Rainer Münz
im Gespräch mit Renate Solbach
Wie viel Bevölkerung verträgt die Gesellschaft?
Solbach: Die
Kontakte zwischen Öffentlichkeit und Wissenschaft sind in der Regel
sporadisch und unberechenbar. Meist sind es statistisch
aufbereitete Prognosen, die Alarm auslösen. So geschehen in den
Fällen des Waldsterbens, des Ozonlochs und der globalen Erwärmung.
Sterben die Europäer aus, oder wird ihnen heiß?
Münz: Waldsterben, globale Erwärmung und demographische
Entwicklung haben eines gemeinsam: Es handelt sich um langfristige
Prozesse, die im Trend gut absehbar sind und bei denen auch die
Wahrscheinlichkeit, völlig falsch zu liegen, ziemlich klein ist. Es
sind sehr träge Prozesse, die sich über Jahre und Jahrzehnte
abspielen. Ein Gutteil des FCKWs, also des chlorierten
Fluor-Kohlenwasserstoffs, das in zwanzig Jahren in der oberen
Atmosphäre sein wird, befindet sich heute schon in der Luft. Bei den
Wäldern war das lange Zeit ähnlich. Die kranken Bäume standen schon
eine ganze Weile da. Man konnte sich bloß entscheiden, ob man sie
krank stehen lässt oder schlägt. Was die Demographie angeht, so
muss man sehen, dass die Rentnerinnen und Rentner des Jahres 2050
auch schon alle auf der Welt sind, einen Namen, eine Anschrift
haben. Man könnte ihnen den Generationenvertrag bereits heute
zuschicken. Insofern gibt es da - innerhalb einer bestimmten
Bandbreite - relativ wenig Potenzial für echte Überraschungen. Umso
erstaunlicher ist es, dass demographische Themen periodisch zum
Renner der Saison werden, also mediale und politische Konjunkturen
erleben. Dass die einheimischen Deutschen weniger werden, ist
etwas, was man schon seit dreißig Jahren gut absehen konnte. Seit
1972 gibt es in Deutschland mehr Sterbefälle als Geburten. Wir
haben diesen Umstand und seine möglichen Konsequenzen jedoch lange
Zeit ignoriert.
Solbach: Helmut Schmidt hat vor kurzem noch gesagt, das
Problem sei in den Siebzigern nicht bekannt gewesen.
Münz: Für Helmut Schmidt mag es während seiner Zeit als
Kanzler kein Thema gewesen sein. Aber die Fakten lagen schon auf
dem Tisch. Über den Geburtenrückgang wurde im Bundestag bereits in
den 1970er Jahren diskutiert. Es gab Symposien zum Thema
›kinderlose Gesellschaft‹. Darüber erschienen in den 1970er und
1980er Jahren Bücher. Man brauchte schon damals kein Experte zu
sein, um sich die Folgen auszurechnen: Weniger Geburten bedeutet
weniger Kinder. Dies führt 20 Jahre später zu weniger jungen
Erwachsenen und schließlich zu Finanzierungsproblemen für die
Alterssicherung. Nur wenige haben daraus frühzeitig weiterreichende
Schlüsse gezogen; darunter Leute wie Kurt Biedenkopf und Meinhard
Miegel. Damals war der negative demographische Trend allerdings
noch ein junges Phänomen. Ökologische Veränderungen, aber auch
Themen wie ›Pershing II-Nachrüstung gegen militärische Bedrohungen
aus dem Osten‹ erschienen den Zeitgenossen wesentlich wichtiger.
Dann kam der Fall der Mauer. Das wiedervereinigte Deutschland hatte
anfangs andere Prioritäten. Inzwischen sind die Konsequenzen der
demographischen Entwicklung unübersehbar. Im Falle Ostdeutschlands
kommen noch der massive Geburteneinbruch nach 1990 in
Ostdeutschland sowie die starke Abwanderung dazu. Daher gibt es
heute Regionen in Deutschland, für die der Begriff ›Entvölkerung‹
nicht bloß eine Prognose darstellt, sondern in denen er bereits
tägliche Realität ist.
Solbach: Ist die Bevölkerungswissenschaft die neue
Leitwissenschaft, wie gemunkelt wird? Oder lehnt sie dankend ab?
Welche Problemarten fallen in ihre Zuständigkeit? Anders
formuliert: Handelt es sich um eine Hilfswissenschaft oder kann sie
selbständig neben Soziologie oder anderen Disziplinen bestehen? Und
welche Art von Aussagen kann man sich von ihr erwarten?
Münz: Die Bevölkerungswissenschaft ist eine eigenständige
Wissenschaft, aber sie ist keine Leitwissenschaft. Es lässt sich
bei vielen Disziplinen ein ›fundamentaler‹ Gegenstandsbereich
ausmachen, von dem man zu Recht behaupten könnte: Ohne diesen
Gegenstand gäbe es den Rest nicht! Zum Beispiel: ohne Menschen
(Anthropologie) keine Bevölkerung (Demographie), ohne Bevölkerung
keine Gesellschaft (Soziologie). Oder: Ohne physische Umwelt
(Geologie, Ökologie) und ohne Atmosphäre (Meteorologie) kein Leben
(Biologie); ohne Leben keine Menschen. Das heißt aber nicht, dass
jede dieser Disziplinen eine Leitwissenschaft wäre.
Solbach: Die werden ja gerne ausgerufen, wenn bestimmte
Probleme anliegen.
Münz: Die Bevölkerungswissenschaft ist in Deutschland und in
vielen Teilen Europas akademisch zu schwach vertreten, um solche
Ansprüche überhaupt erheben zu können. Es gibt nur wenige
universitäre und außeruniversitäre Forschungszentren; und es gibt
wenig systematische Ausbildung. Dennoch vermag die
Bevölkerungswissenschaft zweierlei zu leisten. Zum einen vermag die
Demographie vorhandene Daten zu analysieren. Solche Analyse beruht
entweder auf Volkszählungen (die letzten Volkszählungen gab es 1981
in der DDR und 1987 in der alten Bundesrepublik), Mikrozensen und
laufenden Erhebungen von Geburten, Sterbefällen, Ein- und
Auswanderungen etc. Diagnose und Analyse kommen aus dieser
Datenbasis, die von den Statistischen Ämtern und administrativ zur
Verfügung gestellt wird. Sie ermöglicht es, aus den beobachtbaren
Ereignissen, also Geburten, Sterbefälle, Zu- und Abwanderung,
Heiraten, Scheidungen, auf dahinter liegende Strukturen und
Prozesse zu schließen.
Um ein praktisches Beispiel zu geben: Die Zahl der Sterbefälle kann
in einer bestimmten Region hoch sein, weil dort die
Lebensverhältnisse sehr ungünstig sind - etwa in Ländern mit einer
hohen HIV-Infektionsrate - oder weil es dort vergleichsweise viele
alte Menschen gibt. Das sind völlig unterschiedliche Ausgangslagen.
In Deutschland sterben beispielsweise wesentlich mehr Menschen als
in Ägypten. Daraus dürfen wir allerdings nicht schließen, dass
die Menschen in Ägypten viel gesünder wären. Die demographische
Analyse zeigt nämlich, dass die Wahrscheinlichkeit, mit sechzig,
fünfundsechzig oder siebzig Jahren zu sterben, in Deutschland
wesentlich niedriger ist als in Ägypten. Verantwortlich für die
höhere Zahl der Todesfälle in Deutschland ist die Altersstruktur.
Die Hälfte der ägyptischen Bevölkerung ist unter zwanzig Jahre alt,
weniger als sieben Prozent sind über 65 Jahre alt. In Deutschland
sind bloß 21 Prozent aller Einwohner unter 20 Jahre alt, aber
bereits 18 Prozent über 65. Ähnliches gilt für die Gesamtzahl der
Geburten: Es können in einem Land wenige Kinder zur Welt kommen,
weil es dort nur eine geringe Zahl potentieller Mütter im
entsprechenden Alter zwischen 20 und 35 Jahren gibt, oder aber,
weil die Kinderzahl pro Familie bzw. pro Frau sehr niedrig ist. Das
auseinander zu halten, ist der analytische Teil.
Zum anderen kann die Bevölkerungswissenschaft unter Zugrundelegung
der Bevölkerungsdynamik sowie der gegenwärtigen Struktur
Annahmen treffen und Bevölkerungen in die Zukunft fortschreiben,
also demographische Prognosen erstellen. In diesem Fall gibt sie
Auskunft darüber, wie viele Menschen in zehn, fünfzehn, zwanzig,
fünfundzwanzig, dreißig Jahren in einer bestimmten Region leben,
wie alt sie sein werden, wie viele Männer und Frauen darunter
sein werden.
Solbach: Die Menschen der Wohlstandszone werden älter. Das
verändert die so genannte Alterspyramide. Alterssicherung und
Sicherung des Wirtschaftsstandorts durch Bereitstellung einer
hinreichenden Anzahl qualifizierter Arbeitskräfte dort, wo ein
entsprechender Bedarf besteht: viele sehen darin die wesentlichen
auf die Gemeinwesen zukommenden Aufgaben, die von der Politik
›gemeistert‹ werden müssen. Halten Sie das für eine angemessene
Beschreibung der Situation, oder ist es eher unterbestimmt?
Münz: Die Menschen werden älter. Ihre statistische
Lebenserwartung wächst. An sich ist dies ein höchst erfreuliches
Phänomen. Damit steigt das Durchschnittsalter der Bevölkerung und
der Anteil der Älteren wird größer. Das ist ein Trend, der sich
keineswegs auf Deutschland oder Europa beschränkt. Wir finden
demographische Alterung in fast allen Ländern und Regionen der
Welt; also auch in Ostasien und in Lateinamerika. Das heißt: die
Zahl der Alten wächst auch in China oder in Brasilien. Wichtigste
Ausnahme sind die stark von Aids betroffenen Regionen des südlichen
Afrika. Dort sterben viele Menschen inzwischen so früh, dass die
Lebenserwartung nicht steigt, sondern seit 1990 um vierzehn Jahre
gesunken ist.
Materielle Absicherung im Alter ist eine Frage der institutionellen
Rahmenbedingungen. Sie hängt im Wesentlichen davon ab, wie die
Altersversorgung organisiert und finanziert wird: durch eigene
Ersparnisse und private Vermögensbildung, durch Beiträge zu einer
ansparenden Rentenkasse, die einen Kapitalstock bildet, oder durch
Beiträge zu einer allgemeinen Sozialversicherung, die für die
Renten der nicht mehr aktiven Generation verwendet werden.
Letzteres nennt man das Umlageverfahren. Auf ihm beruht in
Deutschland heute das Rentensystem. Da geht es um die Frage: Wie
viele Menschen sind schon in Rente, wie viele schultern die Last
der Beiträge, und wie hoch ist der Beitragssatz? Das Ansparmodell
beruht hingegen auf dem Kapitaldeckungsverfahren. Dieses steht zum
Beispiel in den USA oder in der Schweiz im Zentrum der
Alterssicherung. Dort geht es darum, wie die Rentenkassen das
angesparte Kapital so anlegen, dass es erhalten bleibt und eine
Rendite abwirft, aus der die Älteren später ihre Rente beziehen
können.
Damit sind wir beim Wirtschaftsstandort. Natürlich spielen die
Lohnkosten bei den Investitionsentscheidungen eine wichtige Rolle.
Genauso wichtig sind Größe und Qualifikation des verfügbaren
Arbeitskräftepotentials. Dabei kann es in einer alternden
Gesellschaft passieren, dass qualifizierte einheimische
Arbeitskräfte in Rente gehen, neue inländische Arbeitskräfte wegen
sinkender Kinderzahlen nicht in ausreichender Zahl verfügbar sind
und zugleich die Lohnnebenkosten steigen. Letzteres könnte der Fall
sein, weil das umlagefinanzierte Rentensystem und - wahrscheinlich
noch viel dramatischer - die Gesundheitsversorgung der Zukunft
nicht bloß teurer werden, sondern auch die Lohnkosten und die
allgemeinen Steuersätze erhöhen. Denn wenn die Last der
Alterssicherung auf weniger Schultern verteilt werden muss, steigen
fast zwangsläufig Steuern und Beitragssätze.
Solbach: Das ist jetzt die sachliche Seite, aber die Frage
ist immer auch die nach dem Menschenbild, das dahinter steht. Die
Menschen sind ja nicht nur Arbeitskräfte. Es gibt auch Fragen von
Teilhabe und Beschränkung. Die Darstellungen in unserer
Presse...
Münz: Ich denke, dass die Zunahme an Lebenserwartung zu
negativ dargestellt und daher auch negativ wahrgenommen wird. Im
Prinzip ist dies ein Ausdruck hoher Lebensqualität. Ich kenne auch
kaum jemanden, der lieber früher als später sterben möchte. Die
meisten freuen sich, zumindest individuell, über die gestiegene
Zahl an verfügbaren Jahren. Es wird dann zur Herausforderung, wenn
zahlenmäßig große Generationen, in unserem Fall die so genannten
Babyboomer, gemeinsam altern und entsprechende Vorstellungen über
die Dichte der Versorgung mit öffentlicher Infrastruktur und deren
Finanzierung durch den Staat haben. Dann stellt sich die Frage: Wie
kann die Versorgung mit bestimmten öffentlichen Einrichtungen - im
Wesentlichen geht es hier um Gesundheitseinrichtungen,
Verkehrsinfrastruktur usw. - aufrechterhalten werden, wenn zum
Beispiel die Steuerbasis schmäler wird?
Zugleich stellt sich die Frage: Würden mehr Betriebe ihre Standorte
aus Deutschland weg verlagern, wenn es kein ausreichendes Angebot
an jüngeren, qualifizierten Arbeitskräften gäbe? Dahinter steht die
Annahme: Nur im Alter zwischen zwanzig und sechzig sind die
Deutschen produktiv. Ich denke, auch das bedarf einer Revision. In
den kommenden Dekaden wird das Rentenalter zunächst auf 67 und
später vielleicht auf 70 Jahre angehoben. Das ist höchst sinnvoll,
wenn man denkt, dass die Lebenserwartung im Laufe des 21.
Jahrhunderts voraussichtlich auf 90 und mehr Jahre steigen wird.
Dann stellt sich die Frage: Wie kann es in diesem Land zukünftig
einen funktionierenden Arbeitsmarkt für über Fünfzigjährige
geben?
Solbach: Ein Alter, in dem man heute keine Stelle mehr
bekommt, weil man als zu alt gilt...
Münz: So ist es. Im Moment gibt es keinen funktionierenden
Arbeitsmarkt für Menschen über 50, die Arbeit suchen. Aber es gibt
in dieser Altersgruppe Menschen, die Arbeit haben. Die meisten von
ihnen sind allerdings schon länger beim selben Arbeitgeber
beschäftigt und können aufgrund ihres Alters kaum gekündigt
werden.
Solbach: Wie verlässlich sind demographische Prognosen? Ist
es vertretbar, einen von differenzierten medizinischen,
ökonomischen und sozialen Faktoren abhängigen Wert wie den des
durchschnittlichen Sterbealters in einer Gesellschaft bis zum Jahr
2050 kontinuierlich ansteigen zu lassen und andererseits die so
genannte ›Fertilitätsrate‹, die über die durchschnittliche Zahl der
Geburten pro Frau in einer Gesellschaft Auskunft gibt, für
denselben Zeitraum auf einen extrem niedrig scheinenden Wert
festzulegen, wie dies das deutsche Statistische Bundesamt getan
hat? Oder wird hier Politik mit Zahlen gemacht? Anders formuliert:
Was ist variabel, was ist unbezweifelbar, gibt es fixe Größen? In
Modellrechnungen wird meinetwegen die Zahl der Frauen im
gebärfähigen Alter zugrunde gelegt, das haben Sie eben schon
angesprochen, und wenn die in dreißig Jahren halbiert worden ist,
dann kann selbst eine sehr hohe Fertilitätsrate das nicht so
schnell auffangen.
Münz: Demographische Prognosen können im Kern langfristig
angelegt sein, obwohl die Demographie nicht über bessere Modelle
verfügt als die Wirtschaftswissenschaften oder die Meteorologie.
Eine ökonomische Prognose über dreißig oder vierzig Jahre wäre
völlig unseriös. Das Wetter lässt sich nicht einmal über einen
Zeitraum von zehn Tagen halbwegs genau vorhersagen. Dazu ist es
viel zu volatil. Im Gegensatz dazu haben wir es in der
Bevölkerungsdynamik mit einem sehr trägen Prozess zu tun haben. Wie
gesagt, die Rentnerinnen und Rentner des Jahres 2050 leben bereits
alle unter uns. Aber auch jene Kinder, die im Jahr 2012 in die
Primarschulen und 2018 in weiterführende Schulen kommen werden,
sind schon geboren. Deshalb besteht die Möglichkeit, auf
quantitativer Ebene weit in die Zukunft zu blicken.
Was sind die Ungewissheiten? Die Lebenserwartung steigt in
Deutschland kontinuierlich seit wir über entsprechende langfristige
Statistiken verfügen. Jedenfalls können wir seit zweihundert Jahren
eine steigende Lebenserwartung beobachten. Und nichts deutet zur
Zeit darauf hin, dass sich dieser Trend abschwächt. Bei der
durchschnittlichen Kinderzahl pro Frau gab es in Westdeutschland
nach dem Höhepunkt des Babybooms bis in die späten 1970er Jahre
einen deutlichen Rückgang. Seit fast 30 Jahren registrieren wir auf
diesem niedrigen Niveau kaum noch Veränderungen. Im Gegensatz dazu
gab es in Ostdeutschland nach dem Ende der DDR einen sehr
deutlichen Rückgang der Geburten. Doch seit den späten 1990er
Jahren nähert sich die durchschnittliche Kinderzahl ostdeutscher
Frauen vom tiefen Niveau nach der Wende langsam jener der
westdeutschen Frauen an.
Insofern macht das Statistische Bundesamt nichts anderes, als die
bestehenden Trends, nämlich eine seit langem steigende
Lebenserwartung und eine anhaltend niedrige Kinderzahl pro Frau
fortzuschreiben. Die demographische Modellrechnung zeigt, was unter
diesen Annahmen passiert. Größte Unbekannte ist die Zuwanderung.
Hier lassen sich die Trends der Vergangenheit nicht ohne weiteres
fortschreiben, weil es in der jüngeren Vergangenheit Jahre mit
hoher und solche mit geringer Zuwanderung gab. Außerdem gibt es,
anders als bei der durchschnittlichen Kinderzahl, eine stärkere
Möglichkeit der politischen Steuerung von Zuwanderung.
Schließlich können demographische Prognosen keine unerwarteten
Ereignisse vorhersagen.
Solbach: Welche unerwarteten Ereignisse gab es in der
Vergangenheit?
Münz: Das können zum Beispiel Kriege sein. Man muss
allerdings sagen, dass ein Krieg, in den ein größerer Teil der
deutschen oder westeuropäischen Bevölkerung involviert wäre, aus
heutiger Sicht sehr unwahrscheinlich ist. Aber solche Ereignisse
gab es auch in jüngerer Zeit. Der Krieg in Bosnien forderte in den
Jahren 1993-1995 mindestens 200 000 Todesopfer. Fast 2 Millionen
Menschen mussten aus ihren Heimatgemeinden fliehen oder wurden von
dort vertrieben. Die Mehrzahl wurde zu Binnenvertriebenen, mehrere
100.000 flohen ins europäische Ausland. Es gab zwar schon kurz vor
und nach dem Tod Titos Kommentatoren, die einen blutigen Zerfall
Jugoslawiens prophezeiten, aber kein Bevölkerungswissenschaftler
hat dies vor 25 Jahren in ein Szenario einbezogen. Epidemien, bei
denen sich neuartige Krankheiten verbreiten, gegen die unser
Immunsystem nicht ausreichend gewappnet ist, lassen sich ebenfalls
schlecht vorhersagen. Es gibt in weiten Teilen der Welt Angst vor
einer Ausbreitung der Vogelgrippe. Die Hauptsorge gilt einer
genetischen Veränderung des Virus, wodurch diese Krankheit in
Zukunft nicht nur vom Tier auf den Menschen, sondern auch von
Mensch zu Mensch übertragen werden könnte. Dann gäbe es vermutlich
eine Situation wie in den Jahren 1918 bis 1922, als die so genannte
spanische Grippe innerhalb von drei Jahren wesentlich mehr Menschen
dahinraffte, als der gesamte Erste Weltkrieg an allen Fronten an
Todesopfern gefordert hatte.
Solbach: Es wird behauptet, dass solche Einbrüche - sei es
die Pest, seien es eine Grippe oder andere Epidemien - niemals
Zahlen produziert hätten, wie der Einbruch der Geburtenrate hier in
Deutschland.
Münz: Das hängt davon ab, welches Niveau wir für ›normal‹
halten. Geht man davon aus, dass Frauen in Deutschland um 1850 im
Schnitt mehr als vier Kinder bekamen, dann ließe sich aus den
Geburtenrückgängen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein
beträchtliches Defizit errechnen. Trotzdem ist die Zahl der
Deutschen sowie die Zahl der Einwohner auf dem Boden des heutigen
Deutschland in den letzten 130 Jahren deutlich gewachsen. Bis in
die 1960er Jahre lag dies vor allem am Geburtenüberschuss, seit
1970 vor allem an der Zuwanderung. Erst in den Jahren 2004 und 2005
schrumpfte die Einwohnerzahl, weil nun - politisch durchaus gewollt
- nicht mehr so viele Zuwanderer nach Deutschland kommen. Ein
Vergleich mit früheren Epidemien zeigt den Unterschied. Die Pest
raffte im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit in vielen
Regionen Deutschlands und in anderen Teilen Europas mehr als die
Hälfte der Bevölkerung hinweg. Es gibt hingegen bislang keine
Region Europas, wo sich die Bevölkerung durch Geburtenrückgänge
seit 1970 halbiert hätte.
Es gibt allerdings Regionen, wo heute wesentlich weniger Menschen
leben als vor fünfzig Jahren. Es gibt griechische Inseln, die -
zumindest im Winter - kaum bewohnt sind. Es gibt in
Zentralfrankreich, in Zentralspanien, im italienischen Appenin
Gegenden, wo kaum noch Menschen leben. Aber das hat vor allem mit
der Abwanderung jüngerer Leute zu tun hat. Da setzt sich dann eine
Art »Abwärtsspirale« in Gang: Wenn es kaum junge Erwachsene gibt,
leben irgendwann nur noch alte Leute in den sich entvölkernden
Dörfern. Die alten Leute sterben weg und die Kinder nützen die
Häuser ihrer Eltern teils nur noch als Urlaubsquartiere.
Solbach: Alle Zahlenmodelle gehen von einem signifikanten
Anstieg der so genannten ›ausländischen Bevölkerungsanteile‹ an den
europäischen Gesamtbevölkerungen aus. Der Begriff ist mehrdeutig,
er bezeichnet das Feld unterschiedlicher Staatsbürgerschaften,
akuter Einwandererzahlen und bestehender Integrationsprobleme der
seit längerem Zugewanderten und ihrer Nachkommenschaft. Offenkundig
setzen die Modelle die ungebrochene Attraktivität der betreffenden
Gesellschaften, anhaltende ökonomische Erfolge und einen
entsprechenden Bedarf an Arbeitskräften voraus. Kann man den Mix,
der die Attraktivität einer Gesellschaft für Zuwanderer ausmacht,
faktoriell bestimmen und quantifizieren?
Münz: Entscheidend für die Betrachtung ist nicht in erster
Linie die ›ausländische Bevölkerung‹, sondern die im Ausland
geborene Bevölkerung. Denn die Zahl der Ausländer hängt nicht
allein von der Zuwanderung, sondern genauso vom
Staatsbürgerschaftsrecht und von der Einbürgerungspraxis eines
Landes ab. Manche Länder bürgern großzügiger ein, andere verfahren
restriktiv. Es gibt Länder, deren Staatsbürgerschaftsrecht
bestimmt, dass im Inland geborene Kinder von Zuwanderern ebenfalls
nur Staatsbürger des ausländischen Herkunftslands ihrer Eltern
werden. Andere Länder bürgern im Inland geborene Kinder schon bei
der Geburt ein, egal welche Staatsbürgerschaft die Eltern haben.
Aus demographischer Sicht ist die Frage relevant: Wie viele
Menschen haben ihren Geburtsort außerhalb des Landes, das ich
analysiere?
Für Deutschland können wir das sagen: Es sind etwa zehn Millionen
Menschen. Das Statistische Bundesamt hat erst unlängst auf
Grundlage des Mikrozensus festgestellt, dass etwa 15 Millionen
Menschen einen so genannten Migrationshintergrund haben, also
selber zugewandert sind oder wenigstens einen zugewanderten
Elternteil haben. Von diesen 15 Millionen Einwohnern Deutschlands
mit ›Migrationshintergrund‹ besitzen mehr als die Hälfte die
deutsche Staatsbürgerschaft. Denn auch eingebürgerte Deutsche und
Aussiedler, die aus Kasachstan und Russland, früher auch aus Polen
und Rumänien nach Deutschland kamen, sind Zuwanderer. Sie haben
ihren Geburtsort im Ausland, aber sie sind ihrem Pass nach
keineswegs Ausländer.
Jetzt ist die nächste Frage: Wo gehen die Menschen hin? Da gibt es
kulturelle Faktoren, die eine Rolle spielen. Deutschstämmige
Aussiedler aus Kasachstan oder Russland gehen am ehesten nach
Deutschland. Zum einen, weil Deutschland ihnen in der Vergangenheit
am ehesten die Tür öffnete und ihnen auch sofort die deutsche
Staatsbürgerschaft verlieh. Zum anderen gab und gibt es hier so
etwas wie tatsächliche kulturelle Nähe oder zumindest vermutete
kulturelle Nähe. Bei genauerem Hinsehen stellt sich natürlich auch
bei dieser Bevölkerung die Frage nach der wirtschaftlichen und
sozialen Integration, denn deutschstämmig in der ehemaligen
Sowjetunion oder ihren Nachfolgestaaten gewesen zu sein, bedeutet
keineswegs, hierzulande später auch als Deutscher unter Deutschen
akzeptiert zu werden.
Ähnliches gilt für andere Zuwanderer, die keinen ethnisch deutschen
Hintergrund haben. Die gehen zum einen dorthin, wo sie Verwandte
oder Bekannte haben. Beim Familiennachzug steht dies sogar im
Zentrum der Migrationsentscheidung. Zuwanderer gehen zum anderen an
Orte, wo sie für sich und ihre Kinder Einkommens- und
Aufstiegschancen vermuten. Dabei sehen wir, dass Deutschland im
Moment weniger attraktiv als andere Länder ist. Aufgrund der
insgesamt schlechten Arbeitsmarktlage sehen viele potentielle
Neuzuwanderer ihre ökonomische Zukunft derzeit nicht in erster
Linie in Deutschland. Zugleich sehen wir, dass deutsche
Staatsbürger in größerer Zahl das Land verlassen und ausländische
Bürger in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Es war auch in der
Vergangenheit so, dass in Jahren der Hochkonjunktur mehr Menschen
nach Deutschland gekommen sind als in Jahren mit hoher
Arbeitslosigkeit.
Die Europäische Union hat im Moment 462 Millionen Einwohner. Rund
41 Millionen sind in einem anderen Land zur Welt gekommen. Dabei
handelt es sich sowohl um Migranten aus anderen EU-Staaten als auch
um Leute, die aus Drittstaaten in die EU kamen. Diese 41 Millionen
machen mehr als acht Prozent der Bevölkerung West- und
Mitteleuropas aus.
Angesichts alternder und potentiell schrumpfender einheimischer
Bevölkerungen gibt es zwei Perspektiven: Könnte die demographische
Schrumpfung zu einer deutlichen Verlangsamung des
Wirtschaftswachstums, vielleicht sogar zur ökonomischen Stagnation
und zu Wohlstandsverlusten führen? Dann würden die Länder Europas
auch für Zuwanderer immer weniger attraktiv. Oder eröffnet diese
demographische Entwicklung eine Chance, weil dadurch Lücken auf dem
Arbeitsmarkt entstehen, die vorrangig mit Zuwanderern gefüllt
werden? Dazu müssten die europäischen Länder zu einer pro-aktiven
Anwerbepolitik zurückkehren, allerdings mit einem stärkeren Fokus
auf hoch qualifizierte Migranten.
Ich selbst halte es für wahrscheinlich, dass es in Zukunft wieder
mehr aktive Anwerbung von Arbeitskräften, insbesondere von
qualifizierten Arbeitskräften, geben wird. Großbritannien und
Frankreich korrigierten im Sommer 2006 ihre Migrationspolitik in
diesem Sinne. Qualifizierte werden sich dort zukünftig leichter
niederlassen können. In Deutschlands Regierungskreisen gibt es
darüber immerhin eine Diskussion.
Solbach: Die europäischen Länder stehen, anders als die USA
oder Australien, vor der Frage, ob sie sich als Einwanderungsländer
verstehen sollen oder nicht. In Deutschland neigt man neuerdings
dazu, die bestehenden Aversionen gegen das Wort zu vergessen. Geht
die Gleichung Ökonomie statt Herkommen auf oder stehen den
europäischen Staaten beträchtliche Stürme ins Haus? Gibt es
bevölkerungsstatistische Daten, durch die sich traditionelle
Nationalstaaten von Staaten anderen Typus' unterscheiden?
Für mich steht da auch die Frage im Hintergrund: Sind die
europäischen Länder überhaupt Einwanderungsländer? Ist Deutschland
nicht viel eher ein Zuzugsland als ein Einwanderungsland? Und wird
der so genannte Einwanderer oder Zugezogene nicht konfrontiert mit
einer kompakten Nationalität, die ihn als ›Anderen‹ betrachtet,
anders als in Ländern wie den USA? Das muss ja nicht feindselig
sein.
Münz: Klassische Einwanderungsländer, zu denen heute die
USA, Kanada, Australien und Neuseeland, historisch aber auch Länder
wie Argentinien, Chile oder Brasilien gehören, unterscheiden sich
von europäischen Nationalstaaten in einem wesentlichen Punkt: Dort
besteht die Mehrheit der Bevölkerung aus Zuwanderern und deren
Nachfahren. Und es gibt so etwas wie einen nationalen
Gründungsmythos, der auf die Zuwanderung des 17. bis 19.
Jahrhunderts verweist. Sieht man sich bloß die Zahl der im Ausland
zur Welt gekommenen Einwohnerinnen und Einwohner an, bestehen etwa
zwischen Deutschland und den USA keine großen Unterschiede. Die
zehn Millionen Einwohner Deutschlands mit Geburtsort im Ausland
machen etwa zwölf Prozent der Bevölkerung aus. Rund 36 Millionen
Zuwanderer in den USA stellen einen ähnlich großen Prozentsatz der
amerikanischen Bevölkerung dar. In absoluten Zahlen hat Deutschland
wesentlich mehr Zuwanderer als Kanada und Australien. Nicht so sehr
die Zahl der Zuwanderer ist für das Selbstverständnis entscheidend,
sondern wie der Gründungsmythos oder das Grundverständnis der
jeweiligen Gesellschaft aussieht. Dabei spielt Sesshaftigkeit in
der Vorstellung der Deutschen eine wichtigere Rolle als in den USA
oder in Kanada. Dort haben die meisten Einwohner, auch jene, die
selbst nicht zugewandert sind, die Herkunft ihrer Vorfahren aus
einer europäischen, asiatischen oder lateinamerikanischen
Gesellschaft im Bewusstsein und leiten daraus einen Teil ihrer
Identität ab. Dagegen versteht sich Deutschland in erster Linie als
Nation derer, die ursprünglich schon da waren.
Es gibt in Europa unterschiedliche Typen von Nationalstaaten. In
mehreren Ländern Europas gibt es keine dominante oder für das
Staatsverständnis konstitutive ethnische Gruppe. Diese Länder sind
in sich heterogen. Klassische Beispiele wären die Schweiz und
Belgien, man könnte allerdings auch Großbritannien dazu zählen,
weil das Vereinigte Königreich mit Schottland, Wales und
Nord-Irland auch Regionen umfasst, die keine englische Identität
besitzen. Ähnliches gilt immer stärker auch für Spanien, wo sich
zumindest Katalanen und Basken als eigenständige ethno-kulturelle
Gruppen verstehen.
Es gibt den Fall Frankreichs, wo eine vom Gründungsmythos der
Französischen Revolution hergeleitete republikanische Identität im
Vordergrund steht, die sich ausdrücklich nicht an ethnischer,
regionaler oder religiöser Herkunft orientiert. Dagegen gibt es im
Osten und Südosten Europas vorwiegend Nationalstaaten gibt, die
ganz stark auf ethno-nationaler oder ethno-religiöser Grundlage
beruhen. Dort definiert sich die Zugehörigkeit zu einer Gründer-
oder Staatsnation im Wesentlichen über die Abstammung und die
ethnische Zugehörigkeit. Beispiele dafür wären etwa das Baltikum,
Polen, Tschechien und die Slowakische Republik. Besonders sichtbar
wird das in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens, wo die Zugehörigkeit
zur jeweiligen Nation über die ethno-kulturelle oder
ethno-religiöse Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Serben, Kroaten,
Bosnier, Albaner definiert wird. Eben deshalb spielen sich
politische Konflikte entlang der Trennlinien zwischen ethnischen
Gruppen ab.
Wodurch sich ›ethnische Zugehörigkeit‹ konstituiert, steht nicht
von vornherein fest. In Nordirland steht zum Beispiel auch bei
jenen, die kirchenfern oder sogar explizit atheistisch sind, die
religiöse Herkunft der Familie im Vordergrund. Zumindest in
Nordirland kann man weder protestantischer Ire noch katholischer
Unionist sein. Genauso wenig gibt es in Bosnien muslimische Serben
oder serbisch-orthodoxe Kroaten. Im Gegensatz dazu spielt die Frage
der Religionszugehörigkeit in Deutschland - zumindest was die
Differenz zwischen Katholiken und Protestanten betrifft - für die
Zugehörigkeit zur Nation heute überhaupt keine Rolle. Das war nicht
immer so. Unter Bismarck galten Katholiken als innere Reichsfeinde.
Denn lange dominierte die Vorstellung, dass man als guter Preuße
eigentlich nur Protestant sein konnte. Es gibt andere Beispiele:
Gustav Mahler war jüdischer Herkunft und musste sich taufen lassen,
bevor er im späten 19. Jahrhundert Direktor der Wiener Staatsoper
(damals noch Hofoper) werden konnte.
Dieses Beispiel zeigt, dass sich unser Zugang zu diesem Thema im
Laufe der letzten 100 bis 150 Jahre deutlich verändert hat. Denn
heute würden wir im Ernst von keinem Zuwanderer verlangen, zum
katholischen oder protestantischen Glauben zu konvertieren.
Allerdings müssen wir - und damit kommen wir zur Ausgangsfrage
zurück - folgendes feststellen: Ganz offensichtlich ist es für
Zuwanderer schwieriger, sich in eine Gesellschaft zu integrieren,
die sich selbst als kompakte Abstammungsnation versteht. Etwas
leichter ist dies in Gesellschaften, in denen Differenz in höherem
Maße akzeptiert wird.
Solbach: Zum Thema Integration noch eine Frage: Man hat
immer wieder von Rückkehrprogrammen gehört. Nach neueren
Untersuchungen sind aber Programme erfolgreicher, die Migranten für
den Heimatmarkt qualifizieren und zugleich ihre soziale Integration
begünstigen. Sind das Programme, die auch für Deutschland
interessant wären, und mit denen eine höhere Mobilität in beide
Richtungen - also Integration und Rückkehr - erreicht werden
könnte?
Münz: Wir haben es lange Zeit versäumt, uns ernstlich der
Frage nach Zielen und Bedingungen erfolgreicher Integration von
Zuwanderern zu stellen. Dies hat mit der lange Zeit vorherrschenden
Vorstellung zu tun, eher Durchgangs-, aber kein Einwanderungsland
zu sein.
Solbach: Und mit Multikulti-Vorstellungen.
Münz: Für manche galt in der Vergangenheit: je bunter, umso
besser! Manche sahen dabei vor allem die kulturelle Bereicherung.
Für andere hatte die Begeisterung auch mit einem problematischen
Verhältnis zur eigenen Herkunft zu tun. Gerade im Falle
Deutschlands lässt sich zeigen, dass die Begeisterung für den
Multikulturalismus auch auf ein gebrochenes Verhältnis zum eigenen
›Deutschtum‹ verwies. Das ist nicht in allen Ländern so. In
Großbritannien wurde das Entstehen multikultureller
Parallelgesellschaften indirekt gefördert, weil die Vorstellung
vorherrschte, ethnische Identität sei genauso Privatsache wie
Religion, in die sich der Staat nicht einmischt, und wenn es
Waliser, Schotten und Engländer nebeneinander geben könne, könne es
auch britische Muslime mit einer eigenen Identität geben.
Jedenfalls gab es lange Zeit keine verbindliche Vorstellung davon,
was ›Britishness‹ eigentlich ausmacht. Identität galt genauso als
Privatsache der Bürger wie die Religion. Denn trotz der Existenz
zweier Staatskirchen, der anglikanischen Kirche oder der Church of
Scotland, besteht eine beträchtliche Äquidistanz des Staates
gegenüber Religion und nationaler Identität. Erst die Beteiligung
junger britischer Muslime an der Planung und Durchführung von
Terroranschlägen führte in Großbritannien zu einer Grundsatzdebatte
über diese Fragen.
Auch in Deutschland beschäftigen wir uns erst in jüngerer Zeit
aktiv mit der Frage: Welchen Werten sollen Zuwanderer verpflichtet
sein? Woran wollen wir den Erfolg von Integration messen? Was
dürfen wir verlangen, was nicht?
Solbach: Welche Rolle spielen Sprachkenntnisse in diesem
Zusammenhang.
Münz: Ohne Kenntnis der Sprache des Ziellandes, in unserem
Fall also der deutschen Sprache, kann es keine erfolgreiche
Integration geben. Darüber hinaus stellt sich die Frage: Soll man
die Muttersprache aus dem Herkunftsland stützen oder nicht? Anfangs
wurde dies mit Blick auf die mögliche Rückkehr ins Herkunftsland
diskutiert. Muttersprachlicher Zusatzunterricht wurde daher lange
Zeit nur angeboten, um eines Tages die Rückkehr (vielleicht sogar
die Abschiebung) zu erleichtern. Später wurde argumentiert, es
handele sich um kulturelle Kompetenzen, von denen auch das Zielland
profitieren sollte; gut sei es, wenn ein Teil der Bevölkerung
Mandarin, Serbisch, Mazedonisch, Türkisch oder Kurdisch spricht.
Schließlich setzte sich ein pädagogisches und
sprachwissenschaftliches Argument durch: Wer die Herkunftssprache
nicht beherrscht, kann auch die Sprache des Ziellandes nicht
richtig erlernen.
Es waren bisweilen dieselben Lehrerinnen und Lehrer, die in allen
drei Modellen beinahe denselben Sprachunterricht erteilten, jeweils
mit einer anderen Rechtfertigung. Aber ich möchte nochmals betonen:
Zuwanderer müssen jedenfalls auch in die Lage versetzt werden, die
Sprache der Mehrheitsbevölkerung in ausreichendem Maße zu
beherrschen.
Solbach: Wie groß und wie gerichtet ist die Binnenwanderung
innerhalb der EU? Gibt es eine Tendenz zur Integration innerhalb
der EU, die sich signifikant von den Verhältnissen unterscheidet,
die zwischen den EU-Ländern und ihren Nachbarn unterscheidet? Oder
gilt der alte Satz, dass der Wohlstandstransfer innerhalb der
Gemeinschaft die Bereitschaft zur Migration in den ärmeren Ländern
mindert?
Münz: Es gab in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
starke Wanderungen zwischen europäischen Staaten, da nach 1950 fast
alle Länder Nordwesteuropas eine Zeitlang Arbeitskräfte aus anderen
europäischen Ländern anwarben. Die meisten dieser Arbeitsmigranten
kamen aus Mittelmeer-Anrainerstaaten. Ihnen folgten später
nachziehende Familienangehörige. Diese Wanderung kam ab einem
bestimmten Wohlstandsniveau der Herkunftsländer zum Stillstand oder
verkehrte sich sogar in ihr Gegenteil. Auch etliche schon länger
bei uns lebende Arbeitsmigranten kehrten inzwischen wieder ins
Herkunftsland zurück.
Deutschland holte beispielsweise Zuwanderer aus Ländern wie
Italien, Spanien und der Türkei. In Italien und Spanien entstanden
zwischenzeitlich funktionierende Binnenarbeitsmärkte. Die
Auswanderung aus diesen Ländern kam zum Stillstand, während etliche
der ausgewanderten Italiener und Spanier in ihr Herkunftsland
zurückkehrten. Aus der Türkei sehen wir heute zumindest eine
Abschwächung der Zuwanderung nach Deutschland und wachsende
Rückkehrbereitschaft. Durch das starke Wirtschaftswachstum im
Westen der Türkei entsteht für etliche türkische Migranten ein
Anreiz, dorthin zurückzugehen. Auch manche in Deutschland geborene
Kinder türkischer Zuwanderer suchen ihre Zukunft inzwischen eher im
Heimatland der Eltern als in Deutschland. Zugleich reflektiert dies
die schlechte Arbeitsmarktsituation sowie die geringen
Aufstiegschancen jugendlicher Zuwanderer und Angehöriger der so
genannten zweiten Generation in Deutschland.
Die zweite bedeutende innereuropäische Wanderung findet in
ost-westlicher Richtung statt. Sie gewann durch den Fall des
Eisernen Vorhangs sowie durch den Zerfall Jugoslawiens und der
früheren Sowjetunion zusätzlich an Bedeutung. Diese
Ost-West-Wanderung war vor 1989 auch politisch motiviert und
erklärt sich seither vor allem aus dem bestehenden
Wohlstandsgefälle. Zugleich spielen Fälle von Diskriminierung,
Verfolgung oder sogar Vertreibung von Angehörigen ethnischer
Minderheiten sowie gewaltsame Konflikte und Bürgerkriege eine
Rolle. Zum Teil erklärt sich diese Wanderung auch aus der
›Einladung‹ einiger westeuropäischer Staaten an Angehörige
bestimmter Minderheiten jenseits des inzwischen gefallenen Eisernen
Vorhangs. Dazu gehören ethnisch deutsche Aussiedler, ethnische
Griechen Ingerman-Finnen etc. Aber auch Polen und die Baltischen
Staaten bemühten sich um die Repatriierung von Landsleuten, die
unter Stalin nach Sibirien, Kasachstan oder Zentralasien deportiert
wurden.
Diese Ost-West-Wanderung hält an und wurde durch den Beitritt
ostmitteleuropäischer Staaten zur EU sogar noch verstärkt; schon
deshalb, weil es für Polen, Litauer und andere Bürger neuer
EU-Staaten inzwischen legal möglich ist, in Irland, in
Großbritannien und seit dem 1. Mai 2006 auch in Spanien, Portugal,
Griechenland oder Finnland zu arbeiten. Etliche Polen, die vorher
als irreguläre Beschäftigte in Deutschland Arbeit gefunden hatten,
sind inzwischen lieber legal in Großbritannien beschäftigt. Auch
das ist sicher ein Übergangsphänomen, denn Polen hat ähnlich wie
die westeuropäischen Staaten eine steigende Lebenserwartung und
eine sehr niedrige Kinderzahl pro Frau. Die polnische Bevölkerung
sinkt jedes Jahr um eine nennenswerte Zahl. Es ist daher absehbar,
dass es irgendwann auch in Polen mehr Zu- als Abwanderung geben
wird. In der Tschechischen Republik, in Slowenien und in Ungarn ist
dies bereits heute der Fall. Demnächst wird es auch in der Slowakei
mehr Zuwanderung als Abwanderung geben. Es ist gut vorstellbar,
dass nach der nächsten EU-Erweiterungsrunde, ähnliches in Rumänien
und Bulgarien passieren wird. Anfangs könnte es zwar eine
Auswanderungswelle geben, doch ähnlich wie nach dem EU-Beitritt
Spaniens, Portugals und Griechenlands, könnten in zehn bis fünfzehn
Jahren mehr Bulgaren und Rumänen nach Hause zurückkehren, während
Ukrainer oder Moldawier nach Bulgarien und Rumänien einwandern.
Solbach: Beim Thema der Geburtenzahlen wird man in
Deutschland hellhörig. Vielen schmeckt es nicht, wie das Land mit
Japan und Italien, neuerdings mit Russland und Spanien um negative
Rekordmarken konkurriert. Offenkundig fehlen schlüssige Erklärungen
des Phänomens. Welche Korrelationen stehen außer Frage? Wodurch
unterscheiden sich die genannten Länder von anderen, etwa den USA,
England oder Frankreich? Liegt es am unterschiedlichen
Bevölkerungsmix, am unterschiedlichen Wertekanon oder an der
signifikant anderen Lage der ›arbeitenden Frau‹ in den betreffenden
Staaten?
Münz: Es gibt auf jeden Fall einen Einfluss dessen, was Sie
hier als Bevölkerungsmix umschrieben haben. In den USA, aber auch
in Frankreich und in Großbritannien gibt es mehr Zuwanderer aus
Herkunftsländern, in denen die Kinderzahlen hoch sind. Im Falle der
USA sind das vor allem lateinamerikanische Länder, aber auch die
Philippinen. Im Falle Frankreichs sind es im Wesentlichen
Zuwanderer aus Nord- und Westafrika. Im Falle Großbritanniens
spielt die Zuwanderung aus Südasien - Bangladesch, Indien und
Pakistan - eine Rolle. Allerdings zeigt sich, dass
Zuwanderer-Gruppen ihre Familiengröße mit der Zeit an jene der
Mehrheitsbevölkerung anpassen.
Von Einfluss auf die Kinderzahl ist auch die Vereinbarkeit (oder
Unvereinbarkeit) von Beruf und Elternschaft. Das ist vor allem für
Frauen und potentielle Mütter ein entscheidendes Thema. Vor allem
in Frankreich und den skandinavischen Ländern gibt es großzügigen
Elternurlaub und ein flächendeckendes, gut funktionierendes Netz an
Betreuungseinrichtungen für Kinder aller Altersstufen. Die
Vereinbarkeit von Beruf und Familie hat dort einen hohen
Stellenwert. Zugleich dürfen wir annehmen, dass sich Männer in
Skandinavien mehr im Haushalt und bei der Erziehung ihrer Kinder
engagieren, als ihre Geschlechtsgenossen in Ostmitteleuropa und in
Südeuropa. All dies vermag Frauen die Entscheidung für ein Kind zu
erleichtern.
In den USA könnte auch die Tatsache eine Rolle spielen - eine
unüberprüfte Hypothese -, dass der Wohlfahrtsstaat weniger stark
ausgeprägt ist als in Europa. Deshalb werden Kinder vielleicht
nicht bloß als Kostenfaktor, sondern auch als risikomindernde
Zukunftsinvestition gesehen; etwa für den Fall längerer
Arbeitslosigkeit oder längerer Krankheit eines Elternteils. In
Westeuropa, in den alten fünfzehn EU-Mitgliedsstaaten, Norwegen und
der Schweiz, sind der eigene Wohlstand und die Vorsorge gegen
bestimmte Lebensrisiken von der Kinderzahl völlig entkoppelt. Für
uns gilt sogar: Jene, die keine Kinder haben, verdienen im Laufe
ihres Lebens in der Regel mehr Geld, haben mehr Ersparnisse und
sind daher im Schnitt materiell besser abgesichert sind, als jene,
die mehrere Kinder groß ziehen.
Solbach: Es ist ja auch immer wieder vorgerechnet worden,
jedes Kind koste ein Einfamilienhaus.
Münz: Diese Rechnung stimmt vor allem dann, wenn man den
Einkommensverzicht bedenkt. Vor allem Mütter verdienen im Laufe
ihres Lebens weniger Geld als kinderlose Frauen. Entsprechend
niedriger ist später auch die Rente. Und allein erziehende Frauen,
vor allem Geschiedene, gehören in Deutschland zu einer besonders
armutsgefährdeten Gruppe.
Solbach: Man hat den demographischen Wandel, der den Ländern
Europas, insbesondere Deutschland, in den kommenden Jahrzehnten
bevorsteht, als ein nie zuvor beobachtetes Experiment größten
Umfangs bezeichnet und Zweifel geäußert, ob sich die ökonomischen,
sozialen, politischen und menschlichen Auswirkungen überhaupt
einigermaßen kalkulieren und unter Kontrolle halten lassen. Teilen
Sie diese Skepsis?
Münz: Der demographische Wandel erfolgt ganz langsam.
Alterung und Bevölkerungsschrumpfung sind Prozesse, die nicht von
heute auf morgen über uns hereinbrechen. Wir befinden uns mitten in
einer Periode des Übergangs, der sich über mehrere Jahrzehnte
hinzieht. Wenn wir das Problem nicht verdrängen, haben wir
ausreichend Zeit, uns auf die kommenden Veränderungen
vorzubereiten. Dabei gibt es mehrere Handlungsoptionen.
- Option eins liegt klar auf der Hand: länger arbeiten.
Darüber wird schon eine Weile diskutiert. Die Anhebung des
gesetzlichen Rentenalters ist in Deutschland beschlossene Sache.
Solange es jedoch - wie schon angesprochen -, keinen
funktionierenden Arbeitsmarkt für ältere Menschen gibt, bleibt die
Verlängerung der Lebensarbeitszeit eine leere Phrase. Denn ohne
Arbeitsplätze für Ältere bedeutet das höhere Rentenalter bloß eine
Periode längerer Arbeitslosigkeit vor Beginn der Rente. Aufgrund
steigender Lebenserwartung sollte längeres Arbeiten eigentlich
selbstverständlich sein. Es gibt in den meisten Fällen keine
gesundheitlichen Gründe, dass Menschen mit 57 Jahren in
Vorruhestand gehen. Das ist in der Regel bloß die Kehrseite einer
höchst unattraktiven Arbeitsmarktlage. Auch eine schrumpfende
Bevölkerung könnte ihre sozialen Sicherungssysteme im Gleichgewicht
halten, falls das Rentenantrittsalter jedes Jahr um den Zugewinn an
Lebenserwartung angehoben würde. Dabei müsste das Rentenalter um
etwa drei Monate pro Jahr steigen, was ungefähr dem zu vermutenden
Zuwachs an Lebenserwartung im Laufe eines Jahres entspricht. Das
würde allerdings auch eine stärkere Anhebung bedeuten, als der
Anstieg von 65 auf 67 Jahre, der bis ins Jahr 2023 geplant ist,
denn bis dahin wird die Lebenserwartung möglicherweise um vier
Jahre steigen. Damit würden die Deutschen trotz Anhebung des
Rentenalters nach 2020 länger in Rente sein als heute.
Solbach: Aber wäre das nicht trotzdem unter Umständen
ungerecht? Es gibt Untersuchungen, die sagen, dass Leute, die
besser ausgebildet sind, die mehr verdienen, auch eine höhere
Lebenserwartung haben als Leute, die in ungeliebten Berufen
arbeiten, keine Ausbildung haben oder körperlich sehr anstrengende
Tätigkeiten verrichten, wenn für die alle dasselbe Rentenalter
gilt.
Münz: Ja, aber das ist heute schon so.
Solbach: Für viele gilt, dass sie das Rentenalter bereits
heute nur mit Mühe erreichen - oder gar nicht.
Münz: Das war früher tatsächlich der Fall. Als unser
heutiges System der umlagefinanzierten Rente unter Bismarck
eingeführt wurde, lag das Rentenalter anfänglich bei 70 Jahren, die
durchschnittliche Lebenserwartung hingegen bei etwa 40 Jahren.
Heute beziehen ältere Menschen im Schnitt 15 bis 25 Jahre lang ihre
Rente. Tatsächlich gibt es noch körperliche Schwerarbeit. Aber die
konzentriert sich auf wenige Berufsgruppen: zum Beispiel in Teilen
der Landwirtschaft, im Bergbau, in der Stahlproduktion, im Hoch-
und Straßenbau, bei Pflege von schwer Behinderten. Für große Teile
der Bevölkerung gilt dies jedoch nicht. Keine Schwerarbeit leisten
weite Teile des Öffentlichen Dienstes, wo der Vorruhestand ein weit
verbreitetes Phänomen ist. Völlige Gerechtigkeit bei der Rente gibt
es tatsächlich nicht. Zum Beispiel gibt es kein schlüssiges
Argument dafür, dass Frauen früher in Rente gehen können als
Männer. Früher wurde dies mit der ›Doppelbelastung‹ berufstätiger
Frauen legitimiert. Aber das frühere Rentenalter gilt ja auch für
kinderlose Frauen.
- Option zwei: Konsumverzicht. Entweder wir müssen jetzt einen
Kapitalstock ansparen, um zukünftig unsere Renten aufbessern zu
können. Das heißt, jetzt weniger ausgeben zu können. Oder wir
müssen später eine niedrigere Rente in Kauf nehmen. Ich kann mir in
diesem Modell den Zeitpunkt des Konsumverzichts aussuchen, aber
nicht, dass ich auf etwas verzichte. Auch höhere Beitragssätze zur
gesetzlichen Rentenversicherung bedeuten letztlich Konsumverzicht,
weil damit mein Aktiveinkommen kleiner wird.
- Option drei: Zuwanderung. Längerfristig würden wir Kinder,
die wir selbst nicht zur Welt gebracht haben, durch Zuwanderer
ersetzen. Wenig Qualifizierte kämen wahrscheinlich von selbst. Um
besser Qualifizierte müssten wir uns aktiv bemühen.
- Option vier: eine höhere Frauenerwerbsquote. Vergleicht man
die westdeutschen Frauenerwerbsquoten mit jenen in Skandinavien
oder der Schweiz, dann sieht man, dass es bei uns ein nicht
genutztes Potenzial gibt. Diese Option steht aber möglicherweise in
Konflikt mit dem Ziel, die Kinderzahlen pro Familie nicht weiter
sinken zu lassen.
Solbach: Und mit der Arbeitsmarktslage.
Münz: Zum jetzigen Zeitpunkt erleichtert die
Arbeitsmarktlage keineswegs höhere Frauenerwerbsquoten. Es gibt ja
auch erhebliche Schwierigkeiten, Langzeitarbeitslose, die schon
eine Weile Arbeitslosengeld II oder Hartz IV beziehen, wieder in
Lohn und Brot zu bringen. Das hat allerdings auch mit der Höhe
dieser Sozialleistungen zu tun. Wer einfache Arbeit annimmt,
verdient in der Regel nicht viel mehr.
Solbach: Ein Dilemma?
Münz: Es gibt jedenfalls eine klare Diagnose. Wir wissen,
was passieren wird. Die einheimische Bevölkerung altert und
schrumpft. Das ist ziemlich unausweichlich. Der Schrumpfungsprozess
hat schon eingesetzt. Es gibt klare Optionen des Umgangs damit:
höheres Rentenalter, höhere Frauenerwerbsquote, Konsumverzicht
und/oder Zuwanderung. Es ist jedoch politisch nicht leicht, sich
mit diesen Optionen auseinanderzusetzen. Denn alle vier Optionen
werden von weiten Teilen der Bevölkerung als Bedrohung und nicht
als Lösung wahrgenommen.
Solbach: Aber es sind doch auch sich gegenseitig
beeinflussende Faktoren, die schwer zu handhaben sind. Wie gesagt,
wir haben die schlechte Arbeitsmarktlage. Wenn sich dann die
Frauenerwerbsquote erhöht, bedeutet das entweder Minijobs oder mehr
Arbeitslose.
Münz: Zum einen sprechen wir nicht von Optionen für die
nächsten 12 oder 24 Monate. Es geht vielmehr um die Frage, wie wir
langfristig mit einer schrumpfenden Zahl junger Erwachsener in
Deutschland umgehen. Zum anderen ist das Arbeitsvolumen nicht mit
einer Geburtstagstorte vergleichbar, denn die Torte ist vor Beginn
der Party schon gebacken, und je mehr Leute am Tisch sitzen, umso
kleiner wird für jeden die eigene Tortenecke. Das Arbeitsvolumen
ist hingegen keine feste Größe. Mehr Erwerbstätige - und das
bedeutet auch mehr Gehaltsempfänger - erzeugen zusätzliche
Nachfrage. Insofern geht es nicht nur um die Verteilung der Arbeit,
sondern auch um die Frage, wie viel produktive Arbeit die in
Deutschland lebenden Menschen und eventuell hinzu kommende
Migranten zukünftig leisten können. Würden wir jedes Jahr 25.000
oder später einmal 50.000 hoch qualifizierte Arbeitskräfte ins Land
holten, entstünden sehr wahrscheinlich neue Produkte und
spezifische Dienstleistungen, aber auch Handels- und
Austauschbeziehungen zu bestimmten Weltregionen, die heute noch
nicht existieren. Es ist also möglich, durch Zuwanderung Angebot
und Nachfrage gleichzeitig zu steigern und damit ein höheres
Bruttoinlandsprodukt zu erzeugen.
Solbach: Der Nationalstaat hat Europa und der Welt neben
Diktatur, ethnischen Verfolgungen und Weltkriegen auch liberale
Rechtsverfassungen, Demokratie und den Wirtschaftsliberalismus
beschert. Es scheint, dass schon aus demographischen Gründen die
Tendenz vom Nationalstaat europäischer Prägung wegführt. Werden
sich Staat und Gesellschaft auseinander entwickeln, oder kann es
gelingen, die ›res publica‹, die im Bewusstsein der
Gesellschaftsglieder verankerte Verantwortung für das Allgemeine in
Anbetracht stärkerer ethnischer und kultureller Differenzierungen
zu erhalten? Was unterscheidet ›Bevölkerung‹ und ›Volk‹ und wie
gehen sie ineinander über?
Münz: Historisch gesehen sind ›Volk‹ und ›Bevölkerung‹
politische Begriffe. Mit ihnen sollte nicht bloß etwas bezeichnet,
sondern ursprünglich auch etwas bewirkt werden. Mit ›Volk‹
verbindet sich ab Herder und Fichte die Vorstellung einer
ursprünglich kulturell definierten Gemeinschaft mit einem
spezifischen Volksgeist und einer Volksseele. Jakob und Wilhelm
Grimm sammeln Volksmärchen und beginnen ein Wörterbuch der
deutschen Sprache. Solche Projekte hatten damals auch eine
politische Stoßrichtung. Denn sie beförderten die Vorstellung, dass
›Völker‹ unabhängig von jeweiligen Herrschaftssystemen existieren
und sich von diesen befreien können. Das war eine Absage sowohl an
die deutschen Fürstenstaaten wie auch an übernationale Reiche wie
jenes der Habsburger. Von Zeitgenossen wurde die Donaumonarchie
daher auch als ›Völkerkerker‹ bezeichnet. Die Vorstellung von
›Volk‹ als einer durch Kultur und Abstammung definierten
Gemeinschaft zielte letztlich auf die Schaffung von Nationalstaaten
auf ethnischer Grundlage. Das führte in Europa sowohl zu
Verfassungsstaaten, die eine bestimmte ethnische Gruppe als
Staatsvolk definieren; aber auch zu Diktaturen auf Grundlage
völkischer Ideologien.
Dagegen ist ›Bevölkerung‹ ursprünglich ein aus dem Französischen
ins Deutsche übersetzter Terminus technicus. Dahinter steht der
Begriff ›peuplieren‹, also ›be-völkern‹, womit die systematische
Ansiedlung von Menschen in einer bestimmten Region gemeint ist: ein
hauptsächlich im absolutistischen und merkantilistischen Staat
übliches Verfahren zur Urbarmachung von Land. Im Deutschen wurde
der Begriff erstmals im Jahr 1691 vom Dichter und Sprachforscher
Caspar Stieler verwendet. Ein klassisches Beispiel wäre die
Trockenlegung des Oderbruchs und die systematische Ansiedlung von
Menschen in diesem bis dahin unbewohnten Teil Preußens. Oder die
Verwüstungen im Dreißigjährigen Krieg sowie nach Pestepidemien und
die danach erfolgte systematische Ansiedlung von Hugenotten,
Salzburger Protestanten oder Böhmischen Brüdern. Das heißt, hinter
dem Wort ›Bevölkerung‹ steckt die Vorstellung, dass es sich um eine
mit Mitteln des merkantilistischen Staates administrativ
hergestellte Population handelt. Hinter dem Begriff ›Volk‹ steht
dagegen etwas angeblich Naturwüchsiges, das schon vor dem Staat
existiert.
Im Englischen haben die Begriffe ›people‹ und ›nation‹ eine etwas
andere Konnotation und werden daher auch im klassischen
Einwanderungsland USA verwendet. ›Nation‹ und Staatsvolk sind dort
- ganz ähnlich wie in Frankreich - als Gemeinschaft definiert, die
sich durch politische Willensbildung und gemeinsame Überzeugungen
definiert.
Solbach: Wonach ich gefragt habe, ist eine Entwicklung zu
einem ›Wir‹ oder so etwas wie dem ›volonté générale‹ im
Rousseauschen Sinne. Also eine Identifikation, die auch
Verantwortung für das Allgemeinwohl übernimmt.
Münz: Durch Zuwanderer, die für längere Zeit oder auf Dauer
im Zielland bleiben, stellt sich die Frage nach dem ›Wir‹
tatsächlich neu. Theoretisch müsste sie in Gesellschaften leichter
lösbar sein, die sich durch politische Zugehörigkeit und nicht
durch Abstammung definieren. Wie die jüngeren Entwicklungen in
Frankreich und Großbritannien zeigen, ist die Frage nach dem ›Wir‹
auch dort keineswegs gelöst. Jedenfalls entstehen durch Zuwanderung
Konflikte, die für manche europäischen Gesellschaften historisch
neu sind. Aber wie sich zeigt, führen diese Konflikte nicht
notwendigerweise zum Zerfall von Nationalstaaten.
Solbach: Wie verhält sich die sogenannte ›Wohlstandsdrift‹,
der Zuwanderungsdruck, der auf den westlichen Gesellschaften liegt,
zu den Wanderungsbewegungen in anderen Weltteilen? Ist das
überhaupt etwas Besonderes, was wir hier erleben oder ist es Teil
eines größeren Phänomens?
Münz: Zur Zeit leben auf der Welt etwas über 6,5 Milliarden
Menschen. Von ihnen leben laut UN-Statistiken 191 Millionen
außerhalb der Grenzen des Landes, in dem sie zur Welt gekommen
sind. Internationale Migranten machen somit drei Prozent der
Weltbevölkerung aus. Angesichts der enormen Wohlfahrtsunterschiede,
die es zwischen den einzelnen Ländern und Weltregionen gibt, müsste
dieser Prozentsatz eigentlich größer sein, wenn wirtschaftlicher
Wohlstand das einzige Kriterium für Wanderungsentscheidungen
bildete. Allerdings gibt es ohne Zweifel so genannte magnet
societies, also besonders attraktive Ziele von Zuwanderung, zu
denen die USA, Kanada und Australien, aber auch einige Länder der
Europäischen Union gehören. In diesen Ländern ist Zuwanderung ein
dauerhaftes Phänomen; und Zuwanderer stellen einen wachsenden Teil
der jeweiligen Bevölkerung. Diese Zuwanderer stammen zwar zum
überwiegenden Teil aus ärmeren Weltregionen. Aber zum Teil handelt
es sich auch um Angehörige dortiger Eliten und Mittelschichten.
Schaut man sich die Bildungszuwanderung in die USA an, vor allem
die Studierenden an Top-Universitäten und Colleges, dann wird klar,
dass auch Mittel- und Oberschichten von Schwellenländern, von
Ländern der dritten Welt ihre Kinder dort hin schicken. Da spielt
nicht die Wohlstandsdrift eine Rolle, sondern es geht einfach um
die Frage: Wo auf der Welt gibt es die beste Ausbildung für diese
jungen Menschen?
Solbach: Wo liegen die Hauptarbeitsfelder einer Politik, die
mit den Problemen einer forcierten Zuwanderung in Anbetracht
tendenziell rückläufiger Bevölkerungszahlen konfrontiert ist? Wie
gut beraten ist die Politik der europäischen Staaten in diesen
Fragen?
Münz: Es gibt Einwanderungsländer, die zumindest einen Teil
der Zuwanderung nach einem Punktesystem organisieren. Dazu gehören
Australien, Kanada und Neuseeland. Es gab einen ambitiösen Entwurf
Deutschlands, den man in den Vorschlägen der Süssmuth-Kommission
nachlesen kann. Der erste Entwurf des Zuwanderungsgesetzes enthielt
den Vorschlag, auch in Deutschland einen Teil der Zuwanderer nach
einem Punktesystem auszuwählen. Im komplizierten
Gesetzgebungsverfahren wurde dieser zukunftsweisende, der
pro-aktive Teil des Zuwanderungsgesetzes von der damals rot-grünen
Regierungsmehrheit fallengelassen, weil es von Seite der CDU/CSU
erheblichen Widerspruch gab. Inzwischen gibt es andere europäische
Staaten, die sich aktiv bemühen, high potentials
genannte oder besonders qualifizierte Menschen ins Land zu holen.
Großbritannien und Frankreich änderten zu diesem Zweck im Laufe des
Jahres 2006 ihre Einwanderungsgesetze, um für junge und gut
qualifizierte Migranten attraktiver zu werden. Frankreichs
Innenminister Nicolas Sarkozy sprach in diesem Zusammenhang von
einem Paradigmenwechsel: der migration subie zur
migration choisie; also von der erlittenen oder erduldeten
zur gewünschten oder gewählten Zuwanderung. Die Regierungen
Großbritanniens und Irlands sehen dies ähnlich. Auch von der
EU-Kommission in Brüssel kommen dazu prononcierte, positive
Stellungnahmen. Allerdings verfügt sie im Bereich der
Arbeitsmigration über keine besonders weit reichende Kompetenz.
Der Vergleich zeigt: Europäische Länder haben im Bereich der
Migrationspolitik ziemlich unterschiedliche Zugangsweisen. Dies hat
sowohl etwas mit den Arbeitsmarktbedingungen, als auch mit den
nationalen Sensitivitäten zu tun. Jedenfalls gibt es - soweit ich
dies beurteilen kann - kein Beratungsdefizit, sondern Zögerlichkeit
in der Umsetzung mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung. Denn
die Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger Europas sieht Zuwanderer
nicht als Chance, sondern eher als Bedrohung.
Solbach: Zum Abschluss eine vielleicht putzig wirkende
Frage: Wie viele Menschen verträgt die Schweiz? Anders gefragt:
Gibt es verlässliche Parameter für ein gedeihliches
Bevölkerungswachstum oder liegt die Zukunft in abnehmenden
Bevölkerungszahlen? Gibt es so etwas wie ein Optimum der
Bevölkerungsentwicklung?
Münz: In Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften gibt
es keine optimale Bevölkerung. Von optimaler Bevölkerung kann man
sinnvoller weise nur in Agrargesellschaften sprechen. Für sie lässt
sich je nach Klima und Bodenbeschaffenheit sagen, dass bei einem
gegebenen Stand der Anbautechnik und der verfügbaren Feldfrüchte
eine bestimmte Zahl von Kalorien pro Hektar oder Quadratkilometer
produziert werden kann. Weiß man, wie groß das urbare oder urbar zu
machende Land ist, kann man im Prinzip auch ausrechnen, wie viele
Menschen davon ernährt werden können.
Für industrielle und postindustrielle Gesellschaften sind solche
Überlegungen nicht sinnvoll. Heute sind nur noch drei bis vier
Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig. Sie erzeugen
mit modernen Mitteln häufig mehr Lebensmittel, als vom Rest der
Bevölkerung benötigt werden. Wir sind gerade in den
Industriegesellschaften mit Agrarüberschüssen konfrontiert. Für uns
stellt sich die Bevölkerungsfrage anders. Unser
Beschäftigungssystem und unsere Infrastruktur – Straßen, Schulen,
Krankenhäuser etc. – sind heute für eine bestimmte Anzahl von
Menschen ausgelegt und nicht für halb so viele oder für doppelt so
viele. Veränderungen der Einwohnerzahl erzeugen daher
Anpassungskosten. Am Beispiel der Schulen lässt sich dies gut
sehen. Wenn die Deutschen, insbesondere die Ostdeutschen immer
weniger Kinder bekommen, dann müssen mit einer kleinen zeitlichen
Verzögerung Schulklassen zusammengelegt und schließlich ganze
Schulen geschlossen werden. Das ist in Teilen Deutschlands heute
schon Realität.
Umgekehrt sehen wir: In Ländern wie Bolivien, dem Kongo, Jordanien,
Marokko oder Nigeria, müssten bei einem Bevölkerungswachstum von
drei Prozent pro Jahr im Prinzip alle fünf Jahre rund 20 Prozent
mehr Schulen, Krankenhäuser oder Jobs zur Verfügung gestellt
werden. Bevölkerungswachstum ist nicht an sich schlecht, sondern
die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze, Schulplätze,
Gesundheitseinrichtungen und Transportmittel überfordern Wirtschaft
und Gesellschaft. Und wir müssen davon ausgehen, dass schon die
Grundversorgung der Bevölkerung derzeit nicht ausreicht.
Solbach: Eine Berechnung der UN besagt, dass jährlich 3,4
Millionen Zuwanderer nach Deutschland kommen müssten, um das
gegenwärtige Verhältnis von arbeitender Bevölkerung und Rentnern zu
erhalten.
Münz: Die Rechnung bezieht sich nicht auf tatsächlich
Erwerbstätige. Sie zeigt, was nötig wäre, um die Relation zwischen
jüngeren Erwachsenen von 20 bis 60 Jahren und Älteren über 60
Jahren auf dem Stand des Jahres 2000 zu halten. Viel entscheidender
ist hingegen die Relation zwischen Beschäftigten - also Steuer- und
Beitragszahlern - und Rentnern, die von den Beitragszahlern
erhalten werden. Entscheidend dafür sind die Erwerbsquoten von
Männern und Frauen sowie das tatsächliche Rentenalter.
Solbach: Über drei Millionen Zuwanderer würden bedeuten,
dass 2050 in Deutschland etwa 299 Millionen Menschen leben.
Münz: Das ist als Modellrechnung richtig, soll aber keine
Prognose sein. Die Rechnung wurde nur gemacht, um zu zeigen, dass
sich die Alterung unserer Gesellschaft durch Zuwanderung nicht
aufhalten lässt. Damit ist klar, dass wir das Problem ohne Anhebung
des Rentenalters nicht lösen können.
Solbach: Brauchen wir überhaupt Bevölkerungswachstum in
Deutschland?
Münz: Bevölkerungswachstum ist für die Sicherung unseres
Wohlstandes nicht unbedingt nötig. Wirtschaftswachstum kann es auch
bei gleich bleibender Bevölkerung geben, wenn die Produktivität
steigt, also pro Kopf mehr erwirtschaftet wird. Auch der
Beschäftigungsumfang könnte bei einer stagnierenden Bevölkerung
unter Umständen erhöht werden. Wahrscheinlich nicht wachsen wird
bei einer schrumpfenden Bevölkerung der Konsum. Das kann für die
Binnennachfrage aus ökonomischer Sicht ein Problem darstellen.
Abnehmende Bevölkerungszahlen gibt es schon in Teilen Europas.
Selbst in den USA nimmt in einem Drittel aller Stadt- und
Landkreise die Bevölkerung ab. Auch in den wachsenden Ländern gibt
es also Schrumpfung. Genauso gibt es ein wachsendes und ein
schrumpfendes Deutschland: Bevölkerungswachstum gibt es in Hamburg
und Umgebung, im Raum Frankfurt, im Raum München, und am Oberrhein,
abnehmende Bevölkerungszahlen verzeichnen hingegen weite Teile
Ostdeutschlands, das Ruhrgebiet, das Saarland, der Südosten
Niedersachsens. Ähnliches gilt für Frankreich oder für Italien oder
Spanien. Nicht die Zahl der Menschen ist entscheidend. Wenn ich
jedoch ein bestimmtes Niveau der Versorgung mit öffentlicher
Infrastruktur, mit öffentlichen und privaten Dienstleistungen als
anstrebenswert definiere, dann stellt sich die Frage, wie ich
dieses Angebot an wachsende oder schrumpfende Bevölkerungen
anpassen kann. Mit Wachstum umzugehen, haben wir in der
Vergangenheit gelernt. Demographische Schrumpfung zu gestalten, ist
für uns noch eine Herausforderung.
Solbach: Deutschland müsste, um mit den Bevölkerungszahlen
der Zukunft arbeiten zu können, Werte bestimmen, Strukturen, die es
haben will, usw. Anders ausgedrückt, die Entscheidung zum Wachsen
oder Schrumpfen ist gleichzeitig eine Werteentscheidung?
Münz: Es gibt einerseits Werteentscheidungen, andererseits
Verteilungsentscheidungen. Man kann dies an einem konkreten
Beispiel diskutieren: In Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt
schrumpft die Bevölkerung. Damit stellt sich etwa die Frage: Wie
groß ist die zumutbare Distanz bis zur nächsten Schule? Will man
lieber Zwergschulen, in denen die Kinder mehrerer Altersstufen in
einer Klasse, aber dafür vor Ort unterrichtet werden? Oder wollen
wir ein differenziertes und gegliedertes Schulsystem an wenigen
zentralen Standorten, die schon viele Kinder zu Tagespendlern
machen? Eine andere Frage lautet: Soll man in schrumpfenden
Regionen durch Subventionen Arbeitsplätze vor Ort erhalten? Oder
sollten die Menschen doch besser in Bundesländer ziehen, wo es
(nicht subventionierte) Arbeit für sie gibt? Dann könnte man die
Mobilität sogar fördern und den Leuten Prämien fürs Übersiedeln
zahlen, wenn sie woanders einen Arbeitsplatz finden. Das sind
Fragen, die letztlich politisch entschieden werden müssen. Sind
solche Entscheidungen erst einmal getroffen, bremsen oder
verstärken sie den demographischen Prozess. Entscheidet man sich
zum Beispiel dafür, Abwanderung zuzulassen, bekommen die
Abwanderungsregionen aus dem Finanzausgleich immer weniger Geld.
Sie stellen immer weniger Bundestagsabgeordnete, irgendwann sinkt
auch die Stimmenzahl im Bundesrat und das politische Gewicht der
Region schrumpft. Zugleich fallen mittel- und langfristig
Infrastrukturkosten weg. Wird die Einwohnerzahl bundesweit weniger,
dann verliert Deutschland innerhalb der EU gegenüber Frankreich
oder Großbritannien an Gewicht.
Aus heutiger Sicht ist die Herausforderung klar, die aus der
demographischen Entwicklung erwächst. Wir stehen vor allem vor der
Frage, wie wir die Alterung unserer Bevölkerung bewältigen. Dabei
geht es um Wohlstandssicherung, aber auch darum, keine Generation
über Gebühr zu benachteiligen. Das ist ganz wesentlich ein Thema
für die Angehörigen der Babyboom-Generation und deren Kinder. Hinzu
kommt die Frage, wie wir in heute schon dünn besiedelten oder
ausdünnenden Regionen Deutschlands ein bestimmtes Niveau an
Lebensqualität, Infrastruktur und Versorgung aufrechterhalten
können. Dieses Niveau entscheidet schließlich darüber, ob die Leute
da bleiben oder ob zumindest die Jüngeren die nächste Gelegenheit
nützen, um abzuwandern.
Solbach: Vielen Dank für das Gespräch.