Rainer Münz
im Gespräch mit Renate Solbach
Wie viel Bevölkerung verträgt die Gesellschaft?

Solbach: Die Kontakte zwischen Öffentlichkeit und Wissenschaft sind in der Regel sporadisch und unberechenbar. Meist sind es statistisch aufbereitete Prognosen, die Alarm auslösen. So geschehen in den Fällen des Waldsterbens, des Ozonlochs und der globalen Erwärmung. Sterben die Europäer aus, oder wird ihnen heiß?

Münz: Waldsterben, globale Erwärmung und demographische Entwicklung haben eines gemeinsam: Es handelt sich um langfristige Prozesse, die im Trend gut absehbar sind und bei denen auch die Wahrscheinlichkeit, völlig falsch zu liegen, ziemlich klein ist. Es sind sehr träge Prozesse, die sich über Jahre und Jahrzehnte abspielen. Ein Gutteil des FCKWs, also des chlorierten Fluor-Kohlenwasserstoffs, das in zwanzig Jahren in der oberen Atmosphäre sein wird, befindet sich heute schon in der Luft. Bei den Wäldern war das lange Zeit ähnlich. Die kranken Bäume standen schon eine ganze Weile da. Man konnte sich bloß entscheiden, ob man sie krank stehen lässt oder schlägt. Was die Demographie angeht, so muss man sehen, dass die Rentnerinnen und Rentner des Jahres 2050 auch schon alle auf der Welt sind, einen Namen, eine Anschrift haben. Man könnte ihnen den Generationenvertrag bereits heute zuschicken. Insofern gibt es da - innerhalb einer bestimmten Bandbreite - relativ wenig Potenzial für echte Überraschungen. Umso erstaunlicher ist es, dass demographische Themen periodisch zum Renner der Saison werden, also mediale und politische Konjunkturen erleben. Dass die einheimischen Deutschen weniger werden, ist etwas, was man schon seit dreißig Jahren gut absehen konnte. Seit 1972 gibt es in Deutschland mehr Sterbefälle als Geburten. Wir haben diesen Umstand und seine möglichen Konsequenzen jedoch lange Zeit ignoriert.

Solbach: Helmut Schmidt hat vor kurzem noch gesagt, das Problem sei in den Siebzigern nicht bekannt gewesen.

Münz: Für Helmut Schmidt mag es während seiner Zeit als Kanzler kein Thema gewesen sein. Aber die Fakten lagen schon auf dem Tisch. Über den Geburtenrückgang wurde im Bundestag bereits in den 1970er Jahren diskutiert. Es gab Symposien zum Thema ›kinderlose Gesellschaft‹. Darüber erschienen in den 1970er und 1980er Jahren Bücher. Man brauchte schon damals kein Experte zu sein, um sich die Folgen auszurechnen: Weniger Geburten bedeutet weniger Kinder. Dies führt 20 Jahre später zu weniger jungen Erwachsenen und schließlich zu Finanzierungsproblemen für die Alterssicherung. Nur wenige haben daraus frühzeitig weiterreichende Schlüsse gezogen; darunter Leute wie Kurt Biedenkopf und Meinhard Miegel. Damals war der negative demographische Trend allerdings noch ein junges Phänomen. Ökologische Veränderungen, aber auch Themen wie ›Pershing II-Nachrüstung gegen militärische Bedrohungen aus dem Osten‹ erschienen den Zeitgenossen wesentlich wichtiger. Dann kam der Fall der Mauer. Das wiedervereinigte Deutschland hatte anfangs andere Prioritäten. Inzwischen sind die Konsequenzen der demographischen Entwicklung unübersehbar. Im Falle Ostdeutschlands kommen noch der massive Geburteneinbruch nach 1990 in Ostdeutschland sowie die starke Abwanderung dazu. Daher gibt es heute Regionen in Deutschland, für die der Begriff ›Entvölkerung‹ nicht bloß eine Prognose darstellt, sondern in denen er bereits tägliche Realität ist.

Solbach: Ist die Bevölkerungswissenschaft die neue Leitwissenschaft, wie gemunkelt wird? Oder lehnt sie dankend ab? Welche Problemarten fallen in ihre Zuständigkeit? Anders formuliert: Handelt es sich um eine Hilfswissenschaft oder kann sie selbständig neben Soziologie oder anderen Disziplinen bestehen? Und welche Art von Aussagen kann man sich von ihr erwarten?

Münz: Die Bevölkerungswissenschaft ist eine eigenständige Wissenschaft, aber sie ist keine Leitwissenschaft. Es lässt sich bei vielen Disziplinen ein ›fundamentaler‹ Gegenstandsbereich ausmachen, von dem man zu Recht behaupten könnte: Ohne diesen Gegenstand gäbe es den Rest nicht! Zum Beispiel: ohne Menschen (Anthropologie) keine Bevölkerung (Demographie), ohne Bevölkerung keine Gesellschaft (Soziologie). Oder: Ohne physische Umwelt (Geologie, Ökologie) und ohne Atmosphäre (Meteorologie) kein Leben (Biologie); ohne Leben keine Menschen. Das heißt aber nicht, dass jede dieser Disziplinen eine Leitwissenschaft wäre.

Solbach: Die werden ja gerne ausgerufen, wenn bestimmte Probleme anliegen.

Münz: Die Bevölkerungswissenschaft ist in Deutschland und in vielen Teilen Europas akademisch zu schwach vertreten, um solche Ansprüche überhaupt erheben zu können. Es gibt nur wenige universitäre und außeruniversitäre Forschungszentren; und es gibt wenig systematische Ausbildung. Dennoch vermag die Bevölkerungswissenschaft zweierlei zu leisten. Zum einen vermag die Demographie vorhandene Daten zu analysieren. Solche Analyse beruht entweder auf Volkszählungen (die letzten Volkszählungen gab es 1981 in der DDR und 1987 in der alten Bundesrepublik), Mikrozensen und laufenden Erhebungen von Geburten, Sterbefällen, Ein- und Auswanderungen etc. Diagnose und Analyse kommen aus dieser Datenbasis, die von den Statistischen Ämtern und administrativ zur Verfügung gestellt wird. Sie ermöglicht es, aus den beobachtbaren Ereignissen, also Geburten, Sterbefälle, Zu- und Abwanderung, Heiraten, Scheidungen, auf dahinter liegende Strukturen und Prozesse zu schließen.
 
Um ein praktisches Beispiel zu geben: Die Zahl der Sterbefälle kann in einer bestimmten Region hoch sein, weil dort die Lebensverhältnisse sehr ungünstig sind - etwa in Ländern mit einer hohen HIV-Infektionsrate - oder weil es dort vergleichsweise viele alte Menschen gibt. Das sind völlig unterschiedliche Ausgangslagen. In Deutschland sterben beispielsweise wesentlich mehr Menschen als in Ägypten. Daraus dürfen wir allerdings nicht schließen, dass die Menschen in Ägypten viel gesünder wären. Die demographische Analyse zeigt nämlich, dass die Wahrscheinlichkeit, mit sechzig, fünfundsechzig oder siebzig Jahren zu sterben, in Deutschland wesentlich niedriger ist als in Ägypten. Verantwortlich für die höhere Zahl der Todesfälle in Deutschland ist die Altersstruktur. Die Hälfte der ägyptischen Bevölkerung ist unter zwanzig Jahre alt, weniger als sieben Prozent sind über 65 Jahre alt. In Deutschland sind bloß 21 Prozent aller Einwohner unter 20 Jahre alt, aber bereits 18 Prozent über 65. Ähnliches gilt für die Gesamtzahl der Geburten: Es können in einem Land wenige Kinder zur Welt kommen, weil es dort nur eine geringe Zahl potentieller Mütter im entsprechenden Alter zwischen 20 und 35 Jahren gibt, oder aber, weil die Kinderzahl pro Familie bzw. pro Frau sehr niedrig ist. Das auseinander zu halten, ist der analytische Teil.
 
Zum anderen kann die Bevölkerungswissenschaft unter Zugrundelegung der Bevölkerungsdynamik sowie der gegenwärtigen Struktur Annahmen treffen und Bevölkerungen in die Zukunft fortschreiben, also demographische Prognosen erstellen. In diesem Fall gibt sie Auskunft darüber, wie viele Menschen in zehn, fünfzehn, zwanzig, fünfundzwanzig, dreißig Jahren in einer bestimmten Region leben, wie alt sie sein werden, wie viele Männer und Frauen darunter sein werden.

Solbach: Die Menschen der Wohlstandszone werden älter. Das verändert die so genannte Alterspyramide. Alterssicherung und Sicherung des Wirtschaftsstandorts durch Bereitstellung einer hinreichenden Anzahl qualifizierter Arbeitskräfte dort, wo ein entsprechender Bedarf besteht: viele sehen darin die wesentlichen auf die Gemeinwesen zukommenden Aufgaben, die von der Politik ›gemeistert‹ werden müssen. Halten Sie das für eine angemessene Beschreibung der Situation, oder ist es eher unterbestimmt?

Münz: Die Menschen werden älter. Ihre statistische Lebenserwartung wächst. An sich ist dies ein höchst erfreuliches Phänomen. Damit steigt das Durchschnittsalter der Bevölkerung und der Anteil der Älteren wird größer. Das ist ein Trend, der sich keineswegs auf Deutschland oder Europa beschränkt. Wir finden demographische Alterung in fast allen Ländern und Regionen der Welt; also auch in Ostasien und in Lateinamerika. Das heißt: die Zahl der Alten wächst auch in China oder in Brasilien. Wichtigste Ausnahme sind die stark von Aids betroffenen Regionen des südlichen Afrika. Dort sterben viele Menschen inzwischen so früh, dass die Lebenserwartung nicht steigt, sondern seit 1990 um vierzehn Jahre gesunken ist.

Materielle Absicherung im Alter ist eine Frage der institutionellen Rahmenbedingungen. Sie hängt im Wesentlichen davon ab, wie die Altersversorgung organisiert und finanziert wird: durch eigene Ersparnisse und private Vermögensbildung, durch Beiträge zu einer ansparenden Rentenkasse, die einen Kapitalstock bildet, oder durch Beiträge zu einer allgemeinen Sozialversicherung, die für die Renten der nicht mehr aktiven Generation verwendet werden. Letzteres nennt man das Umlageverfahren. Auf ihm beruht in Deutschland heute das Rentensystem. Da geht es um die Frage: Wie viele Menschen sind schon in Rente, wie viele schultern die Last der Beiträge, und wie hoch ist der Beitragssatz? Das Ansparmodell beruht hingegen auf dem Kapitaldeckungsverfahren. Dieses steht zum Beispiel in den USA oder in der Schweiz im Zentrum der Alterssicherung. Dort geht es darum, wie die Rentenkassen das angesparte Kapital so anlegen, dass es erhalten bleibt und eine Rendite abwirft, aus der die Älteren später ihre Rente beziehen können.

Damit sind wir beim Wirtschaftsstandort. Natürlich spielen die Lohnkosten bei den Investitionsentscheidungen eine wichtige Rolle. Genauso wichtig sind Größe und Qualifikation des verfügbaren Arbeitskräftepotentials. Dabei kann es in einer alternden Gesellschaft passieren, dass qualifizierte einheimische Arbeitskräfte in Rente gehen, neue inländische Arbeitskräfte wegen sinkender Kinderzahlen nicht in ausreichender Zahl verfügbar sind und zugleich die Lohnnebenkosten steigen. Letzteres könnte der Fall sein, weil das umlagefinanzierte Rentensystem und - wahrscheinlich noch viel dramatischer - die Gesundheitsversorgung der Zukunft nicht bloß teurer werden, sondern auch die Lohnkosten und die allgemeinen Steuersätze erhöhen. Denn wenn die Last der Alterssicherung auf weniger Schultern verteilt werden muss, steigen fast zwangsläufig Steuern und Beitragssätze.

Solbach: Das ist jetzt die sachliche Seite, aber die Frage ist immer auch die nach dem Menschenbild, das dahinter steht. Die Menschen sind ja nicht nur Arbeitskräfte. Es gibt auch Fragen von Teilhabe und Beschränkung. Die Darstellungen in unserer Presse...

Münz: Ich denke, dass die Zunahme an Lebenserwartung zu negativ dargestellt und daher auch negativ wahrgenommen wird. Im Prinzip ist dies ein Ausdruck hoher Lebensqualität. Ich kenne auch kaum jemanden, der lieber früher als später sterben möchte. Die meisten freuen sich, zumindest individuell, über die gestiegene Zahl an verfügbaren Jahren. Es wird dann zur Herausforderung, wenn zahlenmäßig große Generationen, in unserem Fall die so genannten Babyboomer, gemeinsam altern und entsprechende Vorstellungen über die Dichte der Versorgung mit öffentlicher Infrastruktur und deren Finanzierung durch den Staat haben. Dann stellt sich die Frage: Wie kann die Versorgung mit bestimmten öffentlichen Einrichtungen - im Wesentlichen geht es hier um Gesundheitseinrichtungen, Verkehrsinfrastruktur usw. - aufrechterhalten werden, wenn zum Beispiel die Steuerbasis schmäler wird?

Zugleich stellt sich die Frage: Würden mehr Betriebe ihre Standorte aus Deutschland weg verlagern, wenn es kein ausreichendes Angebot an jüngeren, qualifizierten Arbeitskräften gäbe? Dahinter steht die Annahme: Nur im Alter zwischen zwanzig und sechzig sind die Deutschen produktiv. Ich denke, auch das bedarf einer Revision. In den kommenden Dekaden wird das Rentenalter zunächst auf 67 und später vielleicht auf 70 Jahre angehoben. Das ist höchst sinnvoll, wenn man denkt, dass die Lebenserwartung im Laufe des 21. Jahrhunderts voraussichtlich auf 90 und mehr Jahre steigen wird. Dann stellt sich die Frage: Wie kann es in diesem Land zukünftig einen funktionierenden Arbeitsmarkt für über Fünfzigjährige geben?

Solbach: Ein Alter, in dem man heute keine Stelle mehr bekommt, weil man als zu alt gilt...

Münz: So ist es. Im Moment gibt es keinen funktionierenden Arbeitsmarkt für Menschen über 50, die Arbeit suchen. Aber es gibt in dieser Altersgruppe Menschen, die Arbeit haben. Die meisten von ihnen sind allerdings schon länger beim selben Arbeitgeber beschäftigt und können aufgrund ihres Alters kaum gekündigt werden.

Solbach: Wie verlässlich sind demographische Prognosen? Ist es vertretbar, einen von differenzierten medizinischen, ökonomischen und sozialen Faktoren abhängigen Wert wie den des durchschnittlichen Sterbealters in einer Gesellschaft bis zum Jahr 2050 kontinuierlich ansteigen zu lassen und andererseits die so genannte ›Fertilitätsrate‹, die über die durchschnittliche Zahl der Geburten pro Frau in einer Gesellschaft Auskunft gibt, für denselben Zeitraum auf einen extrem niedrig scheinenden Wert festzulegen, wie dies das deutsche Statistische Bundesamt getan hat? Oder wird hier Politik mit Zahlen gemacht? Anders formuliert: Was ist variabel, was ist unbezweifelbar, gibt es fixe Größen? In Modellrechnungen wird meinetwegen die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter zugrunde gelegt, das haben Sie eben schon angesprochen, und wenn die in dreißig Jahren halbiert worden ist, dann kann selbst eine sehr hohe Fertilitätsrate das nicht so schnell auffangen.

Münz: Demographische Prognosen können im Kern langfristig angelegt sein, obwohl die Demographie nicht über bessere Modelle verfügt als die Wirtschaftswissenschaften oder die Meteorologie. Eine ökonomische Prognose über dreißig oder vierzig Jahre wäre völlig unseriös. Das Wetter lässt sich nicht einmal über einen Zeitraum von zehn Tagen halbwegs genau vorhersagen. Dazu ist es viel zu volatil. Im  Gegensatz dazu haben wir es in der Bevölkerungsdynamik mit einem sehr trägen Prozess zu tun haben. Wie gesagt, die Rentnerinnen und Rentner des Jahres 2050 leben bereits alle unter uns. Aber auch jene Kinder, die im Jahr 2012 in die Primarschulen und 2018 in weiterführende Schulen kommen werden, sind schon geboren. Deshalb besteht die Möglichkeit, auf quantitativer Ebene weit in die Zukunft zu blicken.

Was sind die Ungewissheiten? Die Lebenserwartung steigt in Deutschland kontinuierlich seit wir über entsprechende langfristige Statistiken verfügen. Jedenfalls können wir seit zweihundert Jahren eine steigende Lebenserwartung beobachten. Und nichts deutet zur Zeit darauf hin, dass sich dieser Trend abschwächt. Bei der durchschnittlichen Kinderzahl pro Frau gab es in Westdeutschland nach dem Höhepunkt des Babybooms bis in die späten 1970er Jahre einen deutlichen Rückgang. Seit fast 30 Jahren registrieren wir auf diesem niedrigen Niveau kaum noch Veränderungen. Im Gegensatz dazu gab es in Ostdeutschland nach dem Ende der DDR einen sehr deutlichen Rückgang der Geburten. Doch seit den späten 1990er Jahren nähert sich die durchschnittliche Kinderzahl ostdeutscher Frauen vom tiefen Niveau nach der Wende langsam jener der westdeutschen Frauen an.

Insofern macht das Statistische Bundesamt nichts anderes, als die bestehenden Trends, nämlich eine seit langem steigende Lebenserwartung und eine anhaltend niedrige Kinderzahl pro Frau fortzuschreiben. Die demographische Modellrechnung zeigt, was unter diesen Annahmen passiert. Größte Unbekannte ist die Zuwanderung. Hier lassen sich die Trends der Vergangenheit nicht ohne weiteres fortschreiben, weil es in der jüngeren Vergangenheit Jahre mit hoher und solche mit geringer Zuwanderung gab. Außerdem gibt es, anders als bei der durchschnittlichen Kinderzahl, eine stärkere Möglichkeit der politischen Steuerung von Zuwanderung.
Schließlich können demographische Prognosen keine unerwarteten Ereignisse vorhersagen.

Solbach: Welche unerwarteten Ereignisse gab es in der Vergangenheit?

Münz: Das können zum Beispiel Kriege sein. Man muss allerdings sagen, dass ein Krieg, in den ein größerer Teil der deutschen oder westeuropäischen Bevölkerung involviert wäre, aus heutiger Sicht sehr unwahrscheinlich ist. Aber solche Ereignisse gab es auch in jüngerer Zeit. Der Krieg in Bosnien forderte in den Jahren 1993-1995 mindestens 200 000 Todesopfer. Fast 2 Millionen Menschen mussten aus ihren Heimatgemeinden fliehen oder wurden von dort vertrieben. Die Mehrzahl wurde zu Binnenvertriebenen, mehrere 100.000 flohen ins europäische Ausland. Es gab zwar schon kurz vor und nach dem Tod Titos Kommentatoren, die einen blutigen Zerfall Jugoslawiens prophezeiten, aber kein Bevölkerungswissenschaftler hat dies vor 25 Jahren in ein Szenario einbezogen. Epidemien, bei denen sich neuartige Krankheiten verbreiten, gegen die unser Immunsystem nicht ausreichend gewappnet ist, lassen sich ebenfalls schlecht vorhersagen. Es gibt in weiten Teilen der Welt Angst vor einer Ausbreitung der Vogelgrippe. Die Hauptsorge gilt einer genetischen Veränderung des Virus, wodurch diese Krankheit in Zukunft nicht nur vom Tier auf den Menschen, sondern auch von Mensch zu Mensch übertragen werden könnte. Dann gäbe es vermutlich eine Situation wie in den Jahren 1918 bis 1922, als die so genannte spanische Grippe innerhalb von drei Jahren wesentlich mehr Menschen dahinraffte, als der gesamte Erste Weltkrieg an allen Fronten an Todesopfern gefordert hatte.

Solbach: Es wird behauptet, dass solche Einbrüche - sei es die Pest, seien es eine Grippe oder andere Epidemien - niemals Zahlen produziert hätten, wie der Einbruch der Geburtenrate hier in Deutschland.

Münz: Das hängt davon ab, welches Niveau wir für ›normal‹ halten. Geht man davon aus, dass Frauen in Deutschland um 1850 im Schnitt mehr als vier Kinder bekamen, dann ließe sich aus den Geburtenrückgängen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein beträchtliches Defizit errechnen. Trotzdem ist die Zahl der Deutschen sowie die Zahl der Einwohner auf dem Boden des heutigen Deutschland in den letzten 130 Jahren deutlich gewachsen. Bis in die 1960er Jahre lag dies vor allem am Geburtenüberschuss, seit 1970 vor allem an der Zuwanderung. Erst in den Jahren 2004 und 2005 schrumpfte die Einwohnerzahl, weil nun - politisch durchaus gewollt - nicht mehr so viele Zuwanderer nach Deutschland kommen. Ein Vergleich mit früheren Epidemien zeigt den Unterschied. Die Pest raffte im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit in vielen Regionen Deutschlands und in anderen Teilen Europas mehr als die Hälfte der Bevölkerung hinweg. Es gibt hingegen bislang keine Region Europas, wo sich die Bevölkerung durch Geburtenrückgänge seit 1970 halbiert hätte.

Es gibt allerdings Regionen, wo heute wesentlich weniger Menschen leben als vor fünfzig Jahren. Es gibt griechische Inseln, die - zumindest im Winter - kaum bewohnt sind. Es gibt in Zentralfrankreich, in Zentralspanien, im italienischen Appenin Gegenden, wo kaum noch Menschen leben. Aber das hat vor allem mit der Abwanderung jüngerer Leute zu tun hat. Da setzt sich dann eine Art »Abwärtsspirale« in Gang: Wenn es kaum junge Erwachsene gibt, leben irgendwann nur noch alte Leute in den sich entvölkernden Dörfern. Die alten Leute sterben weg und die Kinder nützen die Häuser ihrer Eltern teils nur noch als Urlaubsquartiere.

Solbach: Alle Zahlenmodelle gehen von einem signifikanten Anstieg der so genannten ›ausländischen Bevölkerungsanteile‹ an den europäischen Gesamtbevölkerungen aus. Der Begriff ist mehrdeutig, er bezeichnet das Feld unterschiedlicher Staatsbürgerschaften, akuter Einwandererzahlen und bestehender Integrationsprobleme der seit längerem Zugewanderten und ihrer Nachkommenschaft. Offenkundig setzen die Modelle die ungebrochene Attraktivität der betreffenden Gesellschaften, anhaltende ökonomische Erfolge und einen entsprechenden Bedarf an Arbeitskräften voraus. Kann man den Mix, der die Attraktivität einer Gesellschaft für Zuwanderer ausmacht, faktoriell bestimmen und quantifizieren?

Münz: Entscheidend für die Betrachtung ist nicht in erster Linie die ›ausländische Bevölkerung‹, sondern die im Ausland geborene Bevölkerung. Denn die Zahl der Ausländer hängt nicht allein von der Zuwanderung, sondern genauso vom Staatsbürgerschaftsrecht und von der Einbürgerungspraxis eines Landes ab. Manche Länder bürgern großzügiger ein, andere verfahren restriktiv. Es gibt Länder, deren Staatsbürgerschaftsrecht bestimmt, dass im Inland geborene Kinder von Zuwanderern ebenfalls nur Staatsbürger des ausländischen Herkunftslands ihrer Eltern werden. Andere Länder bürgern im Inland geborene Kinder schon bei der Geburt ein, egal welche Staatsbürgerschaft die Eltern haben. Aus demographischer Sicht ist die Frage relevant: Wie viele Menschen haben ihren Geburtsort außerhalb des Landes, das ich analysiere?

Für Deutschland können wir das sagen: Es sind etwa zehn Millionen Menschen. Das Statistische Bundesamt hat erst unlängst auf Grundlage des Mikrozensus festgestellt, dass etwa 15 Millionen Menschen einen so genannten Migrationshintergrund haben, also selber zugewandert sind oder wenigstens einen zugewanderten Elternteil haben. Von diesen 15 Millionen Einwohnern Deutschlands mit ›Migrationshintergrund‹ besitzen mehr als die Hälfte die deutsche Staatsbürgerschaft. Denn auch eingebürgerte Deutsche und Aussiedler, die aus Kasachstan und Russland, früher auch aus Polen und Rumänien nach Deutschland kamen, sind Zuwanderer. Sie haben ihren Geburtsort im Ausland, aber sie sind ihrem Pass nach keineswegs Ausländer.

Jetzt ist die nächste Frage: Wo gehen die Menschen hin? Da gibt es kulturelle Faktoren, die eine Rolle spielen. Deutschstämmige Aussiedler aus Kasachstan oder Russland gehen am ehesten nach Deutschland. Zum einen, weil Deutschland ihnen in der Vergangenheit am ehesten die Tür öffnete und ihnen auch sofort die deutsche Staatsbürgerschaft verlieh. Zum anderen gab und gibt es hier so etwas wie tatsächliche kulturelle Nähe oder zumindest vermutete kulturelle Nähe. Bei genauerem Hinsehen stellt sich natürlich auch bei dieser Bevölkerung die Frage nach der wirtschaftlichen und sozialen Integration, denn deutschstämmig in der ehemaligen Sowjetunion oder ihren Nachfolgestaaten gewesen zu sein, bedeutet keineswegs, hierzulande später auch als Deutscher unter Deutschen akzeptiert zu werden.

Ähnliches gilt für andere Zuwanderer, die keinen ethnisch deutschen Hintergrund haben. Die gehen zum einen dorthin, wo sie Verwandte oder Bekannte haben. Beim Familiennachzug steht dies sogar im Zentrum der Migrationsentscheidung. Zuwanderer gehen zum anderen an Orte, wo sie für sich und ihre Kinder Einkommens- und Aufstiegschancen vermuten. Dabei sehen wir, dass Deutschland im Moment weniger attraktiv als andere Länder ist. Aufgrund der insgesamt schlechten Arbeitsmarktlage sehen viele potentielle Neuzuwanderer ihre ökonomische Zukunft derzeit nicht in erster Linie in Deutschland. Zugleich sehen wir, dass deutsche Staatsbürger in größerer Zahl das Land verlassen und ausländische Bürger in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Es war auch in der Vergangenheit so, dass in Jahren der Hochkonjunktur mehr Menschen nach Deutschland gekommen sind als in Jahren mit hoher Arbeitslosigkeit.

Die Europäische Union hat im Moment 462 Millionen Einwohner. Rund 41 Millionen sind in einem anderen Land zur Welt gekommen. Dabei handelt es sich sowohl um Migranten aus anderen EU-Staaten als auch um Leute, die aus Drittstaaten in die EU kamen. Diese 41 Millionen machen mehr als acht Prozent der Bevölkerung West- und Mitteleuropas aus.

Angesichts alternder und potentiell schrumpfender einheimischer Bevölkerungen gibt es zwei Perspektiven: Könnte die demographische Schrumpfung zu einer deutlichen Verlangsamung des Wirtschaftswachstums, vielleicht sogar zur ökonomischen Stagnation und zu Wohlstandsverlusten führen? Dann würden die Länder Europas auch für Zuwanderer immer weniger attraktiv. Oder eröffnet diese demographische Entwicklung eine Chance, weil dadurch Lücken auf dem Arbeitsmarkt entstehen, die vorrangig mit Zuwanderern gefüllt werden? Dazu müssten die europäischen Länder zu einer pro-aktiven Anwerbepolitik zurückkehren, allerdings mit einem stärkeren Fokus auf hoch qualifizierte Migranten.

Ich selbst halte es für wahrscheinlich, dass es in Zukunft wieder mehr aktive Anwerbung von Arbeitskräften, insbesondere von qualifizierten Arbeitskräften, geben wird. Großbritannien und Frankreich korrigierten im Sommer 2006 ihre Migrationspolitik in diesem Sinne. Qualifizierte werden sich dort zukünftig leichter niederlassen können. In Deutschlands Regierungskreisen gibt es darüber immerhin eine Diskussion.

Solbach: Die europäischen Länder stehen, anders als die USA oder Australien, vor der Frage, ob sie sich als Einwanderungsländer verstehen sollen oder nicht. In Deutschland neigt man neuerdings dazu, die bestehenden Aversionen gegen das Wort zu vergessen. Geht die Gleichung Ökonomie statt Herkommen auf oder stehen den europäischen Staaten beträchtliche Stürme ins Haus? Gibt es bevölkerungsstatistische Daten, durch die sich traditionelle Nationalstaaten von Staaten anderen Typus' unterscheiden?

Für mich steht da auch die Frage im Hintergrund: Sind die europäischen Länder überhaupt Einwanderungsländer? Ist Deutschland nicht viel eher ein Zuzugsland als ein Einwanderungsland? Und wird der so genannte Einwanderer oder Zugezogene nicht konfrontiert mit einer kompakten Nationalität, die ihn als ›Anderen‹ betrachtet, anders als in Ländern wie den USA? Das muss ja nicht feindselig sein.

Münz: Klassische Einwanderungsländer, zu denen heute die USA, Kanada, Australien und Neuseeland, historisch aber auch Länder wie Argentinien, Chile oder Brasilien gehören, unterscheiden sich von europäischen Nationalstaaten in einem wesentlichen Punkt: Dort besteht die Mehrheit der Bevölkerung aus Zuwanderern und deren Nachfahren. Und es gibt so etwas wie einen nationalen Gründungsmythos, der auf die Zuwanderung des 17. bis 19. Jahrhunderts verweist. Sieht man sich bloß die Zahl der im Ausland zur Welt gekommenen Einwohnerinnen und Einwohner an, bestehen etwa zwischen Deutschland und den USA keine großen Unterschiede. Die zehn Millionen Einwohner Deutschlands mit Geburtsort im Ausland machen etwa zwölf Prozent der Bevölkerung aus. Rund 36 Millionen Zuwanderer in den USA stellen einen ähnlich großen Prozentsatz der amerikanischen Bevölkerung dar. In absoluten Zahlen hat Deutschland wesentlich mehr Zuwanderer als Kanada und Australien. Nicht so sehr die Zahl der Zuwanderer ist für das Selbstverständnis entscheidend, sondern wie der Gründungsmythos oder das Grundverständnis der jeweiligen Gesellschaft aussieht. Dabei spielt Sesshaftigkeit in der Vorstellung der Deutschen eine wichtigere Rolle als in den USA oder in Kanada. Dort haben die meisten Einwohner, auch jene, die selbst nicht zugewandert sind, die Herkunft ihrer Vorfahren aus einer europäischen, asiatischen oder lateinamerikanischen Gesellschaft im Bewusstsein und leiten daraus einen Teil ihrer Identität ab. Dagegen versteht sich Deutschland in erster Linie als Nation derer, die ursprünglich schon da waren.

Es gibt in Europa unterschiedliche Typen von Nationalstaaten. In mehreren Ländern Europas gibt es keine dominante oder für das Staatsverständnis konstitutive ethnische Gruppe. Diese Länder sind in sich heterogen. Klassische Beispiele wären die Schweiz und Belgien, man könnte allerdings auch Großbritannien dazu zählen, weil das Vereinigte Königreich mit Schottland, Wales und Nord-Irland auch Regionen umfasst, die keine englische Identität besitzen. Ähnliches gilt immer stärker auch für Spanien, wo sich zumindest Katalanen und Basken als eigenständige ethno-kulturelle Gruppen verstehen.

Es gibt den Fall Frankreichs, wo eine vom Gründungsmythos der Französischen Revolution hergeleitete republikanische Identität im Vordergrund steht, die sich ausdrücklich nicht an ethnischer, regionaler oder religiöser Herkunft orientiert. Dagegen gibt es im Osten und Südosten Europas vorwiegend Nationalstaaten gibt, die ganz stark auf ethno-nationaler oder ethno-religiöser Grundlage beruhen. Dort definiert sich die Zugehörigkeit zu einer Gründer- oder Staatsnation im Wesentlichen über die Abstammung und die ethnische Zugehörigkeit. Beispiele dafür wären etwa das Baltikum, Polen, Tschechien und die Slowakische Republik. Besonders sichtbar wird das in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens, wo die Zugehörigkeit zur jeweiligen Nation über die ethno-kulturelle oder ethno-religiöse Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Serben, Kroaten, Bosnier, Albaner definiert wird. Eben deshalb spielen sich politische Konflikte entlang der Trennlinien zwischen ethnischen Gruppen ab.

Wodurch sich ›ethnische Zugehörigkeit‹ konstituiert, steht nicht von vornherein fest. In Nordirland steht zum Beispiel auch bei jenen, die kirchenfern oder sogar explizit atheistisch sind, die religiöse Herkunft der Familie im Vordergrund. Zumindest in Nordirland kann man weder protestantischer Ire noch katholischer Unionist sein. Genauso wenig gibt es in Bosnien muslimische Serben oder serbisch-orthodoxe Kroaten. Im Gegensatz dazu spielt die Frage der Religionszugehörigkeit in Deutschland - zumindest was die Differenz zwischen Katholiken und Protestanten betrifft - für die Zugehörigkeit zur Nation heute überhaupt keine Rolle. Das war nicht immer so. Unter Bismarck galten Katholiken als innere Reichsfeinde. Denn lange dominierte die Vorstellung, dass man als guter Preuße eigentlich nur Protestant sein konnte. Es gibt andere Beispiele: Gustav Mahler war jüdischer Herkunft und musste sich taufen lassen, bevor er im späten 19. Jahrhundert Direktor der Wiener Staatsoper (damals noch Hofoper) werden konnte.

Dieses Beispiel zeigt, dass sich unser Zugang zu diesem Thema im Laufe der letzten 100 bis 150 Jahre deutlich verändert hat. Denn heute würden wir im Ernst von keinem Zuwanderer verlangen, zum katholischen oder protestantischen Glauben zu konvertieren. Allerdings müssen wir - und damit kommen wir zur Ausgangsfrage zurück - folgendes feststellen: Ganz offensichtlich ist es für Zuwanderer schwieriger, sich in eine Gesellschaft zu integrieren, die sich selbst als kompakte Abstammungsnation versteht. Etwas leichter ist dies in Gesellschaften, in denen Differenz in höherem Maße akzeptiert wird.

Solbach: Zum Thema Integration noch eine Frage: Man hat immer wieder von Rückkehrprogrammen gehört. Nach neueren Untersuchungen sind aber Programme erfolgreicher, die Migranten für den Heimatmarkt qualifizieren und zugleich ihre soziale Integration begünstigen. Sind das Programme, die auch für Deutschland interessant wären, und mit denen eine höhere Mobilität in beide Richtungen - also Integration und Rückkehr - erreicht werden könnte?

Münz: Wir haben es lange Zeit versäumt, uns ernstlich der Frage nach Zielen und Bedingungen erfolgreicher Integration von Zuwanderern zu stellen. Dies hat mit der lange Zeit vorherrschenden Vorstellung zu tun, eher Durchgangs-, aber kein Einwanderungsland zu sein.

Solbach: Und mit Multikulti-Vorstellungen.

Münz: Für manche galt in der Vergangenheit: je bunter, umso besser! Manche sahen dabei vor allem die kulturelle Bereicherung. Für andere hatte die Begeisterung auch mit einem problematischen Verhältnis zur eigenen Herkunft zu tun. Gerade im Falle Deutschlands lässt sich zeigen, dass die Begeisterung für den Multikulturalismus auch auf ein gebrochenes Verhältnis zum eigenen ›Deutschtum‹ verwies. Das ist nicht in allen Ländern so. In Großbritannien wurde das Entstehen multikultureller Parallelgesellschaften indirekt gefördert, weil die Vorstellung vorherrschte, ethnische Identität sei genauso Privatsache wie Religion, in die sich der Staat nicht einmischt, und wenn es Waliser, Schotten und Engländer nebeneinander geben könne, könne es auch britische Muslime mit einer eigenen Identität geben. Jedenfalls gab es lange Zeit keine verbindliche Vorstellung davon, was ›Britishness‹ eigentlich ausmacht. Identität galt genauso als Privatsache der Bürger wie die Religion. Denn trotz der Existenz zweier Staatskirchen, der anglikanischen Kirche oder der Church of Scotland, besteht eine beträchtliche Äquidistanz des Staates gegenüber Religion und nationaler Identität. Erst die Beteiligung junger britischer Muslime an der Planung und Durchführung von Terroranschlägen führte in Großbritannien zu einer Grundsatzdebatte über diese Fragen.

Auch in Deutschland beschäftigen wir uns erst in jüngerer Zeit aktiv mit der Frage: Welchen Werten sollen Zuwanderer verpflichtet sein? Woran wollen wir den Erfolg von Integration messen? Was dürfen wir verlangen, was nicht?

Solbach: Welche Rolle spielen Sprachkenntnisse in diesem Zusammenhang.

Münz: Ohne Kenntnis der Sprache des Ziellandes, in unserem Fall also der deutschen Sprache, kann es keine erfolgreiche Integration geben. Darüber hinaus stellt sich die Frage: Soll man die Muttersprache aus dem Herkunftsland stützen oder nicht? Anfangs wurde dies mit Blick auf die mögliche Rückkehr ins Herkunftsland diskutiert. Muttersprachlicher Zusatzunterricht wurde daher lange Zeit nur angeboten, um eines Tages die Rückkehr (vielleicht sogar die Abschiebung) zu erleichtern. Später wurde argumentiert, es handele sich um kulturelle Kompetenzen, von denen auch das Zielland profitieren sollte; gut sei es, wenn ein Teil der Bevölkerung Mandarin, Serbisch, Mazedonisch, Türkisch oder Kurdisch spricht. Schließlich setzte sich ein pädagogisches und sprachwissenschaftliches Argument durch: Wer die Herkunftssprache nicht beherrscht, kann auch die Sprache des Ziellandes nicht richtig erlernen.

Es waren bisweilen dieselben Lehrerinnen und Lehrer, die in allen drei Modellen beinahe denselben Sprachunterricht erteilten, jeweils mit einer anderen Rechtfertigung. Aber ich möchte nochmals betonen: Zuwanderer müssen jedenfalls auch in die Lage versetzt werden, die Sprache der Mehrheitsbevölkerung in ausreichendem Maße zu beherrschen.

Solbach: Wie groß und wie gerichtet ist die Binnenwanderung innerhalb der EU? Gibt es eine Tendenz zur Integration innerhalb der EU, die sich signifikant von den Verhältnissen unterscheidet, die zwischen den EU-Ländern und ihren Nachbarn unterscheidet? Oder gilt der alte Satz, dass der Wohlstandstransfer innerhalb der Gemeinschaft die Bereitschaft zur Migration in den ärmeren Ländern mindert?

Münz: Es gab in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts starke Wanderungen zwischen europäischen Staaten, da nach 1950 fast alle Länder Nordwesteuropas eine Zeitlang Arbeitskräfte aus anderen europäischen Ländern anwarben. Die meisten dieser Arbeitsmigranten kamen aus Mittelmeer-Anrainerstaaten. Ihnen folgten später nachziehende Familienangehörige. Diese Wanderung kam ab einem bestimmten Wohlstandsniveau der Herkunftsländer zum Stillstand oder verkehrte sich sogar in ihr Gegenteil. Auch etliche schon länger bei uns lebende Arbeitsmigranten kehrten inzwischen wieder ins Herkunftsland zurück.
 
Deutschland holte beispielsweise Zuwanderer aus Ländern wie Italien, Spanien und der Türkei. In Italien und Spanien entstanden zwischenzeitlich funktionierende Binnenarbeitsmärkte. Die Auswanderung aus diesen Ländern kam zum Stillstand, während etliche der ausgewanderten Italiener und Spanier in ihr Herkunftsland zurückkehrten. Aus der Türkei sehen wir heute zumindest eine Abschwächung der Zuwanderung nach Deutschland und wachsende Rückkehrbereitschaft. Durch das starke Wirtschaftswachstum im Westen der Türkei entsteht für etliche türkische Migranten ein Anreiz, dorthin zurückzugehen. Auch manche in Deutschland geborene Kinder türkischer Zuwanderer suchen ihre Zukunft inzwischen eher im Heimatland der Eltern als in Deutschland. Zugleich reflektiert dies die schlechte Arbeitsmarktsituation sowie die geringen Aufstiegschancen jugendlicher Zuwanderer und Angehöriger der so genannten zweiten Generation in Deutschland.

Die zweite bedeutende innereuropäische Wanderung findet in ost-westlicher Richtung statt. Sie gewann durch den Fall des Eisernen Vorhangs sowie durch den Zerfall Jugoslawiens und der früheren Sowjetunion zusätzlich an Bedeutung. Diese Ost-West-Wanderung war vor 1989 auch politisch motiviert und erklärt sich seither vor allem aus dem bestehenden Wohlstandsgefälle. Zugleich spielen Fälle von Diskriminierung, Verfolgung oder sogar Vertreibung von Angehörigen ethnischer Minderheiten sowie gewaltsame Konflikte und Bürgerkriege eine Rolle. Zum Teil erklärt sich diese Wanderung auch aus der ›Einladung‹ einiger westeuropäischer Staaten an Angehörige bestimmter Minderheiten jenseits des inzwischen gefallenen Eisernen Vorhangs. Dazu gehören ethnisch deutsche Aussiedler, ethnische Griechen Ingerman-Finnen etc. Aber auch Polen und die Baltischen Staaten bemühten sich um die Repatriierung von Landsleuten, die unter Stalin nach Sibirien, Kasachstan oder Zentralasien deportiert wurden.

Diese Ost-West-Wanderung hält an und wurde durch den Beitritt ostmitteleuropäischer Staaten zur EU sogar noch verstärkt; schon deshalb, weil es für Polen, Litauer und andere Bürger neuer EU-Staaten inzwischen legal möglich ist, in Irland, in Großbritannien und seit dem 1. Mai 2006 auch in Spanien, Portugal, Griechenland oder Finnland zu arbeiten. Etliche Polen, die vorher als irreguläre Beschäftigte in Deutschland Arbeit gefunden hatten, sind inzwischen lieber legal in Großbritannien beschäftigt. Auch das ist sicher ein Übergangsphänomen, denn Polen hat ähnlich wie die westeuropäischen Staaten eine steigende Lebenserwartung und eine sehr niedrige Kinderzahl pro Frau. Die polnische Bevölkerung sinkt jedes Jahr um eine nennenswerte Zahl. Es ist daher absehbar, dass es irgendwann auch in Polen mehr Zu- als Abwanderung geben wird. In der Tschechischen Republik, in Slowenien und in Ungarn ist dies bereits heute der Fall. Demnächst wird es auch in der Slowakei mehr Zuwanderung als Abwanderung geben. Es ist gut vorstellbar, dass nach der nächsten EU-Erweiterungsrunde, ähnliches in Rumänien und Bulgarien passieren wird. Anfangs könnte es zwar eine Auswanderungswelle geben, doch ähnlich wie nach dem EU-Beitritt Spaniens, Portugals und Griechenlands, könnten in zehn bis fünfzehn Jahren mehr Bulgaren und Rumänen nach Hause zurückkehren, während Ukrainer oder Moldawier nach Bulgarien und Rumänien einwandern.

Solbach: Beim Thema der Geburtenzahlen wird man in Deutschland hellhörig. Vielen schmeckt es nicht, wie das Land mit Japan und Italien, neuerdings mit Russland und Spanien um negative Rekordmarken konkurriert. Offenkundig fehlen schlüssige Erklärungen des Phänomens. Welche Korrelationen stehen außer Frage? Wodurch unterscheiden sich die genannten Länder von anderen, etwa den USA, England oder Frankreich? Liegt es am unterschiedlichen Bevölkerungsmix, am unterschiedlichen Wertekanon oder an der signifikant anderen Lage der ›arbeitenden Frau‹ in den betreffenden Staaten?

Münz: Es gibt auf jeden Fall einen Einfluss dessen, was Sie hier als Bevölkerungsmix umschrieben haben. In den USA, aber auch in Frankreich und in Großbritannien gibt es mehr Zuwanderer aus Herkunftsländern, in denen die Kinderzahlen hoch sind. Im Falle der USA sind das vor allem lateinamerikanische Länder, aber auch die Philippinen. Im Falle Frankreichs sind es im Wesentlichen Zuwanderer aus Nord- und Westafrika. Im Falle Großbritanniens spielt die Zuwanderung aus Südasien - Bangladesch, Indien und Pakistan - eine Rolle. Allerdings zeigt sich, dass Zuwanderer-Gruppen ihre Familiengröße mit der Zeit an jene der Mehrheitsbevölkerung anpassen.

Von Einfluss auf die Kinderzahl ist auch die Vereinbarkeit (oder Unvereinbarkeit) von Beruf und Elternschaft. Das ist vor allem für Frauen und potentielle Mütter ein entscheidendes Thema. Vor allem in Frankreich und den skandinavischen Ländern gibt es großzügigen Elternurlaub und ein flächendeckendes, gut funktionierendes Netz an Betreuungseinrichtungen für Kinder aller Altersstufen. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie hat dort einen hohen Stellenwert. Zugleich dürfen wir annehmen, dass sich Männer in Skandinavien mehr im Haushalt und bei der Erziehung ihrer Kinder engagieren, als ihre Geschlechtsgenossen in Ostmitteleuropa und in Südeuropa. All dies vermag Frauen die Entscheidung für ein Kind zu erleichtern.

In den USA könnte auch die Tatsache eine Rolle spielen - eine unüberprüfte Hypothese -, dass der Wohlfahrtsstaat weniger stark ausgeprägt ist als in Europa. Deshalb werden Kinder vielleicht nicht bloß als Kostenfaktor, sondern auch als risikomindernde Zukunftsinvestition gesehen; etwa für den Fall längerer Arbeitslosigkeit oder längerer Krankheit eines Elternteils. In Westeuropa, in den alten fünfzehn EU-Mitgliedsstaaten, Norwegen und der Schweiz, sind der eigene Wohlstand und die Vorsorge gegen bestimmte Lebensrisiken von der Kinderzahl völlig entkoppelt. Für uns gilt sogar: Jene, die keine Kinder haben, verdienen im Laufe ihres Lebens in der Regel mehr Geld, haben mehr Ersparnisse und sind daher im Schnitt materiell besser abgesichert sind, als jene, die mehrere Kinder groß ziehen.

Solbach: Es ist ja auch immer wieder vorgerechnet worden, jedes Kind koste ein Einfamilienhaus.

Münz: Diese Rechnung stimmt vor allem dann, wenn man den Einkommensverzicht bedenkt. Vor allem Mütter verdienen im Laufe ihres Lebens weniger Geld als kinderlose Frauen. Entsprechend niedriger ist später auch die Rente. Und allein erziehende Frauen, vor allem Geschiedene, gehören in Deutschland zu einer besonders armutsgefährdeten Gruppe.

Solbach: Man hat den demographischen Wandel, der den Ländern Europas, insbesondere Deutschland, in den kommenden Jahrzehnten bevorsteht, als ein nie zuvor beobachtetes Experiment größten Umfangs bezeichnet und Zweifel geäußert, ob sich die ökonomischen, sozialen, politischen und menschlichen Auswirkungen überhaupt einigermaßen kalkulieren und unter Kontrolle halten lassen. Teilen Sie diese Skepsis?

Münz: Der demographische Wandel erfolgt ganz langsam. Alterung und Bevölkerungsschrumpfung sind Prozesse, die nicht von heute auf morgen über uns hereinbrechen. Wir befinden uns mitten in einer Periode des Übergangs, der sich über mehrere Jahrzehnte hinzieht. Wenn wir das Problem nicht verdrängen, haben wir ausreichend Zeit, uns auf die kommenden Veränderungen vorzubereiten. Dabei gibt es mehrere Handlungsoptionen.

- Option eins liegt klar auf der Hand: länger arbeiten. Darüber wird schon eine Weile diskutiert. Die Anhebung des gesetzlichen Rentenalters ist in Deutschland beschlossene Sache. Solange es jedoch - wie schon angesprochen -, keinen funktionierenden Arbeitsmarkt für ältere Menschen gibt, bleibt die Verlängerung der Lebensarbeitszeit eine leere Phrase. Denn ohne Arbeitsplätze für Ältere bedeutet das höhere Rentenalter bloß eine Periode längerer Arbeitslosigkeit vor Beginn der Rente. Aufgrund steigender Lebenserwartung sollte längeres Arbeiten eigentlich selbstverständlich sein. Es gibt in den meisten Fällen keine gesundheitlichen Gründe, dass Menschen mit 57 Jahren in Vorruhestand gehen. Das ist in der Regel bloß die Kehrseite einer höchst unattraktiven Arbeitsmarktlage. Auch eine schrumpfende Bevölkerung könnte ihre sozialen Sicherungssysteme im Gleichgewicht halten, falls das Rentenantrittsalter jedes Jahr um den Zugewinn an Lebenserwartung angehoben würde. Dabei müsste das Rentenalter um etwa drei Monate pro Jahr steigen, was ungefähr dem zu vermutenden Zuwachs an Lebenserwartung im Laufe eines Jahres entspricht. Das würde allerdings auch eine stärkere Anhebung bedeuten, als der Anstieg von 65 auf 67 Jahre, der bis ins Jahr 2023 geplant ist, denn bis dahin wird die Lebenserwartung möglicherweise um vier Jahre steigen. Damit würden die Deutschen trotz Anhebung des Rentenalters nach 2020 länger in Rente sein als heute.

Solbach: Aber wäre das nicht trotzdem unter Umständen ungerecht? Es gibt Untersuchungen, die sagen, dass Leute, die besser ausgebildet sind, die mehr verdienen, auch eine höhere Lebenserwartung haben als Leute, die in ungeliebten Berufen arbeiten, keine Ausbildung haben oder körperlich sehr anstrengende Tätigkeiten verrichten, wenn für die alle dasselbe Rentenalter gilt.

Münz: Ja, aber das ist heute schon so.

Solbach: Für viele gilt, dass sie das Rentenalter bereits heute nur mit Mühe erreichen - oder gar nicht.

Münz: Das war früher tatsächlich der Fall. Als unser heutiges System der umlagefinanzierten Rente unter Bismarck eingeführt wurde, lag das Rentenalter anfänglich bei 70 Jahren, die durchschnittliche Lebenserwartung hingegen bei etwa 40 Jahren. Heute beziehen ältere Menschen im Schnitt 15 bis 25 Jahre lang ihre Rente. Tatsächlich gibt es noch körperliche Schwerarbeit. Aber die konzentriert sich auf wenige Berufsgruppen: zum Beispiel in Teilen der Landwirtschaft, im Bergbau, in der Stahlproduktion, im Hoch- und Straßenbau, bei Pflege von schwer Behinderten. Für große Teile der Bevölkerung gilt dies jedoch nicht. Keine Schwerarbeit leisten weite Teile des Öffentlichen Dienstes, wo der Vorruhestand ein weit verbreitetes Phänomen ist. Völlige Gerechtigkeit bei der Rente gibt es tatsächlich nicht. Zum Beispiel gibt es kein schlüssiges Argument dafür, dass Frauen früher in Rente gehen können als Männer. Früher wurde dies mit der ›Doppelbelastung‹ berufstätiger Frauen legitimiert. Aber das frühere Rentenalter gilt ja auch für kinderlose Frauen.

- Option zwei: Konsumverzicht. Entweder wir müssen jetzt einen Kapitalstock ansparen, um zukünftig unsere Renten aufbessern zu können. Das heißt, jetzt weniger ausgeben zu können. Oder wir müssen später eine niedrigere Rente in Kauf nehmen. Ich kann mir in diesem Modell den Zeitpunkt des Konsumverzichts aussuchen, aber nicht, dass ich auf etwas verzichte. Auch höhere Beitragssätze zur gesetzlichen Rentenversicherung bedeuten letztlich Konsumverzicht, weil damit mein Aktiveinkommen kleiner wird.

- Option drei: Zuwanderung. Längerfristig würden wir Kinder, die wir selbst nicht zur Welt gebracht haben, durch Zuwanderer ersetzen. Wenig Qualifizierte kämen wahrscheinlich von selbst. Um besser Qualifizierte müssten wir uns aktiv bemühen.

- Option vier: eine höhere Frauenerwerbsquote. Vergleicht man die westdeutschen Frauenerwerbsquoten mit jenen in Skandinavien oder der Schweiz, dann sieht man, dass es bei uns ein nicht genutztes Potenzial gibt. Diese Option steht aber möglicherweise in Konflikt mit dem Ziel, die Kinderzahlen pro Familie nicht weiter sinken zu lassen.

Solbach: Und mit der Arbeitsmarktslage.

Münz: Zum jetzigen Zeitpunkt erleichtert die Arbeitsmarktlage keineswegs höhere Frauenerwerbsquoten. Es gibt ja auch erhebliche Schwierigkeiten, Langzeitarbeitslose, die schon eine Weile Arbeitslosengeld II oder Hartz IV beziehen, wieder in Lohn und Brot zu bringen. Das hat allerdings auch mit der Höhe dieser Sozialleistungen zu tun. Wer einfache Arbeit annimmt, verdient in der Regel nicht viel mehr.

Solbach: Ein Dilemma?

Münz: Es gibt jedenfalls eine klare Diagnose. Wir wissen, was passieren wird. Die einheimische Bevölkerung altert und schrumpft. Das ist ziemlich unausweichlich. Der Schrumpfungsprozess hat schon eingesetzt. Es gibt klare Optionen des Umgangs damit: höheres Rentenalter, höhere Frauenerwerbsquote, Konsumverzicht und/oder Zuwanderung. Es ist jedoch politisch nicht leicht, sich mit diesen Optionen auseinanderzusetzen. Denn alle vier Optionen werden von weiten Teilen der Bevölkerung als Bedrohung und nicht als Lösung wahrgenommen.

Solbach: Aber es sind doch auch sich gegenseitig beeinflussende Faktoren, die schwer zu handhaben sind. Wie gesagt, wir haben die schlechte Arbeitsmarktlage. Wenn sich dann die Frauenerwerbsquote erhöht, bedeutet das entweder Minijobs oder mehr Arbeitslose.

Münz: Zum einen sprechen wir nicht von Optionen für die nächsten 12 oder 24 Monate. Es geht vielmehr um die Frage, wie wir langfristig mit einer schrumpfenden Zahl junger Erwachsener in Deutschland umgehen. Zum anderen ist das Arbeitsvolumen nicht mit einer Geburtstagstorte vergleichbar, denn die Torte ist vor Beginn der Party schon gebacken, und je mehr Leute am Tisch sitzen, umso kleiner wird für jeden die eigene Tortenecke. Das Arbeitsvolumen ist hingegen keine feste Größe. Mehr Erwerbstätige - und das bedeutet auch mehr Gehaltsempfänger - erzeugen zusätzliche Nachfrage. Insofern geht es nicht nur um die Verteilung der Arbeit, sondern auch um die Frage, wie viel produktive Arbeit die in Deutschland lebenden Menschen und eventuell hinzu kommende Migranten zukünftig leisten können. Würden wir jedes Jahr 25.000 oder später einmal 50.000 hoch qualifizierte Arbeitskräfte ins Land holten, entstünden sehr wahrscheinlich neue Produkte und spezifische Dienstleistungen, aber auch Handels- und Austauschbeziehungen zu bestimmten Weltregionen, die heute noch nicht existieren. Es ist also möglich, durch Zuwanderung Angebot und Nachfrage gleichzeitig zu steigern und damit ein höheres Bruttoinlandsprodukt zu erzeugen.

Solbach: Der Nationalstaat hat Europa und der Welt neben Diktatur, ethnischen Verfolgungen und Weltkriegen auch liberale Rechtsverfassungen, Demokratie und den Wirtschaftsliberalismus beschert. Es scheint, dass schon aus demographischen Gründen die Tendenz vom Nationalstaat europäischer Prägung wegführt. Werden sich Staat und Gesellschaft auseinander entwickeln, oder kann es gelingen, die ›res publica‹, die im Bewusstsein der Gesellschaftsglieder verankerte Verantwortung für das Allgemeine in Anbetracht stärkerer ethnischer und kultureller Differenzierungen zu erhalten? Was unterscheidet ›Bevölkerung‹ und ›Volk‹ und wie gehen sie ineinander über?

Münz: Historisch gesehen sind ›Volk‹ und ›Bevölkerung‹ politische Begriffe. Mit ihnen sollte nicht bloß etwas bezeichnet, sondern ursprünglich auch etwas bewirkt werden. Mit ›Volk‹ verbindet sich ab Herder und Fichte die Vorstellung einer ursprünglich kulturell definierten Gemeinschaft mit einem spezifischen Volksgeist und einer Volksseele. Jakob und Wilhelm Grimm sammeln Volksmärchen und beginnen ein Wörterbuch der deutschen Sprache. Solche Projekte hatten damals auch eine politische Stoßrichtung. Denn sie beförderten die Vorstellung, dass ›Völker‹ unabhängig von jeweiligen Herrschaftssystemen existieren und sich von diesen befreien können. Das war eine Absage sowohl an die deutschen Fürstenstaaten wie auch an übernationale Reiche wie jenes der Habsburger. Von Zeitgenossen wurde die Donaumonarchie daher auch als ›Völkerkerker‹ bezeichnet. Die Vorstellung von ›Volk‹ als einer durch Kultur und Abstammung definierten Gemeinschaft zielte letztlich auf die Schaffung von Nationalstaaten auf ethnischer Grundlage. Das führte in Europa sowohl zu Verfassungsstaaten, die eine bestimmte ethnische Gruppe als Staatsvolk definieren; aber auch zu Diktaturen auf Grundlage völkischer Ideologien.

Dagegen ist ›Bevölkerung‹ ursprünglich ein aus dem Französischen ins Deutsche übersetzter Terminus technicus. Dahinter steht der Begriff ›peuplieren‹, also ›be-völkern‹, womit die systematische Ansiedlung von Menschen in einer bestimmten Region gemeint ist: ein hauptsächlich im absolutistischen und merkantilistischen Staat übliches Verfahren zur Urbarmachung von Land. Im Deutschen wurde der Begriff erstmals im Jahr 1691 vom Dichter und Sprachforscher Caspar Stieler verwendet. Ein klassisches Beispiel wäre die Trockenlegung des Oderbruchs und die systematische Ansiedlung von Menschen in diesem bis dahin unbewohnten Teil Preußens. Oder die Verwüstungen im Dreißigjährigen Krieg sowie nach Pestepidemien und die danach erfolgte systematische Ansiedlung von Hugenotten, Salzburger Protestanten oder Böhmischen Brüdern. Das heißt, hinter dem Wort ›Bevölkerung‹ steckt die Vorstellung, dass es sich um eine mit Mitteln des merkantilistischen Staates administrativ hergestellte Population handelt. Hinter dem Begriff ›Volk‹ steht dagegen etwas angeblich Naturwüchsiges, das schon vor dem Staat existiert.

Im Englischen haben die Begriffe ›people‹ und ›nation‹ eine etwas andere Konnotation und werden daher auch im klassischen Einwanderungsland USA verwendet. ›Nation‹ und Staatsvolk sind dort - ganz ähnlich wie in Frankreich - als Gemeinschaft definiert, die sich durch politische Willensbildung und gemeinsame Überzeugungen definiert.

Solbach: Wonach ich gefragt habe, ist eine Entwicklung zu einem ›Wir‹ oder so etwas wie dem ›volonté générale‹ im Rousseauschen Sinne. Also eine Identifikation, die auch Verantwortung für das Allgemeinwohl übernimmt.

Münz: Durch Zuwanderer, die für längere Zeit oder auf Dauer im Zielland bleiben, stellt sich die Frage nach dem ›Wir‹ tatsächlich neu. Theoretisch müsste sie in Gesellschaften leichter lösbar sein, die sich durch politische Zugehörigkeit und nicht durch Abstammung definieren. Wie die jüngeren Entwicklungen in Frankreich und Großbritannien zeigen, ist die Frage nach dem ›Wir‹ auch dort keineswegs gelöst. Jedenfalls entstehen durch Zuwanderung Konflikte, die für manche europäischen Gesellschaften historisch neu sind. Aber wie sich zeigt, führen diese Konflikte nicht notwendigerweise zum Zerfall von Nationalstaaten.

Solbach: Wie verhält sich die sogenannte ›Wohlstandsdrift‹, der Zuwanderungsdruck, der auf den westlichen Gesellschaften liegt, zu den Wanderungsbewegungen in anderen Weltteilen? Ist das überhaupt etwas Besonderes, was wir hier erleben oder ist es Teil eines größeren Phänomens?

Münz: Zur Zeit leben auf der Welt etwas über 6,5 Milliarden Menschen. Von ihnen leben laut UN-Statistiken 191 Millionen außerhalb der Grenzen des Landes, in dem sie zur Welt gekommen sind. Internationale Migranten machen somit drei Prozent der Weltbevölkerung aus. Angesichts der enormen Wohlfahrtsunterschiede, die es zwischen den einzelnen Ländern und Weltregionen gibt, müsste dieser Prozentsatz eigentlich größer sein, wenn wirtschaftlicher Wohlstand das einzige Kriterium für Wanderungsentscheidungen bildete. Allerdings gibt es ohne Zweifel so genannte magnet societies, also besonders attraktive Ziele von Zuwanderung, zu denen die USA, Kanada und Australien, aber auch einige Länder der Europäischen Union gehören. In diesen Ländern ist Zuwanderung ein dauerhaftes Phänomen; und Zuwanderer stellen einen wachsenden Teil der jeweiligen Bevölkerung. Diese Zuwanderer stammen zwar zum überwiegenden Teil aus ärmeren Weltregionen. Aber zum Teil handelt es sich auch um Angehörige dortiger Eliten und Mittelschichten. Schaut man sich die Bildungszuwanderung in die USA an, vor allem die Studierenden an Top-Universitäten und Colleges, dann wird klar, dass auch Mittel- und Oberschichten von Schwellenländern, von Ländern der dritten Welt ihre Kinder dort hin schicken. Da spielt nicht die Wohlstandsdrift eine Rolle, sondern es geht einfach um die Frage: Wo auf der Welt gibt es die beste Ausbildung für diese jungen Menschen?

Solbach: Wo liegen die Hauptarbeitsfelder einer Politik, die mit den Problemen einer forcierten Zuwanderung in Anbetracht tendenziell rückläufiger Bevölkerungszahlen konfrontiert ist? Wie gut beraten ist die Politik der europäischen Staaten in diesen Fragen?

Münz: Es gibt Einwanderungsländer, die zumindest einen Teil der Zuwanderung nach einem Punktesystem organisieren. Dazu gehören Australien, Kanada und Neuseeland. Es gab einen ambitiösen Entwurf Deutschlands, den man in den Vorschlägen der Süssmuth-Kommission nachlesen kann. Der erste Entwurf des Zuwanderungsgesetzes enthielt den Vorschlag, auch in Deutschland einen Teil der Zuwanderer nach einem Punktesystem auszuwählen. Im komplizierten Gesetzgebungsverfahren wurde dieser zukunftsweisende, der pro-aktive Teil des Zuwanderungsgesetzes von der damals rot-grünen Regierungsmehrheit fallengelassen, weil es von Seite der CDU/CSU erheblichen Widerspruch gab. Inzwischen gibt es andere europäische Staaten, die sich aktiv bemühen, high potentials genannte oder besonders qualifizierte Menschen ins Land zu holen. Großbritannien und Frankreich änderten zu diesem Zweck im Laufe des Jahres 2006 ihre Einwanderungsgesetze, um für junge und gut qualifizierte Migranten attraktiver zu werden. Frankreichs Innenminister Nicolas Sarkozy sprach in diesem Zusammenhang von einem Paradigmenwechsel: der migration subie zur migration choisie; also von der erlittenen oder erduldeten zur gewünschten oder gewählten Zuwanderung. Die Regierungen Großbritanniens und Irlands sehen dies ähnlich. Auch von der EU-Kommission in Brüssel kommen dazu prononcierte, positive Stellungnahmen. Allerdings verfügt sie im Bereich der Arbeitsmigration über keine besonders weit reichende Kompetenz.

Der Vergleich zeigt: Europäische Länder haben im Bereich der Migrationspolitik ziemlich unterschiedliche Zugangsweisen. Dies hat sowohl etwas mit den Arbeitsmarktbedingungen, als auch mit den nationalen Sensitivitäten zu tun. Jedenfalls gibt es - soweit ich dies beurteilen kann - kein Beratungsdefizit, sondern Zögerlichkeit in der Umsetzung mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung. Denn die Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger Europas sieht Zuwanderer nicht als Chance, sondern eher als Bedrohung.

Solbach: Zum Abschluss eine vielleicht putzig wirkende Frage: Wie viele Menschen verträgt die Schweiz? Anders gefragt: Gibt es verlässliche Parameter für ein gedeihliches Bevölkerungswachstum oder liegt die Zukunft in abnehmenden Bevölkerungszahlen? Gibt es so etwas wie ein Optimum der Bevölkerungsentwicklung?

Münz: In Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften gibt es keine optimale Bevölkerung. Von optimaler Bevölkerung kann man sinnvoller weise nur in Agrargesellschaften sprechen. Für sie lässt sich je nach Klima und Bodenbeschaffenheit sagen, dass bei einem gegebenen Stand der Anbautechnik und der verfügbaren Feldfrüchte eine bestimmte Zahl von Kalorien pro Hektar oder Quadratkilometer produziert werden kann. Weiß man, wie groß das urbare oder urbar zu machende Land ist, kann man im Prinzip auch ausrechnen, wie viele Menschen davon ernährt werden können.

Für industrielle und postindustrielle Gesellschaften sind solche Überlegungen nicht sinnvoll. Heute sind nur noch drei bis vier Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig. Sie erzeugen mit modernen Mitteln häufig mehr Lebensmittel, als vom Rest der Bevölkerung benötigt werden. Wir sind gerade in den Industriegesellschaften mit Agrarüberschüssen konfrontiert. Für uns stellt sich die Bevölkerungsfrage anders. Unser Beschäftigungssystem und unsere Infrastruktur – Straßen, Schulen, Krankenhäuser etc. – sind heute für eine bestimmte Anzahl von Menschen ausgelegt und nicht für halb so viele oder für doppelt so viele. Veränderungen der Einwohnerzahl erzeugen daher Anpassungskosten. Am Beispiel der Schulen lässt sich dies gut sehen. Wenn die Deutschen, insbesondere die Ostdeutschen immer weniger Kinder bekommen, dann müssen mit einer kleinen zeitlichen Verzögerung Schulklassen zusammengelegt und schließlich ganze Schulen geschlossen werden. Das ist in Teilen Deutschlands heute schon Realität.

Umgekehrt sehen wir: In Ländern wie Bolivien, dem Kongo, Jordanien, Marokko oder Nigeria, müssten bei einem Bevölkerungswachstum von drei Prozent pro Jahr im Prinzip alle fünf Jahre rund 20 Prozent mehr Schulen, Krankenhäuser oder Jobs zur Verfügung gestellt werden. Bevölkerungswachstum ist nicht an sich schlecht, sondern die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze, Schulplätze, Gesundheitseinrichtungen und Transportmittel überfordern Wirtschaft und Gesellschaft. Und wir müssen davon ausgehen, dass schon die Grundversorgung der Bevölkerung derzeit nicht ausreicht.

Solbach: Eine Berechnung der UN besagt, dass jährlich 3,4 Millionen Zuwanderer nach Deutschland kommen müssten, um das gegenwärtige Verhältnis von arbeitender Bevölkerung und Rentnern zu erhalten.

Münz: Die Rechnung bezieht sich nicht auf tatsächlich Erwerbstätige. Sie zeigt, was nötig wäre, um die Relation zwischen jüngeren Erwachsenen von 20 bis 60 Jahren und Älteren über 60 Jahren auf dem Stand des Jahres 2000 zu halten. Viel entscheidender ist hingegen die Relation zwischen Beschäftigten - also Steuer- und Beitragszahlern - und Rentnern, die von den Beitragszahlern erhalten werden. Entscheidend dafür sind die Erwerbsquoten von Männern und Frauen sowie das tatsächliche Rentenalter.

Solbach: Über drei Millionen Zuwanderer würden bedeuten, dass 2050 in Deutschland etwa 299 Millionen Menschen leben.

Münz: Das ist als Modellrechnung richtig, soll aber keine Prognose sein. Die Rechnung wurde nur gemacht, um zu zeigen, dass sich die Alterung unserer Gesellschaft durch Zuwanderung nicht aufhalten lässt. Damit ist klar, dass wir das Problem ohne Anhebung des Rentenalters nicht lösen können.

Solbach: Brauchen wir überhaupt Bevölkerungswachstum in Deutschland?

Münz: Bevölkerungswachstum ist für die Sicherung unseres Wohlstandes nicht unbedingt nötig. Wirtschaftswachstum kann es auch bei gleich bleibender Bevölkerung geben, wenn die Produktivität steigt, also pro Kopf mehr erwirtschaftet wird. Auch der Beschäftigungsumfang könnte bei einer stagnierenden Bevölkerung unter Umständen erhöht werden. Wahrscheinlich nicht wachsen wird bei einer schrumpfenden Bevölkerung der Konsum. Das kann für die Binnennachfrage aus ökonomischer Sicht ein Problem darstellen.

Abnehmende Bevölkerungszahlen gibt es schon in Teilen Europas. Selbst in den USA nimmt in einem Drittel aller Stadt- und Landkreise die Bevölkerung ab. Auch in den wachsenden Ländern gibt es also Schrumpfung. Genauso gibt es ein wachsendes und ein schrumpfendes Deutschland: Bevölkerungswachstum gibt es in Hamburg und Umgebung, im Raum Frankfurt, im Raum München, und am Oberrhein, abnehmende Bevölkerungszahlen verzeichnen hingegen weite Teile Ostdeutschlands, das Ruhrgebiet, das Saarland, der Südosten Niedersachsens. Ähnliches gilt für Frankreich oder für Italien oder Spanien. Nicht die Zahl der Menschen ist entscheidend. Wenn ich jedoch ein bestimmtes Niveau der Versorgung mit öffentlicher Infrastruktur, mit öffentlichen und privaten Dienstleistungen als anstrebenswert definiere, dann stellt sich die Frage, wie ich dieses Angebot an wachsende oder schrumpfende Bevölkerungen anpassen kann. Mit Wachstum umzugehen, haben wir in der Vergangenheit gelernt. Demographische Schrumpfung zu gestalten, ist für uns noch eine Herausforderung.

Solbach: Deutschland müsste, um mit den Bevölkerungszahlen der Zukunft arbeiten zu können, Werte bestimmen, Strukturen, die es haben will, usw. Anders ausgedrückt, die Entscheidung zum Wachsen oder Schrumpfen ist gleichzeitig eine Werteentscheidung?

Münz: Es gibt einerseits Werteentscheidungen, andererseits Verteilungsentscheidungen. Man kann dies an einem konkreten Beispiel diskutieren: In Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt schrumpft die Bevölkerung. Damit stellt sich etwa die Frage: Wie groß ist die zumutbare Distanz bis zur nächsten Schule? Will man lieber Zwergschulen, in denen die Kinder mehrerer Altersstufen in einer Klasse, aber dafür vor Ort unterrichtet werden? Oder wollen wir ein differenziertes und gegliedertes Schulsystem an wenigen zentralen Standorten, die schon viele Kinder zu Tagespendlern machen? Eine andere Frage lautet: Soll man in schrumpfenden Regionen durch Subventionen Arbeitsplätze vor Ort erhalten? Oder sollten die Menschen doch besser in Bundesländer ziehen, wo es (nicht subventionierte) Arbeit für sie gibt? Dann könnte man die Mobilität sogar fördern und den Leuten Prämien fürs Übersiedeln zahlen, wenn sie woanders einen Arbeitsplatz finden. Das sind Fragen, die letztlich politisch entschieden werden müssen. Sind solche Entscheidungen erst einmal getroffen, bremsen oder verstärken sie den demographischen Prozess. Entscheidet man sich zum Beispiel dafür, Abwanderung zuzulassen, bekommen die Abwanderungsregionen aus dem Finanzausgleich immer weniger Geld. Sie stellen immer weniger Bundestagsabgeordnete, irgendwann sinkt auch die Stimmenzahl im Bundesrat und das politische Gewicht der Region schrumpft. Zugleich fallen mittel- und langfristig Infrastrukturkosten weg. Wird die Einwohnerzahl bundesweit weniger, dann verliert Deutschland innerhalb der EU gegenüber Frankreich oder Großbritannien an Gewicht.

Aus heutiger Sicht ist die Herausforderung klar, die aus der demographischen Entwicklung erwächst. Wir stehen vor allem vor der Frage, wie wir die Alterung unserer Bevölkerung bewältigen. Dabei geht es um Wohlstandssicherung, aber auch darum, keine Generation über Gebühr zu benachteiligen. Das ist ganz wesentlich ein Thema für die Angehörigen der Babyboom-Generation und deren Kinder. Hinzu kommt die Frage, wie wir in heute schon dünn besiedelten oder ausdünnenden Regionen Deutschlands ein bestimmtes Niveau an Lebensqualität, Infrastruktur und Versorgung aufrechterhalten können. Dieses Niveau entscheidet schließlich darüber, ob die Leute da bleiben oder ob zumindest die Jüngeren die nächste Gelegenheit nützen, um abzuwandern.

Solbach: Vielen Dank für das Gespräch.