Robert Kaiser
Wege aus der europäischen Malaise?
Aktuelle Integrationskonzepte auf dem Prüfstand

Einleitung: Verfassungskrise oder europäische Malaise?

Das vorläufige Scheitern des europäischen Verfassungsvertrages durch dessen Ablehnung in den Referenden in Frankreich und den Niederlanden im Sommer 2005 hat den Prozess der fortschreitenden Integration im Rahmen der Europäischen Union (EU) zweifellos in eine Krise geführt. So sehr über die Existenz einer solchen Krise weithin Einigkeit besteht, so umstrittener erscheint jedoch, wie weitreichend deren Konsequenzen sind. Unterscheiden lassen sich im Wesentlichen zwei Positionen.

Eine erste, die man wohl als die ›offizielle‹ Position der politisch Verantwortlichen zumindest in einigen Mitgliedstaaten und innerhalb der Organe der EU bezeichnen darf, wertet die Ablehnung der Verfassung als eine ›Vertrauenskrise‹, die vor allem in den Gründerstaaten der Union zwischen den Bürgern und dem Prinzip der europäischen Integration ausgebrochen sei (Verheugen 2005: 7). Ihren politischen Ausdruck hat diese Position im Beschluss des Brüsseler Gipfels der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union im Juni 2005 gefunden, den Ratifikationsprozess für den europäischen Verfassungsvertrag zugunsten einer Phase der Reflexion auszusetzen. Spätestens bis zum Sommer 2006 sollen zunächst Schlussfolgerungen für den weiteren Prozess gezogen werden, die sich aus den öffentlichen Diskussionen innerhalb der Mitgliedstaaten und auf europäischer Ebene ergeben sollen (Rat der Europäischen Union 2005: 4). Aus diesen Diskussionen lassen sich jedoch bisher nur wenige konkrete Vorschläge erkennen. Die Europäische Kommission hat im Oktober 2005 einen »Plan D für Demokratie, Dialog und Diskussion« vorgelegt, dessen Ziel es ist, in einen strukturierten Dialog nunmehr auch mit jenen gesellschaftlichen Gruppen einzutreten, die im bisherigen Ratifikationsprozess nicht einbezogen worden sind. Im Wesentlichen sollen in diesem Rahmen die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Europas, die Aufgaben und Erfolge der europäischen Integration und die Rolle der Europäischen Union in der Welt diskutiert werden (Europäische Kommission 2005: 6). Demgegenüber wird in einer Entschließung des Europäischen Parlaments die Einsetzung parlamentarischer Foren aus Mitgliedern nationaler Parlamente und des Europäischen Parlaments präferiert, die bis in das Jahr 2007 einige sehr viel grundsätzlichere Fragen, wie beispielsweise die Ziele der europäischen Integration, die künftige Rolle Europas in der Welt oder die Grenzen Europas debattieren sollen (Europäisches Parlament 2006). Von Seiten der Mitgliedstaaten ist vor allem der jüngste Vorschlag des französischen Premierministers de Villepin zugunsten eines Europa der Projekte zu nennen. Danach ist beabsichtigt, dass Deutschland und Frankreich in engem Schulterschluss ihren europäischen Partnern konkrete Maßnahmen unterbreiten, die den Bürgern der EU den Mehrwert europäischen Handelns deutlich machen sollen. Gedacht ist dabei etwa an die Schaffung einer europäischen Grenzpolizei, ein gemeinsames Vorgehen zur Bekämpfung grenzüberschreitender Seuchen, wie etwa der Vogelgrippe, oder die Intensivierung der wissenschaftlichen Zusammenarbeit (Französische Botschaft 2006).

Hiervon deutlich zu unterscheiden ist eine zweite Position, die nicht allein die derzeitige Verfassungskrise, sondern vielmehr die veränderten weltpolitischen Rahmenbedingungen seit der Überwindung des Ost-West-Konfliktes zum Anlass nimmt, um konzeptionelle Alternativen zu einem Integrationsansatz zu entwickeln, der im Allgemeinen mit dem Begriff der Methode Monnet – also der schrittweisen Europäisierung durch Kompetenzübertragung seitens der Mitgliedstaaten und der parallelen inkrementellen institutionellen Anpassung an neue Herausforderungen wie sie etwa die mehrfachen Erweiterungsrunden vor allem seit Mitte der 1980er Jahre darstellten – gekennzeichnet ist. Diese Position sieht in dem vorläufigen Scheitern der europäischen Verfassung nicht den Auslöser der Krise, sondern vielmehr ein Symptom einer sehr viel weiter reichenden ›europäischen Malaise‹. Allerdings variiert diese Position teilweise beträchtlich in der Reichweite ihrer kritischen Reflexion und der daraus abgeleiteten konzeptionellen Vorschläge für den weiteren Integrationsprozess. Die Bandbreite solcher vorwiegend in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen erarbeiteten Konzepte reicht von einer ›pragmatischen‹ Richtung, die im Wesentlichen die Methode Monnet durch die vermehrte Nutzung von Instrumenten der differenzierten Integration dynamisieren möchte, bis hin zu einer ›visionären‹ Richtung, die als Reaktion auf die durch die Globalisierung forcierten Entgrenzungsprozesse eine Notwendigkeit zur Errichtung neuer Herrschaftsformen jenseits des Nationalstaates sieht.

Jene neueren wissenschaftlichen Europakonzepte sollen in diesem Beitrag einer kritischen Würdigung unterzogen werden. Dass sich der Artikel insofern nicht mit der erstgenannten Position auseinandersetzt, ist vor allem der Überzeugung des Autors geschuldet, dass die dort unterstellte Vertrauenskrise einerseits zwar kaum zu leugnen ist, sich diese aber andererseits quasi als eine systemimmante Konsequenz der  bisherigen Integrationslogik bewerten lässt. Denn es waren vor allem die mitgliedstaatlichen Regierungen, die besonders seit den 1990er Jahren unter dem Eindruck schwindender nationaler Problemlösungsfähigkeit der Europäischen Union Aufgaben auferlegt haben, für die diese weder ausreichende finanzielle noch kompetenzielle Ressourcen besitzt. Da die Europäische Kommission – ausgestattet mit einem formalrechtlichen Initiativmonopol – diese neuen Aufgabenzuschreibungen auch ohne weitere Kompetenzübertragungen bereitwillig angenommen hat, ließ es sich kaum vermeiden, dass in der öffentlichen Wahrnehmung das teilweise klägliche Scheitern entsprechender europäischer Initiativen nicht der mangelnden Ressourcenausstattung der Union (und insofern den Mitgliedstaaten) angelastet wurde, sondern vielmehr Fragen nach Sinn und Zweck fortschreitender europäischer Integration überhaupt provozierte.

Ein herausragendes Beispiel für diese Entwicklung liefert die von den Staats- und Regierungschefs im März 2000 verabschiedete Lissabonner Agenda, durch deren Umsetzung sich die Europäische Union bis zum Jahr 2010 zur wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsregion der Welt entwickeln sollte. Tatsächlich hat sich schon wenige Jahre später gezeigt, dass die EU insbesondere gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika weiter an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt hat, sodass die Anstrengungen zur Erreichung dieses Zieles mittlerweile auch offiziell als gescheitert bewertet werden. Dies liegt im Wesentlichen daran, dass etwa in der Forschungs- und Technologiepolitik – dem zentralen Pfeiler der Lissabonner Strategie – die Europäische Union über außerordentlich begrenzte Handlungsressourcen verfügt. Daher hing die Erreichung wichtiger Etappenziele, wie etwa die Durchsetzung von Maßnahmen zur Erhöhung öffentlicher und privater Forschungsinvestitionen, von der freiwilligen Koordination der Mitgliedstaaten im Rahmen der so genannten Methode der offenen Koordinierung (vgl. Kaiser/Prange 2005) ab. Letztlich waren nicht nur die institutionellen Bedingungen, sondern vor allem die deutlichen Unterschiede in den Ausgangsbedingungen und der Leistungsfähigkeit der Mitgliedstaaten dafür verantwortlich, dass die Forschungsanstrengungen in Europa heute geringer sind als im Jahr 2000. So beläuft sich das jährliche Defizit in den Forschungsinvestitionen gegenüber den Vereinigten Staaten mittlerweile auf etwa 130 Milliarden Euro (Verheugen 2005: 187).

Dieses Beispiel macht zwei Dinge deutlich. Erstens spricht vieles dafür, dass die Binnenkohärenz in einer Europäischen Union der 25 Mitgliedstaaten sowohl unter ökonomischen wie auch unter interessenpolitischen Gesichtspunkten in einem Maße abgenommen hat, das einen zeitgleichen Integrationsfortschritt aller Mitgliedstaaten immer unrealistischer erscheinen lässt. Zweitens müssen vor dem Hintergrund der bislang für die europäische Integration konstitutiven Parallelität von Erweiterung und Vertiefung eine Reihe grundsätzlicher Fragen beantwortet werden. Zu diesen gehören zumindest – sofern man sich die Erweiterungsperspektiven für die Türkei und die Staaten des westlichen Balkans vor Augen führt – die Fragen nach den Grenzen und der Integrationstiefe einer zukünftigen Europäischen Union. Diesen Fragen soll im Folgenden mit einer kritischen Betrachtung aktueller wissenschaftlicher Europakonzepte nachgegangen werden.

Die Dynamisierung der Methode Monnet durch differenzierte Integration

Der Begriff der differenzierten Integration bezeichnet das Voranschreiten einer Gruppe von Mitgliedstaaten in einem spezifischen Politikbereich, ohne dass dieser Integrationsfortschritt von anderen Mitgliedstaaten, die einen solchen Schritt (noch) nicht bereit sind zu gehen, aufgrund der Erfordernis konsenspflichtiger Änderungen des Primärrechts aufgehalten werden soll. Als solche ist differenzierte Integration in der Europäischen Union kein neues Phänomen. Sie ist in der bisherigen Entwicklung der EU im Wesentlichen in drei Formen aufgetreten.

Zunächst wurde ein solches Vorgehen zur Überwindung von Entscheidungsblockaden gewählt, wenn nur eine kleine Minderheit von Mitgliedstaaten der Europäisierung bestimmter Politikfelder vorerst nicht zustimmen wollte. Beispiele für diesen Anwendungsfall lieferten in den 1990er Jahren etwa das vorübergehende Ausscheren Großbritanniens aus einer europäischen Sozialpolitik oder die vertraglichen Regelungen, die es Dänemark, Großbritannien und Schweden derzeit erlauben, die Gemeinschaftswährung EURO nicht einzuführen, obgleich sie formal Mitglieder der europäischen Währungsunion sind.

In einer zweiten Form hat differenzierte Integration ihren Ausgang in einer zwischenstaatlichen Kooperation einer kleineren Zahl von Mitgliedstaaten außerhalb der rechtlichen Struktur der EU genommen. Entsprechende Maßnahmen sind dann erst später in den Rahmen der Union integriert und somit weithin europäisiert worden. In dieser Form hat es differenzierte Integration möglich gemacht, dass sich seit Mitte der 1980er Jahre zunächst fünf der Gründungsstaaten der Europäischen Gemeinschaft im Rahmen eines völkerrechtlichen Vertrags, des Schengener Abkommens, auf den schrittweisen Abbau der Personenkontrollen an ihren Binnengrenzen verständigt haben. Erst nach über einem Jahrzehnt wurde diese Zusammenarbeit durch den Amsterdamer Vertrag in die Rechtsordnung der Europäischen Union überführt und hierdurch auf weitere Mitgliedstaaten ausgedehnt. Dennoch gelten in diesem Bereich weiterhin Sonderregelungen für Dänemark, Irland und Großbritannien.

Eine dritte Form differenzierter Integration ist neueren Datums. Hierbei handelt es sich, im Gegensatz zu den beiden erstgenannten Formen, um eine flexiblere Form der Zusammenarbeit unterhalb der Schwelle der Vertiefung der Integration durch Änderung des Vertragsrechts. Bei der so genannten Methode der offenen Koordinierung (MOK) wird angestrebt, dass die Mitgliedstaaten in Bereichen, in denen die EU über keine Gesetzgebungsbefugnisse verfügt, ihre nationalen Politiken freiwillig auf gemeinsam vereinbarte europäische Ziele hin ausrichten. Ihren Ursprung hat die MOK in der seit dem Maastrichter Vertrag eingeführten Koordinierung nationaler Finanzpolitik. Im weiteren Verlauf wurde sie zunächst durch den Amsterdamer Vertrag auf die Arbeitsmarktpolitik und durch den Europäischen Rat von Lissabon auf eine Reihe weiterer Politikfelder, etwa die Forschungs, die Sozial- oder die Gesundheitspolitik ausgedehnt. Hierbei kommt der Europäischen Kommission eine wichtige Rolle zu, weil sie durch den regelmäßigen Vergleich der Leistungsfähigkeit nationaler Programme und durch den Vorschlag europäischer Leitlinien einen wesentlichen Einfluss auf die nationale Politikgestaltung gewinnen kann. In der bisherigen Praxis hat sich diese Methode jedoch nur als begrenzt erfolgreich erwiesen. So kam eine Expertengruppe im Jahr 2004 zu dem Ergebnis, dass die Methode die hohen in sie gesetzten Erwartungen bei weitem nicht erfüllt habe, insbesondere weil sich die Mitgliedstaaten nicht auf dieses neue Instrument eingelassen hätten. Zudem wurde zutreffenderweise kritisiert, dass dem Europäischen Parlament eine echte Einflussmöglichkeit auf diese Form intensiver Interaktion zwischen Kommission und mitgliedstaatlichen Exekutiven fehlt, die sich im Erfolgsfalle auch weithin jenseits der aktiven Kontrollmöglichkeit nationaler Parlamente vollzöge (Europäische Gemeinschaften 2004: 48).

Das Konzept differenzierter Integration hat insofern sein Potenzial bislang bei weitem noch nicht ausschöpfen können. Dies liegt im Wesentlichen darin begründet, dass dieses Instrument erfolgreich bisher immer nur außerhalb des Gemeinschaftsrahmens zur Anwendung gekommen ist. Als Lösungsansatz für die derzeitige Krise der Union ist differenzierte Integration aber nur geeignet, wenn sie auch als Mittel der Dynamisierung der Methode Monnet, also auch für Politikbereiche, in denen die Union grundsätzlich auch legislativ tätig werden könnte, gedacht wird. So verstanden setzt sich das Konzept differenzierter Integration aber auch von Überlegungen ab, die häufig in diesem Kontext genannt werden. Es geht folglich nicht um die Verwirklichung eines ›Kerneuropas‹, weil sich ein solches gleichfalls nur außerhalb der bestehenden Union vertraglich fixieren ließe. Es geht aber auch nicht um ein ›Europa à la carte‹, in dem sich einzelne Mitgliedstaaten punktuell an Integrationsmaßnahmen beteiligen könnten oder auch nicht. Ein solche Strategie wäre im gegebenen institutionellen Rahmen der EU weder organisierbar, noch würde sie gemessen an dem bereits erreichten Integrationsstand Sinn machen, wenn nicht auch die Möglichkeit geboten würde, sich aus Bereichen wieder zurückzuziehen, in denen ein Mitgliedstaat bereits Kompetenzen übertragen hat.

Es geht vielmehr bei dem Konzept der differenzierten Integration primär um die Nutzung und insbesondere die Ausweitung jener Möglichkeiten, die das europäische Vertragsrecht mit dem Verfahren der ›verstärkten Zusammenarbeit‹ bereits bietet. Durch das vorläufige Scheitern der europäischen Verfassung haben sich die Möglichkeiten zu einer solchen verstärkten Zusammenarbeit nicht einmal verschlechtert, weil in der Verfassung Anforderungen an eine differenzierte Integration gestellt werden, die sogar noch über die Bestimmungen des Vertrags von Nizza hinausgehen (Deubner 2004: 279).

Dies bedeutet gleichwohl nicht, dass sich nicht bereits Bestimmungen des derzeit gültigen Vertragswerkes als zu restriktiv für eine verstärkte Zusammenarbeit einer Minderheit von Mitgliedstaaten erwiesen hätten. In der gegebenen Situation wird deshalb im Rahmen der Konzeption einer differenzierten Integration zunächst der Abschluss eines ›Grundlagenvertrages‹ favorisiert, der – anstelle der Verfassung oder als ›abgespeckte Version‹ derselben – zunächst die größten Defizite des Vertrags von Nizza beheben würde. Zu diesen gehören zweifellos die institutionellen Bestimmungen und hierbei vor allem die Regelungen über die Entscheidungsverfahren im Ministerrat. Gleichfalls müsste ein solcher Grundlagenvertrag die Hürden für eine verstärkte Zusammenarbeit erheblich reduzieren, um die Motivation integrationswilliger Mitgliedstaaten zu erhöhen, auch in eine verstärkte Zusammenarbeit innerhalb des europäischen Vertragsrechts zu investieren. Geschieht dies nicht, wird sich die verstärkte Zusammenarbeit auf den intergouvernementalen Bereich beschränken müssen und damit in der Tat die Herausbildung eines Kerneuropas verstärken, da es außerordentlich fraglich ist, ob sich solche Integrationsmaßnahmen später für eine größere Zahl von Mitgliedstaaten in den Rahmen der Union reintegrieren lassen.

Neben dieser verstärkten Zusammenarbeit, die durchaus in Form spezifischer europäischer Projekte erfolgen kann, besitzt die Methode der offenen Koordinierung ohne Zweifel Potenzial als ein Instrument der differenzierten Integration. Dies gilt aber nur, wenn zwei Vorbedingungen erfüllt sind. Erstens ist sie besonders in jenen Politikbereichen vielversprechend, die durch erhebliche Variationen zwischen den Mitgliedstaaten, sei es hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit oder auch aufgrund spezifischer nationaler Traditionen, gekennzeichnet sind. Hier kann die Methode der offenen Koordinierung aber nicht auf jene Politikmaßnahmen begrenzt bleiben, für die es bislang keine europäischen Kompetenzen gibt. Zweitens muss dieses Instrument jene Akteure mit einbeziehen, die in den Mitgliedstaaten tatsächlich über die entsprechenden legislativen und budgetären Ressourcen verfügen. Dies ist zumindest in föderalen oder dezentralisierten Mitgliedstaaten bei weitem nicht immer die nationalstaatliche Ebene (Kaiser/Prange 2004).

Die europäische Föderation als ›postnationale Konstellation‹

Während folglich die Frage, ob die europäische Verfassung noch in Kraft treten wird, für die stärkere Nutzung von Instrumenten differenzierter Integration nicht von entscheidender Bedeutung ist, verhält sich dies anders mit jener Konzeption, die in der Herausbildung einer europäischen Föderation die geeignete Antwort auf den Verlust nationalstaatlicher Handlungsfähigkeit unter den Bedingungen fortschreitender Globalisierung sieht. Dieser Prozess wird – ohne hierbei zunächst auf die europäische Integration zu rekurrieren – als ursächlich für eine sich herausbildende »postnationale Konstellation« (Habermas 1998: 94 ff.) beschrieben, in welcher der Territorialstaat nicht mehr die traditionelle Begrenzung der Nation, einer vorwiegend national organisierten Volkswirtschaft und der demokratisch verfassten Gesellschaft bildet. Während eine mögliche Reaktionen auf diese Entwicklung in der als neoliberale Politik bezeichneten vermeintlichen Reduktion der Aufgaben des Nationalstaates auf eine Politik der Standortsicherung liegt, wird als Alternative formuliert, der zunehmenden Denationalisierung durch neue ›politische Schließungen‹ zu begegnen. Im Kern geht es also um die Frage, wie sich die in den Nationalstaaten entwickelten Prinzipien der demokratischen Herrschaft und der solidarischen Gemeinschaft im überstaatlichen Raum bewahren lassen.

Folgt man Habermas, so können diese Prinzipien letztendlich nur durch die Herausbildung einer »transnationalen Weltinnenpolitik ohne Weltregierung« aufrechterhalten werden. Hierzu befürwortet er, neben der Fortentwicklung der Vereinten Nationen, insbesondere eine effektive Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, um damit auch einer imperialen Ordnungsidee, wie sie etwa durch neokonservative Kreise in den Vereinigten Staaten propagiert wird, wirksam entgegenzutreten. In einer solchen postnationalen Konstellation kommt der Europäischen Union deshalb eine wesentliche Rolle zu, weil sie ein Beispiel für die Möglichkeit des Regierens jenseits des Nationalstaates darstellt. Dies gilt zumindest dann, wenn es ihr gelingt, eine solidarische und partizipatorische transnationale politische Gemeinschaft zu realisieren. Gerade weil der EU damit eine Art Vorbildfunktion zukommen würde, muss die Union aber zunächst in die Lage versetzt werden, sich zu einer postnationalen Demokratie fortzuentwickeln. Gefordert wird damit gleichfalls die Stärkung europäischer Institutionen wie auch die Ausweitung ihrer demokratischen Legitimationsgrundlage (Habermas 1998: 149).

Konzeptionell befürwortet Habermas damit im Wesentlichen die Herausbildung einer europäischen Förderation, eines »Staates von Nationalstaaten« (Habermas 2001b). Diese Konzeption besitzt damit weitreichende Parallelen zu jenem Entwurf, den der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer im Jahr 2000 in seiner viel beachteten Rede an der Berliner Humboldt-Universität skizziert hat. Analog zu den Strukturmerkmalen jeder föderativen Ordnung muss eine solche Konzeption zunächst die Problematik des Verhältnisses der staatlichen Ebenen untereinander lösen. Konkret muss infolgedessen die Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten und die Mitwirkung der nationalstaatlichen Ebene an der europäischen Gesetzgebung geregelt werden. Fischer sieht eine solche Lösung in der durch eine Verfassung vorgenommenen klaren Trennung der Kompetenzen zwischen Föderation und Nationalstaat, wobei nur ein vergleichsweise geringer Bestand an zentralen Kompetenzen (»Kernsouveränitäten«) auf die europäische Ebene delegiert werden soll (Fischer 2000). Eine flexiblere Kompetenzverteilung favorisiert hingegen das Habermassche Förderationskonzept, das zwar in der Subsidiaritätsklausel grundsätzlich ein geeignetes Instrument für die Bestimmung von Zuständigkeiten unterschiedlicher Ebenen sieht, aber mit Recht darauf hinweist, dass unter den Bedingungen hoher ökonomischer und kultureller Varianz ein Trend zur Zentralisierung wahrscheinlich ist. Habermas befürwortet insofern eine dynamische Kompetenzordnung, die in regelmäßigen Abständen revidiert werden kann, sofern sich »unvorhersehbare Konsequenzen« (Habermas 2001b) hinsichtlich der Effektivität oder der demokratischen Fundierung staatlichen Handelns erkennen lassen. Deshalb misst Habermas auch plebiszitären Elementen in der europäischen Verfassung hohe Bedeutung zu, weil durch die Nutzung europaweiter Referenden den Bürgern die Möglichkeit gegeben werden könnte, weit umfassender an der organisatorischen und prozeduralen Gestaltung von Politikfeldern mitzuwirken (Habermas 2001a: 23 f.).

Daneben weist die Habermassche Konzeption allerdings auch eine Reihe strikter Begrenzungen auf. Hierzu gehört zum einen, dass mit der Verabschiedung einer europäischen Verfassung auch eine endgültige Antwort auf die Frage der finalen territorialen Ausdehnung der europäischen Integration erfolgen soll. Jenen Staaten, die durch eine solche Festlegung dauerhaft exkludiert werden, bieten sich unterschiedliche Formen der Assoziierung im Sinne einer Struktur der »variablen Geometrie«. Der Zusammenhalt im Inneren der Union soll hingegen zumindest zeitweise durch ein »Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten« gestärkt werden, in dem der Integrationsfortschritt im Kern der Union schneller erfolgen kann als an der Peripherie. Zum anderen sieht Habermas in der weit reichenden Anwendung von Mehrheitsentscheidungen eine wesentliche Voraussetzung für die Handlungsfähigkeit der Union. Solche Mehrheitsentscheidungen sollen jedoch nicht für Bereiche gelten, in denen eine Abweichung von Konsensentscheidungen die »Wahrung der nationalen Integrität« bedrohen würde.

Insbesondere diese letzte Begrenzung verweist auf die institutionellen Aspekte der Habermasschen Föderationskonzeption. Ähnlich wie die Überlegungen Fischers, geht auch diese Konzeption im Wesentlichen von der Notwendigkeit aus, die bisherige Institutionenordnung der EU in Richtung auf ein parlamentarisches Zweikammersystem fortzuentwickeln, in dem die mitgliedstaatlichen Interessen in einer Nationalitätenkammer, die entweder nach dem Vorbild des US-amerikanischen Senats oder des deutschen Bundesrates zu bilden wäre, vertreten würden. Die Legitimationsgrundlage des Europäischen Parlaments soll danach dadurch verbreitert werden, dass zumindest eine Mehrheit der Abgeordneten aus Mitgliedern nationaler Parlamente bestehen würde und dadurch verhindern, dass ein Gegensatz zwischen dem Parlamentarismus auf der europäischen und der mitgliedstaatlichen  Ebene entstehen könnte (Fischer 2000). Die Europäische Kommission würde in dieser institutionellen Ordnung in Richtung auf eine vollständig dem Parlament verantwortliche Exekutive fortentwickelt.

Vor allem die dargestellten institutionellen Aspekte der Föderationsidee lassen deutlich werden, wie stark diese Konzeption von der erfolgreichen Ratifikation der europäischen Verfassung abhängig ist. Denn solch einschneidende Veränderungen des europäischen politischen Systems lassen sich auf der Basis eines völkerrechtlichen Vertrags nur schwerlich legitimieren. Insofern verwundert es auch nicht, dass die Befürworter einer europäischen Föderation nach dem vorläufigen Scheitern der Verfassung erheblich in die Defensive geraten sind. Für Jürgen Habermas besteht der unmittelbare Ausweg aus der Verfassungskrise in der verstärkten Nutzung des Instruments der differenzierten Integration. Wenn, so seine Argumentation, jene Staaten, die sich bereits der Gemeinschaftswährung angeschlossen hätten, nun auch den Weg der engeren Kooperation in anderen Bereichen wählen würden, so könnten die Regeln dieser Zusammenarbeit »einer künftigen Verfassung den Weg weisen« (Habermas 2005).  Dabei trug auch schon die gemeinsame Initiative europäischer Intellektueller im Jahr 2003, die aus Anlass des so genannten Briefes der Acht maßgeblich von Jürgen Habermas und Jacques Derrida unternommen wurde, die Forderung nach der Herausbildung eines Kerneuropas in sich. In dieser gemeinsamen Erklärung vom 30. Januar 2003 haben die Regierungschefs Großbritanniens, Italiens, Spaniens, Portugals, Tschechiens, Ungarns, Polens und Dänemarks ihre Unterstützung für das militärische Eingreifen der Vereinigten Staaten im Irak ausgesprochen. Der Initiative schlossen sich später auch noch Slowenien und Lettland an.

Allerdings ging es den Autoren hier im Wesentlichen um eine Forcierung der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und damit wohl weniger um ein Plädoyer für eine fortschreitende Integration insgesamt, als vielmehr um die Herausbildung einer »zivilen Gegenmacht« zu den Vereinigten Staaten (Habermas/Derrida 2003). Joschka Fischer hat hingegen, noch vor den Referenden in Frankreich und den Niederlanden, andere Lehren aus den kontroversen Debatten der mitgliedstaatlichen Regierungen um die Verabschiedung des Verfassungsentwurfs gezogen. Vor dem Hintergrund der terroristischen Angriffe des 11. September 2001 und der europäischen Konflikte um eine Beteiligung am Irakkrieg stand für ihn nicht mehr die Finalität der europäischen Integration im Vordergrund, sondern viel mehr die neue »strategische Dimension der europäischen Einigung« (Fischer 2004). Danach hätten »klein-europäische« Vorstellungen keine Zukunft mehr. Vielmehr müsse Europa die Politik der Erweiterung – etwa auch in Richtung auf die Türkei – fortsetzen, um im Konzert der kontinentalen Mächte USA, China, Indien und Russland überhaupt Gehör zu finden. Allerdings bewertete auch Fischer zu diesem Zeitpunkt das Inkrafttreten der europäischen Verfassung als eine wesentliche Grundbedingung, um das Funktionieren der erweiterten Union zu gewährleisten.

Europa als ›kosmopolitisches Empire‹

Mit der Betonung dieser strategischen Rolle Europas weist diese revidierte ›Fischer-Position‹ bereits auf ein weiteres aktuelles Integrationskonzept hin, das von den hier Beschriebenen am ehesten als visionär bezeichnet werden kann. In ihrem Buch Das kosmopolitische Europa haben Ulrich Beck und Edgar Grande einen Ansatz zur Überwindung der europäischen Malaise vorlegt, der sich in zwei wesentlichen Punkten von den zuvor genannten Konzepten unterscheidet.

Erstens ist mit dem kosmopolitischen Europa nicht die Europäische Union selbst angesprochen, sondern ein durch den Prozess der Europäisierung gekennzeichneter variabler Raum, dessen Kern derzeit von der Integrationsgemeinschaft der 25 EU-Mitgliedstaaten gebildet wird. Damit unterscheidet sich dieses Konzept vom pragmatischen Ansatz der differenzierten Integration, weil dieser sich ausschließlich auf die Binnenproblematik der Union konzentriert. Es unterscheidet sich aber auch von der Idee der europäischen Förderation als postnationaler Konstellation, weil das Konzept des kosmopolitischen Europa gerade nicht davon ausgeht, dass die politischen Akteure innerhalb der EU weithin autonom entscheiden könnten, wo die Grenzen der Integration zu setzen seien. Vielmehr, und das hätten sowohl der Irakkrieg wie auch der Beitrittswunsch der Türkei gezeigt, würde Europa »ständig von Außen gezwungen, sich politisch zu definieren und weltpolitisch Position zu beziehen« (Beck/Grande 2004: 21).

Zweitens bricht das Konzept des kosmopolitischen Europa mit einer Grundkategorisierung der Europaforschung und damit auch der bisherigen wissenschaftlichen Integrationskonzepte. Kritisiert wird durch die Autoren vor allem, dass der Prozess der Europäisierung im Wesentlichen aus einer konfliktbehafteten Perspektive gesehen wird, die entweder den Nationalstaat oder Europa in den Fokus nimmt. Pointiert ließe sich formulieren, dass Europäisierung danach entweder als Prozess eines ›autonomieschonenden Intergouvernementalismus‹ oder eines ›demokratiegefährdenden Supranationalismus‹ betrachtet wird. Das kosmopolitische Europa will diese jeweils einseitige Perspektivierung überwinden. Danach stellt die Europäische Union, verstanden als ein »dezentrales, territorial ausdifferenziertes, von Eliten dominiertes transnationales Verhandlungssystem« (Beck/Grande 2004: 85) den politisch-institutionellen Kern des kosmopolitischen Europa dar, in dem sowohl die Nationalstaaten als auch die supranationalen Organe der EU integriert sind.

Die Integration des kosmopolitischen Europa stellt damit notgedrungen eine Herausforderung dar, die über den Rahmen der Union hinausreicht. Die Frage ist folglich nicht allein, welche konzeptionellen Ansätze es zur Intensivierung der Integration innerhalb der Europäischen Union gibt, sondern vielmehr, welche institutionellen Lösungen in Europa für die Gewährleistung effizienten und legitimen Regierens jenseits des Nationalstaates denkbar sind. Beck und Grande beantworten diese Frage mit ihrem Entwurf eines kosmopolitischen Empires. Ein solches Empire unterscheidet sich von einer staatlichen Ordnung nicht durch unterschiedliche Herrschaftsfunktionen. Beide, sowohl Staat als auch Empire, müssen Wege finden, innere und äußere Sicherheit sowie materielle Wohlfahrt einer politischen Gemeinschaft zu gewährleisten. Sie unterscheiden sich aber grundlegend in ihren Herrschaftstechniken. Während der Staat traditionell eine Etablierung fester Grenzen vornimmt, in denen er diese Aufgaben erfüllen kann, löst das Empire diese Aufgabenstellung durch die Ausdehnung nach Außen (Beck/Grande 2005: 402). Nach dieser Logik werden etwa Zonen der Unsicherheit an der Peripherie der Europäischen Union nicht zum Aufgabenfeld einer ›staatlichen‹ gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, sondern sie werden in eine Herrschaftsordnung integriert, deren Intensität vom Kern hin zur Peripherie abnimmt.

Diese Begriffsdifferenzierung sagt allerdings noch vergleichsweise wenig darüber aus, welche politischen Optionen es zur Überwindung der Krise der Europäischen Union, bzw. des politisch-institutionellen Kerns des ›europäischen Empire‹ gibt. Beck und Grande sehen diese Europäische Union an einem Wendepunkt angelangt, von dem aus sich drei Szenarien erkennen lassen, von denen aber nur eine, das ›Kosmopolisierungsszenario‹, eine politisch wünschenswerte Option darstellt. Diese setzt sich ab von einem ›Zerfallszenario‹, das die Herausbildung subregionaler Koalitionen einzelner Mitgliedstaaten entstehen sieht, wenn es der Europäischen Union nicht gelingen sollte, die mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten wirtschaftlich zu integrieren und der Union insgesamt durch die Reform ihrer Institutionen und ihrer Demokratisierung einen politischen Rahmen zu geben. Daneben könnte aber auch ein ›Stagnationsszenario‹ Realität werden, in dem zwar die Binnenmarktintegration der Beitrittstaaten gelingt, parallel dazu aber die Dynamik der positiven Koordination erlahmen würde. In einer solchen Situation wäre weder die Vertiefung der ökonomischen Integration – vor allem im Hinblick auf marktkorrigierende Politiken – denkbar, noch eine nennenswerte Ausweitung der Außen- und Sicherheitspolitik oder gar eine tiefgreifende Demokratisierung.

Die kosmopolitische Vision Europas zielt demgegenüber auf vier Erneuerungsstrategien: der Stärkung einer europäischen Zivilgesellschaft auf der Basis anerkannter konstitutioneller Normen, der Realisierung eines postnationalen Demokratiemodells, der Einführung eines kosmopolitischen Integrationsansatzes und der Etablierung Europas als treibender Kraft in den internationalen Beziehungen (Beck/Grande 2004: 341).

Mit diesen Strategien verfolgt das Konzept des kosmopolitischen Empire eine grundlegende Abkehr von den bisherigen Prinzipien des Integrationsprozesses. Eine Verfassung, beispielsweise, wird von den Autoren nicht aus Gründen der Finalisierung der europäischen Integration oder der institutionellen Absicherung der Methode Monnet in einer erweiterten Union befürwortet. Im Gegenteil, aus einer kosmopolitischen Perspektive ist eine Integration Europas nur noch nach dem Prinzip der Anerkennung von Andersheit denkbar. Damit ist Differenz das zentrale Merkmal der zukünftigen Integration Europas. Differenz und die Anerkennung von Andersheit bedeuten allerdings nicht, dass es nicht einen »Mindestbestand an substantiellen und prozeduralen Normen« (Beck/Grande 2004: 342) geben muss. Diese in einer Verfassung zu verankern würde bedeuten, dass vor allem jene substantiellen Normen eine Desintegration Europas verhindern sollen, während prozeduralen Normen eine wichtige Bedeutung für die Demokratisierung der Union zukommt.

Insofern wird die europäische Verfassung zur Konstitution eines postnationalen Demokratiemodells, das sich von jenen in den Mitgliedstaaten etablierten repräsentativen Systemen beträchtlich unterscheidet. Hierzu argumentieren die Autoren, dass der bisherige Versuch, auch auf der Ebene der EU ein repräsentatives Demokratiemodell zu installieren, das bestehende Demokratiedefizit nicht überwinden kann. Diesem Defizit könne nur durch ein partizipatorisches Modell begegnet werden, dass es den Bürgern erlaube, durch unmittelbare Interventionen (etwa europaweite Referenden) und Inklusion (etwa durch die Ausweitung von Beteiligungsverfahren in den Organen der Union) an der Politikgestaltung mitzuwirken. In diesem Kontext wendet sich das Prinzip der Anerkennung von Andersheit aber auch gegen eine fortlaufende Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen. Ähnlich wie in der Habermasschen Konzeption ist auch in einem kosmopolitischen Europa der Mehrheitsentscheid in politisch hoch kontroversen Fällen mit den Anforderungen an demokratische Legitimität nicht vereinbar. Nur fordern Beck und Grande hier aus guten Gründen nicht eine ›Rückkehr‹ zu Konsensentscheidungen, sondern suchen mit neuen Instrumenten, wie etwa einem ›qualifizierten Vetorecht‹ einen Ausweg aus dem Dilemma, dass Konsensentscheidungen zwar mit einem Gewinn an Legitimität verbunden sein mögen, aber gleichzeitig lähmenden Entscheidungsblockaden Tür und Tor öffnen.

Ein kosmopolitisches Empire muss aufgrund des Prinzips der Anerkennung von Andersheit zwangsläufig auch eine Alternative zur traditionellen Integrationsmethode bieten, die vor allem bei der Vollendung des europäischen Binnenmarktes nicht Andersheit, sondern Einheitlichkeit angestrebt hat. Denn für den weit überwiegenden Teil der ökonomischen Aktivitäten in der Europäischen Union existieren Bestimmungen, die durch europäisches Recht harmonisiert worden sind. Bis zum Jahr 2001 regelte das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung nationaler Rechtsnormen nur sieben Prozent aller wirtschaftlichen Leistungen des gemeinschaftlichen Bruttoinlandsproduktes. Wer folglich nicht Einheitlichkeit, sondern Anerkennung von Andersheit als Grundmotiv der Integration propagiert, weicht gravierend von der bisher dominanten Methode Monnet ab. Insofern ist es konsequent, dass Beck und Grande in diesem Zusammenhang für eine »Radikalisierung der differenzierten Integration« plädieren (2004: 365 ff). Entsprechendes Potenzial sehen die Autoren in der Ausweitung der gegenseitigen Anerkennung, in der Methode der offenen Koordinierung und einer geographischen Differenzierung, durch die sich die Reichweite auch von Harmonisierungsbeschlüssen nicht automatisch auf alle Staaten und Regionen des europäischen Empire erstrecken muss.

Für die Rolle dieses europäischen Empire in der internationalen Politik sehen Beck und Grande vor allem die Notwendigkeit einer »transatlantischen Arbeitsteilung« (2004: 380 ff.). Es geht hier folglich weniger um die Errichtung einer zivilen Gegenmacht zu einer imperial auftretenden USA, als vielmehr darum, die Angewiesenheit der Vereinigten Staaten auf Verbündete bei der Errichtung einer tragfähigen internationalen Ordnung auch dazu zu nutzen, ein eigenes weltpolitisches Konzept zu verfolgen. Ein solches skizzieren Beck und Grande mit der Strategie einer regionalen Kosmopolitisierung, bei der auch andere Weltregionen – jeweils gestützt auf ihre historischen Erfahrungen und kulturellen Werte – einem solchen europäischen Beispiel folgen könnten. Dies kann natürlich nicht ohne Rückwirkungen auf den Kernbereich des europäischen Empire bleiben. So argumentieren die Autoren, dass eine solche Strategie erfordere, »die Anerkennung der Anderen nicht länger durch entwicklungspolitische Almosen [zu] blockieren, sondern sich selbst, insbesondere die eigenen Märkte für die Produkte und Initiativen der Anderen [zu] öffnen« (Beck/Grande 2004: 384).   

Integrationskonzepte auf dem Prüfstand

Wie unschwer zu erkennen ist, postulieren die dargestellten Konzepte in unterschiedlicher Weise die Notwendigkeit einer Abkehr von der bisherigen integrationspolitischen Praxis. Dabei wird ein solcher unabdingbarer Wandel begründet mit jeweils stärkerem Bezug entweder aufgrund neuartiger innerer oder äußerer Herausforderungen, denen sich die Europäische Union zu stellen hat. Damit suchen diese Konzepte gleichfalls nach Lösungen sowohl für die notwendigen institutionellen Reformen innerhalb der Union wie für die Bewältigung ungelöster Probleme an ihrer Peripherie. Wesentlich ist, dass all diese Konzepte implizit oder explizit die Notwendigkeit differenzierter Integration hervorheben. Sie differieren aber beträchtlich in der Einschätzung, ob solche Instrumente differenzierter Integration bereits eine Lösung des Problems darstellen, oder ob sie nur Teilaspekte einer weit umfassenderen Neuorientierung sind. Wenn dem so ist, bleibt die Frage zu beantworten, welchem der dargestellten Konzepte die größten Aussichten zugesprochen werden können, die genannten Herausforderungen zu bewältigen. Hierbei spielt der Faktor Zeit eine nicht unwichtige Rolle, weil Instabilitäten des internationalen Umfelds, dies hat der jüngste Irakkrieg überdeutlich gemacht, unmittelbar auf den europäischen Integrationsprozess und die Kooperationsbereitschaft der Mitgliedstaaten zurückwirken. Es kann folglich kaum noch darum gehen, eine Diskussion über die Finalität des europäischen Integrationsprozesses zu führen, zumindest dann nicht, wenn entsprechende Ansätze nicht erkennen lassen, in welchem Zeitraum sie sich unter den gegebenen Rahmenbedingungen realisieren lassen. Vielmehr wird man diese Integrationskonzepte vor allem an vier Kriterien messen müssen.

Erstens besteht die Notwendigkeit, dass sie die Problemlösungsfähigkeit europäischer Politik erhöhen und dies sowohl hinsichtlich der institutionellen Entscheidungs- und Verhandlungsregeln im Binnenbereich wie auch in Bezug auf die politischen, ökonomischen und sozialen Herausforderungen, die sich innerhalb der erweiterten Europäische Union als auch für die EU als weltpolitischen Akteur stellen.

Zweitens wird man überzeugendere Antworten als bisher auf die Frage finden müssen, wie sich staatliches Handeln jenseits nationalstaatlicher Grenzen demokratisch legitimieren lässt. Hier befindet sich die Europäische Union im Vergleich zu einer Vielzahl traditioneller internationaler Organisationen oder neu entstehender transnationaler Politikregime in einer vergleichsweise günstigen Position, weil die Parlamentarisierung der EU – bei allen auch hier noch existierenden Defiziten – in den vergangenen Jahrzehnten beträchtlich vorangeschritten ist.

Drittens wird man diese Konzepte auch auf ihre Rückwirkungen auf den bereits erreichten Integrationsstand bewerten müssen. Dies ist insofern von zentraler Bedeutung, als der immer engere Zusammenschluss der europäischen Nationen bis heute im Wesentlichen auf einer Integration durch Recht und damit auf der freiwilligen Anerkennung und Anwendung europäischer Rechtsnormen beruht. Weil dem so ist, besteht die größte Herausforderung jeder Erweiterung der Union bisher immer in der Erreichung der Fähigkeit neuer Mitgliedstaaten den acquis communautaire, also den Gesamtbestand europäischen Rechts, vollständig anwenden zu können. Deshalb ist es auch wenig wahrscheinlich, dass gerade junge Mitgliedstaaten, die erhebliche Anstrengungen unternommen haben, um diese Anforderung zu erfüllen, der Aufnahme weiterer Länder zustimmen werden, denen ein Beitritt zu ›günstigeren Konditionen‹ offeriert würde.

Damit ist viertens und letztlich bereits darauf hingewiesen, dass man nicht umhin kommen wird, diese neueren Integrationskonzepte im Hinblick auf ihre politische Realisierungsmöglichkeit zu überprüfen. Offenkundig ist in diesem Kontext zunächst, dass zumindest die Interessenvielfalt – mit einiger Sicherheit auch die Interessengegensätze – in der Union der 25 Mitgliedstaaten beträchtlich zugenommen hat. Ferner wird es kaum möglich sein, grundlegende Änderungen des Integrationsmodus ohne Anpassung der primärrechtlichen Grundlagen der EU vorzunehmen. Insofern müssen diese Konzeptionen zumindest eine Konsensperspektive besitzen, will man nicht auch den Austritt ›integrationsunwilliger Staaten‹ oder die ›Neugründung einer Kerneuropa-Union der Integrationswilligen‹ als eine erstzunehmende Strategie ins Auge fassen (vgl. Thalmaier 2005).

Vor diesem Hintergrund wird man davon ausgehen müssen, dass die umfassendere Nutzung von Instrumenten der differenzierten Integration tatsächlich die Problemlösungsfähigkeit europäischer Politik erhöhen kann. Dies kann schon deshalb gelten, weil solche Instrumente eine Antwort auf erhebliche Varianzen zwischen den Mitgliedstaaten und Regionen innerhalb der Union geben können. So werden europäische Programme nur problemangemessen konzipiert werden können, wenn sie auch nur für solche Gebiete gelten, in denen sich eine entsprechende Problemlage überhaupt stellt. Insofern erscheinen sowohl die geographische Differenzierung wie auch die Methode der offenen Koordinierung vielversprechend, wobei gerade letztgenannte diese Erwartungen nur erfüllen kann, wenn sie Maßnahmen betrifft, in denen eine kritische Masse von Akteuren überhaupt einen Koordinationsgewinn erwarten kann. Allerdings wird man das Potenzial differenzierter Integration insgesamt auch nicht überschätzen dürfen. So wird Differenz als Ausdruck der Anerkennung von Andersheit schon dadurch begrenzt bleiben, dass internationale Vereinbarungen eine Harmonisierung auf europäischer Ebene erzwingen. Dies gilt zum Beispiel für mittlerweile weitreichende Anforderungen des Welthandelsrechts, bei der Harmonisierungsbeschlüsse der EU quasi stellvertretend für einen ansonsten auf der mitgliedstaatlichen Ebene auftretenden Anpassungsbedarf stehen.

Im Hinblick auf die Stärkung der Legitimationsgrundlage europäischer Politik bieten die genannten Integrationskonzepte zwei klar abgrenzbare Alternativen. In einer europäischen Föderation Habermasscher Prägung würde zunächst das repräsentative Demokratiemodell auf europäischer Ebene finalisiert und zusätzlich durch partizipatorische Elemente ergänzt. Das kosmopolitische Empire setzt hingegen vollständig auf ein partizipatorisches postnationales Demokratiemodell, weil es für eine repräsentative Demokratie auf europäischer Ebene keine Voraussetzungen sieht. Beiden Überlegungen wird man vor dem Hintergrund der bereits erreichten Integrationsdichte mit Vorsicht begegnen müssen. Ein auf europäischer Ebene installiertes Zwei-Kammer-System kann aufgrund der Unterschiede in der Bevölkerungszahl der Mitgliedstaaten den demokratischen Mindestkriterien nicht entsprechen, während ein partizipatorisches Demokratiemodell nur einen Legitimationsgewinn erzielen kann, wenn es gleichfalls umfassende parlamentarische Opting-Out-Regeln auf nationaler oder regionaler Ebene vorsehen würde. Solange jedenfalls durch die europäische Integration verbindliche politische Entscheidungen jenseits nationalstaatlicher Grenzen getroffen werden, die in vielfältiger Weise in den unmittelbaren Lebensbereich der Bürger eingreifen, scheitert allein die Interventionsstrategie an organisatorischen Bedingungen, während einer Inklusionsstrategie prozedurale Grenzen gesetzt sind.

Ferner wird man diesen Integrationskonzepten unterstellen dürfen, dass sie mehr oder minder stillschweigend davon ausgehen, dass das nötige Maß an verbindlichen europäischen Regeln hinter dem derzeit erreichten Integrationsniveau zurückbleibt. Dies ist insofern durchaus bedeutsam, als sich auf der europäischen Ebene seit Mitte der 1980er Jahre eine dynamische Ausweitung der Zuständigkeiten feststellen lässt. Letztlich bleiben diese Konzepte Antworten auf die Frage schuldig, worin der Kernbestand der europäischen Integration liegen soll. Damit lässt sich auch nur bedingt einschätzen, welche Rückwirkungen auf die Union zu erwarten wären. Zu klären wäre beispielsweise, inwieweit sich die richterliche Rechtsfortbildung des Europäischen Gerichtshofes mit der Anerkennung von Andersheit, bzw. der Wahrung mitgliedstaatlicher Verfassungstraditionen vereinbaren lässt. Man denke diesbezüglich nur an einige Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes, so etwa das Urteil zur Gleichbehandlung von Frauen in der Bundeswehr oder zum Schutz von Eigentum und freier Berufswahl in Bezug auf die europäische Bananenmarktordnung, die allein in der Bundesrepublik erhebliche Diskussionen über die Vereinbarkeit Luxemburger Urteile mit dem Grundgesetz ausgelöst haben. Klärungsbedürftig wäre auch, ob ein Prinzip der Radikalisierung differenzierter Integration nicht auch eine ›negative Differenzierung‹ erlauben müsste, also den Rückzug einzelner Mitgliedstaaten aus bereits europäisierten Politikbereichen. Zumindest verwundert es vor diesem Hintergrund kaum, dass die bereits existierenden vertraglichen Möglichkeiten zur differenzierten Integration in bislang keinem Fall genutzt worden sind. Dies mag man mit den hohen materiellen und prozeduralen Hürden erklären, ebenso plausibel wäre aber auch die Annahme, dass selbst aus der Sicht integrationswilliger Mitgliedstaaten die Chancen verstärkter Zusammenarbeit ungewisser sind als die Risiken einer Desintegration.

Damit ist bereits das abschließende Bewertungskriterium der Realisierbarkeit dieser Konzepte angesprochen. All diese Konzepte bedürfen zweifellos der primärrechtlichen Revision des Vertrags von Nizza. Für eine Erleichterung der Bedingungen zur verstärkten Zusammenarbeit erscheint dies noch vergleichsweise unproblematisch, weil selbst integrationsunwillige Staaten einer solchen Änderung nicht im Wege stehen würden, solange sie als Reaktion darauf die Herausbildung eines Kerneuropas außerhalb der Union fürchten müssten. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass über die damit verbundenen institutionellen Fragen, etwa inwieweit sich die ›Integrationspioniere‹ der administrativen und finanziellen Ressourcen der Union bedienen dürfen, leicht Einigkeit zu erzielen wäre. Eine europäische Föderation setzt demgegenüber die Ratifikation einer Verfassung voraus, deren Eingriffe in das bestehende europäische Institutionensystem weit tiefgreifender sind, als dies in dem bisherigen Vertragstext vorgesehen ist. Eine Verständigung auf eine solche Verfassung ist derzeit bestenfalls für eine verhältnismäßig kleine Zahl von Mitgliedstaaten der EU überhaupt denkbar. Insofern besitzen beide Entwürfe, jener der europäischen Förderation und der eines europäischen Empire, in der Tat den Charakter einer ›Vision‹, deren Aussicht auf Realisierung in dem Maße steigt, in dem die Zahl der Staaten sinkt, die den Kern der jeweiligen Herrschaftsordnung bilden sollen. In einem Europa der 25 jedenfalls werden sie sich nicht verwirklichen lassen.

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