Wolfgang Höhne
Von der Kinderknappheit
moderner Industriegesellschaften
Die zögernde
Akademikerin
Ist es wirklich so, dass sich junge Akademikerinnen nicht mehr
vermehren wollen? Gehört nicht der Sexualtrieb neben Atmung und
Herzschlag zu den am tiefsten verwurzelten Instinkten des Menschen?
Wie verstört also müssen Geschöpfe sein, wenn sie freiwillig auf
den Wunsch nach Fortpflanzung verzichten? Derartiges kennt man
sonst nur von Wildtieren im Zoo, denen die fremde Umgebung nicht
behagt. Die Akademikerin jedoch bewegt sich in ihrem natürlichen,
gewohnten Umfeld. Wie also erklärt sich dieses biologisch so
vollkommen anormale Verhalten? Vor rund 120 Jahren verweigerte man
den Mädchen den Zugang zur höheren Bildung unter anderem mit dem
Argument, dass junge Frauen mit der Absolvierung des Abiturs
unfruchtbar würden. Der ganze Lernstoff drohe sie zwischen ihren
Zöpfchen derart zu verwirren, dass Langzeitschäden zu befürchten
seien. Zwar können wir die unmittelbare Gefahr der wegen
Überlastung durchbrennenden Mädchenhirne getrost ins Reich der
altbürgerlichen Legenden abschieben, dennoch ist die
Reproduktionsziffer bei Akademikerinnen signifikant niedrig – das
ist eine Tatsache. Schlägt das Abi also etwa doch auf die
Gebärfreudigkeit durch? Es sieht wahrlich so aus, als befinde sich
der gebildete deutsche Weibchenbestand angesichts seiner
Fruchtbarkeitsrate in einem sehr schlechten Zustand.
Wer sich die Mühe macht, nachzufragen, der erfährt Erstaunliches:
Eigentlich wollen fast alle jungen Frauen in diesem Land einmal
Kinder haben, auch die höher gebildeten. Sie wollen schon, nur: sie
kommen einfach nicht dazu, weil ihr Terminkalender zu voll ist. Von
den Frauen der Kriegsgeneration bekamen die Mädchen über Jahrzehnte
hinweg gepredigt, dass Männer auch mal ausfallen können und es
deshalb sinnvoll sei, eine Ausbildung zu haben – so als ›Plan-B‹,
damit man auch als Hinterbliebene im Zweifelsfalle in der Lage sei,
sich und die Kinder durchzubringen. Das klingt vernünftig, und
außerdem ist es erlaubt. Mittlerweile ist das potentielle
Notprogramm für den Fall der gefallenen Väter längst zum
Hauptprogramm avanciert. Wer das Abitur hat, hat bessere Chancen;
sie und ihr Kind werden nie hungern müssen. Wer einen
Hochschulabschluss hat, derjenigen stehen noch mehr Wege offen; ihr
und ihrem Kind wird es immer gut gehen. Wer Berufserfahrung hat,
die hat endgültig ausgesorgt; ihre Kinder werden es einmal richtig
gut haben, und wenn sie dann die nächsten drei Karrieresprünge auch
noch gleich mitnimmt, wird sie ihren Kindern einmal alles bieten
können, was man sich nur vorstellen kann. Dummerweise ist sie
mittlerweile 39 und ein Mann, der bleibt, ist nicht in Sicht. Es
wird alles getan für die Absicherung, damit auch noch in den
unwahrscheinlichsten Fällen die für ein Kind nötigen Ressourcen
vorhanden sein werden – die Peripherie stimmt also, nur das
Hauptobjekt der ganzen Mühen, das Kind selbst, lässt auf sich
warten. Vor lauter Vorsorge für den potentiellen Nachwuchs verpasst
die Akademikerin in Sachen Fortpflanzung das Kerngeschäft.
Doch ist es wirklich nur die zu straff geplante Lebensführung, die
so wenige Akademikerkinder das Licht der Welt erblicken lässt?
Zahlreiche Untersuchungen stellten schon vor Jahren fest, dass die
Bundesrepublik zu den kinderfeindlichsten Ländern der Welt gehöre.
Die Politik reagierte. Prozente wurden verschoben, Freibeträge
rangiert, Gelder beantragt und bewilligt. Stolz nannten die
zuständigen Behörden ihre Leistungen in Zahlen. Danach stellten
vergleichbare Untersuchungen erneut extreme Kinderfeindlichkeit in
Deutschland fest und die Geburtenzahlen stiegen keinen Millimeter.
Dieses Prozedere wiederholt sich nun seit etlichen Jahren. Es ist
offenbar ziemlich gleichgültig, wie viele Gelder von einem
staatlichen Topf in den nächsten geschaufelt werden, das
Grundproblem der Kinderfeindlichkeit unserer Gesellschaft ist
weniger eine Frage des Geldes denn der öffentlichen Einstellung.
Jedenfalls sollte ein Land, das ein Geburtenzahlenproblem hat und
dem ständig attestiert wird, kinderfeindlich zu sein, endlich
beginnen, Eins und Eins zusammenzuzählen.
Medienmobbing
Was macht dieses Land so kinderfeindlich? Wie kommt es, dass in
Deutschland eine Frau mit drei Kindern von vielen ihrer Mitbürger
wie ein asoziales Subjekt argwöhnisch beäugt wird, gerade so, als
passe jemand, der drei Kinder in die Welt setzt, nicht in diese
Republik? Einer der Problemfaktoren liegt in dem Menschenbild, das
seit den 70er Jahren von unserer Wohlstandsgesellschaft propagiert
wird. Nur wer jung, frei, dynamisch und berufstätig ist, hat die
Möglichkeit, sein Geld für jeden erdenklichen Schnickschnack zu
verpulvern, den die Werbung anpreist. Wer frei und unabhängig ist,
konsumiert üppig und spontan. Ehe und Familie bedeuten dagegen
Bindung, Planung und Einschränkung, ein Graus für die schnelllebige
Konsumgesellschaft. Da die Mutter vieler Kinder in der deutschen
Gesellschaft schon längst vom Regelfall zur Ausnahme geworden ist
und ohnehin nur wenig Geld übrig hat, bedient und hofiert die freie
Wirtschaft viel lieber die lukrativen Regelfälle der Singles und
begünstigt durch die gleichzeitige Missachtung der Familie die
demographische Abwärtsspirale. Mittlerweile arbeitet die
Wirtschafts- und Medienwelt seit Jahrzehnten an der Propagierung
der coolen Singlegesellschaft, mit schönen, reichen Menschen, die
sich alles leisten können und darüber ständig glücklich sind.
Familie und Kinder stören beim Genießen. Also erfahren wir aus den
Medien, dass Familienväter keine Helden sein können und dass
Hausfrauen verklemmte Dummchen sind, die den Absprung ins richtige
Leben verpasst haben.
Das Menschenbild, das unsere Medien in den letzten 40 Jahren
zunehmend vermittelten, hat unsere Gesellschaft nicht viel weniger
Kinder gekostet, als die Einführung der Pille. Wer auf dem
Traumschiff dümpelt oder sich in der Schwarzwaldklinik vom Chefarzt
bemitleiden lässt, der hat keine Kinder, und wenn doch, dann ist
der Vater mindestens Generaldirektor. Man erinnere sich an die
Piemont-Kirschen-Agentin aus der Werbung: diese elegante junge
Dame, die mit dem Firmenjet eingeflogen wird, ein Kirschlein
kostet, ihren Blazer glatt streift, sich vom örtlichen Personal
umjubeln lässt und dann wieder in den Wolken entschwindet. Eine
solche Frau hat keine Kinder und will auch keine, aber ihr
Lebensideal wird jungen Mädchen seit Jahren als vorbildlich und
erstrebenswert eingetrichtert. Die Piemont-Kirschen Agentin ist
eine Frau, ›die es geschafft hat‹; genau das aber sind die Zutaten
zu einer kinderfeindlichen Grundstimmung in der Gesellschaft. Wer
mehr Kinder haben will, der müsste auch so einige der aktuellen
Soaps und Fernsehshows verbieten. Eine derartige ›Zensur‹ wäre auch
im Sinne einer echten Pressefreiheit; der Befreiung unserer Medien
vom Lobbyismus der Wirtschaft und ihrer propagierten
Konsumentenleitbilder. Mehr staatliche Medienkontrolle würde
heutzutage längst keine Einschränkung der Pressefreiheit mehr
bedeuten, sondern führte im Gegenteil zu einer ausgeglicheneren,
von Erfolgsquoten unabhängigeren Gesamterscheinung. Wer mehr Kinder
will, der muss eine Medienlandschaft schaffen, in der Kinder und
Familien im Standardprogramm ihren festen Platz haben und nicht nur
als Exoten oder ›Auslaufmodell‹ gehandelt werden.
Ausgeartete Aufsichtspflicht
Die Liste der kinderfeindlichen Faktoren in unserer Gesellschaft
ist jedoch um einiges länger, denn auch an der für Kinder nötigen
Infrastruktur hapert es bekanntlich gewaltig. Zwar schützen wir die
Lebensräume von Kröten, Feldhamstern und Zugvögeln – und das ist
auch gut so –, doch der Lebensraum für Kinder der Gattung Mensch
wurde, zumindest in unseren Städten, nahezu auf null reduziert,
ohne dass je einer ernsthaft Anstoss daran genommen hätte. Die
Straße gehört seit über einem halben Jahrhundert zunehmend dem
Automobil, und die Kinder sollten sich davon gefälligst fernhalten,
damit es keine Kratzer im Lack gibt. Wohin sie allerdings
stattdessen gehen sollen, das hat man ihnen bis heute nicht gesagt.
Natürlich sind Spielplätze von Nutzen, doch sind sie kaum mehr als
lächerliche Rettungsinseln in einer ansonsten restlos
kinderfeindlichen Umgebung. Zudem sind diese Plätze für kleinere
Kinder gar nicht erreichbar, sie müssen von ihren Eltern dorthin
gebracht und auch wieder abgeholt werden, meist bleibt ein
Elternteil dann die ganze Zeit über dabei, womit die Funktion des
Spielplatzes als eigener, unabhängiger Kinderbereich weitgehend
hinfällig ist.
Überhaupt ist die Notwendigkeit zur ständigen Aufsicht eines der
Grundübel der heutigen Erziehungsarbeit. Es kostet die Eltern jede
Menge Zeit und beraubt die Kinder ihrer Freiheit. Es ist nicht so,
dass Eltern heutzutage keine Zeit mehr für ihre Kinder hätten – im
Gegenteil. Eltern verbringen heute oft weitaus mehr Zeit mit ihren
Kindern als zur legendären ›guten alten Zeit‹, nur: wofür wird
diese Zeit verwendet? Endloses Hin- und Herkutschieren, Hinbringen,
Abholen, Abliefern. Manche Kinder verbringen die gesamte
Lebensphase bis zur vierten Klasse, ohne auch nur ein einziges mal
alleine zur Schule gegangen zu sein. Es spricht Bände über die
Kinderfeindlichkeit unserer städtischen Umgebung, wenn Eltern sich
nicht einmal trauen, ihr zehnjähriges Kind alleine zur Schule gehen
zu lassen.
Viele Mütter aber sind mit eben dieser, von den modernen
Lebensumständen geforderten Dauerpräsenz im Leben ihrer Kinder
überfordert, und die Sprösslinge sind durch die permanente Aufsicht
genervt. Wie um alles in der Welt haben das die Mütter vor hundert
Jahren geschafft, wenn sie sechs, sieben oder mehr Kinder zu
betreuen hatten, fragt sich so manche junge Mutter heute ratlos,
wenn sie mit ihrem einen wieder mal am Rande der Belastbarkeit
angekommen ist. War es früher anders, und wenn ja, was war anders?
Blieben die Kinder früher einfach unbeaufsichtigt? Ein Blick in die
Berliner Kinderwelt z. B. anhand der Zeichnungen von Heinrich Zille
macht schnell deutlich, inwiefern es die Mütter damals mit der
Betreuung ihrer Jüngsten leichter hatten. Der entscheidende
Unterschied bei den Kindern damals war: es gab ihrer in großer
Menge, und das ist für die Betreuungsfrage von Belang.
Kinderwelten
Der Kinderanteil gemessen an der Gesamtbevölkerung ist ein höchst
wichtiger Punkt. In diesem Zusammenhang kommt man einem Phänomen
auf die Spur, das bis heute eher wenig Beachtung gefunden hat: bei
der Kinderschar gibt es so etwas wie eine ›kritische Masse‹. Ist
diese Masse überschritten, leben also in einem bestimmten Umfeld,
einer Straße, einem Viertel oder einem Dorf genügend Kinder aller
Altersklassen, so schaffen sich die Knirpse gewissermaßen ihre
eigene Infrastruktur, die ihnen ein hohes Maß an Schutz und
Sicherheit gewährt. Die Dreijährigen werden von den Sechsjährigen
gehütet, die wiederum von den Zehnjährigen betreut werden usw.
Diese eigene Welt der Kinder funktionierte genaugenommen seit
Menschengedenken und ist auch schon hundertfach beschrieben worden,
ohne dass man dabei ihre Bedeutung für die Erziehung und
Sozialisation so richtig erkannt hätte, denn hinter den pittoresken
›Lausbubengeschichten‹ verbergen sich tiefgreifende soziokulturelle
Faktoren.
Stets gucken sich die etwas jüngeren bei den älteren Kindern ab,
was man im täglichen Dasein alles wissen und können muss, was Spaß
macht, aber auch, wo potentielle Gefahrenquellen lauern. Ab einer
bestimmten Größe betreut und erzieht sich eine Kinderschar
gewissermaßen selbst. Eine alleinerziehende Mutter – in der Zeit
nach dem Ersten Weltkrieg ein wie heute häufiges
Kleinstfamilienmodell – konnte ohne größere Bedenken für mehrere
Stunden unterwegs sein, ohne sich um ihr Kind sorgen zu müssen.
Babysitter? Aufsichtspersonal? Alles überflüssig! Spätestens ab dem
Grundschulalter ist ein Kind auf der Straße bestens aufgehoben bei
Seinesgleichen. Kein fremder Erwachsener könnte es sich
beispielsweise erlauben, sich an einem Kind aus einer fest
zusammenhängenden größeren Kinderbande zu vergreifen – Emil und
die Detektive lassen grüßen.
Fragwürdig ist damit auch die gängige Behauptung, die mangelnde
Sozialkompetenz der heutigen Kinder gehe vor allem auf Versäumnisse
im Elternhaus zurück – und entsprechende Gegenmaßnahmen greifen
folglich ins Leere. Auch damals erfolgte der heute so bitter
vermisste Teil der Sozialisation weniger im Elternhaus als auf der
Straße im täglichen Gewimmel mit den anderen Kindern. Fällt aber
die Kinderdichte einer Gegend unter einen schwer zu bestimmenden
Faktor, so bricht diese eigene Kinderwelt irgendwann zusammen,
mitsamt allen daran hängenden sozialrelevanten Funktionen. Mit dem
›kindlichen Universum‹ versiegt auch ein maßgeblicher Bestandteil
der Erziehung, der frühkindlichen Ausbildung und vor allem der
Sozialisation. Heute muss die Mutter neben den üblichen
erzieherischen Aufgaben auch noch diejenige Erziehungsleistung an
ihrem Sprössling erbringen, die von den zahlreichen Nachbarskindern
übernommen worden wäre, denn diese Nachbarskinder gibt es nicht
mehr, vor allem nicht in der nötigen, stufenlosen Altersstaffelung.
Von wem soll das Kind nun lernen, wie man sich in einer Gruppe
zurechtfindet, benimmt und einigt, aber auch, wie man seine
Interessen durch geschickte Kompromisse und Rücksichtnahmen
durchsetzen kann – kurz, all das, was wir heute unter den Begriff
›Sozialkompetenz‹ fassen? Das größte Problem, das, was unsere
gegenwärtige Welt so kinderfeindlich macht, ist der Kindermangel
selbst.
Die heutzutage so häufig angesprochene ›Medienverwahrlosung‹ der
Jugend muss aufgrund dieser Erkenntnis ebenfalls anders beurteilt
werden. Es geht nicht nur darum, dass die Kinder dem Angebot der
schrillen Fernseh-, Video- und Computerspielewelt erliegen, weil
sie undiszipliniert sind oder die Eltern sich nicht genügend um sie
kümmern. Es geht darum, dass ihr Instinkt ihnen sagt, sich
möglichst viel mit Gleichaltrigen zu umgeben, um von ihnen, oder
besser noch mit ihnen gemeinsam zu lernen und Erfahrungen zu
sammeln. Es ist der natürliche angeborene Drang zu sozialem
Verhalten, zum Anschluss an eine Gruppe, an die Gemeinschaft. Diese
Gemeinschaft mit anderen Kindern gibt es nicht mehr, jedenfalls
nicht mehr in ausreichendem Maße, und so greift das Kind auf die
angebotenen virtuellen Freunde aus dem Kinderprogramm und der Welt
der elektronischen Spiele im Sinne eines Ersatzes zurück. Der
zweifellos schädliche übermäßige Medienkonsum ist nicht zuletzt
eine Reaktion der Kinder gegen die Vereinsamung aufgrund des
Mangels an Altersgenossen.
Diesen Mangel können die Eltern durch mehr eigene Präsenz im Leben
ihres Sprößlings nicht wirklich ausgleichen – im Gegenteil. Wie
bereits oben angesprochen, sind heutzutage viele Kinder durch die
ausartende elterliche Aufsicht eher genervt als beglückt. Auch die
Gier nach dem Handy sollte nicht auf den alleinigen, wenn auch
zweifellos vorhandenen Wunsch nach einem Statussymbol zurückgeführt
werden; auch hier geht es um den Drang, möglichst viel Kontakt zu
Gleichaltrigen zu halten. Häufig vernimmt man den Klageruf
gestresster Eltern, sie wüssten einfach nicht mehr, was sie noch
tun sollten, um den Medienwahn ihrer Jüngsten zu bändigen. Eine
Antwort darauf wäre, die Kinder auch außerhalb der Schule möglichst
viel mit anderen Kindern direkt zusammenzubringen.
Adenauer und die Folgen
›Kinder bekommen die Leute immer‹, stellte Adenauer einst abfällig
fest und leitete davon ab, dass man für die Entstehung von Kindern
staatlicherseits auch nichts zu tun brauche. Der Babyboom der 60er
Jahre schien ihm Recht zu geben. Ohnehin wollte man sich in
möglichst allen Bereichen von der jüngsten Vergangenheit
distanzieren, und so wurde die in Fragen der Demographie
ergebnisorientierte Familienpolitik der Nationalsozialisten in
Bausch und Bogen zum perversen rassischen Zuchtprogramm erklärt und
eingestellt. Bisweilen klang gar die Ansicht durch, dass jeder
Staat, der sich zu aktiv um das Wohlergehen der in seinen Grenzen
lebenden Kinder und Familien kümmere, wohl nichts anderes im Sinn
haben könne, als gezielt Soldaten für einen Angriffskrieg zu
züchten. Familienpolitik beschränkte sich von nun an auf das
Vermitteln des konservativen Leitbildes einer glücklichen
(katholischen) Familie mit klassischer Rollenverteilung, die sich
erfolgreich selbst managt und um die der Staat sich folglich nicht
weiter kümmern muss.
Der in der neuen Bundesrepublik so groß geschriebene Schutz der
Privatsphäre war natürlich auch eine Reaktion auf das zuvor so
penetrante Eindringen des Naziregimes in eben diesen Bereich, es
war aber auch für den Staat ein willkommener Anlaß, sich aus der
aktiven Familienpolitik zurückzuziehen. Zwar standen Ehe und
Familie auch im neuen Grundgesetz unter dem besonderen Schutz des
Staates, doch war mit diesem Schutz vor allem der Erhalt dieser
zurückgewonnenen Privatsphäre gemeint, also Schutz vor Einmischung
und nicht etwa Schutz vor Ungemach. Für Härtefälle gab es die
nötige Unterstützung und über ledige Mütter durfte nun wieder mit
der gebührlichen Verachtung die Nase gerümpft werden – die Welt war
aus konservativer Sicht wieder in Ordnung. Andere litten unter dem
berühmt-berüchtigten ›Mief‹ dieser Ära und begehrten 1968 auf.
Vorbei war aber nicht nur die Kontrolle des Staates über die
Familie, sondern auch die Zeit, als der Staat Jungvermählten ein
Darlehen von rund dreitausend Reichsmark für die Gründung eines
eigenen Hausstandes spendierte und jeder Mutter zur Geburt ihres
Kindes gratulierte und sich bei ihr für das ›Geschenk‹, das sie dem
Staat mit ihrem Kind gemacht hatte, bedankte.
War also das Kinderkriegen zuvor zur Staatsangelegenheit erklärt
worden, so gab es unter Adenauer jenen allseits bekannten Rückzug
ins Private – die Politik fiel in Sachen Kinder von einem Extrem
ins andere. Wo ist der goldene Mittelweg? Gewiss, das einzelne Kind
ist natürlich zuallererst eine Familienangelegenheit, die Kinder
insgesamt unterliegen jedoch sehr wohl dem allgemeinen
gesellschaftlichen Interesse und damit der Verantwortung des
Staates. Die Bundesrepublik Deutschland aber hat diese
Gesamtverantwortung für das Wohlergehen der kommenden Generation
niemals wirklich übernommen, sondern sich mit ihrer Fürsorge fast
ausschließlich auf den Bereich der Bildung und der Betreuung von
Härtefällen beschränkt – sprich: der Staat springt nur dann ein,
wenn die Familie ausfällt.
Es entstand zunehmend ein ›Aktion Sorgenkind‹-Staat, der sich oft
und gerne der üppigen finanziellen Zuwendungen für diejenigen
rühmte, die ›nicht auf der Sonnenseite des Lebens‹ stünden; gerade
so, als könne man durch ostentative Fördermaßnahmen für Behinderte
die Verbrechen der Nationalsozialisten an eben dieser
Bevölkerungsgruppe nachträglich kompensieren. Nebenbei wurde
dadurch seit den 70er Jahren eine regelrechte
Unterstützungsindustrie für Zukurzgekommene hochgepäppelt, deren
Gutmenschen heutzutage fleißig Problemkinder herbeireden, um sich
und ihre überdimensionierten Institutionen trotz geburtenschwacher
Jahrgänge weiterhin am Laufen zu halten. Ein gesundes,
familienfreundliches Umfeld für den ›Normalbürger‹ aber hat unser
Staat spätestens seit dieser Zeit weitgehend aus dem Auge verloren.
Statt dessen entstanden unsere autofreundlichen Städte, in denen
man kein Kind auch nur für fünf Minuten alleine lassen kann, ohne
um dessen Leben fürchten zu müssen. Zwar wollte schon ab 1982 die
Regierung Kohl das Thema ›Familie‹ wieder ganz groß schreiben und
auch Rot-Grün erklärte die Familie zur ›Chefsache‹ – desgleichen
die jetztige große Koalition – nennenswerte Auswirkungen haben
derlei Absichtserklärungen aber ganz offenbar nicht, wie man an den
auf eindeutig zu niedrigem Niveau stagnierenden Geburtenziffern nur
nüchtern ablesen kann.
Auf das ›Du bist nichts, dein Volk ist alles‹ reagierte die
Bundesrepublik trotzig mit einem immer überzogeneren
Individualismus, in dem jeder Egozentriker sich selbst ›alles ist‹
und wo – ohne dass sich nennenswerter Widerspruch regt – bestritten
werden darf, dass es so abstrakte Gebilde wie ›das Volk‹ überhaupt
gibt. Inzwischen beklagen wir bitter den Mangel an Gemeinsinn und
Verantwortlichkeitsgefühl in unserem Land, und selbst diejenigen,
die über ein halbes Jahrhundert lang den uneingeschränkten
Individualismus predigten, erkennen heute, dass es durchaus Sinn
macht, im Staat und in der Gesellschaft mehr zu sehen als nur die
Addition unterschiedlicher Einzelinteressen zufällig nebeneinander
lebender Individuen.
Frauenraub der Industrie
Wie ist es eigentlich zu der derzeitigen Situation gekommen? Wann
und warum haben sich die traditionellen Lebens- und
Verhaltensweisen gelockert bzw. aufgelöst – und ist es so, dass
diese Entwicklung, die man ja sehr wohl als massiven
gesellschaftlichen Fortschritt im positiven Sinne bezeichnen kann,
auch zwangsläufig zu diesen so desolaten Geburtenzahlen führen
muss?
Die Demontage der legendären Bauern- und Kleinbürgerfamilie mit
traditioneller Rollenverteilung – der vielbeschworenen Kernzelle
von Volk und Staat (gerne auch ›Spießbürgerfamilie‹ genannt) –
wurde seit Marx von vielen mit Begeisterung betrieben. Man übersah
dabei jedoch leichtfertig, dass sich dieses Modell in mehr oder
weniger ähnlicher Form seit einigen tausend Jahren erfolgreich
bewährt hatte und dass die Sache mit der Aufgabenverteilung
zwischen den Geschlechtern vielleicht nicht ganz so zufällig bzw.
nicht aus einem böswilligen Patriarchat heraus entstanden war,
sondern doch eher das Ergebnis eines langen Optimierungsprozesses
gewesen sein könnte. Allerdings stach das Argument, dass die Welt
der Moderne sich eben so grundlegend von den
agrarisch-vorindustriellen Lebensbedingungen der Altvorderen
unterscheide, dass damit auch deren tradierte Lebensformen durchaus
in Frage gestellt werden durften.
Und in der Tat, die Industriegesellschaft war etwas Neues, und mit
ihrer Verbreitung wurden zahlreiche althergebrachte Lebensformen
massiv in Frage gestellt. Entstanden als eine patriarchalische
Arbeitswelt der Spezialisierung, Rationalisierung und Optimierung
von Arbeitsprozessen aus den traditionell männlichen Arbeitsfeldern
von Handwerk, Eisen, Kohle und Stahl, wurde hier auf Frauen und
deren Bedürfnisse kaum Rücksicht genommen, denn Frauen waren hier
ursprünglich gar nicht vorgesehen. Doch die Industrie boomte, und
selbst die Masse der verarmten Landarbeiter, die aufgrund von
Überbevölkerung und chronischer Perspektivlosigkeit ihre Dörfer
verließ und in die städtischen Industriezentren strömte, konnte den
Arbeitskräftebedarf nicht immer in allen Bereichen decken. Also
wagte die Industriegesellschaft frühzeitig den Griff in den
Lebensbereich der Frau in der Absicht, sich eine gehörige Portion
der weiblichen Arbeitskraft für die eigenen Bedürfnisse
abzuzweigen.
Zunächst waren es vor allem unverheiratete Frauen, die ihren
Lebensunterhalt als Lohnarbeiterinnen in der Textilindustrie
verdienten, was noch einigermaßen mit dem traditionellen Lebens-
und Rollenbild der damaligen Zeit des frühen 19. Jahrhunderts
vereinbar war und die Bereiche Kinder und Familie noch nicht
übermäßig berührte. Daher wurde diese frühe Phase der
Industrialisierung trotz ihrer offenkundigen Missstände und
Auswüchse noch nicht als für die Gesellschaft besonders
problematisch aufgefasst. Die Dinge spitzten sich erst zu, als in
immer mehr Haushalten das Einkommen des voll berufstätigen Vaters
nicht mehr ausreichte, um die Familie zu ernähren. Die ins
städtische Arbeitermilieu geratene Familie konnte in der Form
althergebrachter Lebensweisen mit klassischer Rollenverteilung
schlichtweg nicht mehr überleben. Das allgemeine Elend führte
(gemeinsam mit anderen, eher politisch gearteten Faktoren) nach
außen hin zu Aufständen und Revolutionen (die bekannteste in diesem
Zusammenhang ist die europaweite von 1848), im Hintergrund aber
setzte schleichend die zunehmende Berufstätigkeit der Ehefrau,
Hausfrau und Mutter ein – und das war ein durchaus neues
gesellschaftliches Phänomen; wichtig, aber wenig beachtet.
Es war also zu allererst diese patriarchalische Industriewelt, die
die klassische Rollenverteilung sprengte und die Frauen der
vorwiegend männlich orientierten Arbeitswelt zuführte. Plötzlich
erhielten Frauen zunehmend die notwendige Ausbildung, wurden
rechts- und geschäftsfähig um die nötigen Arbeitsverträge
unterschreiben zu können, durften ohne vormundschaftliche Erlaubnis
den Wohnort wechseln und Arbeit in der Fabrik annehmen – der
Industrielobbyismus der Gründerzeit machte es möglich (weitaus
mehr, als die damals schon aktive Frauenrechtsbewegung, deren
Forderungen mit den Vorstellungen der Arbeitgeber in erstaunlichem
Einklang standen). Massenhaft riss jetzt die Industrie auch
verheiratete Frauen aus Küche und Kinderstube heraus und
beschäftigte sie auf Kosten der nächsten Generation in ihren
Fabrikhallen.
Nun hatten die Frauen neben ihrem bisweilen zehnstündigen
Arbeitstag in der Fabrik jedoch weiterhin die gesamten Aufgaben
ihres ›ureigenen‹ Arbeitsumfeldes zu erledigen, für die sie nach
traditioneller Lebensweise den ganzen Tag zur Verfügung gehabt
hätten. Wie die geplagten Frauen aber neben ihrer Industriearbeit
noch Zeit für Haushalt, Küche und Kinderstube finden sollten,
interessierte die Arbeitgeberseite – und erstaunlicherweise auch
den Staat – wenig, und entsprechend begann das Leben um die
traditionell weiblichen Arbeitsbereiche herum zunehmend zu
verwahrlosen. Aus leicht nachvollziehbaren Gründen geschah dies
zuerst in der Gesellschaftsschicht des Proletariats, denn noch war
es der Stolz eines jeden Kleinbürgers und Facharbeiters, dass seine
Frau eben nicht in die Fabrik zu gehen brauchte, sondern zuhause
bleiben durfte und dort ihrer Arbeit mit der nötigen Sorgfalt
nachgehen konnte. Für Frauen unserer heutigen Gesellschaft, in der
sich auch die weiblichen Mitglieder ganz selbstverständlich einen
guten Arbeitsplatz wünschen, mag das schwer verständlich sein, aber
damals waren die meisten ihrer Geschlechtsgenossinnen froh, wenn
sie in ihrem Heim bleiben durften, um bei Kindern, Küche und
Haushalt gute Arbeit zu leisten.
Bald wurden auch die ›höheren‹ gesellschaftlichen Schichten von dem
›neuen Trend‹ erfasst, und so ließen sich auch die Bürgerstöchter
zunehmend für wirtschaftliche Zwecke ausbilden und nahmen
massenhaft Stellen in Vorzimmern und Büros an. Insgesamt hat die
moderne industrielle Arbeitswelt auf die Arbeitskraft der Frauen in
einem Maße zugegriffen, wie dies angesichts der daraus
resultierenden gesellschaftlichen Folgen für Kinder und Familie –
also für die Entstehung der nächsten Generation – niemals hätte
passieren dürfen, ohne dass der Staat dieses gleichzeitig
kontrollierend begleitet und gegebenenfalls im Sinne seiner
Eigeninteressen korrigierend eingreift. Der Staat, als alleiniger
rechtmäßiger Vertreter der Interessen der Gesamtbevölkerung,
glänzte jedoch durch Abwesenheit und Ratlosigkeit und beschränkte
sich lediglich darauf, die schlimmsten Auswüchse des Elends und der
massenhaften Verwahrlosung notdürftig mit allerlei (durchaus
sinnvollen, aber nicht ausreichenden) Schutzverordnungen zu
kitten.
Einzig in der Zeit des Nationalsozialismus gab es offiziell den
Gegentrend, die Frauen wieder ein Stück weit ›aus der
Industriesklaverei zu befreien‹ und wieder ihrem
›ursprünglichen‹ Arbeitsumfeld zuzuführen – mit nicht ganz
uneigennützigen Hintergedanken, vor allem bezüglich der
demographischen Frage. Der NS-Staat war ein Männerstaat, nach
dessen Ideologie Frauen in wichtigen oder gehobenen Positionen
nichts zu suchen hatten; die Staatsführung versuchte die ›Welt der
Frau‹ maßgeblich auf das Thema Kind zu fokussieren. Viele Frauen
dankten der Partei diese neue gesellschaftliche Gesamtausrichtung
pro Familie und die damit verbundene generelle ideologische
Aufwertung ihres gesamten traditionellen weiblichen Lebensbereiches
anfangs mit üppigen Wählerstimmen, später mit breiter Unterstützung
für das System. Gerade junge Frauen fühlten sich in ihrer
weiblichen Rolle bestätigt und so wertvoll, nützlich und gebraucht
wie selten zuvor. Die tatsächlichen materiellen Leistungen des
nationalsozialistischen Regimes für Kinder und Familien werden
indes heute oft überschätzt. Die psychologische Wirkung auf das
demographische Verhalten der ›Normalbevölkerung‹, die durch die
rege ›pro Familien und Kinder-Propaganda‹ erreicht wurde, war
dagegen erstaunlich. Man kann davon durchaus ableiten, dass die
Reproduktionsziffer ebenso maßgeblich von einer positiven, der
Familiengründung förderlichen Grundstimmung abhängt, wie von den
tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnissen der jungen
potentiellen Familiengründer.
Die fehlenden Arbeitsstunden
Man muß sich unbedingt bewusst machen, dass durch die weit
verbreitete Lohnarbeit der Ehefrauen dem häuslichen Umfeld
unzählige Arbeitsstunden entzogen werden, die einstmals
volkswirtschaftlich gesehen für Haushalt und Familie zur Verfügung
standen. Noch in der Zeit des Biedermeier sind Millionen an
Arbeitsstunden mehr in Haushalt und Kinderbetreuung investiert
worden, als dies heute der Fall ist. Diese so massenhaft
umgeleitete Arbeitszeit macht sich in der Leistungsschwäche des
familiären Lebens der Industriegesellschaften natürlich bemerkbar.
Wen wundert es also, dass wir heute so wenig Kinder ›produzieren‹,
wenn Industrie und Wirtschaft gut zwei Drittel der dafür
ursprünglich vorgesehenen Arbeitsstunden aus dem Familienleben
abziehen?
Die neue industrielle Lebensform hat sich seit langem gefestigt.
Seit Jahren wird die ›männliche‹ Arbeit von Frauen und Männern
gemeinsam erledigt, wohingegen die ›weiblichen‹ Arbeitsfelder
weitgehend brach liegen. Aber es kann nicht verwundern, dass junge
Frauen ihr Glück auf dem immer noch vorwiegend männlich geprägten
Arbeitsmarkt suchen, wenn ihnen Schulen, Medien und Wirtschaft
allesamt das Leben als Hausfrau und Mutter als unwürdige und in
jedem Fall zu vermeidende Daseinsform schildern. Die Beispiele für
diesen schon lange anhaltenden Trend sind zahlreich. Von der
Industrie gibt es jetzt den Girls-Day, bei dem auch die restlichen
Mädchen endlich für die klassischen Männerberufe begeistert werden
sollen, damit noch der letzte Rest an Frauen-Power für die
männliche Industriegesellschaft mobilisiert werden kann. Obgleich
der Arbeitsmarkt hoffnungslos überfüllt ist, die Kinderstuben
dagegen verwaist bleiben, ist die Politik von der
Girls-Day-Initiative begeistert.
Schon längst hat der offensichtliche und langandauernde
Geburtenmangel für Staat und Gesellschaft existenzgefährdende
Dimensionen angenommen; von der Politik wird dies auch kaum noch
bestritten, sondern im Gegenteil zunehmend thematisiert. Zu tief
sitzt jedoch inzwischen die Ideologie des Geldes, dass allein
bezahlte Berufsarbeit einen Wert für die Gesellschaft darstellt,
und so weigert sich die Politik, die für die Wahrung der
Staatsinteressen nötigen Konsequenzen zu ziehen, und fördert statt
dessen weiterhin nach Kräften die Misere.
›Lehrstellen, Arbeitsplätze, hinein in den Beruf‹, tönt es
allenthalben. Frauenquoten und Frauenförderung sollen für mehr
Gerechtigkeit in der Arbeitswelt sorgen. Man übersieht dabei, dass
dieses vermeintliche Gerechtigkeitsdefizit aus der zuvor erfolgten
Herabwürdigung der traditionell weiblichen Arbeit entstanden ist.
Würden Haushaltsführung und Kindererziehung neben den ›richtigen‹
Berufen als für die Gesellschaft gleichwertig wertvolle Tätigkeiten
gewürdigt und bezahlt, dann wäre die Gleichberechtigung nach diesem
Maßstab allemal auf einen Schlag erreicht, auch ohne einen höheren
Prozentsatz an Frauen in irgendwelchen Chefetagen. Somit ist die
derzeitige Benachteiligung der Frauen auch eine Frage der
Definition des Begriffs ›Arbeit‹ und der daran hängenden Zuordnung
an Wertschätzung.
Leider hat eine Frau, die von sich sagen muss nur Hausfrau zu sein,
nach den Wertmaßstäben unserer Zeit auf ganzer Linie versagt; sie
zählt nichts, ihr Wert und ihr Ansehen gehen gegen Null. Die
Arbeit, die sie als Hausfrau leistet, wird gering geschätzt und in
der Regel nicht bezahlt. Dasselbe gilt für die Erziehungsleistung
an Kindern, obwohl Staat und Gesellschaft davon genauso
profitieren, wie von jeder anderen ›beruflichen‹ Tätigkeit auch –
und dadurch ist sie in der Tat objektiv benachteiligt. Erst in
jüngster Zeit setzen zögerlich positive Entwicklungen ein, die
dahin gehen, Erziehung als allgemeine Leistung anzuerkennen und
auch im Lebenslauf finanziell anzurechnen. Unsere Gesellschaft wird
aber insgesamt zu stark von wirtschaftlichen Fragen dominiert, und
so bleibt es nicht aus, dass sich die latente Familien- und
Kinderfeindlichkeit der Wirtschaft zwangsläufig wie Mehltau in der
gesamten Gesellschaft und ihrem Wertegefüge niederschlägt.
Mögliche Maßnahmen
Welche Möglichkeiten gibt es, diesem schon so lange anhaltenden
Negativtrend bei der demographischen Frage zu begegnen? Welche
Mittel stehen einer Regierung hierfür überhaupt zur Verfügung, und
worauf will man letztlich hinaus? Es ist gar nicht so leicht, diese
Punkte zu definieren.
Am häufigsten begegnet man hierbei der Ansicht, an unserer
Gesellschaft solle sich möglichst gar nichts ändern, nur müssten
halt irgendwie ein paar mehr Kinder her. Das ist reichlich naiv und
erinnert an die Führungskader der SED, die sich 1989 wünschten,
dass in der DDR doch weitgehend alles beim alten bleiben möge, nur
die Wirtschaft solle halt irgendwie ein bisschen besser laufen.
Derartiges Wunschdenken führt zu nichts. Wenn eine Entwicklung
derart übel in einer Abwärtsspirale festgefahren ist, dann helfen
keine kosmetischen Veränderungen mehr – das galt für Egon Krenz und
seine Planwirtschaft und gilt heute für Anette Schavan, Ursula von
der Leyen und die deutsche Familienpolitik. Ob Milliardenkredite
für das andere Deutschland oder Steuermillionen für das
Familienministerium, mit ein bisschen Geld ist da schon lange
nichts mehr zu machen, dafür sind die Probleme zu tiefgreifend und
zu grundsätzlich. Für Politiker hat der Gedanke, dass es Probleme
geben soll, die man nicht mit Geld lösen kann, natürlich immer
etwas Erschreckendes, denn er führt ihnen die Grenzen ihrer
Möglichkeiten vor Augen, die sich neben der Legislative vorwiegend
auf die Umverteilung von Geldern beschränken.
Wo wollen wir hin mit unserer Gesellschaft – oder anders gefragt,
gibt es überhaupt ein bekanntes Gesellschaftsmodell, von dem wir
glauben können, dass es unsere derzeitigen Probleme löst und das
deshalb gezielt angesteuert werden könnte? Ist die Zeit der großen
Ideologien und gesellschaftlichen Entwürfe und Utopien nicht längst
vorbei? Nun, irgendwie schon, und dennoch will es nicht
einleuchten, warum soziale Marktwirtschaft und eine
kinderfreundliche Gesellschaft nicht verbunden werden können
sollen.
Was die Stellung der Frauen in der Gesellschaft betrifft, bieten
ältere Gesellschaftsmodelle (oder altertümlichere Modelle wie der
heutige Islam) trotz der dort so viel höheren Geburtenraten für uns
keine wirklich brauchbaren Lösungen an. Es macht keinen Sinn, das
Rad der Geschichte zurückdrehen zu wollen und zu versuchen, Frauen
wie einst im Rahmen einer feudalen Zunftordnung eine bestimmte,
streng begrenzte Lebensweise vorzuschreiben. Die generelle
Selbstbestimmung der Menschen beiderlei Geschlechts ist einer der
maßgeblichen Faktoren, die unsere moderne Gesellschaft überhaupt
erst so leistungsfähig machen, und darauf sollten wir nicht mehr
verzichten. Es muss aber auch klar sein, dass die energische Frau,
die nur in Beruf und Karriere ihr wahres Ich zur Entfaltung bringen
kann, ein ideologisch genauso verblendetes Zerrbild ist wie die
biedere Hausfrau, die ihr Glück ausschließlich zwischen Herd, Wiege
und Bügeleisen findet. Echte Freiheit hat keine fest vorgefertigten
Lebensmuster.
Um das Kernproblem zu definieren, müssen wir uns bewusst machen,
dass eine so geringe volkswirtschaftliche Gesamtleistung, wie wir
sie derzeit auf Kinder und Familie verwenden, erstens unnatürlich
und zweitens für Volk und Staat nachhaltig schädigend ist. Noch
niemals zuvor in der Geschichte wurden prozentual zur
Gesamtbevölkerung so wenige Arbeitsstunden auf die Bedürfnisse von
Kindern verwendet, wie derzeit in unseren westlichen
Industrieländern. Die niedrigen Geburtenzahlen sind die völlig
logische Konsequenz daraus. Um eine demographische Wende zu
schaffen, muss es also darum gehen, diese Gesamtleistung zu
erhöhen. Der Staat als Vertreter der Gesamtinteressen der
Bevölkerung muss den ihm zustehenden Anteil an Wirkung und
Arbeitskraft der Frauen für seine ureigenen Interessen der
Selbsterhaltung zurückgewinnen und daher anstreben, den Zugriff der
Industrie auf die Arbeitskraft der Frauen per Gesetz in
vernünftige, gesellschaftlich allgemeinverträgliche Schranken zu
weisen.
Es reicht nicht aus, Angebote bereitzustellen für den Fall, dass
eine Frau ein Kind bekommt. Jedes Arbeitsverhältnis einer jungen
Frau muss vom Arbeitgeber so gestaltet sein, dass sich die Frage
nach ›Job oder Familie‹ gar nicht erst stellt. Und nicht nur die
Mütter, auch die potentiellen Mütter müssen von diesen
Arbeitsregelungen grundsätzlich erfasst und somit indirekt zum Kind
ermutigt werden. Denn wie bereits weiter oben genannt, wollen die
meisten Akademikerinnen ein, oft mehrere Kinder in die Welt setzen.
Sie schaffen es aber nicht aus eigener Kraft, sich aus dem engen,
kinderfeindlichen Korsett von Ausbildungs- und Arbeitsregelungen
genügend zu befreien. Der Gesetzgeber hat dafür Sorge zu tragen,
dass der Arbeitgeber von vorneherein beim Abschluss eines jeden
Arbeitsvertrages nicht mehr die Möglichkeit und die Macht hat, die
Familienplanung junger Menschen faktisch und maßgeblich entgegen
den Interessen des Staates und der Gesellschaft zu bestimmen. Die
Politik hat diese Macht, und sie hat vom Souverän grundsätzlich den
Auftrag, für die Selbsterhaltung und den Fortbestand von Staat und
Gesellschaft zu sorgen. Es ist also ihre Pflicht, die
Gesamtinteressen des Staates und der Gesellschaft gegenüber den
wirtschaftlichen Teilinteressen der Industrie durchzusetzen.
Wie hier schon mehrfach angesprochen und im Übrigen allgemein
bekannt, ist der chronische Mangel an Betreuungsmöglichkeiten für
junge Familien mit Kindern derzeit eines der drängendsten Probleme,
und die Zahl der Kinder, die nur aufgrund dieser ungelösten
Betreuungsfrage gar nicht erst geboren werden, ist erheblich. Die
Lösung dieses Problems ist simpel und nicht einmal besonders
kostspielig, rüttelt allerdings ein wenig an den Grundfesten
unserer derzeitigen Überzeugungen: Ein soziale Pflichtdienstzeit
für junge Frauen muss her, die etwa zwischen dem sechzehnten und
fünfundzwanzigsten Lebensjahr absolviert werden sollte. Jeder
ausgebildeten Kindergärtnerin werden zwei oder drei dieser
Dienstleistenden zugeordnet; ebenfalls auf Schulhöfen, großen
Spielplätzen, bei der Hausaufgabenbetreuung oder in Krankenhäusern
könnten diese Hilfskräfte das überarbeitete Fachpersonal relativ
günstig entlasten und somit zu einer deutlich verbesserten
Gesamtbetreuung unserer Kinder beitragen.
Wenn man das Ganze mit einer Art generellen pädagogischen
Grundausbildung zum richtigen Umgang mit Kindern verbände, so würde
dies schon mittelfristig enorm etwas zur nötigen
Bewusstseinswandlung in unserer Gesellschaft beitragen, dass
Aufgaben wie eine geregelte Kinderbetreuung nicht zum Nulltarif zu
haben sind, sondern dass ein jeder sich daran zu beteiligen hat.
Die Erfahrungen, die sie während dieser Zeit sammelten, würden
jungen Frauen auch den Schritt zur eigenen Familiengründung
erleichtern, da das Kind dann nicht mehr eine gar so unbekannte
Größe, sondern eine realistisch abschätzbare Belastung darstellte.
Die heutige Angst vor dem Kind ist oft die Angst vor dem
Unbekannten. Der rechtzeitige Umgang mit Kindern im staatlichen
Pflichtdienst würde auch das nötige Bewusstsein dafür schaffen,
dass für Kinder in der eigenen Lebensplanung von vorneherein der
nötige Freiraum vorgesehen werden sollte.
Auch geht man viel zu leichtfertig davon aus, dass die Einführung
eines solchen ›Pflichtjahres‹, das je nach Berechnung des
Gesamtbedarfes ja vielleicht gar kein Jahr, sondern nur wenige
Monate dauert, zu einem Aufschrei der Entrüstung führen würde – vor
allem bei den betroffenen jungen Frauen selbst. Aber wäre das
tatsächlich zu erwarten? Ist es nicht vielmehr so, dass es gerade
für eine junge Frau besonders einleuchtend ist, zuerst über ein
paar Monate hinweg unter professioneller Leitung praktische
Erfahrung mit Kindern zu sammeln, um dann, möglicherweise ja nur
wenig später, als junge Mutter selber auf dieses gutausgebaute und
im Idealfall kostenfreie Betreuungssystem zurückgreifen zu können?
Personell derart gut ausgestattete ›Kindergärten‹ könnten auch bis
spät abends noch besetzt sein und jungen Eltern – gratis oder gegen
ein bescheidenes Entgelt – beispielsweise einen abendlichen
Kinobesuch ermöglichen. Würden junge Frauen sich also tatsächlich
gegen eine solche Pflichtdienstzeit stellen, wenn sie wüssten, dass
sie sich im Gegenzug dafür später nie um einen Babysitter oder eine
Tagesmutter kümmern müssten, sondern ihre Kinder problemlos zu
jeder Tageszeit und ohne jede Form der Vororganisation einfach für
ein paar Stunden bei der immer besetzten, staatlich kontrollierten
Kinderbetreuungsstelle abgeben können?
Die Einrichtung solcher Betreuungsstätten, die gegebenenfalls sogar
wie Bereitschaftsstationen der Krankenhäuser rund um die Uhr
besetzt sein könnten und neben der Betreuung gleichzeitig den
Charakter einer generellen Beratungsstelle für alle konkret
anfallenden Fragen rund ums Kind annehmen würden, das wäre
einmal eine Verbesserung, die jungen Familien ganz unmittelbar
massiv zugute kommen würde und zehntausendfach die Entscheidung zum
Kinde erleichtern könnte, in Fällen, in denen das ›Wagnis
Familiengründung‹ noch auf der Kippe steht. Unsere moderne,
westliche Welt braucht gute Straßen, Schienen und Schulen, sowie
eine zuverlässige Strom- und Wasserversorgung, um reibungslos
funktionieren zu können. Warum sollte eine umfassende staatliche
Kinderbetreuung nicht genauso zur generellen Infrastruktur eines
modernen Landes gehören? Wir wissen doch, dass es in diesem
›Versorgungsbereich‹ derzeit ganz besonders hakt, und wenn wir
gleichzeitig berufstätige Frauen und mehr Geburten haben wollen,
dann sollten wir eine flächendeckende Kinderbetreuung im Sinne
einer den Standort Deutschland fördernden Infrastrukturmaßnahme auf
Basis einer generellen Pflichtdienstzeit ernsthaft in Betracht
ziehen.
Wenn die Sache so naheliegend ist, warum wird sie dann nicht längst
getan, ja nicht einmal diskutiert? Nun, wer derartiges
vorzuschlagen wagt, begibt sich gerade hier bei uns in Deutschland
auf ideologisch vermintes Terrain, auf dem man kaum einen Schritt
machen kann, ohne politisch dabei hochzugehen. Bekanntlich hatten
wir ja einmal eine Zeit, in der die ›Jungmaiden‹ zu einem
›Pflichtjahr‹ einberufen wurden, die uns in wenig guter Erinnerung
geblieben ist, obgleich dieses Pflichtjahr durchaus ein Erfolg war
und seinerzeit mit zu einem satten Anstieg der Geburtenzahlen
beigetragen hat. Aber müssen wir uns überall da, wo einst die Nazis
mit einem runden Ball gespielt haben, heute dauerhaft mit
einem eckigen herumschlagen? Es ginge bei den dienstleistenden
jungen Frauen nicht im entferntesten darum, das alte
›Pflichtmädel‹-System oder gar die alte Ideologie zu kopieren.
Niemand würde auf die Idee kommen, Mädchen wieder uniformiert und
Kampflieder singend hinter der Fahne durch die Gaue marschieren zu
lassen. Auch würde man nicht mehr der privaten Familie mit vier
Kindern das eigene ›Pflichtmädel‹ zuteilen, dass dann von der Frau
des Hauses nach Belieben herumgescheucht werden könnte.
Es geht um die hier mehrfach angesprochene grundlegende Erkenntnis,
dass die Demographie und die Nettoreproduktionsziffer unserer
Gesellschaft mehr ist als der individuelle Kinderwunsch der
einzelnen Bürger. Es geht darum, die Entstehung und Betreuung der
nächsten Generation generell als eine kollektive und daher
staatliche Aufgabe zu verstehen und dass folglich nicht nur das
einzelne Kind als Individuum oder die einzelne Familie, sondern
Kinder und Familien in ihrer Gesamtheit unter dem besonderen Schutz
und der Förderung des Staates zu stehen haben. Es geht darum, zu
begreifen, dass Kinder vierundzwanzig Stunden am Tag eine
kinderfreundliche Gesellschaft brauchen und nicht nur während der
Schulstunden. Und so wie jahrzehntelang der Wehrpflichtige als
›Bürger in Uniform‹ über die Organisation der Bundeswehr die
kollektive Verantwortung aller Staatsbürger für die
Landesverteidigung verkörpert hat, so könnte die dienstpflichtige
junge Frau innerhalb einer neuzuschaffenden flächendeckenden
Organisation der Kinderbetreuung die kollektive Verantwortung aller
für das Wohlergehen der kommenden Generation in der Bevölkerung
verankern.