überwiegende Mehrzahl der
beobachtbaren Phänomene dieser Welt besteht aus komplexen Systemen,
die fern vom Gleichgewicht einen quasi-stabilen Zustand über
manchmal sehr lange Zeiträume aufrecht erhalten können. Tatsächlich
sind stabile Gleichgewichtszustände, zumal in der belebten Natur,
so selten, dass es nicht übertrieben erscheint, sie eher als
notwendige Postulate der Theorie denn als reale Gegebenheiten
anzusehen. Und hier nun fällt der Blick wieder auf die
Wirtschaftswissenschaften: Im obigen Zitat über die neoklassische
Auffassung der Arbeitslosigkeit ist die Rede davon, dass Angebot
und Nachfrage sich »ausgleichen«. Auch hier ist das Gleichgewicht
ein von den Klassikern der Theorie erhobenes Postulat, das die
Aufstellung von Zustandsfunktionen erleichtert. In der wirklichen
Welt können völlig deregulierte Märkte durchaus eine
selbstzerstörerische Dynamik entfalten, wie zuletzt die Asienkrise
der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts gezeigt hat. Für
die Wirtschaftswissenschaften ist die neoklassische Theorie vor
allem wegen ihrer leichten Quantifizierbarkeit attraktiv, der
neoliberale Individualist, vor allem wenn er zur ›Bildungselite‹
gehört, kann sich dank ihrer in dem guten Gefühl sonnen, ein
rational handelnder, freier Mensch zu sein. In der
kulturanthropologischen Perspektive freilich ändert sich das Bild:
Der Homo oeconomicus, Symbol für Adam Smiths eigennütziges
Individuum, das durch sein Handeln das Allgemeinwohl fördert, ohne
es zu wollen, ist zu einem bizarren Homunculus mit winzigem Kopf,
kurzsichtigen Augen und einem riesigen Bauch degeneriert. Höchste
Zeit, wieder den Homo sapiens zu wecken.
Literatur:
GALBRAITH, JOHN KENNETH: Die Entmythologisierung der Wirtschaft,
Darmstadt 1988
GALBRAITH, JOHN KENNETH: Die Ökonomie des unschuldigen Betrugs,
München 2004
MOORE, WALTER J. / HUMMEL, DIETER O.: Physikalische Chemie. Berlin,
New York 1983
PREISER, ERICH: Nationalökonomie heute, München
141990
SAMUELSON, PAUL A. / NORDHAUS, WILLIAM D.: Volkswirtschaftslehre,
Wien/Frankfurt 151998
SCHIRRMACHER, FRANK: Das Methusalem-Komplott, München 2004
SCHIRRMACHER, FRANK: Minimum, München 2006
TODD, EMMANUEL: Die neoliberale Illusion, Zürich 1999