»Ich bitte um ein Wort«
Wolfgang Koeppen – Siegfried Unseld
Der Briefwechsel
Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, 584 S.

Das Dasein eines Schriftstellers ist, zumal in der modernen arbeitsteiligen Gesellschaft, eine merkwürdige Existenzform. Er hat keinen Beruf im herkömmlichen Sinn und kann weder Lehrbriefe noch Zertifikate vorweisen. Was der Schriftsteller schreibt und veröffentlicht, hat keinen praktischen Nutzen, und auch der Erfolg, misst man ihn an der Auflagenhöhe seiner Werke, ist kein brauchbarer Prüfstein für die Qualität seiner Arbeit. Die besondere Kompetenz des Schriftstellers liegt in seinem Umgang mit der Sprache. Er kann ihr Zwischentöne und Nuancen des Ausdrucks entlocken, die in der alltäglichen Kommunikation meistens verborgen bleiben, und die auch am poetischen Schreiben und Sprechen nur der wahrnimmt, der einen Sinn für die ästhetischen Qualitäten der Sprache hat.

In Deutschland waren Dichtung und Dichterexistenz seit der Romantik mit einem metaphysischen Anspruch befrachtet, der bis heute nachwirkt: Nur zu bereitwillig werden Literaten als Sachwalter des Utopischen oder des ›eigentlichen Seins‹ betrachtet, ein Nimbus der selbst ihrem Schweigen Bedeutsamkeit beimisst. Wohl kein Schriftsteller der Nachkriegszeit hat die Exegeten des Schweigens zu solch eloquenten Ergüssen und wilden Mutmaßungen hingerissen wie Wolfgang Koeppen. In den fünfziger Jahren mit seiner Romantrilogie Tauben im Gras, Das Treibhaus und Der Tod in Rom zu Ruhm gelangt, veröffentlichte er bis zu seinem Tode 1996 noch Reisebeschreibungen, kleinere Prosastücke sowie das autobiographische Fragment Jugend, aber keinen Roman mehr. Dieses ›Schweigen‹ wurde von seinen Auslegern in Feuilleton und Germanistik mit den teils heftigen ablehnenden Reaktionen auf die gesellschaftskritischen Romane der fünfziger Jahre in Zusammenhang gebracht. Marcel Reich-Ranicki konstruierte daraus gar einen »Fall Koeppen«. Dass die Gründe für sein Schweigen bei ihm selber und nicht »in der Welt« lagen, offenbarte der Autor seinem Förderer 1985 in einem Fernsehgespräch.

Die drei Nachkriegsromane erschienen in rascher Folge beim Goverts-Verlag. Ende der fünfziger Jahre wurden dort noch die Reisebücher Nach Rußland und anderswohin (1958) und Amerikafahrt (1959) veröffentlicht. Zu diesem Zeitpunkt hatte Siegfried Unseld, der neue Chef des Suhrkamp-Verlages, bereits Kontakt mit dem Autor aufgenommen. Als der Goverts-Verlag in Turbulenzen geriet, nutzte Unseld die Gelegenheit, Koeppen eine Offerte zu unterbreiten, die dieser schließlich, als die Situation für ihn unhaltbar wurde, annahm. Aus diesem Anfang entwickelte sich eine regelmäßige Korrespondenz, die bis 1995 andauerte, als Koeppen bereits, fast neunzigjährig, in einem Münchener Pflegeheim untergebracht war.

Der jetzt veröffentlichte Briefwechsel wird vom Verlag im Klappentext als »neuer Roman von Wolfgang Koeppen« angekündigt. Ob es sich dabei um eine selbstironische Anspielung auf die zahlreichen uneingelöst gebliebenen Anzeigen handelt, mit denen der Verlag in den Jahrzehnten der Zusammenarbeit immer wieder das Interesse der Öffentlichkeit (oder wenigstens des Feuilletons) wachgehalten hat, ist zumindest fraglich. Immerhin hat Suhrkamp nicht unwesentlich zum Image (wie das heute übliche Schlagwort lautet) des Schriftstellers beigetragen und möchte dieses vielleicht weiterhin pflegen. Denkbar auch, dass die nicht ganz ernst zu nehmende Gattungsbezeichnung ein teils augenzwinkerndes, teils peinlich verschämtes Eingeständnis ist, dass man sich über fast drei Jahrzehnte hinweg von einem versierten Erzähler hat an der Nase herumführen lassen.

Die Qualität der Prosa in Koeppens Briefen kommt ‒ besonders in Momenten, da sich seine Lebenssituation krisenhaft zuspitzt oder der Druck auf ihn größer wird, die abgegebenen Versprechen einzulösen ‒ durchaus an jene der Nachkriegsromane, die seinen Ruhm begründeten, heran. Siegfried Unseld auf der anderen Seite erweist sich als ein zwar hartnäckig insistierender, dabei aber feinfühliger Dialogpartner, der sich nie versagt, sondern stets einen Weg findet, seinen Schützling durch die Untiefen des Alltags zu geleiten, sei es, dass er ihm Geld zukommen lässt, eine ruhige Wohnung zum Arbeiten zur Verfügung stellt oder gar so weit geht, ihm ein Exposé für seine Frankfurter Poetikvorlesungen zu schreiben. Im Hintergrund dabei stets präsent, wenn auch in den schemenhaften Umrissen mehr zu erahnen als zu sehen: der Roman. Das große Werk, mal mit Titel benannt, mal als ungeordnete Sammlung von Einfällen und Motiven skizziert, beherrscht die Korrespondenz bis zuletzt. Immer wieder sagt Koeppen feste Liefertermine zu, um den Verleger dann im letzten Moment erneut zu vertrösten. Der Briefwechsel zeigt ihn als Autor, der sehr um sein Erscheinungsbild in der literarischen Welt besorgt ist. So widerspricht er in den sechziger Jahren noch dem Wunsch seines Verlegers, seine frühen Romane Eine unglückliche Liebe und Die Mauer schwankt wieder aufzulegen, bevor der neue erschienen ist. Auch die Skrupel, den ihm angetragenen Büchner-Preis (1962) entgegenzunehmen, obwohl er kein neues Werk von Belang vorlegen kann, sind von der Sorge um seinen literarischen Ruf beherrscht. Er bezweifelt, dass er dem Erwartungsdruck, der von einer Ehrung ausginge, standhalten könnte. (Dies sollte eigentlich auch die letzten Verschwörungstheoretiker, die die Gründe für Koeppens Schweigen in der politischen Ecke suchen – zum Schweigen bringen.)

Mit den Jahren und mit zunehmendem finanziellem Druck verliert sich die Zurückhaltung des Schriftstellers, und der Verleger bekommt seine Bücher – wenn auch nicht das große neue. Schließlich, am 2. September 1974, taucht jenes berühmt-berüchtigte ›Littner-Buch‹ auf, dessen Neuausgabe unter Koeppens Namen im Jahre 1992 noch einmal hohe publizistische Wellen schlägt. Inzwischen sind die, von Koeppen mitverursachten, Verwirrungen um die Aufzeichnungen des jüdischen Münchner Briefmarkenhändlers mit polnischem Pass, der die Nazizeit im Kellerloch eines geldgierigen polnischen Großgrundbesitzers überlebte, dank der Arbeiten von Alfred Estermann und Jörg Döring gottlob aus der Welt geschafft. Der Briefwechsel bringt hier Dokumente bei, die zwar nicht der Öffentlichkeit, wohl aber der Germanistik längst zugänglich waren. Es gibt also genug Gründe, den Schriftsteller Wolfgang Koeppen und sein Werk etwas entspannter zu beurteilen und vielleicht auch einmal die Rolle des, bisweilen doch recht selbstgefälligen, Literaturbetriebs mit zu berücksichtigen, der sich mit dem ›großen Schweiger‹ Wolfgang Koeppen die Figur erschaffen hat, die ihm ins politische Klima zu passen schien.

Siegfried Unseld hat hinter dieser Figur stets auch den Menschen und seine Nöte gesehen, auch wenn seine Diskretion ihm verbot, sein Wissen nach außen zu tragen (was sich für manchen postmodernen Zyniker wohl durchaus ins unternehmerische Kalkül fügen mag). Wolfgang Schopfs Bericht über die Reisenotizen des Verlegers, der dem Buch als Anhang angefügt ist, gibt Auskunft darüber, dass Unseld bereits Anfang der siebziger Jahre den Glauben daran verloren hatte, dass Koeppen seine Versprechen jemals würde einlösen können. Trotzdem blieb er ihm bis zuletzt verbunden und ermöglichte ihm ein menschenwürdiges Leben.

In Rechnung gestellt, dass vieles an Wolfgang Koeppens Briefen Selbstinszenierung ist (wie viel, wird letztlich wohl nur jemand entscheiden können, der ihn persönlich gekannt hat), ist es doch erschütternd zu lesen, wie der Gedanke an ein großes künstlerisches Werk schließlich zur fixen Idee wird, die den Schriftsteller um so stärker beherrscht und zur Verzweiflung treibt, je mehr er seine Kräfte schwinden spürt. Der Briefwechsel bietet alles, was ein Roman braucht, Verstrickungen, Spannung, Komik, Dramatik und vor allem Menschlichkeit – aber wäre es einer, würde er wohl noch in die heutige Zeit passen?

Jörg Büsching