Anne Corvey
Medeas Töchter

Immer erst künftig, immer schon vergangen, immer gegenwärtig in einem so jähen Anfang, dass es uns den Atem verschlägt, und dabei gleichwohl sich entfaltend wie ewige Wiederkehr oder ewiger Wiederbeginn.

 

»Tot sind sie, mausetot, seit ewigen Zeiten im Orkus verschwunden. Erschlagen. Von der eigenen Mutter. Das Skandalon. In unserer Presse wäre es richtig zur Sache gegangen. Erinnert ihr euch an den Fall? ... Wie war doch gleich der Name?  Egal! Namen tun nichts zur Sache.« – »Na, na. Ich übertreibe? Es gibt tausend Arten, die Kinder zu töten. Ich denke, das wissen wir alle ganz gut. - Aber bitte, meine Lieben, entschuldigt mich, ich beabsichtige, endlich meinen Platz einzunehmen. Hab' mich gefreut, euch zu sehen und wünsche viel Vergnügen. Vielleicht bringt die Aufführung ein wenig Klärung. In den Fall.«

Kurz nach Ertönen des Gongs verlöschte das Licht. Langsam verebbten die Stimmen im Saal. Köpfe schoben und drehten sich.  Körper rückten in bequeme Stellungen, Hände falteten sich im Schoß, Arme legten sich um Stuhllehnen, Blicke wanderten nach vorne. Ein letztes Räuspern und Füßescharren. Der rote Samtvorhang zitterte leicht, ehe er langsam und majestätisch nach links und rechts entschwebte. Der gewendete Blick gehört zu den verdrehten Köpfen. Die Bühne war freigegeben.

Nora hatte die Karten geschenkt bekommen. Zum Geburtstag. Das war auch schon wieder drei Monate her. Ein wenig hatten sie gezögert an diesem Abend. Nie spielte das Wetter mit. Andererseits... Die Stadt lag unter einer weißen Decke, die eine milde Stille erzeugte und die Geräusche auf ein Maß zurückfuhr, das die Grenze zwischen Realität und Zauber verwischte. Bewegten sie sich wirklich in der Stadt oder befanden sie sich bereits in den Kulissen? Die Werbetrommeln vibrierten noch von dem Getöse, die Neuinszenierung, aber wie bereits gesagt, Nora hatte die Karten geschenkt bekommen und einem geschenkten Gaul... Sie gehörte nicht zu den Menschen, die sich durch solches Getöse verleiten lassen. Meist wurde man ohnehin nur elend enttäuscht. Doch wer weiß! Das Thema hatte seinen Reiz.

In gewisser Weise war die Einstimmung perfekt gewesen. Sarah und sie hatten das Stück noch einmal gelesen, hatten endlose Diskussionen geführt – über Gott und die Welt. Nun ja, eigentlich war es eher ein Austausch der  Erinnerungen und so etwas wie ein Abgleich der gemeinsam verbrachten Jahre. Wie unterschiedlich dasselbe Leben aussehen konnte: Mutter oder Tochter. Sarah und sie hatten immer ein gutes Verhältnis gehabt. Was für irritierende kleine Szenen da plötzlich ans Licht getreten waren. Scheinbar vergessen und von einer prägenden Kraft, die man ihnen nicht zugetraut hätte. Ein eigenartiges Zusammentreffen eben im Foyer. Wieviele Jahre waren vergangen, seit sie Edgar das letzte Mal gesprochen hatte? Sarah hatte sofort wieder zittrige Hände und Flecken am Hals. Ausgerechnet heute Abend. So ein gestelztes Getue! Vielleicht war es ja nur eines seiner Spiele, die sie so gut kannte. Oder Verlegenheit? Sicher sogar. Immerhin musste er überzeugt sein, dass sie ihn nicht gerade in bester Erinnerung behalten hatte. War es einfach seine Art der Tatsache Ausdruck zu verleihen, dass das Band zerschnitten war? Was war denn auf der Bühne los? Es müsste doch längst begonnen haben. So ein Lärm! Ob ›Edgar‹ seinen großen Roman inzwischen fertig hatte? Kein Wunder, dass er heute auch hier war. Schließlich war es auf eine verquere und – ja, das konnte mal wohl sagen – abgründige Weise sein Thema. Wahrscheinlich ging ihm der Hintern mit Grundeis, wie er immer zu sagen pflegte, früher jedenfalls. Manchmal konnte er daher reden wie irgendein Hansel von der Straße. Wenn man ihn hörte, vermutete man wirklich nicht, dass er Schriftsteller war. Sein Traumberuf. Der ›große‹ Edgar Alander. So sähe er sich gerne in den Gazetten. Und sein Roman? Wie lange war das her...? Zehn Jahre. Die intensiven Gespräche, die von ihrer Seite eher ein intensives Zuhören gewesen waren. Damals war die Welt noch in Ordnung. Damals hieß er noch anders, jedenfalls für sie. Er hatte sich ein Pseudonym zugelegt, da er mit dem Namen seiner Kindheit, dem Namen, den ihm das Leben in Gestalt seiner Eltern verliehen hatte, nur Demütigungen verband. Die Literatur sollte ihn zu dem machen, der er zu sein wünschte. Der er war? Zehn Jahre, in denen das Gehörte so manche Wandlung erfahren hatte in ihrer Einschätzung. Zehn Jahre, in denen sie vergeblich seine Spuren zu entdecken suchte. Allzu intensiv war die Suche jedoch nicht gewesen. Verbarg er sein Werk vor den Augen der Welt? Vielleicht tat sie Edgar ja Unrecht und alles wanderte in den großen Roman, von dem er unaufhörlich berichtet hatte und dessen Fortschreiten er wort- und gestenreich zu beschreiben wusste, ohne dass jemals eine Zeile ›ans Licht‹ oder aufs Papier gelangt wäre. Nun ja, jedenfalls hatte sie nie etwas zu Gesicht bekommen. Ihre Ohren hallten noch heute von den auf- und absteigenden Präludien wider, den feinen Bögen und Linien, die sich über tausende Seiten zu ziehen trachteten und eine Welt erbauten, die fester und gegründeter schien, als die, die sie beide umgab. Doch das Gebäude ließ auf sich warten. Oder wartete ›er‹ noch immer? Gab es zu viele Fäden, die ihn am Boden hielten, wie die Seile der Liliputaner den großen Gulliver? Seine Reden machten einen glauben, es bedürfe nur einer einzigen konzentrierten Anstrengung, um die Seile für immer zu zerreißen, doch die ließ auf sich warten, aus Gründen, die sie eher ahnen als wissen konnte. Plante er ein Leben auf dem Papier, um die Banalität und Angepasstheit des gelebten Lebens zu überdecken? Eine grandiose Chimäre. Gab es den Künstler ohne Werk? Das unsichtbare Meisterwerk. Ehrlich gesagt, sie hatte es genossen, dass er sie zu seiner Vertrauten machte. Damals schienen sie unzertrennlich.

Ach, wäre das Schiff auf dem Weg ins Kolcherland
doch nie an den dunklen Felsen vorbeigesegelt,
die den Weg ins Schwarze Meer bewachen.
Wäre in den waldigen Bergen Thessaliens
nie der Fichtenstamm gefällt worden,
der zum Steuer wurde für das Schiff Argo,
mit dem die auserwählten Helden...

Das Goldene Vlies. Lange Zeit verkörperte es für sie so etwas wie das Geheimnis schlechthin. Das bestgehütete Geheimnis der Kolcher. Ein Geheimnis, das alle kannten, ohne Genaueres zu wissen. Kein Einzelfall. Das Fell eines Widders, der fliegen und sprechen konnte. Sein Besitz verlieh ewige Jugend. Das Nicht-Altern. Merkwürdig, dieses Gewand. Irgendwie modernisiert und gelüftet. Genau wie der Text. Dennoch: Ammenweisheiten, Ammenbesorgnisse! Sie hatte es für Liebe gehalten. »Die Götter haben uns zusammengeführt! Wir sind füreinander bestimmt.« Was bedeutete das? Die absonderlichen Ziele der Götter, fanden sie in einem Herzen Platz? War das Herz überhaupt der rechte Ort? Wieso zog dies mythisch verbrämte Reden die Menschen – Frauen in besonderer Weise – immer wieder in seinen Bann? »Wir sind füreinander bestimmt. Gemeinsam können wir etwas bewirken.« Sie hatte über diese Worte gelacht, ihnen misstraut, hatte sie begierig aufgesogen und sich von ihrer bannenden Kraft leiten lassen. War es nicht haargenau das, was sie wollte? Es verlieh ihrer Beziehung etwas Unausweichliches. Ihr Vater hatte schon damals klarer gesehen. »Mädchen, sei klug und beende deine Ausbildung.« Seine Ratschläge hatten sie mehr in die Sache hineingetrieben, als dass sie sie vor den wohl unvermeidlichen Fehlern bewahrt hätten. - Wann hatte das eigentlich angefangen, dass sie ihn auch bei sich nur noch Edgar nannte? Jedenfalls, die mythische Grundierung konzentrierte alle Kräfte auf einen Punkt. Eine wohltuende Wirkung, die zwei Ziele vereinte: Die Freiheit von ihrem Leben als Tochter, das unerträglich geworden war, und die ›Erlangung einer Aufgabe‹. Herausforderung und Glaube – den man, falls er sich als falsch erweisen sollte, wie ein staunend gelesenes Horoskop beiseite schieben konnte. Dabei bestand die Herausforderung – zumindest zu Beginn – lediglich in einer gedanklichen Anstrengung. Sie erlaubte, einer ihrer Lieblingstätigkeiten nachzugehen, dem Tagträumen, das sie dazu nutzte, die neue Sicht auf die Welt und ihr Leben mit den notwendigen Accessoires auszustaffieren. Sie breitete ihre Mitgift aus, prüfte sie eingehend auf ihre Brauchbarkeit. Die neue Aufgabe, die so neu nicht war. Eigentlich nur eine Modifikation der alten. Aber das hatte sie erst viel später begriffen. Schmerzlich war das gewesen. Die Momente der Bewusstwerdung. Schmerzlich und hoffnungsträchtig zugleich. Außer dem Ende einer nicht länger zu ertragenden Ehe hatten sie den Anfang des neuen Lebens bedeutet. War Leben jemals neu? Was treibt diese Person denn da? Selbst Schauspielerinnen wissen nicht immer wohin mit ihren Körperteilen. Und dieses Kleid. Wirklich eigen. Nie und nimmer hat man so etwas in der Antike getragen. Hoffentlich erschöpfte sich die Sensation des Neuen nicht in der Kleiderfrage. Dem Leben auf der Spur bleiben. Kleiderordnung. Kleiderfragen. Die hier sah aus wie nach einer Farbberatung. Anpassung an einen Durchschnittsgeschmack. Keine Farbenlehre. Das Verblassen der Individualität zugunsten eines ›Typus‹. Kleider machen Leute: Frühling, Sommer, Herbst oder Winter? Die hier war eindeutig Winter. Nora spürte die Kälte bis ins Mark. Von wegen wärmend und nährend. Unmenschlich irgendwie, doch schwer durchschaubar. Eine Schicht von ›Vernunft‹ und ›Menschlichkeit‹ war wie die sensible Bootshaut über das knöcherne Gerippe des Kanus gespannt, das noch auf den wildesten Wassern unversehrt dahintänzelte. Ein winziges Steinchen genügte... ›Sand im Getriebe‹, aber nein, das war ein anderes Bild. Des Stockens wohl eher. ›Dem Leben auf der Spur bleiben.‹ Es bedarf immer einer Anstrengung, um von der einen Lebensform in die andere überwechseln zu können. Im Überschreiten dieser Grenze von beiden Seiten vergewisserte sie sich ihrer Lebendigkeit. Damals wäre Edgar ohne sie hilflos gewesen. Der Unmenschlichkeit dieser Person ausgesetzt, der er nichts entgegenzusetzen hatte außer sich selbst. Und das war gleichzeitig zu viel und zu wenig. Dabei hatte sie nicht weniger darunter gelitten, nur anders, nicht so ersichtlich. Nach außen mussten sie wie ein eingespieltes Team wirken... Ah, Medeas Kinder. Söhne, natürlich!

Doch da kommen ihre kleinen Söhne vom Sportplatz.
Sie scheinen unberührt vom Unglück ihrer Mutter.
Die Jugend will von Elend und Schmerz nichts wissen.

Das kannte sie aus eigener Anschauung. Das Leiden der Alten schien aus ihren Fehlern zu erwachsen, während man selber mit dem Schicksal im Bunde stand. Oder war es umgekehrt? Je älter sie wurde..., aber bitteschön, das tut nichts zur Sache, das ändert auch nichts. All die Stunden des Zuhörens, sie hatten die merkwürdigsten Gefühle in ihr produziert und an die Oberfläche gespült. Das mit dem Zuhören gelang heute nicht. Es haperte wohl an der nötigen Konzentration. Irgendwie liefen die Dinge durcheinander. Das Schauspiel ließ die Gedanken schweifen und in Dimensionen ausgreifen, deren Vorhandensein sie im Alltag aus guten Gründen ignorierte oder in den Hintergrund schob. Söhne oder Töchter. Das machte einen fundamentalen Unterschied. Hätte Medea eine Tochter gehabt... Der Gedanke an ein mögliches – vielleicht möglich gewesenes – Leben verursachte stets dieses Ziehen. War das Trauer? Doch das menschliche Herz ist unerschöpflich an Traurigkeit: ein- oder zweimal zieht das Glück darin ein, aber aller Jammer der Menschheit kann sich dort vereinigen und als Gast darin hausen. Wenn man mich gefragt hätte, was mir fehlte, so hätte ich keine Antwort gewusst. All die unnötig erscheinenden Umwege. Inzwischen war sie entschlossen, ihren Traum zu verwirklichen. Koste es, was es wolle. Man muss es sich nur leisten können. Nein, ›man muss sich sich leisten können‹. Sie hatte nicht immer verstanden, wovon er sprach in diesen Stunden, die, selten genug, nur ihnen beiden gehörten. Der Roman. Manchmal konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er eine Grenze zog, als rede er über den Gartenzaun. In dieser, seiner Welt bewegte er sich sicherer als in der, die sie beide umgab. Damals oder heute? Machte das einen Unterschied? Viel zu jung war sie gewesen, um wirklich zu begreifen. Doch das tat der Intensität und dem Gefühl der Vertrautheit keinen Abbruch. Worauf es sich gründete, konnte sie bis heute nicht mit Bestimmtheit sagen. Söhne oder Töchter? Die öffentliche Abtreibung solcher Fragen. War das Emanzipation? Sie hatte nur eine Tochter. Sie war ein Kind ohne Vater, wie ich eines war. Auf dieser Welt gibt es keinen Vater. Sie konnten ihrem Schicksal nicht entkommen. So oder so. Manchmal kann ich die raschen Verwandlungen der Szene nicht ertragen, die Übergänge nicht fließend machen. Es ist schmerzlich, jawohl schmerzlich, keinen Vater zu haben. Im allerfrühesten Stadium seiner Individuation ist das Kind nicht nur faktisch eins mit der Mutter, sondern darüber hinaus mit der ganzen Welt, mit dem Kosmos, in mystischem Nebel fließend, jenseits der Sonderungen von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Noch schmerzlicher ist es, wenn er da ist und doch nicht da. Er erreicht dich nicht. Der direkte Blick ist verstellt. Gift, das langsam, aber sicher in deine Adern rinnt. Du kannst dich nicht dagegen wehren. Man kommt nicht an der grausamen Schlussfolgerung vorbei, dass die Mutterliebe nur ein Gefühl und als solches wesentlich von den Umständen abhängig ist. Viel zu lange hatte sie ihn durch die Augen der Frau gesehen. Viel zu spät den Hass in diesen Augen erblickt. Noch später begriffen, dass er ihnen beiden galt. Eigentlich erst an ihrem Grab, doch da war es endgültig zu spät...

Ach, mein Leid ist erbärmlich, mein Leid ist groß,
ich klage zu Recht.
Unselige Kinder, der Hass der Mutter
auf den Vater wird euch verderben.
Die ganze Familie soll untergehn.

Wow, diese flammenden Haare, diese Fülle. Genau ihr Frauentyp! Sie hatte ziemlich lange gebraucht, bis sie begriff, dass dem kein flammendes Inneres entsprechen musste, dass diese Frauen nicht unbedingt hehre Gedanken hegten. Wenn überhaupt. Nicht angekränkelt von der Blässe des Gedankens. Es war ihr heute noch peinlich. Wie spöttisch Edgar reagiert hatte, als sie ihn mitschleppte, um ihm die Frau zu zeigen, die sie gerne gewesen wäre. Sie wusste nicht einmal mehr den Titel des Films, geschweige denn den Namen der Schauspielerin. Ganz schön rachsüchtig die Dame. Man schleppt die ganze Vergangenheit mit sich, ob man will oder nicht. Alles aktuell Erfahrene bricht sich an den alten Strukturen. Man kann nicht entkommen, denn die alte Geschichte mustert das gegenwärtig Wirksame. Das war der Lauf der Welt. Trivialer Gedanke. Verliebt, (verlobt), verheiratet, geschieden. Ein Kinderspiel. Diese imposante Person. Medea. War sie wirklich eine kluge Frau? Bestand ihre Klugheit nicht in einer verblendenden Anwendung – verblendend und verheerend – der gesellschaftlichen Regeln ihrer Zeit? Sie zerrte die Kinder in ein Spiel, das aller Aufgeklärtheit zum Trotz, die die seitdem vergangene Zeit gebracht hatte, noch heute von unzähligen Menschen gespielt wurde. Von Männern und Frauen, je nachdem wie die Vorstellungen und vor allem die Ökonomie einer kulturellen Gemeinschaft es erforderlich zu machen schienen. Das Spiel um die Kinder als Spiel um die Zukunft. Das Spiel um die Kinder als Spiel um Zugriff nach der Deutungshoheit über die Rolle von Mann und Frau. Zuerst versah sie die Kinder mit der tödlichen Botschaft, handgreiflich in dem Gewand, das sie ihnen als Geschenk an die neue Frau mitgab. Es ist eben alles eine Frage der Einkleidung. Der nächste Schritt bestand in der Tötung der Kinder. Sie gab vor, sie dem negativen Zugriff der Umgebung zu entziehen. Die Kinder wurden nicht gefragt. Sie benutzte sie als Waffe zur Vernichtung des Mannes, da ihr der direkte Zugriff mit Hilfe der Kräfte, die sie zu seiner Gewinnung angewandt hatte, versagt war. Der Zauber war verblasst. Schlangen also verstand ich zu zähmen und wütende Stiere, / doch einen einzigen Mann nur zu bezähmen mißlang. / Ich, die ich loderndes Feuer vertrieb mit listigem Zauber, / kann meinem eigenen Brand nicht einmal selber entgehen. / Zaubersprüche und Kräuter, die eigenen Künste versagen... Wenn der eigene Zauber versagte, besannen sich viele Frauen auf ihre Rolle als Gebärerinnen der Nachkommenschaft, als ›Hüterinnen des Lebens‹ und vergifteten das Klima zwischen den Geschlechtern und zwischen den Generationen. Ich steh' allein, mich schützt kein Staat vor Freveln / Des Mannes, der nach Hellas mich entführt hat. Da war die Vorgeschichte vergessen. Die Frau, die alles ›opferte‹, dem Mann zu helfen gegen den Vater, die kein Mittel scheute, nun war sie nur noch Opfer. Nie würde sie den Hass in den Augen der Frau vergessen können, der ihr den Blick auf den Vater verstellt hatte. Nicht nur auf ihn, auch auf die Männer der eigenen Generation. Es war ein mühevoller Prozess gewesen, sich davon zu befreien. Es hatte des Durchgangs durch diese scheinbar im Mythischen geknüpfte Beziehung bedurft, die in einer konventionellen Ehe mündete. An deren Ende war klar, dass das Gebären von Kindern allein nicht ausreichte. Die schöpferische Kraft, die dem Denken und Schreiben innewohnte. Schreiben als Weg sich klar zu werden über das, was um sie herum vorging. Verwandlung in Text. Es war eben alles eine Frage der Einkleidung. Schreiben als Gegengift gegen das Nessusgewand. Das hatte sie von ihm gelernt, aber nicht auf direktem Wege. Viel zu spät hatte sie begriffen. Arglos setzen unsere Eltern uns zweimal in die Welt, das zweite Mal durch ihren Tod. Gegen den Tod aufbegehrend, akzeptieren wir leichter das Vermächtnis ihrer Charakterzüge. Der Kampf hatte lange Zeit nach dem Tod der Mutter in ihr getobt. Daher sicherlich auch ihr Interesse an dem Thema. Obwohl. Sie hatte die Karten schließlich geschenkt bekommen. Sie wusste nicht einmal, von wem. Der Brief hatte zu ihrem Geburtstag im Kasten gelegen. Maschinengeschrieben die Glückwünsche. Liebevoll schaute sie auf Sarah, die unwillkürlich ein wenig näher gerückt war und den Arm unter ihren geschoben hatte. Sie tauschten ein Lächeln. Letztendlich ermöglichte ihr das väterliche Erbe die Befreiung aus den mütterlichen Einspinnungen. Es erlaubte die Fäden zu durchtrennen. Die Befreiungstat. Und doch blieb jede solche Tat im mütterlichen Bannkreis. Was gewesen war, konnte man nicht ungeschehen denken. Man konnte sich nur dazu verhalten. Wäre sie doch früher sehend geworden. Welches Leben hätte das ermöglicht!? Trauer und Ratlosigkeit bemächtigten sich ihrer. Vielleicht war es ja einfach Sehnsucht. Diese Macht, die einem als offene Möglichkeit vorgaukelte, was gar nicht zur Wahl stand. Konnte dieser Typ da vor ihr nicht einfach mal still sitzen? Wieso war ihr die Klarheit erst nach dem Tode der Mutter zugekommen? Warum hatte sie den vernichtenden Hass erst an ihrem Grab ›sehen‹ können? Wieso überfielen sie auch danach immer wieder Zweifel, ob die neu erworbene Sicht der Dinge die richtige war? Warum traute sie dem eigenen Erleben nicht mehr als dem Gerede der anderen? Immerhin war diese andere ihre Mutter gewesen, ja, gewesen. Während der Mittwochsitzung hatte Dr. Beuscher einen Satz gesagt, der sie wärmte wie ein Schluck Brandy: »Ich erlaube Ihnen, Ihre Mutter zu hassen.« Dauernd musste der Typ mit seiner Nachbarin flüstern, die sich alle fünf Minuten räusperte. In einem sentimentalen Matriarchat des Miteinander bekommt man schwer die Erlaubnis, die eigene Mutter zu hassen, ganz besonders eine Erlaubnis, die man glaubt. Psst! Echt ätzend!

Frauen aus Korinth,
ich bin zu euch herausgekommen,
damit ihr mir keine Vorwürfe macht.
Ich weiß wohl, dass manche Menschen
für hochmütig oder arrogant gehalten werden...

Verschleierung. Täuschung. Das kannte sie zur Genüge. Menschliche Rede bewahrte über die Jahrhunderte eine unvermutete Konstanz. Eine Heuchlerin war sie, jawohl, eine Heuchlerin! Das Äußere trog und die anderen ließen sich stets aufs Neue einwickeln. Die Psyche als japanisches Haus mit beweglichen Wänden. Auf diese Weise verloren die Fakten ihre Festigkeit, wurden form- und dehnbar.  Medea. Die Mutter. Ach was. Das verdammte Stück. Alles ging durcheinander. Draußen im Gespräch mit den anderen Frauen war der Hass nicht zu sehen. Aber wehe, wenn sie im Hause waren. Sie war ein böses Kind. Eigensinnig und verstockt. Machte der Mutter nur Schwierigkeiten. Immer posaunte sie die Wahrheit hinaus. Ihre Wahrheit. Die Wahrheit der Mutter war stets eine andere. Der Vater erhielt einen Bericht davon, wenn er am Wochenende nach Hause kam. Er arbeitete in einer anderen Stadt, lebte mit fremden Menschen. Das Kind wusste zu diesen Berichten nichts zu sagen. Schwieg mit hängendem Kopf und auf dem Rücken verschränkten Armen. Der Vater musste wissen. Der Vater war klug. Aber der Vater war ein Mann und Männer waren schwierig. Schwierig, unvernünftig und uneinsichtig. Mit ihnen konnte man nicht reden. Sie hatten einen eigenen Kopf. Die Mutter kannte sich da aus.

Die Menschen sind nun einmal ungerecht,
urteilen schnell nach dem Augenschein,
statt das Innere zu erforschen...

Das Innere gegen den Augenschein. Eine reizvolle Hypothese. Waren es nicht die Frauen, denen man nachsagte, das Innere leuchte aus ihren Augen? Der seelenvolle Blick. Die columnae fatales, die erst in apokalyptischer Endzeit offenstehen, wie es das Chorlied aus Senecas Medea verheißt, und vorderhand die Grenzen des erlaubten Wagemuts markieren: die Schwellen der unbekannten Welt als des Geltungsbereiches der Götter. Der Weise, schreibt Pindar in der dritten Olympie, hält hier an; schrecklich wäre es weiterzuschreiten. Ganz allmählich hatte sie begriffen und sie hatte nahezu gleichzeitig ein Gespür dafür entwickelt, dass es auf eine intrikate, in gewisser Weise sich dazu verhaltende Art auch für sie der einzig redliche und menschliche Ausweg war. Die columnae, die den steten Austausch, das Hinüberwechseln ermöglichen. Das Bollwerk gegen die Boshaftigkeit der Welt. Für Edgar war es der große Roman. Geschrieben oder nicht. Was wusste sie schon davon, seit sie die Verbindung gekappt hatte aus Gründen, die ihr nachträglich wie ein Verrat, ein später und doch verfrühter Sieg der Mutter vorkamen. Die Endgültigkeit des Todes hatte die Gemengelage verändert. Den Sieg in eine Niederlage verwandelt. Ein Versager war der Vater, die Mutter wusste Bescheid und der Vater gab ihr Recht. Warum sonst hatte er sich untergeordnet, als könne nur sie - die er heimlich verehrte und verachtete - ihm die Absolution erteilen? Grotesk. In Psyche verwandelte Rolle. Nein, ein Roman war nicht ihre Sache. Das Schreiben schon. In gewisser Weise war es Zeugenschaft. Zeugnis von der Redlichkeit der seelischen Regungen und Abläufe. Da halfen keine Tricks. Die schrieben sich dem Text ein und entwickelten ein Eigenleben, das sich wie Mehltau auf die Worte legte, sie unbekömmlich machte. Gab es die Rolle auch als weibliche? Versagerin? So müsste es wohl heißen. Kichern machte sich in Nora breit, so einnehmend, dass sie nicht umhin konnte, Sarah anzustubsen – heimliche Verschwörung zwischen Mutter und Tochter. Der irritierte und ein wenig mitleidige Blick der Tochter brachte sie auf den Teppich zurück. »Schon gut!« Eine unbestimmte Sehnsucht zerrte an ihm wie eine lange Leine. Aber das Törchen blieb verschlossen. Eine weibliche Rolle. Sexualität im Sparstrumpf. Das Versagte macht den Mann zum Versager und – noch leichter lenkbar. Mit dem kleinen Finger oder aus der Hüfte heraus, je nachdem. Das implantierte Gummiband. Gott-sei-Dank waren die jungen Leute anders. Das gab Hoffnung. Obwohl. Wenn sie an Sarahs Erzählungen dachte... Manchmal wurde ihr das alles ein wenig viel. Niemals hätte sie mit der Mutter über solche Dinge gesprochen. Soviel Vertrauen hätte sie zu keinem Erwachsenen gehabt. »Trau keinem über 30!« Sie erinnerte sich gut. Wenn Sarah wenigstens mit ihrem Vater reden könnte... Der lebte in seiner Welt. Da war ihre Verwirrung und damit auch die Verwirrung der Texte und der Personen - sie sah und empfand sich in allen Rollen zugleich. Sie war Mutter und Tochter, mit allen widersprüchlichen Empfindungen, die das produzierte. Die Männer mussten sich schon selbst befreien aus ihren Verstrickungen. Das Problem der losgelassenen Mutter, der Urmutter, für die im gesellschaftlichen Spiel die Karten neu gemischt waren. Feminismus als Schicksal? Der Wechsel zwischen den verschiedenen Zuständen wurde kanalisiert - Solidarität mit dem Geschlecht nannte man das. 

Da sieht man wie wenig die Männer vom Leben wissen.
Lieber möchte ich dreimal in den Krieg ziehen müssen,
als einmal nur gebären!

Was für eine seltsame Wendung. Die Bedeutung dieser Passage hatte sie aus der alten Übersetzung anders in Erinnerung. Euripides? Man sagt, wir leben friedlich, ungefährdet / Im Hause, wenn sie gehn zum Lanzenkampf. / Wie töricht! Lieber will ich dreimal stehn / Im Schildgedräng' als einmal niederkommen. Eine kleine Differenz, wohl wahr, aber eine signifikante. Leben nehmen schien aufregender als Leben geben. Heldentod gegen den im Kindbett? Gegen einen ruhmreichen Helden standen viele Namenlose. Geboren unter Schmerzen, gebären mit Schmerzen - den Schmerz. Wir sind der Schmerz. Wir? Du? Ich? Nein. Der Schmerz ist ein Kristall. Schimmernd und hart. Glashart. Nein. Der Schmerz ist ein Stück Kandiszucker. Er löst sich im Leben. Oder auch nicht. Nein. Der Tatbestand ist immer derselbe, aber die Beleuchtung ist anders. Auf die kommt es an. Nein. Der Tatbestand ändert sich nicht. Du änderst dich. Die Form. Ganz langsam löst sich der Schmerz im Leben. Von einem gewissen Punkt an. Death zone. Wer den überlebt, lebt. Jeder Lebende ist ein überlebender Toter. Quatsch. Gefühle schmelzen an der Sonne. Geh ins Eis, in den ewigen Schnee. Konservier deinen Schmerz. Was machte das Gebären abschreckend für diese Frau? Die Passivität, mit der es sich vollzog? Ein Akt des Erleidens eher, denn der Schöpfung? Die bewohnte Frau. Eine typische Eva. Vom Schutzraum, vom Paradies träumen. Hat sie es, ist ihr langweilig oder wie immer dieser Zustand genannt werden mag: Abwesenheit von wirklichem Leben - Stoff so manchen Dramas. Was aber war das Leben? Offenbarte solche Haltung nicht impliziten Hass gegen das Kind? Die Frau als Opfer der Natur? Welche Frau weiß nicht, dass, wenn sie gebiert, sie von sich selbst, von ihrer Schönheit abgibt an eine andere Generation, von der sie ausgeschlossen ist. Die neue Übersetzung stammte von einem Mann, doch das hatte nicht viel zu sagen. Mancher Mann war neuerdings feministischer als die Frauen. Als Kind hätte Nora diesen Sätzen unbedingt zugestimmt. Geschichten vom Krieg waren Großvatergeschichten. Im Krieg ging es lustig zu, jedenfalls lustiger als daheim, wenn sie die Reden der Großmutter dagegen setzte, für die der Krieg eine fortgesetzte Jammergeschichte war. Nora hatte immer versucht, sich das vorzustellen: ein von Männern leergefegtes Land. Während die Männer in den Schützengräben lagen und sich die Kugeln um die Köpfe pfeifen ließen, mussten die Frauen zu Hause die schwere Arbeit verrichten, damit sie und die Kinder überlebten. Während die Männer kameradschaftlich durch fremde Länder marschierten, und unentwegt singend die seltsame, unbekannte Landschaft bewunderten, standen die Frauen (und Kinder) Todesängste im Bombenkrieg aus. Sind doch wir Frau'n das traurigste Gewächs. / Erst müssen wir für teures Geld den Gatten / Uns kaufen, dann verfügt er über uns / Als Herr... Manchmal dachte Nora, dass es die Geschichten waren, die Männern und Frauen den Kopf verdreht hatten. Die Männer, die nach Hause kamen und von der Welt erzählten, von ihren Heldentaten. Wie bei Homer. Doch die Niederlage ließ sich nicht fortreden. Was blieb, war die persönliche Listigkeit. Man selber war gescheiter und findiger als die Kameraden, die leider auf der Strecke geblieben waren. Im Wortsinn. Großmutter und Mutter, die sich wissend anschauten. Der Vater träumte schlecht, er hatte schlimme Erinnerungen, Sorgen - man musste ihm seine Geschichten lassen - er musste das Gesicht wahren können. ...tippte sie ihm sanft auf die Schulter, / lachte leise und lispelte: / Spar dir die Schnurren ruhig für meine Eltern, / die, alt und ein wenig wacklig auf den Beinen, einen wahren Heißhunger / auf solche Geschichten haben, je toller, / desto besser. Ich weiß sehr wohl, dass man alle Orte, / die du beschreibst, bequem zu Fuß oder mit dem Wagen erreichen kann. / Überdies ist Kirke eine gute Freundin von mir und ich darf dir versichern, sie ist / nicht halb so schlimm, wie du sie machst. Hatten die Frauen ihnen geglaubt? Das wollten sie auch haben. Etwas erleben. Leben. Da sie es bis heute nicht gefunden zu haben schienen, glaubten sie immer noch, die Männer enthielten ihnen etwas vor – jedenfalls glaubten es die dummen und gutwilligen. Wir leben doch längst im Matriarchat. Leider war mit der Matriarchin ebensowenig Staat zu machen wie mit dem Patriarchen. Junge Frauen hatten es gerne, wenn Männer ihnen das Blaue vom Himmel erzählten. Solange sie verliebt waren. Die Mütter riefen die Väter zur Ordnung. »Erzähl dem Kind nicht solchen Unsinn, es wird ja ganz wirr im Kopf.« Nora hatte bedauert, dass der Vater ihrer Tochter kein Geschichtenerzähler war. Manchmal dachte Nora, die Mütter wollten verhindern, dass aus ihren Töchtern ›Vatertöchter‹ werden. Was mochte das für Gründe haben? Sicher spiegelte es die Enttäuschung über das Leben mit den Männern, eine Enttäuschung, die sie den Töchtern ersparen wollten. Vielleicht war es Neid auf das, was ihnen verloren gegangen war oder was sie - warum auch immer - nie erfahren hatten. ...ist das nicht schlimmer noch als schlimm? / Und davon hängt nun alles für uns ab, / Ob uns ein schlechter oder guter Mann / Beschieden. Scheidung schadet ja dem Ruf / Der Frau... Und die Männer? Erst neulich auf dieser Fête, wo war das noch... ach ja, Gabis Geburtstag, genau, in der alten Mühle. Stundenlang hatte dieser Mensch sie mit Beschlag belegt. Sie hatte wieder ein paar ihrer antifeministischen Reden geschwungen, die eher ihre Erbitterung über die Laufrichtung - Kafka lässt grüßen! - dieser... Bewegungen musste man ja wohl sagen, widerspiegelten als irgendeine Form von Frauenfeindlichkeit. Im Gegenteil. Stundenlang hatte dieser Typ ihr erklärt, was für großartige und bewundernswerte Wesen diese Frauen seien. Seine machte da keine Ausnahme. Wo er sie an diesem Abend gelassen haben mochte? Die Schuld der Männer sei nicht wegzudiskutieren, aber das sei ja nun alles anders. Gottseidank. Sie gab ihm reichlich kontra, was seine Eifrigkeit nur anstachelte. Hin- und hergerissen zwischen mühsam verbissenem Gelächter und Verärgerung war sie ihm zu später Stunde endlich entwischt. Diese Herren, die ihre Pirouetten drehten auf den Schleimstraßen der Frauenideologie, waren ihr ein ebensolcher Greuel wie die Ideologie selbst – wahrscheinlich glitt es sich wunderbar dahin, solange mann nicht ausglitt. Schleppenträger und Schaumschläger gab es immer. Daneben gab es die Ritter von der traurigen Gestalt, die, müde davon, sich von ihrer Dame in den Kampf schicken zu lassen, müde von der ewigen Jungfrauenretterei, vom Drachentöten und anderen Heldenspielen, die Frauen beim Wort nahmen, sich im Verstehen übten. Les héros sont fatigues! Das ließen sie sich nicht nehmen. Von einer Frau schon gar nicht. Frauenversteher. Ihr mühevoll und entbehrungsreich erworbenes Bild vom unterdrückten Geschlecht. Die Sache hatte einen Beigeschmack, denn im Grunde hatte ihre Rede sich nicht verändert, sie hatten – welch wunderbare mathematische Begabung – lediglich ein Plus- statt eines Minus-Zeichens davor praktiziert. Und wie ihnen die Rede zu Munde stand. Waren sie nicht putzig? Nicht minder putzig als all die unterdrückten Damen, über die sie sich auf dem Weg ins Theater mal wieder echauffiert hatte. Halb an-, halb ausgezogen, bereit, sich von Blicken ganz entkleiden zu lassen. Dessous hätte man solche Kleidungsstücke zu anderen Zeiten genannt. Das Innerste nach außen gekehrt. Intimate. Plakatwände, Litfasssäulen, Werbetafeln. Öffentlich vollzogen sie oder ließen sie an sich vollziehen, an ihren Konterfeis, Papierkörpern - Pixel für Pixel liebevoll nachgearbeitet -, was die Feministinnen sexuelle Ausbeutung genannt hatten. Überdimensionale Brüste und Hintern auf Seh-, Riech- und Fühlhöhe gebracht. Welcher Mann zwang sie zu diesem Verhalten? Der Zwang, die von Männern erdachten Frauenbilder freiwillig zu praktizieren? Widersprüchliche Frage. Das richtete sich doch heutzutage an Frauen, oder? Marylin Monroe war noch ein Opfer der Männer gewesen. Madonna aber war selbstbestimmt. Die große Öffentliche. Das wusste doch jede. Die umfassende Präsenz gewerblicher Zurschaustellung ließ den Schluss zu, dass das Frauenbild in den realen Frauen ein Pendant hatte. Oder war es eine Aufforderung? Mach dich frei! Die Erklimmung einer neuen Stufe? Erica Jong hatte mit Angst vorm Fliegen noch einen Skandal provozieren können, heutzutage titelte schon der Express: Sarah Connor - Ich hatte Sex im Flugzeug.  Ob sich inzwischen die Männer belästigt fühlten? Schon. Aber nicht doch! Was soll man machen? Das kennt man doch. Wirklich geil diese Weiber. Also ich weiß nicht. Ja, ja. Es ist das Skandalon der Frau als Täterin, der Frau, die ihre, patriarchaler Rollenzuteilung nach, natürliche Bestimmung zur Passivität aufkündigt und das Gesetz des Handelns an sich reißt. Der kopflose Mann und die Frau, die die Hände in den Schoß legt. Ein reizendes Paar. Angesichts der Realität hatten sich die Fragen verflüchtigt. Die Zahl der attraktiven Berufe, die sich mit dem Coming-out von wem oder was auch immer beschäftigten, hatte erheblich zugenommen. Der Zwang zum Geständnis. Tätiger Foucault. Auf beiden Seiten. Aber was hatte das mit Medea zu tun?

Wohlauf, besinne dich auf deine Künste, Medea,
besinne dich auf Trug und Tücke!
Schreite zum Äußersten!

Wenn sie so weitermachte, bekam sie von der Inszenierung so wenig mit, dass sie gar nicht sagen konnte, ob die Neufassung gelungen war oder nicht. Wenn keine Moral mehr gelehrt wird, keine Religion mehr Glauben findet, kein Gesetz mehr vorhanden ist, wird uns Medea noch anschauen, wenn sie die Treppen des Palastes herunterwankt, und der Kindermord jetzt geschehen ist... Die Wirklichkeit sah immer anders aus. Mord, der im Verborgenen blüht. Mord, der nur Aufsehen erregt, wenn er zum physischen Tod führt. Mord an der Seele des Kindes. Er wirkte lebenslänglich bei den überlebenden Opfern. Kein Gesetz hat es bisher geschafft, das zu verhindern. Gegen psychische Gewalt, die auf so leisen Sohlen daherkommt, die sich in das Gewand der Mutterliebe kleidet, gibt es keine wirksamen Gesetze. Weibliches Töten ist ein Schritt aus der weiblichen Sprachlosigkeit. Es heißt nichts anderes als: Ich spreche. Jetzt spreche ich. Philosophie von der anderen Seite. In den falschen Händen ein Sprengsatz, eine Brandbombe. Mit dem Feuer spielen. Theoretisch. Foucault im Anderland. Glühen. Verglühen. Die Farbe Rot. Das Rumpelstilzchen. Die roten Schuhe. Die (Schwieger-)Mutter, die auf dem Grab tanzt, bis sie tot umfällt. Feuer unterm Hintern machen. Jetzt spreche ich. Will heißen, ich zwinge euch meine Gesetze auf. Gesetze? Das Gesetz der Gesetzlosen. Gnade. Gnade ist der Zustand der Gesetzlosigkeit. Das Feuer läutert. Im Feuer geläutert. Gebranntes Kind scheut das Feuer. Dass eine wie du mit dem Reden ein Feuer entfacht, einen Brand von der Größe deiner Angst und des Schmerzes, den du gleich spüren, dir einverleiben und wieder ausspeien wirst. Durch welche Feuer musste man gegangen sein, um so zu reden?

Weh, dass die Liebe so zum Fluch
für einen Menschen werden kann.

Ein leises Schuldgefühl stieg in Nora hoch. Habe ich den Menschen um mich herum, unbeugsam die Wahrheit sagend, Verletzungen heimgezahlt, die sie mir beigebracht? Sie warf einen verstohlenen Seitenblick auf Sarah, die dem Stück aufmerksam folgte. Die roten Flecken am Hals hatten sich verflüchtigt und Sarahs Hände lagen friedlich in ihrem Schoß. Der Zauber des Theaters  hatte eine sanfte Röte auf ihre Wangen gemalt. War sie das Opfer von Noras Wahrheitsliebe geworden? Diesem Zwang, sich nicht mit den landläufigen Lösungen zufrieden zu geben. Hatte sie ihr den Vater gestohlen? War Wahrheitsliebe wirklich die Triebfeder ihres Handelns gewesen oder war es ein subtiler Racheakt, der die Tatsache überdecken sollte, dass es mit der mythischen Zusammengehörigkeit nicht so weit her war? Dass ihre Verbindung sich als ebenso zufällig erwiesen hatte wie alles auf dieser Welt? Nora war sich selbst nach all den Jahren ihrer Motive nicht sicher. Beim Friseur hatte sie - man weiß ja, dass die Menschen ihre Weisheiten beim Friseur erlangen, oder beim Arzt - eine Schlagzeile gelesen: Traumehe zerstört! Die Sprache war seltsam unentschieden. War es der Traum von der Ehe oder die Ehe als Traum? Wenn zwei Prominente sich vermählten, war das eine Traumverbindung? Wer träumte denn da? War es der Traum des Schmetterlings, der träumte, ein Schmetterling zu sein oder... Ach was. Sie hätte sich natürlich auch ganz anders verhalten können. Ob Sarah damit gedient gewesen wäre? Sie wusste es bis heute nicht. Edgar hatte sich immer eine Tochter gewünscht. Söhne reproduzierten das Vaterproblem. Aber er war nun einmal nicht der Vater, und das hatte sie ihm vor der Heirat gesagt. Wann sonst?

Alles hat sich gewandelt,
Ehre und Lob gilt fortan den Frauen,
üble Nachrede erreicht sie nicht mehr.
Die alten Gesänge der Dichter,
dass wir nur Lug und Trug kennen,
müssen jetzt verstummen.

Eine wunderbare Volte. Wie hieß es vorher? Das Wasser der heiligen Flüsse / fließt zu den Quellen zurück. Wohl wahr. Damit sind wir zu den Anfängen zurückgekehrt, doppelt gewendet. Was ist dann die Liebe? Wer bestimmt das? Die, die darüber schreiben, oder die, die sie leben? Nun haben die, die darüber schreiben, sie ja auch gelebt und leben sie jeden Tag. Aber in dem Moment, in dem sie sich als Schreibende verstehen, es nicht einfach nur tun, ändert sich etwas in dem diffizilen und beweglichen Gleichgewicht oder Gemisch, ändert sich die Gemengelage. Der verschlossene Garten. Hortus conclusus. Gedanken sind wie Pflanzen. Sie brauchen den richtigen Boden, müssen gehegt und gepflegt werden. Veredelt... Undines Journal. Ein Rechenschaftsbericht über das Projekt Liebe? Ja, ja, ich weiß, das gilt als veraltetes Modell. Reine Sentimentalität. Es gibt die Gentechnologie. Und irgendwann kommt alles aus dem Labor. Vielleicht schon heute...? Wir wissen es nur nicht? Was war dann die Liebe? Nora stellte sich die Frage erneut. Die Liebe in ihrem ganzen Umfang, die Mutterliebe gehörte dazu. Wie oft las man eine Beschreibung, einen Ausdruck, ein ›gelungenes Bild‹ für ein Gefühl und dachte: »Genau!« Bis zu diesem Augenblick war die entsprechende Episode im eigenen Leben vielleicht vergessen oder nicht mit dem Lorbeer des Besonderen ausgezeichnet. Durch diesen Ausdruck oder Satz kam sie empor, schwebte herbei und verband sich mit ihm. War wieder lebendig. Doppelt erlebt. Im Moment des (Wieder-)Erlebens eine Art lebendiges Metagefühl. - War Erinnerung das Gefühl eines Gefühls? Der andere Zustand. Was war der Unterschied zwischen weiblicher Wendigkeit und Musils Möglichkeitsmenschen? Worte sind Orte, die freigelassen sind im poetischen Gebrauch. Die Worte sind die eigentlichen Möglichkeitsmenschen. Sie begehren alles zu sein - sind es zu gleicher Zeit. Aber der, der sie erweckt, ist nach menschlichem Maß. Immer nur in der Lage, einen Teil auf einmal zu erfassen. Das andere ist dann die Zugabe. Es sieht aus, als sei das Wort der ganze Mensch, die Gestalt, nach der wir uns sehnen, aber zugleich nur die leere Hülle, in die wir alles hineinstecken - was ausdifferenziert natürlich immer mehr wird. Die Bedeutung des Wortes schwillt an, bläht sich wie eine Kaugummiblase. Die dünne Haut, die es von anderen Worten trennt, die, mit denen es sich nicht einlassen darf, um nicht seine Unschuld zu verlieren - als ob es die je gehabt hätte. Evas Traum vom Paradies. Der Schutzraum. Manchmal implodiert es dann. Oder einer kommt daher und benutzt es auf ungeheuerliche Weise, so dass es erst wieder ›rein‹ werden muss. In einem Journal konnte daher sehr Widersprüchliches stehen, das aber doch eins war. Die Ausfaltung einer Person in der Ebene, der Fläche, die Worte, Denken, Schreiben heißt und als Aufgeschriebenes sich wieder erheben kann, ablösen vom Träger, auf den Suchenden zuschweben wie eine Fata Morgana. Worte sind Ausdruck von Obsessionen. Eine Gefahr für die poetischen Bilder, für das Ästhetische in einer Gesellschaft, die alles zum Nennwert nimmt, die Worte zu Münzen macht. Doch sage den Menschen, es sei kein Wunder, wenn es in allen Ecken nach Pisse stinke, da sie das Leben zur Bedürfnisanstalt gemacht haben, so wenden sie sich indigniert ab und verstehen nicht, wie du als gebildeter Mensch so rüde daherreden kannst. Den Luxus, Feinheiten der Seele zu entwickeln, hatten sie sich nie leisten können. Undine bleibt, nur nicht Undine. Im Grunde wissen wir von einem Menschen, der uns nahesteht nur, wie er in Bezug auf uns und andere sich uns zeigt. Diese Tür ist nur für dich bestimmt - auch so kann man Kafka verstehen. Es muss so sein, wie unter Tränen lächeln.

Ach, ich armes Weib, wie leicht lasse ich mich
zu Tränen rühren, wie bin ich voller Mitleid!
Dass der lange Streit mit dem Vater vorbei ist...

War das larmoyant oder rührselig? Der Übergang von der ›starken Frau‹ zum ›armen Weib‹ war fließend und von atemberaubender Schnelligkeit. Plante Medea doch heimlich die Rückkehr nach Kolchos? Im Drachenwagen? Die Rückkehr zum Vater? Ach wo!  Zu welchem? Zwei Väter waren ihr Opfer geworden? Oder waren es drei? Die Lust aller großen Untergänge war, dass die Rechnungen gegenstandslos wurden... War das wichtig? Die Rückkehr aus der vaterlosen Gesellschaft. Zu was? Über drei Generationen zog sich das Drama nun. Der im Krieg gefallene Großvater, der plötzlich fünf Straßen weiter mit Frau und Kind auftauchte. Das Geheimnis, das alle kannten. Der vaterlose Vater. Diese Mischung, etwas nicht zu sein, das er sich so sehr gewünscht hatte und etwas nicht sein zu dürfen, was die Frauen – auch die, die er geheiratet und mit der er dieses Kind gezeugt hatte – repräsentierten, prägte sein Verhältnis zu ihr, der Tochter. Und Sarah, das Kind mit den zwei Vätern, das vaterlos aufwuchs. Nachdem sie Edgar als Vater verloren hatte, da er nicht der ›richtige‹ war und es nicht sein konnte, da er sein Kind verloren hatte durch die Intrigen der Frau. Nach dem Abitur hatte Sarah sich auf die Suche nach dem Vater begeben. Ans andere Ende der Welt. Drei lange Monate, die für Mutter und Tochter zum Albtraum wurden, die Telefone heiß laufen ließen. Drei Monate, in denen die Nachrichten von der Tochter ins Schreibdomizil der Mutter einflogen wie Noahs Tauben, die nur zu berichten wussten, dass die Sintflut eine Wahnvorstellung der Arche war und sie bereits seit Jahrzehnten auf dem Trockenen saßen. Das unendliche Projekt der Moderne fiel in sich zusammen. Es ist wahrscheinlich wie mit der Paradiesgeschichte: wenn man nicht richtig hineinkommt, kann man auch nicht richtig aus einer Sache herauskommen. Eingang und Ausgang waren eins geworden und kein Kind rief: Der Kaiser hat ja gar nichts an. Programm geworden fiel die Nacktheit keinem auf. Alle starrten in die Reiseprospekte, während die Ziele der Sehnsucht längst vom Tsunami gefressen waren. Untergegangen im Schlund der ewigen Fluten. All die sich verdoppelnden Gestalten und immer dazwischen sie. Jede Beziehung wurde zur Menage à trois. Wann immer sie an den Vater dachte, legte sich Edgars Bild darüber. Die janusköpfige Mutter, die den Kampf der Frauen ihrer Generation in sich austrug. Und über allem thronte die tote Großmutter. Gespenstisch und mit hängenden Mundwinkeln, bereit, alles und jedes der giftigen Rede zu opfern, einer Rede, die als unterirdischer Strom weiterlebte. Die Rückkehr wohin? In welche Heimat? Keiner hat den anderen gefragt über sein Leben. Es gibt keine Verbindung zwischen ihnen als diese wenigen zufälligen Treffen und das Sprechen über die Toten. Vielleicht hätten Sarah und Edgar eine Chance gehabt, wenn sie geschwiegen hätte. Aber gab es ein Glück, das auf die Lüge baute?

Die beiden Leichen liegen noch nebeneinander,
Vater und Tochter, ein jammervoller Anblick.

Inzwischen galt schon das Erzählen selbst als Form der Sinngebung. Das innere Theater. In der vaterlosen Gesellschaft, in der der Freudsche Vatermord nicht mehr stattfindet, da er als Gattenmord schon geschehen ist, geschieht der Muttermord. Der von Müttern begangene Mord an den Töchtern. Vampirexistenz hatte sie diese Lebensform bei sich immer genannt. Das tertium comparationis war die Entkernung oder der menschliche Tod des Opfers, der Person, die es traf. Der Biss war die Wunde, die man ihr zufügte, das Ziel der Austausch der Lebenssäfte, so eine Art negativer Transfusion. Die Vampira stellte sich neben das Opfer - Mann, Tochter - und beobachtete seine Handlungen, Gedanken, Vorlieben und Abneigungen, in dem Bestreben, sich in sie einzupflanzen. Maßgabe der Überlegung war, wie sie es besser machen könnte, wäre sie erst auf den Zug aufgesprungen und hätte die Lenkung übernommen. Den Rest der Zeit war sie dann damit beschäftigt, die unappetitlichen Überreste zu beseitigen, so unauffällig wie möglich. Niemand sollte von der ›Übernahme‹ Wind bekommen. Die von ihr gelenkten, in den Augen der anderen ›irrsinnigen‹ Taten der ›übernommenen‹ Person mussten auf sie zurückfallen. Oberste Regel war, das Opfer vor anderen mit dem Nimbus der Unfähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit auszustatten. Ein Vorgang, der - war die Vampira nur einigermaßen hübsch oder unauffällig glaubwürdig, der Kumpeltyp - meist sowohl bei Frauen wie bei Männern mühelos gelang. Auf den Rest, der sich nicht einfangen ließ, konnte sie getrost verzichten, ihn vielleicht sogar bezichtigen. So raste das Opfer, ohne das Geringste zu ahnen, unaufhaltsam dem Abgrund zu. Wieviele solcher Untoten herumlaufen mochten? Schwierig war nicht die Übernahme, schwierig und eine Herausforderung, die den ganzen Einsatz erforderte, war die lautlose und reibungslose Fortführung. Genau darum ging es. Von außen musste man glauben, jemand gäbe sein Leben dahin, würfe es in die Wagschale, um die anderen in Gang zu halten. So war es auch. Aber genau das war der Divergenzpunkt zu dem, was man üblicherweise ›Selbstlosigkeit‹ nannte. Im wahrsten Sinne des Wortes war sie die Voraussetzung für eine Tätigkeit dieser Art. So war stets die Differenz gewahrt. Sich selbst konnte Vampira, die ›Selbstlose‹, immer als geschickter, besser, logischer, oder was ihr einfiel - und auf diesem Gebiet war sie findig und fündig -, herausstreichen. Ihre Weichenstellungen wurden von niemandem bemerkt, der nicht genau hinsah - der Vampirexperte war gefragt. Auch war die Installation nicht schwierig. Eine solche Vampirexistenz hatte zwar die Verkümmerung bestimmter Organe zur Folge, dafür aber fiel ihr ein eigens zum Zweck der Beherrschung des Opfers ausgebildetes zu. In ruhiger, ›selbstloser‹ und ›liebevoller‹ Zuwendung verschaffte sie sich die nötigen Informationen. Der Teil der Beziehung, den das Opfer später als die Zeit der innigen Zuwendung und eines ungestörten Beisammenseins in Erinnerung behalten und die es ihm schwer machen würde, sich aus den Verstrickungen zu lösen. Was natürlich gewollt war. Waren erst alle Informationen zur Hand und vor allem die eine, die über die Stelle, an der der Biss zu platzieren war, um mit einem gezielten Zugriff die ganze Person in den Griff zu bekommen und sie laufen zu lassen. Wie der Zuhälter, der seine ›Bienen‹ für sich arbeiten ließ, und in den Genuss ihrer Aktivitäten gelangte, indem er ihnen den Honig sprich das Geld abzockte. Bemerkte das Opfer irgendwann, was mit ihm geschah, so war es meist zu spät. Es sah sich gefangen in den Netzen der eigenen Ängste, Verpflichtungen und Verantwortung. Zudem war es zunächst ausgiebig damit beschäftigt, den Wendepunkt zu bestimmen. Was war geschehen? Wann war die fatale Umpolung eingetreten? Und meist gelang es der Vampira mühelos - wenn sie es überhaupt für nötig erachtete und nicht die Ungewissheit als weiteres Instrument einsetzte, eine Form, die allerdings nur Eingeweihten und Fortgeschrittenen zur Verfügung stand, Nora erinnerte sich in diesem Moment an die Warnungen, die bestimmte Computerprogramme ausspuckten, wenn man in ihren Eingeweiden herumzukonfigurieren versuchte -, auch dafür noch eine Erklärung zu geben, die die Schuldgefühle verstärkte und den Eindruck des Versagens so stark werden ließ beim Opfer, dass dies mitnichten die Auflösung der Situation zur Folge hatte, sondern das Bemühen, endlich das Richtige zu tun, noch verstärkte. Damit war das Hamsterrad komplett. Nicht selten waren die Kinder, die man vor dem fatalen Treiben der Vampira retten, aus ihren Klauen befreien wollte, das Mittel, das die Fäden fester zurrte. Nora seufzte. Genau das war Edgar passiert und auf einmal wusste sie, dass all ihre Gespräche sich in Wahrheit um diesen einen Punkt gedreht hatten. Leider war dabei auch ihre Beziehung in die Brüche gegangen, zur großen Befriedigung dieser Person, denn das war der nicht zu verachtende Nebeneffekt ihrer Bemühungen gewesen. Schließlich war ihr Bedarf groß, und frisches Blut nicht zu verachten. Man gab ja nichts dafür auf, denn wo nichts ist, ist auch nichts zu opfern, was im Übrigen den Einsatz der Opferrhetorik - meine besten Jahre! - nicht im mindesten behinderte, im Gegenteil. Zu guter Letzt hatte er sein Kind endlich in Händen gehalten. Wie groß war das Entsetzen, als er merkte, dass sie auch ihm längst die Kehle des eigenen Lebens durchschnitten hatte und er eine blutleere Hülle in Händen hielt. Die Person - Nora konnte sich bis heute nicht dazu durchringen, sie beim Namen zu nennen. Hatte eine solche Person überhaupt so etwas wie einen Namen? Wer einen Namen hat, den kann man bei ihm rufen und er muss sich dazu verhalten. Es gab aber diese Sorte Allerweltsnamen, die bewirkten, dass eigentlich niemand genau wusste, wer gemeint war. Die Person hatte einen weiteren Trumpf in der Hand: der Mann - erschrocken über den Zustand des geliebten Kindes - verharrte einen Moment zu lange in der schockierenden Situation und schon war das Bild festgezurrt und an die Umwelt übermittelt. Er hatte das Kind getötet, seine Beziehung zu ihm, aus lauter Unfähigkeit. Und daran war ja etwas Wahres, nur dass die Unfähigkeit sich nicht auf das Kind bezog, sondern darauf, das unselige Treiben der Vampira rechtzeitig zu erkennen. Das Ephemeros-Motiv. Noch einen Tag. Der ihr gewährt wurde, trotz des großen Unbehagens, das alle in die Situation verwickelten Personen - war nicht selbst der Chor gefangen? - an der Stelle beschlich. Aber man wollte nicht unmenschlich sein. Das war ein Aspekt der Sache, der andere, dass man diese Person irgendwann gewählt hatte, unter anderen. Oder war sie einem zugefallen? Wer sollte das entscheiden? Zudem hätte es bedeutet zu erkennen oder zuzugeben, dass die Sache sich nicht zufällig ergeben hatte, sondern von Anfang an geplant war. Nun ja - geplant war wohl nicht der richtige Ausdruck, eher musste man sagen ›so angelegt‹, denn eine Vampirexistenz ist eine Anomalie, eine tödliche Krankheit sowohl für den Vampir als auch für das Opfer. Bei Medea trat die Tat offen zutage, aber das war eine Tragödie mit allem, was dazugehörte: einer Peripetie und der Katharsis. Im Leben sah das anders aus und zudem bot eine frauen- und mutterideologisierte Gesellschaft die psychischen Stellwände, um auch eine solche Tat vor den Augen der Gesellschaft abzudunkeln und auf den Mann zurückfallen zu lassen. Das bestgehütete Geheimnis der Kolcher. Ein Geheimnis, das alle kannten, ohne Genaueres zu wissen. Nora seufzte - (zum wievielten Male in diesem Buch? - und die Erzählerin bekam langsam kalte Füsse): War das nicht ein wenig zuviel des Guten? War die Form der Emanzipation, die sich in unserer Gesellschaft ereignet hatte, die Ermöglichung der Vampira? Nun endlich auch im Beruf. Unter Emanzipation hatte sie sich vorgestellt, dass die Frauen ihre eigene Sicht auf die Dinge, ihre eigene Moral entwickelten. Statt dessen waren sie auf die Jagd nach den Positionen der Männer gegangen. Den freigelassenen Sklaven - den ersten Emanzipierten - hatte man nachgesagt, sie trügen die Ketten ihrer Gefangenschaft noch im Kopf. Und - Frauenideologie hin oder her - eigentlich stimmte nicht einmal das: eine von starken patriarchalen Strukturen bestimmte Gesellschaft hatte die Parole ›Emanzipation‹ ausgegeben. Über die Gründe konnte man nur spekulieren. Waren sie nur ökonomischer Natur? Die Bewirtschaftung des gender. Die Bewirtschaftung des sex hatten ja bereits diverse Religionen erfolgreich vorgeführt. Diese Strukturen wurden von Männern und Frauen mit denselben Gesinnungen und demselben Bestreben nach Macht getragen. Das waren nicht die Frauen, die nun öffentliche Ämter bekleideten. Die waren allzu oft auch nur Gefangene im Glücksrad des Karrieredenkens. Kein Zweifel bestand allerdings daran, dass es sich neuerdings wieder in die andere Richtung drehte. Aus ökonomischen Gründen? Die Karrierefrauen - Karriere begann heute bereits an der Aldi-Kasse - hatten leider das Kinderkriegen vergessen, und das konnte sich keine Gesellschaft leisten, wollte sie nicht kollektiven Selbstmord begehen. Also - mach dir ein Bild! - prangten auf den Titelseiten nicht nur der Schmuddelzeitungen einmal mehr die entsprechenden Parolen. Die demographischen Zahlen standen mit dicker Tinte ins Gehirn der Medienmacher (und Verantwortlichen?) geschrieben und so wurde der alte Gegensatz hervorgeholt: Kind oder Karriere, Familie oder Beruf und man konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass all die sorgsam geführten und Nächte verschlingenden Diskussionen der eigenen Jugend nichts als ein breit organisierter fake gewesen waren, mit dem man den Tribut an den Zeitgeist entrichtet hatte, der  leider, leider mal wieder ein anderer war. Die Ideologen spielten Ping-pong und das Kind war ein schöner Ball. Die Massenkultur in Form des Marktes war die Fortsetzung der Diktatur des Proletariats, des geistigen. Ein einziger Beruf schien - bis Pisa jedenfalls - nicht nur völlig unangetastet und unangekränkelt von diesen Überlegungen, er hatte sich, anders als in früheren Gesellschaften, die keine verheirateten Frauen in ihm duldeten, als Idealberuf der gut ausgebildeten Frau flächendeckend durchgesetzt: der der Lehrerin. Und damit natürlich auch die Steuerung der kommenden Gesellschaft über oder durch die Köpfe der Schüler. Glaubte wirklich jemand, die Frauen hätten sich auch nur einen Moment mit der Vermittlung von Wissen aufgehalten? Das wäre ja Verschwendung ihrer sozialen Kompetenz gewesen. Nora dachte an die eigene Schulzeit und an die Jungenklassen, auf die sie früher so neidisch geschielt hatte. Weiberkram. Sie verweilte ein wenig bei dem Gedanken, dass auch die Knaben heutzutage von der Wiege bis zum Abitur überwiegend von Frauen erzogen wurden: alleinerziehend, ein Wort, das - mit Hochachtung geraunt und vieles Leid vergessend - die Gegebenheiten der Gesellschaft immer zutreffender verbalisierte und seinen Hintersinn hemmungslos freiließ. Leider konnte man sich nicht einigen, welche Art von Mann dabei herauskommen sollte, denn der ›Softie‹ schien längst wieder out. Na ja, die anderen konnte man sich notfalls in Form nostalgischer Western ›reinziehen‹. Aber so einfach war das nicht - und so hatte die Gegensteuerung in der Gesellschaft, sicher nicht zum Gewinn oder Nutzen der Frauen, bereits eingesetzt. Das menschliche Experiment war fehlgeschlagen und das Pendel konnte sich wieder mal auf seinen mechanischen Weg machen.

Jason:
Kinder, welch ein schlechtes Weib war eure Mutter!

Medea:
Kinder, ihr musstet sterben
durch die Schandtat eures Vaters!

Chor:
Zeus im Olymp ist der Herr über alle Dinge.
Vieles vollenden die Götter unverhofft,
und was wir wähnen, erfüllt sich nicht.
Für Unglaubliches findet der Gott einen Weg.
Das hat sich auch hier wieder gezeigt.

Nora schreckte hoch aus ihren Gedanken. »Was ist? Brauchst du eine Extraeinladung oder können wir jetzt gehen?« Sarah war bereits aufgestanden und sah ihre Mutter forschend an. Nora erhob sich langsam. Hatte es keinen Applaus gegeben oder hatte sie den auch verschlafen? Edgars Worte im Foyer fielen ihr ein und gewannen zunehmend an Kontur. Aber bitte, meine Lieben, entschuldigt mich, ich beabsichtige endlich meinen Platz einzunehmen. Hab' mich gefreut, euch zu sehen und wünsche viel Vergnügen. Vielleicht bringt die Aufführung ein wenig Klärung. In den Fall. Ein leiser Verdacht regte sich in Nora. Sollten die Karten...? Wie immer kam die Einsicht ein wenig spät. Sein Geburtstagsgeschenk für sie? Der Mythos erfindet keine Gestalten, er typisiert. Mund aus tausend Munden. Er dichtet den Gestalten Züge an, die sie zur Kenntlichkeit bringen. Sie hatte das antike Drama auf diesem Hintergrund gesehen. Auf ihrem? Seinem? Sarahs? Das war die Neuinszenierung. Und in diesem Sinne war sie gelungen.

Die Menschen sollten sich
auf andere Weise fortpflanzen,
es sollte überhaupt keine Frauen geben.
Dann wäre die Welt von allem Bösen frei!