Falls es denn greifen
sollte, dieses Gesetz, und sicher ist dies freilich nicht, recht
unwahrscheinlich sogar, eigentlich kaum zu befürchten, was einfach
nur bedeutet, dass es ganz so schlimm doch nicht steht, ‒ falls es
also greifen sollte, dennoch, so wird das Feuilleton der Zwanziger
Jahre Stoff haben für eine Debatte mehr.
Woran sie sich genauer hängen wird, ist nicht abzusehen. Es wird
aber dieses Gesetz gegeben haben. Für Paare im passenden Alter und
mit sattem Doppeleinkommen wird es hinausgeworfenes Geld gewesen
sein, im Jahr 2007 und danach kein Kind gehabt zu haben. Dies ist
fast ein Zitat, entnommen der medialen Vorbereitung lange vor der
ersten Lesung. Wenn es gegriffen haben sollte, wird eine
statistisch signifikante Anzahl von Paaren das Geld nicht
hinausgeworfen haben. Es wird eine Generation von dann ungefähr
Zwanzigjährigen geben, die ihre Existenz dem finanziellen Anreiz
verdanken, den zu setzen sich die große Koalition des Jahres 2005
kurz nach ihrer Gründung eiligst durchgerungen hat.
Wie wird man sie nennen, diese Generation? Ein Nostalgiker mit
Interesse für die Geschichte des Automobilbaus könnte auf die Idee
kommen, augenzwinkernd von der S-Klasse zu sprechen. Nach
Gesprächen mit weniger zum geistvoll Doppeldeutigen geneigten
Kollegen könnte davon bleiben, dass man sie, Bedenklichkeiten hin
oder her, jedenfalls als subventioniert bezeichnen müsse. Ein paar
Bürotüren weiter könnten daraus Elemente eines Diskurses über eine
existenziell subventionierte Generation entstehen, ausgesponnen
vielleicht zu einem Diskurs über eine Politik der existenziellen
Subvention, die man – damals, um die Jahrtausendwende herum – einer
Politik der bloßen Subvention entgegengestellt habe. Existenziell,
so könnte man präzisieren, seien Subventionen, die etwas zur
Existenz brächten, bloße Subventionen dagegen solche, die
Existierendem, das schwächle, die Weiterexistenz oder ein
qualitativ verbessertes Existieren ermöglichten. Zum Zwecke der
einfacheren Verständigung könnte man sich schließlich darauf
einigen, die besagte Generation kurz als Generation S zu bezeichnen
und es fortan dabei belassen.
Elterngeld bekommen, wie man weiß, nicht nur Paare mit sattem
Doppeleinkommen. Auch Paare mit durchschnittlichen oder mageren
Einkommen bekommen etwas. Nicht einmal Familien, deren Einkommen
sich in der Nähe der Armutsgrenze oder jenseits dieser Grenze
bewegen, gehen leer aus. Wer weniger verdient, bekommt freilich
weniger. Wer weniger verdient, benötigt zur Fortpflanzung vom
Staate keinerlei Anreiz. Das sagen die Statistiken. Und das ist es
ja, woran sich der Gesetzgeber abmüht: Sozialrealpolitik.
Auch in der Gesetzgebung zeigt sich Genie darin, den Schein, hier
den sozialer Taktlosigkeit und Verquertheit, zu durchdringen und
geradeaus zum Sein sachlicher Notwendigkeiten fortzuschreiten.
*
Das Szenario wird das einer von Anfang an in Parallelwelten
lebenden Gesamtgeneration sein. Wie der Stern allein, anderswo,
nicht die S-Klasse ausmacht, so das Elterngeld allein nicht die
Generation S. Es muss Anreiz zur Fortpflanzung gewesen sein,
zumindest darf es nur und ausschließlich so gerechtfertigt gewesen
sein. Nur wer sagen kann, die Berliner Republik habe es sich etwas
kosten lassen, die Eltern zur Fortpflanzung zu bewegen, und nicht
etwa, um ihnen finanziell unter die Arme zu greifen, denn das
hätten sie im Prinzip nicht nötig gehabt, darf sich zur Generation
S rechnen. Wer das nicht kann, gehört zu der einen oder anderen
Parallelgeneration, etwa zur Generation Hartz IV oder auch, die
Kinder von Angehörigen der Bundeswehr könnten sich so nennen, der
Generation Afghanistan.
Es wird sich, aber das versteht sich von selbst, um eine digital
bestens behauste Generation handeln. Die Bedeutung der verführenden
Hand des Familienministeriums für das eigene Vorhandensein wird ihr
nicht verborgen bleiben. Wer sollte sie auch verbergen wollen?
Falls es gegriffen hat, das Gesetz, und das ist hier ja
vorausgesetzt, so wird es etwas geben, auf das man in Wahlkämpfen
als familienpolitische Großtat pochen kann. Es wird möglicherweise
sogar in aller Munde sein, als Ausdruck des Mutes zum Neuen,
beispielsweise, oder was immer im Blick auf aktuelle Umfragewerte
gerade passend sein mag.
Ob es da aber alle haben wollen? Um das Jahr 2020 herum, wenn es
bei der Generation S zu Pubertieren beginnt, könnte plötzlich die
Frage im Raum stehen, was eigentlich gewesen wäre, wenn die große
Koalition das Gesetz nicht durch die Instanzen gebracht hätte. Sie
könnte überall dort im Raum stehen, ausgesprochen oder auch nicht,
wo die Jugendlichen der Generation S mit ihren Eltern, oder auch
umgekehrt, reden.
So wie es in aller Munde wäre, als familienpolitische Großtat, wäre
das Gesetz selber schon die Antwort. Die Generation S gebe es nur,
weil das Gesetz nicht gescheitert sei. Wäre es gescheitert, so gäbe
es niemanden, der fragt.
Solange die Generation S bei all dem nur in der dritten Person
vorkommt, bleibt es windstill. Um das Jahr 2020 herum wird sie
allerdings Ich sagen und sich als das Du, um das es geht,
angesprochen fühlen. Wir also wären nicht, so wird sie fragen, wenn
die große Koalition uns nicht gewollt hätte? Sind wir also etwa die
Kinder der großen Koalition und nicht die unserer Eltern?
Mit welchen Sprachregelungen wird man in den Familien versuchen,
damit zurecht zu kommen? Wer wird es fertig bringen, dem Sohn oder
der Tochter ins Gesicht zu sagen, ohne finanziellen Anreiz aus
Berlin wären er oder sie überhaupt nicht auf der Welt? Bei uns wird
man wohl eher sagen, war es anders. Hilfreich sei es schon gewesen,
das Elterngeld, man habe sich damit die eine oder andere Freude
machen können, oder man habe es, auch das könnte es geben, auf ein
Konto eingezahlt und seitdem mehr daraus gemacht, eine gute
Grundlage für den Start ins wirkliche Leben, etwa fürs Studium,
entscheidend aber sei es nicht gewesen.
*
Unwahrscheinlich ist, dass der Mangel an sozialem Takt ohne Folgen
bleibt. So könnte es bei denen, die nicht mit einem besonderen
finanziellen Anreiz zur Fortpflanzung bedacht werden, zu der
ökonomistischen Erleuchtung kommen, auf die so manch ein Prophet
zappelig wartet. Spielerisch die quasi-direkte Proportionalität von
Einkommenshöhe und staatlicher Bezuschussung erkundend, könnte es
dem einen oder anderen wie Schuppen von den Augen fallen. Das also
sei das marktgerechte Verhalten des eigenverantwortlichen Bürgers,
zu dem allerorten aufgerufen werde! So einfach sei es im Grunde!
Als potentiell sich Fortpflanzender befinde man sich in Deutschland
in einem Verkäufer-Markt. Um nicht länger gegen die gewünschten
Gepflogenheiten zu verstoßen, werde man sich entsprechend verhalten
und die Preise ein wenig hochtreiben. Das geschehe, man lerne,
indem man die Ware knapp halte.
So etwas könnte sich herumsprechen. Die Geburtenrate bliebe, mit
ein wenig Glück, vielleicht so wie sie ist. Nur eben käme weniger
Nachwuchs von den so genannten bildungsfernen Schichten und mehr
von den anderen.
Die Hoffnungsträger selber, die potentiellen Eltern der Generation
S, könnten das Projekt ebenfalls verpatzen. Beginnen könnte es auch
hier beim spielerischen Erkunden online. Versunken in die Lockungen
des Angebots und damit befasst, die ganz persönliche Strategie zur
optimalen Nutzung herauszufinden, könnte jemand eine leise Stimme
hören, die immer schon da gewesen ist, nur eben nicht gut zu hören.
Angebot sei Angebot, sagt eine geschniegelt kumpanöse
Schmeichelstimme im Vordergrund, und wer seine Chancen nicht nutze,
den bestrafe das Leben. Also doch, ich habe es gewusst, ich habe
mich nicht getäuscht, sagt die leise Stimme dahinter, so also
tickst du.
Es wäre nicht schmeichelhaft. Dies auch, weil sie so neu und
unbekannt nicht wäre, diese Stimme. Das gibt es ja, dass etwas
überall da ist, aber versteckt im Rauschen. Wird es einmal irgendwo
wahrgenommen, aus welchem Grund auch immer, so kommt es aus dem
Rauschen hervor, und dies auch retrospektiv. So jedenfalls verhält
es sich mit dieser Stimme. Sie ist überall da, wo der Markt
schreit, dies eben als Hintergrund seines Schreiens. Den produziert
das Schreien selber. Die beiden Stimmen sind die zwei Seiten ein-
und derselben Stimme. Der Markt schreit, nicht selten auch
personalisiert dezent. Als Innenseite oder Rückseite seines
Schreiens spricht diese andere Stimme. Ob du wohl wirklich so bist?
Greifst du da wirklich zu? Ist es wirklich das, was du willst? Also
doch. Na gut. Wir haben mehr.
Nicht immer ist sie triumphierend im Ton. Meistens eher nicht. Es
scheint, dass sie nicht selten sogar traurig ist. Einen Popanz
wollen wir aus ihr nicht machen. So manches Marktschreien wäre, wie
jeder weiß, lieber still.
*
Fast ist es so wie nach der oft zitierten Stelle von Augustinus mit
der Zeit. Jeder weiß, was sie ist, solange man nicht danach fragt,
dann aber nicht mehr. Jeder weiß auch, weshalb man Kinder hat oder
will. Geht es aber darum, es darzulegen, so wird es rätselhaft.
An auflistbaren Gründen fehlt es nicht. Bis in die nicht allzu
ferne Vergangenheit, und auch heute noch anderswo, musste und muss
man sich um solche Auflistungen nicht selber bemühen. Sie waren
mehr oder weniger sozial vorgegeben. Man will Kinder, weil man das
Alter erreicht hat, in dem auch die Vorfahren Kinder wollten. Auch
die Vorstellung, niemanden zu haben, der am eigenen Grab steht und
danach Sorge dafür trägt, dass dort, was für ein Dort das auch
immer sein mag, bei uns und auch bei allen dort, deren Zukunft wir
waren, ab und zu etwas ankommt, ein Wort, ein Gedanke, eine
Erinnerung, wäre schwer zu ertragen. Wer es vorzieht, sich
nüchterner zu geben, mag auch nur vom eigenen Alter reden und
davon, dass es nicht gut sei, dann allein dazustehen.
Das alles, so oder so formuliert, mythisch, religiös,
volkswirtschaftlich, betriebswirtschaftlich oder einfach nur
vorsorgend pragmatisch, ist es also, und doch auch wieder nicht.
Was auch immer man auflistet, es wird dabei nicht bleiben. Kinder
habe oder wolle man aus diesen Gründen, den je und je genannten
eben, aber, so wird man immer hinzufügen, natürlich nicht nur
deshalb. Kein Auflisten ohne diesen Vorbehalt. Dies gilt für jede
wie immer auch verlängerte Liste. Zwar mag es immer Gründe geben,
die uns noch nicht eingefallen sind. Der Vorbehalt aber verweist
nicht auf einen später nachzuliefernden oder im Prinzip immerhin
nachlieferbaren Abschluss unserer Liste. Er verweist darauf, dass
es uns bei keiner solchen Auflistung so recht wohl in unserer Haut
ist. Je subtiler wir unser Gefüge von Gründen ausarbeiten, desto
unabweisbarer wird eine Art Spaltung zwischen unserem Gedankenwerk
und uns selber. Die Gründe, die wir ausführen, und die Kinder, die
wir wollen oder haben, Kinder mit Gesichtern und Namen, gehören
unterschiedlichen Welten an, wobei wir das Gefühl haben, es habe
damit seine Richtigkeit.
So umhegen wir unsere Liste, einschließlich der Gründe, die wir
möglicherweise noch hinzufügen werden, schließlich mit einer
Klammer. Am Ende, so mögen wir dann sagen, wollen oder haben wir
Kinder, weil sie uns fehlen oder gefehlt haben.
Wie verhält es sich mit diesem Fehlen aber bei Menschen, die keine
Kinder wollen oder sich nicht entschließen können, welche zu haben?
Vermutlich verhält es sich bei nahezu jedem anders. Es wird nicht
sinnvoll sein, hier mit raschen Verallgemeinerungen aufzuwarten.
Das Ergebnis wäre erneut eine Spaltung der genannten Art. Wir
könnten die Gesichter von Menschen, die keine Kinder wollen, nicht
mit unseren Worten zusammenbringen, und wiederum hätten wir das
Gefühl, dem sei gut so. Einige Unterscheidungen lassen sich
freilich doch formulieren.
Es könnte sein, dass dieses Fehlen, das da ist, wenn keine Kinder
da sind, bei den einen da ist und bei den anderen nicht. Es muss
also nicht so sein, dass es eigentlich bei allen da ist und seine
Abwesenheit eine erklärungsbedürftige Ausnahme. Die Möglichkeit,
dass dem nicht so sei, müssen wir offenlassen, dies ausdrücklich
und prinzipiell. Täten wir es nicht, so deklarierten wir Menschen,
die keine Kinder wollen, zu fehlfunktionierenden Maschinen im
Dienste von Dawkins' selbstsüchtigem Gen und alle anderen zu ebenso
bediensteten Maschinen, die brummen wie sie sollen. Dies
auszuschließen ist eine ethische Frage, keineswegs also eine Frage
der Empirie oder empiriebezogener Theoriebildung.
Es könnte auch sein, dass dieses Fehlen nicht so spezifisch ist,
wie es zu sein scheint. Zwar wäre es nicht da, wo Kinder sind, doch
es wäre auch nicht da, wo anderes ist. Es gab und gibt vielerlei
Tätigkeiten und Karrieren, die Ehe- und Kinderlosigkeit fordern
oder aus denen beides sich von selber ergibt. Hier sogleich von
Ersatz zu reden, wäre vorschnell.
Noch haben wir das genannte Fehlen nicht zureichend genug
verstanden. Es könnte sein, dass es mehrere Wege gibt, ihm zu
entsprechen. Ein Leben mit Kindern wäre dann der Weg, der den
meisten Menschen naheliegt. Es gäbe auch andere. Noch bis in die
jüngste Vergangenheit war die Karriere eines Oxford Don mit Familie
und Kindern nicht vereinbar. Freilich gibt es in Oxford nicht fern
von den Colleges eine wohlbekannte Straße, heute als Wohngegend
sehr begehrt, deren Entstehung erkennen lässt, dass nicht bei allen
Oxford Dons das eine das andere aufwog. Nach einer anderen Richtung
hin geben Wagners Alberich und dessen Verzicht auf Liebe als Preis
für die Macht, dies aber aus enttäuschter Liebe, zu denken.
Übersichtlich ist hier überhaupt nichts und vermutlich sehr wenig
fein säuberlich und dauernd zu unterscheiden. An der Möglichkeit
aber, dass jenem Fehlen mehr als nur Eines zu entsprechen vermag,
ist festzuhalten.
Schließlich könnte es auch sein, dass jemandem Kinder nicht weniger
fehlen als denen, die sich entschließen, Kinder zu haben, dieses
Fehlen aber gegen ein anderes abgewogen wird, dem man sich auf
keinen Fall auszusetzen gewillt ist, aber gerade durch Kinder
ausgesetzt zu sein befürchtet. Man entschließt sich deshalb
zunächst einmal eher nicht für Kinder. Aus so einem
hinausgeschobenen Entschließen wird faktisch oder auch ausdrücklich
der Entschluss, sich lieber dem Fehlen von Kindern auszusetzen als
jenem anderen Fehlen, das weniger erträglich zu sein scheint als
dieses.
*
Man solle wissen, so das Familienministerium bei der Verkündigung
des Gesetzentwurfs zum Elterngeld, dass es dem Staat nicht
gleichgültig sei, wenn eine Familie sich für Kinder entschließe.
Gerade wenn ein Kind komme und damit die Ausgaben stiegen, bräche
der Betreuung wegen ein Einkommen weitgehend weg und das
Familieneinkommen gehe gravierend zurück. Dem wolle das Gesetz
abhelfen.
Anknüpfungspunkt und Strategie könnten deutlicher nicht sein. Das
Gesetz macht sich daran, in die Abwägung einzugreifen, von der eben
die Rede war. Im Stile von Clausewitz konzentriert es die Mittel
auf die Gruppe, deren Fortpflanzungsverhalten die Statistik
verdirbt. Da es die so genannten Bildungsnahen mit gehobenem
Einkommen sind, klotzt es dort. Eine Verwendung der Mittel zur
Verbesserung der Infrastruktur zur Kinderbetreuung hätte nicht
diesen Klotzeffekt, wäre weniger Clausewitz, weniger auf einen
Durchbruch bei dieser einen Gruppe hin angelegt. Gehobene Einkommen
kommen, wenn es ernst wird, mit der Kinderbetreuung ohnehin
zurecht. Es geht auch nicht um Bedürfnisse oder irgendein
Zurechtkommen. Immerhin hat es auch bisher schon Paare mit
gehobenem Einkommen gegeben, die sich für Kinder entschlossen haben
und bestens zurechtgekommen sind. Es geht, wie gesagt wurde, um
einen Eingriff in die genannte Abwägung, und die hat, so sieht es
wohl das Gesetz, mit faktischen Befürchtungen hier und jetzt zu
tun, wenn auch weitgehend mit imaginären.
Aber da ist eben diese zweite Stimme. Es wäre auch ohne das
gegangen. Ob du dich wohl umschaust? Die Mittel sind knapp. Was man
dir mehr gibt, muss man anderen, die es nötig hätten, weniger
geben. So ist das eben. Ausgetüftelter hättest du es nicht machen
können. So wie du eben bist, haben wir keine Wahl. Da die Statistik
von dir und deinesgleichen Kinder will, bleibt uns nur soziale
Verquertheit. Wir gratulieren!
*
Mit Kindern sieht vieles anders aus, eigentlich alles. Proportionen
und Eigenart des Wesentlichen und des Unwesentlichen verschieben
sich. Es muss nicht drastisch sein, doch sie verschieben sich. Das
eine tritt zurück, das andere mehr hervor, manches gerät in den
Schatten, anderes wird erstmals sichtbar, auch die Tonlage der
Farben und die Schärfe der Kontraste verändern sich. Um das Fehlen
zu beschreiben, das ist, wo keine Kinder sind, kann man hier
anknüpfen.
Proportionen und Eigenart des Wesentlichen und des Unwesentlichen,
so müsste man genauer sagen, verschieben sich eigentlich immer.
Starr blieben sie nur im Kunstlicht geschlossener Räume ohne Tag
und Nacht. Die gibt es auch. Das Hineingeraten in solche Räume,
oder deren Hereinbrechen, wäre aber noch einmal ein anderes
Szenario. Wiederum ein anderes, wichtiger hier, ist das innere
Beiseitetreten von diesem Verschieben hinweg. Dieses geht dann
weiter, den Beiseitegetretenen aber nichts mehr an. »Was ist
wesentlich? Was ist unwesentlich?«, so fragt man dort draußen, oder
auch, wie Nietzsche es formuliert, »Was ist Liebe? Was ist
Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?« Es ist, in der
Sprache Nietzsches, der Aufenthaltsort des letzten Menschen.
Die Erfahrung, dass Proportionen und Eigenart des Wesentlichen und
Unwesentlichen nicht starr sind, hat etwas Befreiendes. Jeder geht
da hindurch. Hinaus und weiter sucht sich jeder den Weg, der sich
eben findet. Wer nicht auf den seitlich hinaus gerät, durchlebt
erst einmal seine Geniezeit und versucht es mit dem Gebären von
Sternen. Am Chaos, das man nach Nietzsche für dieses Unterfangen
noch in sich haben müsse, scheint es nicht zu fehlen. So kommt es
denn zu einem beschwingten Herumbasteln am ehedem bedrückend
Ehrwürdigen. Ein paar Sternlein kommen dabei meist schon heraus.
Auch hüpfen sie, immer wieder an- und herumgeschubst, wohl eine
Weile umher. Keiner aber bringt es zum Tanzen.
Freilich sind Sterne, die sich herumschubsen lassen, am Ende
heimeliger. Nur strahlen sie eben nicht. Eine Zeitlang lässt sich
dem durch allerlei Feuerwerk abhelfen. Ein Strahlen wird aber doch
nicht daraus. Darauf aber hatte man hinausgewollt. Bestrebt,
zusammen mit dem Heimeligen auch diesem ursprünglichen Hinauswollen
gerecht zu werden, konzentriert sich das Basteln mehr und mehr auf
die Inszenierung von Feuerwerken. Die werden immer monumentaler,
subtiler, in ihrer Art gelegentlich sogar geistreich. Das geht
nicht ohne Mühe. Es ist weit mehr als nichts. Das Basteln findet so
seine Schwere und innere Berechtigung. Ein Weg wird zurückgelegt.
In der anfänglichen Beschwingtheit ist man nicht stecken geblieben.
Darauf kann man bestehen. Auch ist, da immer das nächste Feuerwerk
ansteht, zum Blinzeln, der vorwiegenden Beschäftigung des letzten
Menschen, keine Zeit. Heimeligkeit und inneres Chaos haben
zusammengefunden. Bei Bedarf steht der letzte Mensch, der in der
Tat etwas anderes ist und von all dem nichts ahnt, als Adressat
eines kathartischen Rituals der Verachtung bereit. Daran kann man
sich gewöhnen.
Weshalb aber tanzen sie nicht, die erbastelten Sterne? Sollte es am
Basteln selber liegen? Heute eher auftrumpfend, bezeichnet dieses
den Unterschied zum Ingenieursmäßigen, dem Bauen nach einer
Blaupause. Verschieben sich Konturen und Eigenart des Wesentlichen
und Unwesentlichen, so ist nichts abzupausen. Die Rede von einer
Blaupause dieser Verschiebung, jeder weiß es, klappert.
Wahrhaftiger noch ist da die Rede vom spielenden Kind. Die erspart
immerhin das Peinliche der Heiserkeit, mit der jedes Brüllen, auch
das eines Löwen, zu rechnen hat, wenn es beim Brüllen bleibt. Das
spielende Kind aber braucht die Stube, die es vor Spielverderbern,
allgemeiner, vor Spielverderbnissen, bewahrt. Der Löwe, der
bekanntlich Kamel war, bevor er zu brüllen begann, erweist sich als
Nostalgiker des Kamelkindes im Stall, das vom Kameltreiber draußen,
der ihm den behaglichen Stall bereitete, noch nichts wusste.
Damit wären wir wieder beim Heimeligen. Die Sterne könnten zum
Tanzen gerade benötigen, was die Stube fernhält. Ohne die gibt es
aber weder ein Basteln noch ein Spielen. Ginge es hier um die
Ausarbeitung von Kategorien, so müssten wir uns nun daran machen,
mit einiger Weitläufigkeit die Kategorie der Stube auszuarbeiten.
Einiges wenigstens im Umriss.
*
Das Spielen des Kindes unterscheidet sich von erratischem Verhalten
durch Regelhaftigkeit. Vom Ernst unterscheidet es sich durch die
Flüssigkeit der Regeln. In jedem Augenblick kann es in ein anderes
Spiel überwechseln oder auch jedes bereits formulierte Spiel
verlassen. Ins Erratische gerät es damit nicht. Durch Wiederholung
oder Teilwiederholung des transitorisch Erratischen wird daraus die
Regel eines möglichen neuen Spiels. Durch Anschlussregeln kann sich
dies weiter konturieren. Das Spielen kann aber auch sogleich zu
anderen Möglichkeiten fortfließen, so dass neue Spiele immer wieder
nur aufscheinen. Irgendwann konturiert sich dann doch ein neues
Spiel oder das Fließen mündet für einige Zeit wieder in ein
bestehendes und vertrautes Spiel ein.
Möglich bleibt all dies nur, es wurde schon gesagt, solange sich
nichts spielverderberisch einmischt. Garantiert wäre dies nur, wenn
es überhaupt kein Draußen gäbe, das sich einmischen könnte. Sorglos
spielen in diesem Sinne könnte nur das Universum im Ganzen, sofern
es denn ein spielendes Kind wäre. Nietzsches Metapher bezieht sich
wohl auch, anknüpfend an Heraklit, eben darauf.
Die Erfahrung, dass Proportionen und Eigenart des Wesentlichen und
des Unwesentlichen nicht fix seien, kann man auch als Berührung mit
dem Punkt beschreiben, in dem Wesentliches und Unwesentliches sich
verzweigen. Die Berührung findet von innen, von der Seite des
Verzweigtseins und Verzweigens her statt. Solange sie sich auf
dieser Seite hält, wird erfahren, dass Wesentliches und
Unwesentliches sich nicht so verzweigen müssen wie sie sich
verzweigt haben und verzweigen. Erfahren wird die Möglichkeit des
Fortfließens zu immer neuen Möglichkeiten des sich Verzweigens. In
der Flüssigkeit der Regeln, nach denen das Kind spielt, findet
diese Erfahrung ihre Entsprechung. Jedes Spiel entspricht einer
bestimmten Verzweigung des Wesentlichen und des Unwesentlichen.
Jedes Fließen von einem Spiel ins andere dem Fortfließen von einer
Verzweigung in eine andere.
Der Punkt der Verzweigung ist aber gedoppelt. Es gibt auch die
abgewandte Seite, auf der Wesentliches und Unwesentliches nicht
verzweigt und unterschieden sind. Von dort kommt das Verzweigen
her, zwar nicht als so und so verfasstes, wohl aber in seinem
Genötigtsein zur Verzweigung und zur fortgesetzten Revision seiner
Verfasstheit. Alles ist dort wesentlich und alles ist unwesentlich.
Es ist die Region des Unvertrauten, die durch Verzweigung des
Wesentlichen und Unwesentlichen erst vertraut gemacht werden muss.
Wird der Punkt nach dieser Seite hin transparent, und damit auch
von ihr her durchlässig, so ist es mit dem Spielen vorbei. Bestehen
kann das Spielen mithin nur, solange Transparenz und
Durchlässigkeit abgeblockt bleiben, eben in der Stube.
Genauer gedacht, ist der Punkt der Verzweigung des Wesentlichen und
des Unwesentlichen der Punkt der Rückkehr von seiner abgewandten
Seite her ins Innere. Spielverderberisches ist für ihn konstitutiv.
Verzweigungen, die von der abgewandten Seite her oder auf diese hin
vorgenommen werden, haben Konsequenzen, die sich immer nur ein
Stückweit übersehen lassen. Kaum je auch sind alle, die sich
übersehen lassen, wünschenswert. Was dies für das Unübersehbare
bedeutet, mit dem eher früher als später aber doch zu rechnen ist,
lässt sich erahnen.
Das Vornehmen von Verzweigungen außerhalb der Stube führt in
Verstrickungen, bringt schmutzige Hände, macht schuldig. Spielen
ist Handeln geworden. Möglich bleibt es als Spielen nur im
Abgeschirmten, durch ein Handeln, das hier und da Stuben
erbaut.
Die Metaphorik der tanzenden Sterne wäre im Bereich des Handelns
wenig angebracht. Wenn sich aber für eine Weile einmal
Verstrickungen lösen und das Absehbare sich nicht oder nur wenig
stößt, entspricht das vielleicht einem tanzenden Stern.
*
In der Unvermeidbarkeit von Verstrickungen erfahren wir unsere
Endlichkeit. Unendlichkeitserfahrungen gehören zur Spiel- und
Bastelstube. Dort auch gedeihen, je nach Verfasstheit der Stube,
Unendlichkeitsphantasien und Unendlichkeitsprojekte aller Art.
Handelnd dagegen kommt es darauf an, Weisen des Umgangs mit unserer
Endlichkeit zu finden oder zu erfinden.
Da wir alle, so oder so, von irgendeiner Stube her ins Handeln
geraten, neigen wir dazu, die Stube immer wieder als Ressource zur
Bewältigung dieser Aufgabe zu benutzen. Wir bemühen uns darum, aus
dem Spielen etwas zu extrahieren, das kein Spielen mehr sein soll,
aus Unendlichkeitsphantasien, beispielsweise, nüchtern
Projekthaftes. Wir begeben uns, nicht selten in den Mauern
schützender Institutionen, hypothetisch zurück in den Spiel- und
Bastelraum, um von dort aus dann doch mit Blaugepaustem
aufzuwarten.
Ganz ohne das geht es wohl nicht. Von einiger Bedeutung für die
Signatur eines Zeitalters aber ist es, ob solchen Blaupausen und
insbesondere den Apparaten gegenüber, die sie produzieren und
umsetzen, ein unhinterschreitbares Minimum an Ironie und Distanz
gewahrt wird, nach Möglichkeit sogar im Innern derer, die daran
beteiligt sind. Hier wenigstens, wenn überhaupt irgendwo, besteht
Grund zum Optimismus. Aus der Erfahrung des Handelns selber
nämlich, und es gibt wohl kaum eine Erfahrung, die man als
universaler ansehen könnte, ergibt sich eine nicht zu überbrückende
Ironie allem gegenüber, das an Unendlichkeitsphantasien anknüpft.
Ironisch, als Orientierung, Bild, Symbolik, Festausstattung, bleibt
es wohl zugelassen, drängt es sich aber als Leitung und Sinngebung
des Lebens auf, so wie es täglich gelebt wird, und anders wird das
Leben ja eben nicht gelebt, so steht immer die Gewissheit entgegen,
ganz so ernst könne das alles wohl doch nicht gemeint sein.
Wurzel dieser Ironie ist die Interpretation oder gegebenenfalls
auch Reinterpretation der Frage nach dem Umgang mit unserer
Endlichkeit, die sich aus der Erfahrung des Handelns ergibt. Die
nämlich erweist jedes Verständnis dieser Frage, das Vorstellungen
des Übersteigens und Überwindens variiert, als stubengebunden.
Nicht um ein Übersteigen oder Überwinden unserer Endlichkeit kann
es gehen, so die Erfahrung des Handelns, sondern darum, auf
Augenhöhe mit ihr zu gelangen.
Damit sind wir, worauf wir hinauswollten. Die Rede war von einem
Fehlen und davon, dass es noch nicht so recht verstanden sei. Die
Erfahrung des Handelns, davon gehen wir nun aus, ist eine
universale und alle anderen gleichsam immer wieder unterlaufende
Erfahrung. Wir erfahren darin unsere Endlichkeit. Damit müssen wir
umgehen. Hieraus ergibt sich ein Fehlen, dem wir durch die Suche
nach Formen des Umgangs mit unserer Endlichkeit zu entsprechen
suchen. Aus der Erfahrung des Handelns ergibt sich auch das
genannte Verständnis dessen, was eine Form des Umgangs mit unserer
Endlichkeit sein kann und was sie nicht sein kann. Auch dieses
Verständnis schlägt, in kritischer oder ironischer Distanznahme zu
Projekten, die damit nicht vereinbar sind, immer wieder durch.
Positiv gewendet, jenseits all dieser Distanznahmen, versuchen wir
dem Fehlen, um das es hier geht, zu entsprechen, indem wir nach
Formen suchen, die es uns erlauben, mit unserer Endlichkeit auf
Augenhöhe zu gelangen.
Diese Suche ist weitgehend eine des gelebten Alltags. Auch ist
festzuhalten, dass es diese Suche gab und gibt, seit Menschen die
Erfahrung des Handelns machen. Das Bemühen, mit der erfahrenen
Endlichkeit auf Augenhöhe zu gelangen, wird mithin nicht etwas sein
können, das nur in Ausnahmefällen gelang und gelingt. So etwas wie
ein elementares Gelingen wird man eher als Regel denn als Ausnahme
betrachten müssen.
Worauf wir hinauswollten, ergibt sich damit von selbst. Zu den
Erfahrungen unserer Endlichkeit gehört jedenfalls das Gewahrwerden
der Tatsache, dass wir uns nicht selber auf die Welt gebracht
haben. Das Fehlen, welches da ist, wo keine Kinder sind, und nicht
mehr da, wenn Kinder da sind, bezieht sich auf diese Facette
unserer Endlichkeit.
Das heißt nicht, dass es ohne dieses Fehlen überhaupt kein Fehlen
mehr gäbe. Auch befinden wir uns ohne dieses Fehlen längst nicht
gänzlich auf Augenhöhe mit unserer Endlichkeit. Das Fehlen besteht
fort. Es ist aber anders geworden. Inmitten des Fehlens gibt es ein
Moment der erreichten Augenhöhe, der Fülle.
*
Wie aber verhält es sich nun mit der Abwägung, in die einzugreifen
das Elterngeld bemüht ist? Was wird abgewogen? Welches andere
Fehlen, das Kinder mit sich brächten, könnte sich dem Fehlen
entgegenstellen, das nicht mehr ist, wo sie sind?
Die Sozialrealpolitik des Elterngeldes verteidigend, könnte sich
der Gesetzgeber selber auf das Unvermeidliche außerhalb der Stube
berufen. Sicherlich, könnte er sagen, direkte Proportionalität von
Einkommen und Transfereinkommen verstoße gegen das klassische
Prinzip der Sozialpolitik, das auf indirekter Proportionalität
bestehe. Nur durch direkte Proportionalität aber lasse sich mit den
verfügbaren Ressourcen das gewünschte Ziel erreichen.
Nur so also, eben deshalb, weil die Adressaten, an die sich die
Maßnahme vorwiegend richte, so seien wie sie eben seien. Ob sie
sich darin wohl wiedererkennen?
Natürlich könnte es auch sein, dass die soziale Verquertheit dieser
Maßnahme, indem sie sich auf die Zwänge auf der anderen Seite des
Verzweigungspunktes beruft, einige Stubenfenster nach dorthin
aufstößt. Sind wir denn so? könnten einige fragen. Sind wir denn
spielende Kinder?
Was sich daraus am Ende ergäbe und wie die Statistik der Geburten
aussähe, bliebe abzuwarten. Das Feuilleton der Zwanziger Jahre
könnte auf die Debatte um die Generation S verzichten müssen.
Vielleicht gäbe es an ihrer Stelle, oder zusammen mit ihr, eine
andere. Sie könnte Respekt-Debatte heißen.